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Ashley Carrington

Flammende Steppe

Roman

hockebooks

16

Sie trafen sich am frühen Morgen auf der Rückseite der Stallungen. Lena war vor ihm da und versuchte, die zudringlichen Fliegen zu verscheuchen, als Lionel um die Ecke kam. Er nahm sich nicht einmal Zeit für einen Gruß, sondern platzte gleich mit der überraschenden Eröffnung heraus: »Lena, ihr müsst so schnell wie möglich von hier weg!«

Sie lachte spöttisch auf. »Du wirst es nicht für möglich halten, aber der Gedanke ist mir auch schon ein-, zweimal gekommen. Komisch, dass es mir so schwerfällt, mich von Zelt 437 zu trennen, nicht wahr?«

»Ich meine es ernst, Lena!«, sagte Lionel mit großer Sorge und Eindringlichkeit. »Die Ruhr greift immer mehr um sich. Das Hospital ist bis auf die letzte Ecke überfüllt und Doktor Cortney weiß sich nicht mehr zu helfen. Heute Morgen lagen neun Tote auf dem Leichenwagen und im Laufe des Tages werden bestimmt noch einige dazukommen. Und es gibt sogar Gerüchte, wonach wir auch schon Typhus im Lager haben. Aber selbst wenn sich diese Gerüchte nicht bestätigen, haben wir es hier mit einer wahren Epidemie zu tun, die Hunderten von Insassen in kurzer Zeit das Leben kosten kann!«

Lena verzog das Gesicht zu einer Miene der Bitterkeit. »Wem erzählst du das? Aber hast du vergessen, dass wir dazu verflucht sind, trotz des Elends und trotz der grassierenden Krankheiten hier auszuharren?«

»Kaalblad Kopje wird immer mehr zu einer Todesfalle und ich …«

»Das war es von Anfang an«, warf Lena mit schmerzlicher Erinnerung an den Tod von Reuter, Tante Sophie und anderen Lagerinsassen ein, die sie gekannt hatte und die mit fast tausend weiteren Unglücklichen dort draußen auf dem primitiven Friedhof begraben lagen, einem Friedhof, der in Wirklichkeit nichts weiter als ein Leichenacker im wahrsten Sinne des Wortes war. Denn als ein würdevolles Begräbnis konnte man das Verscharren der Leichen schon lange nicht mehr bezeichnen.

»Aber ich lasse nicht zu, dass dir … dass euch jetzt noch etwas geschieht!«, stieß er mit wilder Entschlossenheit aus. »Ihr müsst so schnell wie möglich von hier weg und an einen Ort, wo ihr vor diesen Gefahren in Sicherheit seid.«

»Ach, und wie soll das geschehen? Kaufst du uns eine Zugkarte und bringst uns zum Bahnhof?«, spottete sie in einer jähen Aufwallung ohnmächtigen Zorns.

Ein verletzter Ausdruck trat in seine Augen, als hätte sie ihn für die Schrecken des Kriegs persönlich verantwortlich gemacht.

»Tut mir leid, so habe ich es nicht gemeint, Lionel«, entschuldigte sie sich schnell und legte ihm eine Hand versöhnend auf den Arm, denn nichts lag ihr ferner, als ihn verletzen zu wollen. Zumal sie sehr genau wusste, dass ihn auch ohne derart gedankenlose Bemerkungen das Gefühl quälte, an dem Schrecken des Krieges schon deshalb mitschuldig geworden zu sein, weil er freiwillig die Uniform eines Soldaten angezogen hatte. »Aber wie soll ich denn mit Dele, Sarah und Sarie von hier wegkommen?«

