Impressum

Die englische Originalausgabe The Centaur erschien 1911 im Verlag Macmillan.

Copyright © 1911 by Algernon Blackwood

1. Auflage September 2014

Copyright © dieser Ausgabe 2014 by Festa Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten

eBook 978-3-86552-342-6

www.Festa-Verlag.de

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9

»Ist es unmöglich, dass es eine Modalität des Seins gibt, die Intelligenz und Wille überschreitet, wie diese die mechanische Bewegung überschreiten?«

Herbert Spencer, Die ersten Prinzipien der Philosophie

Die beiden Männer verließen die Reling, schlenderten Arm in Arm über das menschenleere Deck und unterhielten sich leise.

»Der Inhaber eines zwielichtigen Hotels, in dem der ›Russe‹ abgestiegen war, hat ihn bei uns wegen Gedächtnislücken eingeliefert. Ich sollte wohl eher Gedächtnisverlust sagen, denn er konnte sich an absolut nichts mehr erinnern. Konnte nicht Auskunft darüber geben, wer er war, woher er kam oder zu wem er gehörte. Es gelang uns nicht, irgendetwas über sein Heimatland oder sein Volk zu erfahren. Er hatte keine Ahnung, wer seine Vorfahren waren. Er sprach praktisch keine einzige Sprache – nur ein paar Brocken verschiedener Sprachen, hier ein Wort, da ein Wort. Überhaupt fiel es ihm ungeheuer schwer, sich zu artikulieren. Offenbar hatte er sich auf der Suche nach seinesgleichen jahrelang ohne jeden menschlichen Gefährten in der Welt herumgetrieben und keinen Ort gefunden, wo er sein Haupt niederlegen konnte. Anscheinend hatten die Menschen, Männer wie Frauen, aus Angst stets Abstand zu ihm gehalten. Zumindest hatte der Inhaber des kleinen Hotels eindeutig Angst vor ihm. Die Eigenart, die ich eben erwähnt habe, stieß andere Menschen ab – das war selbst in der Klinik zu bemerken –, sodass er unter seinen Mitmenschen völlig einsam war. Diese Eigenart ist sogar noch seltener als ...«, er zögerte und suchte nach dem richtigen Wort, »... als Unverdorbenheit. Heutzutage ist sie fast ausgestorben; nie zuvor und nie danach bin ich bei irgendeinem anderen Menschenwesen darauf gestoßen, sie kommt also so gut wie nie vor«, bemerkte Stahl abschließend und warf seinem Gefährten einen vielsagenden Blick zu.

»Und der Junge?«, hakte O’Malley hastig nach, da er jede Diskussion über seine persönlichen Eigenarten vermeiden wollte.

»Damals war kein Junge bei ihm. Er muss ihn später gefunden haben. Vielleicht findet er künftig auch noch andere seiner Art.«

Der Ire entzog ihm den Arm und rückte unmerklich von ihm ab. Es mochte an der Luft und dem Meer liegen, dass ihn plötzlich ein freudiger Schauer überkam.

»Und vor zwei Jahren«, fuhr Stahl so fort, als wäre nichts passiert, »wurde er als harmlos, wenn auch nicht geheilt entlassen. Er sollte sich alle sechs Monate bei uns vorstellen, hat es aber nie getan.«

»Glauben Sie, dass er sich an Sie erinnert?«

»Nein. Alles deutet darauf hin, dass er völlig in den ... äh ... Zustand zurückgefallen ist, in dem er sich bei Einlieferung in die Klinik befand. Jetzt hält er sich wieder in dieser unbekannten Welt auf, in der er die Jugend mit anderen seiner Art verbracht hat. Aber er war nicht fähig, uns auch nur ein einziges Detail über diese Welt mitzuteilen. Und uns gelang es nicht, irgendeinen Schlüssel zu ihr zu finden.«

Sie blieben auf dem überdachten Teil des Decks stehen, denn der Nebel war inzwischen in Regen übergegangen. Während sie sich an die Außenwand des Rauchsalons lehnten, fuhren die Gedanken und Gefühle Karussell mit O’Malley. Nur mit Mühe schaffte er es, sich unter Kontrolle zu halten.

»Und Sie glauben«, fragte er äußerlich ruhig, »dass dieser Mann ... von meiner Art ist?«

»Ihnen verwandt, habe ich gesagt. Ich nehme an, dass ...«

Doch O’Malley fiel ihm ins Wort. »Also haben Sie dafür gesorgt, dass er und ich jetzt eine Kabine teilen, damit Sie ihn – und auch mich – wieder unters Mikroskop legen können?«

»Aus sehr starkem wissenschaftlichen Interesse, ja«, erwiderte Stahl vorsichtig. »Aber es ist noch nicht zu spät, das zu ändern. Ich biete Ihnen ein Bett in meiner eigenen geräumigen Kabine auf dem Promenadendeck an. Außerdem möchte ich Sie um Verzeihung bitten.«

So groß die Vorstellungskraft des Iren auch war: Jetzt fühlte er sich wegen dem, was er gerade gehört hatte, auf seltsame Weise gebremst, überrumpelt und benommen. Ihm war völlig klar, worauf Stahl hinauswollte und dass noch Enthüllungen anderer Art folgen würden. Nur schaffte er es nicht, sich eindeutig dazu zu äußern, da ihm der neue Sachverhalt erst nach und nach mit allen Konsequenzen ins Bewusstsein drang und ihn gleichsam hypnotisierte. Alles schien darauf hinzudeuten, dass seine eigenen »primitiven« Sehnsüchte eine viel tiefere Grundlage hatten, als er sich je hätte träumen lassen. Falls er sich dazu entschließen sollte, Stahl zuzuhören, würde dieser ihm quasi-wissenschaftliche Erklärungen anbieten. Diese Rede von einer »immer noch wirkenden Kraft mythologischer Wertvorstellungen« warf ihn geradezu um. Er wusste, dass Stahl damit recht hatte. Hinter diesen sorgfältig gewählten Worten war noch etwas anderes verborgen – eine von Stahl auf brillante Weise entdeckte Wahrheit. Und diese Wahrheit, so war O’Malley klar, würde die Grundlagen seiner Persönlichkeit, seiner geistigen Gesundheit, vielleicht sogar die seines ganzen Lebens – des Lebens in der Gegenwart – erschüttern.

»Ja, ich verzeihe Ihnen, Doktor Stahl«, hörte er sich selbst mit täuschender Ruhe sagen, während sie Schulter an Schulter in der dunklen Ecke standen. »Eigentlich gibt es ja auch gar nichts zu verzeihen. Die von Ihnen beschriebenen Eigenarten dieser Urmenschen ziehen mich stark an. Ihre Ausführungen liefern meiner Vorstellungskraft lediglich einen Schlüssel, den mein Verstand erfassen kann; sie reichen bis tief in die Fundamente meines Lebens und Wesens. Jedenfalls ... haben Sie mir keineswegs übel mitgespielt ...« O’Malley wusste, wie unbeherrscht und impulsiv er klingen musste, aber ihm fiel nichts anderes ein. Vor allem wollte er seine wachsende Freude vor Stahl verbergen.

»Ich danke Ihnen«, erwiderte Stahl schlicht, allerdings leicht verwirrt. »Ich hatte das Gefühl, Ihnen diese Erklärung ... äh ... dieses Eingeständnis zu schulden.«

»Wollten Sie mich damit warnen?«

»Eher zur Vorsicht raten. Und ich wiederhole es jetzt: Seien Sie auf der Hut! Ich biete Ihnen an, für den Rest der Reise die Kabine mit mir zu teilen, und bitte Sie von Herzen, dieses Angebot anzunehmen.«

Das nahm O’Malley ihm ab, auch wenn er Stahl unterstellte, dass ihm wegen seines wissenschaftlichen Interesses eine Ablehnung nicht unwillkommen gewesen wäre.

»Sie glauben also, mir könnte andernfalls etwas zustoßen?«

»Nicht in körperlicher Hinsicht. Der Mann ist sanftmütig, von ihm geht keine körperliche Gefahr aus.«

»Trotzdem besteht Ihrer Meinung nach irgendeine Gefahr?«

»Allerdings.«

»Die Gefahr, dass ich unter seinem Einfluss vielleicht so wie er werde – ein Urmensch?«

»Die Gefahr, dass er Sie sich holt«, lautete die seltsame Antwort, die Stahl nach kurzem Zögern mit fester Stimme gab.

Diese Worte versetzten O’Malley, bei dem Angst und Glücksgefühl miteinander im Widerstreit lagen, erneut in Aufruhr. »Meinen Sie das im Ernst?«, fragte er. »Ich meine, als ›Arzt und Wissenschaftler‹?«

»Ich meine damit, dass Sie in sich selbst eine ähnliche ›Eigenart‹ haben, die ein enges Zusammensein mit diesem ›Wesen‹ riskant macht«, erklärte Stahl aufrichtig besorgt. »Kurz gesagt könnte er Sie ... äh ... mit sich ziehen.«

»Durch eine Gehirnwäsche?«

»Durch Inbesitznahme Ihres Gehirns.«

Schweigend schlenderten sie einige Minuten weiter auf dem Deck entlang, ohne dass der Arzt weitere Erklärungen abgab. Zunächst irritierte das den Iren, dann machte es ihn ungeduldig und schließlich fast zornig. »Am besten, wir reden Klartext miteinander«, bemerkte er in einem Anflug von Wut. »Sie meinen also, ich könnte verrückt werden?«

»Nicht im üblichen Sinne«, erwiderte der Arzt ohne Anzeichen von Verärgerung oder Widerstreben. »Aber es könnte Ihnen etwas zustoßen, das die Wissenschaft nicht erklären und die Medizin nicht behandeln kann ...«

Ohne darüber nachzudenken, ob es klug oder angemessen war, platzte O’Malley daraufhin mit der für ihn wichtigsten Frage heraus: »Wer oder was ist dieser Mann also in Wirklichkeit – dieses »Wesen«, das Sie als etwas ›Überlebendes‹ bezeichnen und als Gefahr für mich betrachten? Können Sie mir sagen, was genau dieser Mann ist?«

Ohne darauf zu achten, waren sie mittlerweile bei der Kabine des Arztes angelangt. Stahl stieß die Tür auf, führte O’Malley hinein und nahm auf dem Sofa Platz, während er dem Iren einen Sessel ihm gegenüber anbot.

10

»Dem Aberglauben ist mit Vernunft nicht beizukommen, genauso wenig wie der Offenbarung.«

Altes Sprichwort

O’Malley begriff, dass er den Arzt bis zu einer Schwelle gedrängt hatte, die dieser zu überschreiten zögerte. Denn dann hätte er gewisse, ihm selbst peinliche Überzeugungen preisgeben müssen – Überzeugungen, die außergewöhnliche Lebenserfahrungen ihm aufgedrängt hatten, obwohl sein wissenschaftlich geschulter Verstand sie entschieden ablehnte. Außerdem war O’Malley auch nicht entgangen, dass Stahl ihn die ganze Zeit über genau beobachtete und die Wirkung seiner Ausführungen sehr wohl registrierte.

»Dieser Fremdling ist überhaupt kein Mensch«, raunte Stahl kaum hörbar, was die folgenden Ausführungen nur umso eindrucksvoller erscheinen ließ. »Jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem Sie und ich diesen Ausdruck normalerweise verwenden. Genau wie sein Äußeres ist auch sein Inneres anders als bei einem Menschen gestaltet. Er ist ein kosmisches Wesen – ein unmittelbarer Ausdruck kosmischen Lebens. Ein winziger Teil, ein Fragment der Weltseele, und in diesem Sinne etwas, das überlebt hat ... Ein Überlebender aus der Zeit, als die Welt noch jung war.«

Während der Ire diesen völlig unerwarteten Worten lauschte, spürte er etwas in sich aufsteigen, das ihn in Stücke zu reißen drohte. Er konnte nicht sagen, ob es Freude oder Angst oder eine seltsame Mischung aus beidem war. Es kam ihm so vor, als würde er gleich etwas hören, das ihm die Welt, das eigene Ich und seine kühnsten Wünsche erklären würde, und zwar von einem Mann, der, anders als er, nicht nur ein Träumer war. Er wartete sehnlichst darauf und fürchtete es zugleich. In seinen geheimsten Gedanken – nie hatte er sie mit einem anderen Menschen geteilt – hatte er sich den tiefen Glauben daran bewahrt, dass die Erde ein bewusstes, fühlendes Lebewesen war. Auch seine Erziehung und das moderne Leben hatten diesem Glauben nichts anhaben können. Er war wie ein unsterblicher Instinkt, eine Überzeugung, an der niemand rütteln konnte, obwohl O’Malley es kaum wagte, ihn sich selbst einzugestehen.

Stets hatte er sich die Erde als lebendig vorgestellt, als einen Organismus, der wie eine Mutter für die Menschheit sorgte. Und sich selbst hatte er wegen seiner Liebe zur Natur eine enge, liebevolle Beziehung zu ihr zugeschrieben, während andere Menschen diese vergessen oder missachtet hatten.

Als er Stahl jetzt von kosmischen Wesen, Fragmenten der Weltseele und Überlebenden ihrer Frühzeit reden hörte, kam es ihm deshalb so vor, als empfinge er einen lauten Ruf, der ihm befahl, sich vorzuwagen und bewusst Teil dieser Weltseele zu werden.

Er biss sich auf die Lippen, kniff sich, starrte vor sich hin. Dann griff er nach der schwarzen Zigarre, die Stahl ihm, wie er plötzlich merkte, hinhielt, zündete sie mit peinlich zitterigen Fingern an und zog so heftig daran, als müsste er sie in Rekordzeit rauchen, um nicht völlig auszurasten. Der Rauch umwölkte sein Gesicht, doch innerlich berauschte ihn ein heftiges Glücksgefühl. Er hörte Rufe, Gesang, vernahm schnelle Bewegungen.

Es fiel kein Wort, während sich Asche an der Zigarre sammelte, die er schließlich in den bronzenen Aschenbecher schnippte. Bei diesem trivialen Vorgang konzentrierte er sich so, als müsste er eine Waffe auf ein Ziel ausrichten. Wie er sah, löste sich die Asche in einem Stück. »Muss wohl wirklich eine gute Marke sein«, dachte er, denn bis jetzt hatte er von ihrem Geschmack nichts wahrgenommen. Nun sah er auch, dass der Aschenbecher die Form einer Nymphe hatte und ihr ausgebreitetes Gewand den Teller bildete. »Muss mir auch so einen besorgen«, schoss ihm durch den Kopf. »Frage mich nur, was so was kostet.« Danach zog er weiter wild an der Zigarre.

Der Arzt war mittlerweile aufgestanden und ging mit großen, bedächtigen Schritten vor dem roten Vorhang auf und ab, der die Koje abtrennte. Geistesabwesend sah O’Malley zu ihm hinüber, innerlich immer noch mit Stahls Erklärungen beschäftigt.

Unvermittelt fielen ihm in der Stille des Zimmers die Theorien des deutschen Philosophen Fechner ein, der eine Allbeseelung des Universums behauptete. Nach Fechner war die Erde der Körper eines lebendigen, ganzheitlichen Wesens und die Weltseele oder das kosmische Bewusstsein weit mehr als ein Traumbild aus vorzeitlicher Vergangenheit.

Schließlich ließ sich der Arzt wieder O’Malley gegenüber auf dem Sofa nieder und brach das Schweigen als Erster, was O’Malley sehr erleichterte, denn er wusste einfach nicht, wie und wo er anfangen sollte.

»Heutzutage wissen wir – Sie jedenfalls wissen es, denn in Ihren Büchern habe ich genaue Beschreibungen davon gefunden –, dass die menschliche Persönlichkeit unter sogenannten anormalen Bedingungen über sich hinauswachsen kann. Sie kann Teile von sich projizieren, sich sogar in bestimmter Entfernung als Erscheinung manifestieren und unabhängig von dem sie umschließenden Körper agieren. Möglich, dass das Wesen der Erde in der Vergangenheit auf genau dieselbe Weise Teile seines Selbst projiziert hat. Ebenso ist vorstellbar, dass etwas von diesen starken Kräften oder dieser starken Wesenheit überlebt hat ... Eine weit zurückliegende Zeit überlebt hat, in der die Weltseele noch Form und Gestalt angenommen hat. Nur haben sich diese Ausprägungen der Weltseele angesichts des Ansturms der sich weiterentwickelnden Spezies Mensch zurückgezogen. Nur die Poesie und die Legenden haben eine flüchtige Erinnerung daran bewahrt und diese Ausprägungen Götter, Ungeheuer oder mythische Gestalten genannt.«

So als hätte er seiner Fantasie bewusst die Zügel schießen lassen und bedauerte es jetzt, schlug Stahl unvermittelt einen anderen, distanzierteren Ton an. Offenbar wollte er nun einen anderen Aspekt seiner Überzeugungen hervorheben. Er sprach über seine Erfahrungen in den großen öffentlichen und privaten Kliniken, beschrieb die Hypothese, die er von Anfang an verlockend gefunden und die ihm viele Türen geöffnet hatte. Soweit O’Malley in seiner sonderbaren Erregung dem Arzt folgen konnte, war es mehr oder weniger derselbe Gedanke, mit dem er selbst schon häufig gespielt hatte: dass Menschen ein Fluidum oder eine ätherische Komponente in sich tragen, die von starkem Begehren geprägt ist und sich unter bestimmten Bedingungen vom Körper lösen kann. Dann manifestiert sich dieses Begehren in irgendeiner Form oder Gestalt.

Allerdings fiel ihm das erst später auf, da der Arzt diese Hypothese in seine eigene Terminologie kleidete. In ruhigem Ton sprach er davon, wie seine Beobachtungen in Irrenhäusern und in seiner Privatpraxis ihn zu dieser Hypothese gedrängt hatten.

»In der erstaunlich komplexen Persönlichkeit eines Menschen«, fuhr er fort, »gibt es irgendeine wichtige Komponente, einen Teil des Bewusstseins, der für kurze Zeit den Körper ohne Todesfolge verlassen kann. Hin und wieder ist das auch für andere sichtbar. Gedanken und Begehren formen diesen Teil, insbesondere ein heftiges Verlangen über eine längere Zeitspanne hinweg. Und es kann der jeweiligen Persönlichkeit sogar Erleichterung verschaffen, wenn sie, subjektiv gesehen, genau das Verlangen befriedigt, das diesen Teil speist.«

»Meinen Sie damit den ›Astralkörper‹, Doktor?«

»Ich habe keinen Namen dafür, kann die Sache nicht benennen. Aber ich meine damit, dass diese Komponente auch Bedingungen für eine Befriedigung des Verlangens schaffen kann – möglicherweise ist es eine traumähnliche Befriedigung, aber trotzdem ist diese Erfahrung, subjektiv gesehen, intensiv und sehr real. Heftige Emotionen können diesen Prozess vorantreiben. Das erklärt auch gewisse Erscheinungen in der Ferne und hundert andere Phänomene, wie ich aufgrund meiner Untersuchungen abnormaler Persönlichkeiten erkennen musste. Oft ist Sehnsucht nach der Vergangenheit der Auslöser, der Kanal, durch den alle inneren Kräfte und auch das Begehren strömen, damit es Erfüllung in Form irgendeines Menschen, eines Ortes oder eines Traums findet.«

Stahl ließ die Zügel jetzt wieder locker und sprach offen von Überzeugungen, die kaum jemand sonst ausgesprochen hätte. Eindeutig verschaffte es ihm Erleichterung, sich einfach davontragen zu lassen. Schließlich war er nicht nur Beobachter und Analytiker, sondern in ihm schlummerte auch ein Poet, und jetzt offenbarte sich interessanterweise dieser fundamentale Widerspruch in seinem Charakter. Halb träumend hörte O’Malley zu und fragte sich dabei, was Stahls derzeitige Ausführungen mit dem vorher erwähnten kosmischen Leben zu tun haben mochten.

»Zudem entspricht das Äußere, das Erscheinungsbild dieses ätherischen ›Doppelgängers‹, den die Gedanken, die Sehnsucht und das Begehren erzeugt haben, genau diesen Vorstellungen. Sofern er eine sichtbare Gestalt annimmt, kann sie sehr unterschiedlich ausfallen. Es ist auch vorstellbar, dass man diese Gestalt nur fühlt, sie nicht wirklich sieht, sondern sie eher hellsichtig als eine Erscheinung erkennt. Und in Ihrem Fall«, fügte er hinzu und sah O’Malley dabei an, »kam es mir stets so vor, als könnte sich dieser Doppelgänger besonders leicht von Ihrem Selbst lösen.«

»Zweifellos schaffe ich mir meine eigene Welt und gleite in gewissem Maße hinein«, murmelte der Ire, der diese Worte begierig aufsaugte. »Etwa bei Tagträumen – zumindest teilweise.«

»Teilweise, ja, bei Tagträumen Ihres Wachbewusstseins. Aber im Schlaf, im Trancezustand ganz und gar! Und darin liegt die Gefahr bei Ihnen. Denn auch im Wachbewusstsein völlig aus sich herauszutreten ist dann der nächste Schritt – ein müheloser Schritt. Und das bewirkt nicht eine seelische Störung im engeren Sinne, sondern eine Neuausrichtung, der mit dem gesunden Verstand kaum noch beizukommen ist.« Er schwieg einen Moment. »Wenn Sie in vollständigem Wachzustand aus sich heraustreten, dann handelt es sich um eine Wahnvorstellung, die man üblicherweise, wenn auch zu Unrecht, wie ich meine, als Irrsinn bezeichnet.«

»Davor habe ich keine Angst«, sagte O’Malley lachend und fast ärgerlich. »Ich habe mich ganz gut im Griff – jedenfalls hatte ich es bis jetzt.«

Es war seltsam, wie sie die Rollen getauscht hatten. Nun war es O’Malley, der Stahl Kontra bot.

»Jedenfalls rate ich zur Vorsicht«, erwiderte Stahl ernst. »Ich rate wirklich zur Vorsicht.«

»An Ihrer Stelle würde ich eine solche Warnung für Medien, Hellseher und ähnliche Leute reservieren«, bemerkte O’Malley provokant. Er war selbst halb verblüfft, halb bestürzt über seine Worte. Doch es ärgerte ihn, dass Stahl ihn mit solchen Menschen verglich. »Die neigen wohl eher zum Durchdrehen.«

Stahl stand auf und baute sich so vor ihm auf, als hätte er ihm soeben das gewünschte Stichwort gegeben. »Aus eben dieser Gruppe stammen meine aufschlussreichsten ›Fälle‹, aber ich habe nicht eine Sekunde daran gedacht, sie mit Ihnen in einen Topf zu werfen. Allerdings weisen genau diese ›Fälle‹ die einzigartige Störung auf, die ich gerade erwähnt habe.«

Schweigend starrten sie einander kurz an. Ob er wollte oder nicht, musste O’Malley sich eingestehen, dass Stahl ihn beeindruckte. Er musterte die kleine Gestalt vor sich, den zerzausten, ungepflegten Bart, den kahlen Schädel, auf den das Licht fiel, und fragte sich dabei, was wohl als Nächstes kommen würde und zu was dieses verwirrende Eingeständnis unorthodoxer Ansichten noch führen würde. O’Malley hätte gern noch mehr über dieses verborgene kosmische Leben gehört – und mehr darüber erfahren, wie das Verlangen danach Gestalt annehmen konnte.

»Jedes Phänomen einer Séance, das keine Scharlatanerie ist«, hörte er Stahl sagen, »wird von diesem Fluidum, diesem sich loslösenden Teil der Persönlichkeit erzeugt, von dem wir gesprochen haben. Solche Phänomene sind Projektionen der Persönlichkeit – automatische Projektionen des Bewusstseins.«

Und dann kam etwas, das wie ein Donnerschlag auf O’Malleys verwirrten Geist niederging: Stahls verblüffende Schlussfolgerung, die alles bisher Angesprochene miteinander verband und dessen Überlegungen auf die Spitze trieb. »Und auf ähnliche Weise«, fasste Stahl mit ruhiger, leidenschaftsloser Stimme zusammen, »hat das umfassende Bewusstsein der Erde Projektionen erzeugt, unmittelbare Ausdrucksformen des kosmischen Lebens – kosmische Wesen. Durchaus vorstellbar, dass eine oder auch zwei von diesen uns fernen, primitiven Ausdrucksformen tatsächlich hier und da überlebt haben. An Orten, die die Menschheit nie besudelt hat. Und dieser Fremde stellt eine dieser Ausdrucksformen dar.«

Offenbar hatte Stahl jetzt alles gesagt, was er zu sagen hatte. Er schaltete die beiden Lampen hinter sich ein: Dieses ungewöhnliche Gespräch war zu Ende, wie er dadurch auf bewundernswerte Weise signalisierte. Danach machte er sich in der Kabine zu schaffen, stellte die Stühle ordentlich hin und spielte mit den Papieren auf seinem Schreibtisch herum. Hin und wieder sah er seinen Gesprächspartner forschend an – wie jemand, der die Wirkung einer Attacke abschätzen möchte.

Und als genau das hatte O’Malley die Ausführungen Stahls auch empfunden. Diese Flut unorthodoxer, spekulativer Ideen hatte Stahl ihm sicher nicht ohne eine bestimmte Absicht an den Kopf geworfen. Und dieser plötzliche Höhepunkt war seinem Eindruck nach sorgfältig geplant gewesen, um beim Gesprächspartner ein impulsives, leidenschaftliches Bekenntnis auszulösen.

Doch O’Malley hatte es die Sprache verschlagen. Er blieb einfach in seinem Sessel sitzen und fuhr sich mit den Fingern durch das wirre Haar. Sein innerer Aufruhr war so heftig, dass er nicht einmal Fragen stellen mochte. Und als der Gong zum Abendessen rief, stand er abrupt auf und ging wortlos hinaus. Stahl wandte sich um und blickte ihm hinterher. Er nickte lediglich mit leichtem Lächeln.

O’Malley kehrte nicht in die eigene Kabine zurück, sondern spazierte eine Weile allein über das Deck. Als er den Speisesaal aufsuchte, sah er, dass Stahl bereits gegessen hatte und verschwunden war.

Schräg gegenüber, an der unteren Tischhälfte, saß der stämmige Russe und blickte gelegentlich lächelnd zu ihm herüber, und jedes Mal, wenn er es tat, mischten sich bei O’Malley Beunruhigung und ein Gefühl des Wunderbaren, wie er es noch nie erlebt hatte. Wieder einmal hatte sich eine der großen Türen des Lebens für ihn geöffnet. Jetzt war er nicht mehr im Gefängnis einer kümmerlichen Individualität eingesperrt und an diese gefesselt. Die Welt, die ihn so peinigte, verlor ihr Gewicht. Die Menschen, die darin lebten, waren bloße Puppen. Der Pelzhändler, der armenische Geistliche, die Touristen und alle anderen waren nur genormte Marionetten – und diese Norm war armselig, erstaunlich fantasielos und kannte kaum Variationen. Diese Menschen bedeuteten nichts, waren unwirklich und nur halb lebendig.

Mit einem Hochgefühl dachte O’Malley daran, dass das Schiff jetzt über das blaue Meer getragen wurde und dieses Meer sich an die gewölbte Brust des runden, sich drehenden Planeten schmiegte. Genauso hielt Mutter Erde ihn und den Russen dank der sogenannten Schwerkraft eng an sich gedrückt, doch da war noch etwas, das für Nähe sorgte. Und je mehr er davon begriff, desto stärker wurde seine Sehnsucht. Ob bewusst oder unbewusst: Stahl hatte diese Geschichte ungeheuer vorangetrieben.

11

»Mit wissenschaftlichem Ausdrucke wird man sagen können: Das Bewusstsein ist überall da und wach, wenn und wo die der geistigen unterliegende leibliche, sogenannte psychophysische Tätigkeit jenen Grad der Stärke, den man die Schwelle nennt, übersteigt. Hiernach kann das Bewusstsein in Zeit und Raum lokalisiert werden.«

Gustav Theodor Fechner,

Das Büchlein vom Leben nach dem Tode

Stahls Angebot, die Kabine mit ihm zu teilen, stand immer noch. In der Abgeschiedenheit, die O’Malley an diesem Abend für nötig hielt, spielte er mit dem Gedanken, es anzunehmen, doch ihm war klar, dass er sich dagegen entscheiden würde.

Wie ein wahrer Kelte schmückte er den Kern von Stahls Worten mit der ihm eigenen lebhaften Vorstellungskraft aus. Dabei erwachte in ihm diese namenlose beunruhigende Freude, die sich aus Stoff, der über das bloß Gedankliche hinausreicht, eigenständig neue Inhalte schafft. Menschen mit Fantasie greifen dabei auf eine Region enormer Erfahrungen zurück, die am Rande des Bewusstseins liegt. Das Bild, das Stahl gemalt hatte, nahm O’Malley für bare Münze, ergänzte es mit eigenen Überlegungen, erfreute sich daran und baute es natürlich schnell weiter aus. Wenn er es überhaupt kritisch betrachtete, dann höchstens mit Gedanken wie »Schließlich ist der Mann ein Poet, da versteht es sich von selbst, dass er kreative Vorstellungskraft besitzt«.

Für O’Malley war es eine völlig neue Erfahrung, dass jemand, dessen Verstand so anders als seiner arbeitete, ihn in seinem »Bauchgefühl« bestärkte und es sogar ansatzweise erklärte. Auf verblüffende Weise bestätigte ihm das die tatsächliche Existenz der inneren Welt, in der er lebte.

Es war eine großartige Erklärung für die Wirkung, die der Russe auf ihn ausübte. Besonders bemerkenswert fand er, dass ausgerechnet ein Arzt darauf gestoßen war. Es kam ihm durchaus plausibel vor, dass ein Teil des menschlichen Geistes die Form seiner Gedanken annehmen und sich sichtbar manifestieren kann. Er sah das bereits als Tatsache an und hatte keine Lust, weiter darüber nachzugrübeln. Hingegen griff er Stahls weitere Überlegungen, so seltsam und weit hergeholt sie auch scheinen mochten, begierig auf und ließ sie sich voller Freude durch den Kopf gehen.

Die Betrachtung der Erde als lebendes Wesen fand er sowohl von ihren umfassenden Implikationen als auch von ihrer Einfachheit her grandios. Und erst der Gedanke, die Götter und mythologischen Gestalten müssten Projektionen des planetaren Bewusstseins sein! Eine in ihrer Schönheit überwältigende, barmherzige Vorstellung! Vor sich sah er die uralten Gestalten der Mythen und Legenden, immer noch lebendig in irgendeinem wunderbaren Garten der vorzeitlichen Welt, einem so entlegenen Winkel, dass die Menschheit ihn noch nicht mit den hässlichen Spuren ihres Lebens besudelt hatte. Endlich verstand er seine tiefen primitiven Sehnsüchte, die er bis jetzt vergeblich auszuloten versucht hatte, auf neue Weise. Und das bedeutete, dass er der Erde so eng verbunden war wie noch nie, so nah, dass er ihren Herzschlag wie den eigenen spüren konnte. Diese Vorstellung bestätigte ihn ungeheuer in seinen Überzeugungen.

Die Seele der Erde selbst hatte in all den Jahren nach ihm gerufen!

Während er seiner Fantasie freien Lauf ließ, fielen ihm gewisse seltsame Erlebnisse ein, die er der Reihe nach rekapitulierte: die Szenerie, die er durch das Fernglas des Kapitäns gesehen hatte, mit den wunderschönen, dahineilenden Gestalten; der neue Blick auf eine lebendige Natur in der Gegenwart des Russen; die paar Wortbrocken, die der Mann gesprochen hatte, als sie sich in der Abenddämmerung gemeinsam über die Reling gebeugt hatten; der merkwürdig leidenschaftliche Ausdruck in dessen Augen, als abends am Esstisch bestimmte Satzfetzen zu ihm herübergedrungen waren. Und schließlich der einzigartige Eindruck von Massigkeit, den der Russe manchmal vermittelte, fast so, als gewönne ein Teil von ihm sichtbare Gestalt – jener vom Geist erzeugte Teil, der sich von der Persönlichkeit lösen konnte.

Jetzt ahnte O’Malley, warum die offensichtliche Isolation der beiden Russen unvermeidlich war und ihre Mitmenschen ihnen instinktiv aus dem Weg gingen. Der Vater bewegte sich unbeholfen in dieser Abgeschiedenheit, der Junge hatte sich trotzig darin verschanzt. Beide strahlten in gewisser Weise einsame Würde aus, die jegliche Annäherung verbot.

Später am selben Abend – der Dampfer näherte sich inzwischen den Liparischen Inseln – verstärkte eine Folge außergewöhnlicher Ereignisse den Tatendrang, den die Ausführungen des Arztes bei O’Malley ausgelöst hatten. Zugleich half ihm Stahls vorsätzliche (und wie der Ire fand: durch nichts zu rechtfertigende) Einmischung in die Aufteilung seiner Kabine dabei, sich über gewisse andere Punkte schlüssig zu werden.

Das erste »Ereignis« war ähnlich schwer zu fassen wie der Eindruck von »Massigkeit«, den die Russen hin und wieder vermittelten.

Um zehn Uhr abends – Stahl hielt sich anscheinend immer noch allein in seiner Kabine auf, und die meisten Passagiere waren nach unten zu einem kurzfristig angesetzten Konzert gegangen – verließ O’Malley schließlich seine Kabine und entdeckte auf dem dunklen Achterdeck den Russen und dessen Sohn. Sie bewegten sich so schnell und mit solcher Kraft vorwärts, dass sein Interesse sofort geweckt war. Nie zuvor waren ihm ihr Körperumfang und die Schnelligkeit ihrer Bewegungen so aufgefallen. Zudem kam es ihm so vor, als zöge eine dunkle Sommerwolke neben ihnen her.

Doch als er sich ihnen vorsichtig näherte, merkte er zu seiner Verblüffung, dass sie weder schnell gingen noch rannten, sondern reglos nebeneinander auf dem Deck standen. Trotzdem handelte es sich nicht um reine Sinnestäuschung, denn gleich darauf sah er, dass sich die beiden zwar genauso wenig rührten wie der Schiffsmast oder die Rettungsboote hinter ihnen, aber irgendetwas Schattenartiges über ihren Gestalten zu schweben und hin und her zu huschen schien. Und dieses Etwas ähnelte annähernd den äußeren Erscheinungen der Russen, nur war es bedeutend größer. Hin und wieder verhüllte es sie, gab sie jedoch gleich darauf wieder frei. O’Malley dachte dabei an Rauchwolken, die vor Statuen hin und her ziehen.

Soweit er es im Dunkeln ausmachen konnte, bewegten sich die Schattengebilde in einem bestimmten Rhythmus, so als tanzten oder hüpften sie.

Genau wie bei dem Eindruck von »Massigkeit« empfing er auch diesen Eindruck nur, wenn er aus dem Augenwinkel hinübersah. Als er den Blick voll darauf richtete, konnte er nur noch zwei reglose dunkle Gestalten entdecken. Er hatte dabei ein ähnlich mulmiges Gefühl, wie es mancher hat, wenn er nachts ein leeres Zimmer betritt und spürt, dass darin eben noch Leben war. Die eigene Gegenwart setzt irgendeinem Geschehen darin ein abruptes Ende, und es setzt sich unverzüglich fort, sobald man daraus verschwindet. Die Stühle, Tische, Schränke, die Flecken und Muster an der Wand sind wegen der Störung wieder an ihre normalen Stellen gerückt, warten jedoch ungeduldig darauf, dass man mitsamt der Kerze wieder geht.

In diesem Fall war O’Malley mit seiner Kerze nicht in ein verlassenes Zimmer, sondern auf ein verlassenes Deck vorgedrungen und hatte nicht Mobiliar, sondern Personen auf »frischer Tat ertappt«. Dieser lautlose Tanz der riesigen und doch anmutigen Schatten erinnerte ihn an Winde, die für das bloße Auge sichtbar über endlose Hügel fegen. Oder an Wolken, die in einem erhabenen natürlichen Rhythmus so über den blauen Himmel gleiten, als wäre er eine offene Tanzfläche. Die Bildersprache, die O’Malley dafür fand, war ebenso wirr wie famos. Erneut fielen ihm die gigantischen Gestalten ein, die er beim Blick durch das Fernglas des Kapitäns vor seinem inneren Auge gesehen hatte. Und erneut verspürte er das ungestüme, verzehrende Verlangen, sich ihnen auf der Stelle anzuschließen. Er hatte sogar das Gefühl, dort rechtmäßig hinzugehören.

Instinktiv drängte es ihn jetzt dazu, sich der natürlichen rhythmischen Bewegung der Schatten hinzugeben, die ihm vertraut vorkam, auch wenn er sie zwischenzeitlich vergessen hatte. Das Verlangen war offenbar so stark, dass er einen Schritt vorwärts tat, etwas rufen wollte, und wohl im nächsten Moment über das Deck getanzt hätte, wäre in diesem Augenblick nicht von hinten ein Arm aufgetaucht, der ihn gewaltsam davon abhielt. Jemand raunte ihm etwas auf Deutsch ins Ohr.

Sichtlich erregt schob ihn Doktor Stahl in geduckter Haltung ein Stück vorwärts. »Warten Sie!«, flüsterte er, während beide mit ihren Gummisohlen auf dem feuchten Deck ins Rutschen gerieten. »Wir schauen uns das von hier aus an, ja? Werden wohl endlich etwas sehen, wie?«

O’Malley unterdrückte einen Anflug von Wut. Zum einen konnte er ihr nicht Luft machen, ohne laut zu werden, zum anderen wollte er die Szene unbedingt weiter beobachten. Er fragte sich nur beiläufig, wie lange Stahl hier bereits gelauert hatte.

Sie kauerten sich in den Windschatten eines Rettungsbootes. Die Umrisse des Schiffes, dessen Masten, Spieren und Takelagen zeichneten sich deutlich vor dem Sternenhimmel ab, und durch das Glas des Kompasskastens drang schwacher Lichtschein. Das Steuerrad und die aufgerollten Taue hoben und senkten sich mit dem Stampfen des Dampfers, stiegen erst zum Himmel hinauf und tauchten dann zu der phosphoreszierenden Gischt ab, die wie glänzende Spitze das Wasser säumte. Aber die menschlichen Gestalten an Deck standen nun reglos da, gingen nicht einmal auf dem Deck hin und her und hatten wieder normalen Umfang angenommen. Von den Schattengebilden war nichts zu sehen. Seite an Seite beugten sich Vater und Sohn still und unschuldig über die Reling und taten nichts Ungewöhnlicheres, als auf das Meer hinauszustarren. Genau wie das Mobiliar im leeren Zimmer waren sie einfach ... zum Stillstand gekommen!

Schweigend warteten Stahl und O’Malley einige Minuten ab und rührten sich nicht. Bis auf das dumpfe Dröhnen der Schiffsschrauben und das leise Pfeifen des Windes in der Takelage – das Schiff hatte jetzt schnelle Fahrt aufgenommen – war kein Laut zu hören. Alle Passagiere befanden sich auf den unteren Decks.

Plötzlich schallte Musik über das Deck: Jemand hatte im Rauchsalon ein Bullauge geöffnet, schloss es aber bald darauf wieder. Zur Klavierbegleitung mit simplen Akkorden trällerte ein Tenor irgendeinen modernen Gassenhauer mit sentimentalem Einschlag. Angesichts der grandiosen Szenerie von Himmel und Meer tat das alberne Lied O’Malley in den Ohren weh. Er musste dabei an einen Leierkasten in einem griechischen Tempel denken.

Sogleich zogen sich Vater und Sohn wie aufgeschreckt ins tiefere Dunkel des Decks zurück, während Stahl den Iren so fest am Arm packte, dass er fast aufgeschrien hätte. Doch bei dem schwachen Licht, das aus dem geöffneten Bullauge drang, hatten sie zuvor noch kurz gesehen, wie die beiden Russen eifrig die Köpfe zusammengesteckt und sich weit über die Reling gebeugt hatten.

»Mein Gott, schauen Sie mal zur Reling!«, flüsterte Stahl heiser. »Da ist noch ein Dritter!«

Tatsächlich war an der Stelle, an der die Russen gestanden hatten, irgendetwas zurückgeblieben, das die beiden zuvor mit ihren Körpern verdeckt hatten. Stahl und O’Malley sahen den schwachen Umriss einer großen Gestalt, die sich bewegte. Offenbar war sie dabei, über die Reling zu steigen. Gleich darauf hing sie halb über dem Meer. Die Bewegung hatte etwas weit Ausholendes, Wiegendes an sich, wirkte eher kraftvoll als unbeholfen.

»Schnell jetzt!«, flüsterte Stahl aufgeregt. »Diesmal finde ich bestimmt heraus, was das ist!«

Mit der Taschenlampe in der Hand wollte er vorwärtsstürmen und fuhr wütend herum, als er merkte, dass O’Malley ihn festhielt. Eine Minute lang rangelten sie wie streitende Jungen miteinander, denn O’Malley setzte alles daran, seinesgleichen vor der Entdeckung, wenn nicht sogar vor einer Gefangennahme und Vernichtung zu bewahren. Stahl versuchte vergeblich, sich zu wehren, der Ire hatte leichtes Spiel mit ihm. Während er auf Deutsch leise fluchte, fiel die selbstverständlich ausgeschaltete Taschenlampe hinunter, glitt scheppernd über das Deck und beim sanften Rollen des Dampfers nach Lee.

Doch selbst während des Gerangels ließ O’Malley die Stelle, an der sie die Gestalt und die »Bewegung« bemerkt hatten, keine Sekunde aus den Augen. Und als sich die Schotts des Schiffs zum dunklen Meer hin neigten, kam es ihm so vor, als wäre der Gestalt die Flucht gelungen, indem sie mit schnellem Sprung in die Wellen abgetaucht war. Als sich das Schiff wieder aufrichtete, war an der Reling jedenfalls nichts mehr von ihr zu sehen.

Mittlerweile hatte Stahl die Taschenlampe aufgehoben, beugte sich über irgendetwas auf den Deckplanken und erfasste mit dem Strahl der Lampe gleich darauf eine große Pfütze.

Das wieder erwachte Gefühl von Gegnerschaft war bei beiden im Moment so stark, dass keiner etwas sagte. O’Malley schämte sich ein wenig wegen des Gerangels, doch zugleich war ihm klar, dass er aus dem Instinkt heraus gehandelt hatte und dasselbe jederzeit wieder tun würde. Eine allzu gründliche Untersuchung des Arztes würde er mit allen Mitteln zu verhindern versuchen, denn jetzt betraf sie auch ihn persönlich.

Als Stahl zu ihm hinübersah, funkelten seine Augen im Schein der Taschenlampe, doch seine Wut hatte sich gelegt. »Zu viel Wasser«, sagte er so ruhig, als wäre er mit der Diagnose eines Falls beschäftigt. »Zu viel, um eindeutige Spuren erkennen zu können.« Er blickte sich um und ließ den Strahl über das Deck gleiten. Die beiden Russen waren verschwunden. Sie waren allein. »Wissen Sie, das Ding befand sich die ganze Zeit über auf der anderen Seite der Reling«, setzte er nach, »und hat es nicht ganz bis aufs Deck geschafft.« Er bückte sich, um die Pfütze nochmals zu inspizieren. Die Stelle sah so aus, als hätte eine Welle die Speigatts überflutet und einen Saum von Gischt und Wasser zurückgelassen. »Hier ist nichts, aus dem man Genaueres schließen könnte«, bemerkte er leise, und in seiner Stimme schwangen Unbehagen und Ehrfurcht mit. Erneut ließ er den Strahl über das ganze Deck gleiten und blickte sich um. »Aber es ist vom Meer her ... äh ... zu den beiden gekommen, so viel ist klar.« Er klang fast ein wenig erleichtert.

»Und ist ins Meer zurückgekehrt«, ergänzte O’Malley so triumphierend, als wäre ihm selbst die Flucht geglückt.

Beide Männer richteten sich auf und wandten sich einander zu. Ohne jedes Anzeichen von Groll sah Stahl O’Malley lange in die Augen. Dann steckte er die Taschenlampe weg. Als er in der Dunkelheit schließlich das Wort ergriff, sagte er nicht ganz das, was der Ire erwartet hatte. Sofort legte sich O’Malleys Wut. Er war fast kleinlaut, als er an sein aggressives Verhalten dachte.

»Selbstverständlich verzeihe ich Ihnen Ihre Reaktion«, erklärte Stahl. »Schließlich passt sie genau zu dem Bild, das ich mir von Ihnen gemacht habe, deshalb ist sie sehr aufschlussreich. Und gerade deswegen möchte ich Sie nochmals dringend bitten, mein Angebot, die Kabine mit mir zu teilen, anzunehmen.« Er trat näher und sagte fast feierlich: »Nehmen Sie es an, mein Freund. Noch heute Abend.«

»Weil Sie mich aus nächster Nähe beobachten wollen?«

»Nein. Nur deswegen, weil Sie sich in Gefahr befinden, besonders wenn Sie schlafen«, erwiderte Stahl mit ehrlicher Sympathie.

O’Malley zögerte kurz. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Doktor Stahl, wirklich sehr freundlich. Aber ich habe keine Angst und sehe keinen Grund, in Ihre Kabine umzuziehen. Und da es schon spät ist«, fügte er unvermittelt hinzu, fast so, als befürchtete er, Stahl könne ihn zu einem Sinneswandel bewegen, »möchte ich jetzt Gute Nacht sagen und mich unverzüglich zurückziehen, wenn Sie erlauben.«

Stahl erwiderte nichts, doch O’Malley war bewusst, dass er ihm hinterhersah, als er zu der Treppe ging, die vom Rauchsalon aus nach unten führte.

Gleich darauf wandte sich der Arzt um und beugte sich mit der Taschenlampe erneut über die große Pfütze. Offenbar wollte er sie nochmals gründlich inspizieren.

Durch das warme, stickige Treppenhaus ging O’Malley langsam auf seine Kabine zu. Dabei wurde ihm mit plötzlicher, ungestümer Freude klar, dass diese »dritte Gestalt«, die er gesehen hatte, die armseligen Gestalten von Menschen weit in den Schatten stellte und etwas in seiner Seele ihr auf wunderbare Weise verwandt war. Sein Unterbewusstsein hatte eine Verbindung mit dem Universum hergestellt, sie später gefestigt und sich auf ganz auf sie ausgerichtet. Aus der lebendigen Natur ringsum war an diesem Abend eine Botschaft an die beiden Fremden und auch an ihn ergangen – eine Botschaft, die voller Schönheit und Kraft Gestalt angenommen hatte. Endlich hatte die uralte Natur seine Gegenwart wahrgenommen. Künftig würde jeder Anblick von Schönheit ihn direkt zur ursprünglichen Quelle von Schönheit führen. Dazu brauchte er weder Mittelsleute noch besondere Tricks. Die Türen öffneten sich jetzt. Und er hatte bereits einen kurzen Blick auf das, was dahinter lag, erhaschen können.

12

In seinem Quartier stellte er ohne besondere Überraschung fest, dass sich seine neuen Zimmergenossen bereits zum Schlafen zurückgezogen hatten. Die Vorhänge vor der oberen Koje waren geschlossen und auf der Ausziehcouch unter dem geöffneten Bullauge schlief der Junge schon fest. Während O’Malley in dem engen Raum in nächster Nähe zu den beiden stehen blieb, hatte er fast das Gefühl, ein neues Leben begonnen zu haben, und das fand er aufregend und beglückend. Am ganzen Körper zitterte er leicht wegen eines Hochgefühls, mit dem er kaum an sich halten konnte, denn sein normales Ich war zu klein dafür. Dieses Hochgefühl verlangte nach Ausbreitung, und die hatte schon begonnen: Seine Persönlichkeit sprengte bereits ihre Grenzen.

Diesen Wandel vermochte er nicht in Worte zu fassen. Er wusste nur, dass sich die alte Ruhelosigkeit in seinem Innern endlich schlafen gelegt hatte; dass der Hunger, der immer wieder an ihm gezehrt hatte, nicht mehr so heftig war. Er meinte damit den quälenden, unersättlichen Hunger nach der Schönheit und der Unschuld irgendeines wunderbaren Urzustands vor der Zeit, als Menschenmassen die Welt mit all ihrem Gezänk und Geschrei überzogen hatten. Das Bild dieses wunderbaren Urzustands hatte sich ihm jetzt für immer eingebrannt. Indem er es sich selbst beschrieb, erfasste er dessen wahre Natur, die der Kindheit ähnelte. Plötzlich konnte er wieder die Sehnsüchte eines kleinen Jungen nachvollziehen, die Henry Wadsworth Longfellow so vortrefflich in seinem Gedicht My Lost Youth verewigt hatte ...

Der Wille eines Jungen ist so frei wie der Wind. Und die Gedanken der Jugend erstrecken sich weit in die Ferne ...

wenn die ganze Welt so süß und golden wie ein Sommertag riecht und eine Dorfstraße so endlos wie der Himmel ist ...

Genau das, ausgedrückt in höchster Vollendung, bot seinem wunderlichen Herzen den Ansatz zu einer Erklärung für die Sehnsucht nach einem primitiven Leben. Es war aber nicht nur der Ruf der eigenen Kindheit und Jugend, der jetzt in ihm widerhallte, sondern der Ruf einer noch jungen Welt. Er hatte gewaltige kosmische Emotionen ihrer Seele aufgefangen, und der ältere der beiden Russen hatte dabei als Vermittler und Übersetzer gedient.

Ehe er zu Bett ging, zog er den kleinen roten Vorhang zur Seite, der seinen Reisegefährten abschirmte, und spähte durch den schmalen Schlitz. Der Vater schlief fest, genau wie sein Sohn. Seine Haarmähne hatte sich auf dem Kopfkissen verteilt, und auf dem breiten, sanften Gesicht lag ein Ausdruck des Friedens. Mit jedem Tag, den der Dampfer seinem Reiseziel näher kam, schien sich dieser Ausdruck zu vertiefen.

O’Malley starrte ihn mindestens eine Minute lang an, bis der Schlafende seinen Blick spürte. Plötzlich zitterten die Augenlider und hoben sich. Die großen braunen Augen sahen direkt in seine. Der Ire konnte sich nicht mehr rechtzeitig abwenden, er blieb wie angewurzelt stehen und erwiderte den Blick. Die Sanftheit und Kraft, die im Blick des Fremden lagen, sprachen O’Malley unmittelbar an, vermittelten ihm einiges von dessen Wissen und verstärkten sein Gefühl, dass sein Hunger bald ganz gestillt werden würde.

»Ich habe versucht ... die Einmischung zu verhindern«, stammelte er mit gesenkter Stimme, »habe den Arzt zurückgehalten. Hast du mich gesehen?«

Eine riesige Hand streckte sich nach ihm aus, um ihn zum Schweigen zu bringen. Spontan umschlang er sie mit beiden Händen. Beim ersten Kontakt zuckte er leicht erschrocken zusammen, da sich die Berührung so wunderbar, so kraftvoll anfühlte – fast so, als hätte ihn eine Windböe oder eine Meereswoge erfasst.

»Es ist ... ein ... Bote gekommen«, brachte der Russe mühsam heraus, und seine Stimme klang dabei wie ein Donnergrollen. »Aus ... dem ... Meer.«

»Aus dem ... Meer, ja«, wiederholte O’Malley leise, obwohl er am liebsten laut gejubelt hätte. Er sah, wie der Russe lächelte. Fast zermalmte dessen kräftige Hand die zierlicheren Hände des Iren. »Ich ... verstehe«, setzte er im Flüsterton nach. Unwillkürlich stammelte auch er. Es kam ihm so vor, als gäbe es keine Sprache für das, was sie einander mitteilen wollten. Entweder war sie vergessen oder noch gar nicht geschaffen. Doch während sein Freund grundsätzliche Probleme der Artikulation haben mochte, hatte es ihm selbst für den Moment einfach die Sprache verschlagen. Die armseligen modernen Wörter klangen alle falsch und unzureichend in seinen Ohren. So als ließen sich damit nur triviale Dinge ausdrücken.

Der Riese setzte sich auf, als wollte er aus dem Bett springen. Einen Augenblick lang griff er fester nach den Händen seines Gefährten, dann ließ er sie plötzlich los und deutete mit strahlendem Gesicht zur Ausziehcouch. O’Malley wandte sich um: Dort lag der Junge in tiefem Schlaf. Er hatte die Bettdecke zurückgeschlagen, sodass die Luft, die vom Bullauge her in die Kabine drang, ihm über den nackten Hals und die nackte Brust strömte. Auch auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck des Friedens und der inneren Ruhe. Der gehetzte Ausdruck war verschwunden – als wäre sein Geist im Schlaf an einen anderen Ort geflüchtet. Der Vater deutete zunächst auf den Jungen, dann auf sich und danach auf diesen neuen Freund, der neben seinem Bett stand. Die Geste, mit der er sie alle drei einschloss, wirkte überaus souverän: Sie drückte eine Einladung, einen Willkommensgruß und zugleich eine Aufforderung aus, hatte sogar irgendetwas Königliches an sich. O’Malley schoss dabei ein Bild durch den Kopf: der stämmige, vom Wind bewegte Ast einer riesigen Eiche.

Danach legte der Russe einen Finger an die Lippen, richtete den Blick nochmals auf O’Malley und den Jungen, drehte sich in dem viel zu engen Bett herum und legte sich auf den Rücken. Das lange Haar, das ihm fast bis zur Schulter reichte, vermischte sich mit dem Vollbart und breitete sich auf dem Kopfkissen aus. Und wieder vermittelte er dabei die Aura einer wunderbaren Kraft und den Eindruck eines gewachsenen Körperumfangs. Mit einem tiefen kehligen Laut, der kein Wort war und dennoch ausdrucksstärker als jede Sprache, wälzte er sich in den viel zu knappen Laken herum, zog den Vorhang wieder zu und kehrte in die Welt des Schlafes zurück.