»Ich werde euch bei der Flucht helfen!«

Lena hatte Mühe, ihn nicht mitleidig anzusehen. »Wer aus dem Lager flüchten will, braucht keine Hilfe, Lionel. Jeder von uns kann das Lager wann immer er mag verlassen. Im Zaun gibt es Löcher genug. Und wenn sie uns morgens ein paar Stunden hinaus aufs veld schicken, damit wir essbare Pflanzen und Wurzeln und trockenen Dung als Brennmaterial sammeln können, gibt es für jeden Entschlossenen mehr als genug Möglichkeiten, um sich abzusetzen. Niemand kümmert sich darum – weil es nämlich sinnlos ist zu flüchten. Wohin sollen wir denn flüchten? Auf unsere niedergebrannten Farmen, wo wir dann mit Sicherheit verhungern werden?«, hielt sie ihm so ruhig wie möglich vor und schüttelte den Kopf. »Aber nein, so weit kämen wir ja noch nicht mal. Wer gesund und kräftig ist und es bei dieser Hitze gegen alle Wahrscheinlichkeit tatsächlich zu Fuß bis nach Kroonstad oder in einen anderen Ort schafft, wird doch dort schon an der nächsten Ecke aufgegriffen und wieder in ein Lager gebracht.«

»Das mag alles sein«, räumte Lionel grimmig ein, »aber das bedeutet noch nicht, dass es nicht machbar ist. Du wirst bei dieser Flucht nicht auf dich allein gestellt sein, Lena. Ich werde dafür sorgen, dass ihr andere Kleidung, gültige Papiere und ausreichend Geld habt und dass irgendwo im Süden eine sichere Unterkunft auf euch wartet. Meine Karriere als Offizier ist zwar beendet, noch bevor sie richtig begonnen hatte, aber immerhin, noch bin ich Offizier und ich habe auch noch einige Freunde, die mir einen Gefallen schuldig sind.«

Lena dämmerte, dass es ihm mit der Flucht aus dem Lager tatsächlich ernst war. »Bitte riskier nichts, Lionel!«

»Das schlimmste Risiko, das ich eingehen kann, ist jetzt nichts zu tun!«, erklärte er entschlossen. »Ich hätte schon im Januar etwas unternehmen sollen. Damals dachte ich, Friedensverhandlungen müssten jeden Tag beginnen und den Krieg innerhalb von ein, zwei Wochen beenden. Aus den ein, zwei Wochen sind mittlerweile schon fast drei Monate geworden.«

»Hast du nicht gesagt, dass es wieder Gerüchte über sich anbahnende Friedensverhandlungen gibt?«

»Wir haben keine Zeit mehr, darauf zu hoffen und zu warten, um dann vielleicht erneut so bitter enttäuscht zu werden, wie im Februar!«

»Du meinst, als die Friedenskonferenz in Middleburg scheiterte?«

Er nickte. »Und sofort danach haben die Buren uns bei Tweefontein angegriffen, uns die schwerste Niederlage des Guerillakriegs zugefügt und zudem noch General Methuen gefangen genommen.«

»Das war nur ein letztes Aufbäumen«, sagte Lena.

»Das Aufbäumen der Buren dauert nun schon fast zwei Jahre an. Nein, ich kann nicht länger abwarten. Ich habe jede Stunde Angst um dich, Lena. Angst, dich so nahe am Schluss noch zu verlieren, und zwar endgültig!« Er fasste sie an der Schulter und sah ihr beschwörend in die Augen. »Wenn ich dir auch nur etwas bedeute …«

»Weißt du das denn nicht?«

»Doch! Aber dann sträube dich auch bitte nicht weiter gegen meinen Plan, dich und deine Angehörigen aus Kaalblad Kopje wegzubringen. Ich flehe dich an, es zumindest zu versuchen. Ich weiß, wie selbstsüchtig es ist, aber ich will dich in Sicherheit wissen. Nicht in einigen Monaten und auch nicht in ein paar Wochen, sondern spätestens in ein paar Tagen!«

Sein Blick ging ihr durch und durch und sie nickte. »Wenn du einen Weg findest, der einigermaßen Erfolg verspricht, werde ich mich nicht dagegen sträuben – sofern es mir gelingt, Dele zu überreden, mit uns zu kommen. Denn Sarie wird keine Schwierigkeiten machen. Doch meine Schwester lasse ich nicht allein im Lager zurück, schon wegen Sarah nicht.«

»Deine Schwester mag nicht mit dir reden und alles ablehnen, was du tust und vorschlägst, aber wenn ich sie richtig einschätze, hat sie zehnmal mehr Angst als du, und die wird stärker als alles andere sein. So wie die Ruhr die Menschen hier dahinrafft, wird nicht einmal sie so töricht sein, sich der Krankheit auch nur einen Tag länger als nötig auszusetzen.«

»Ich hoffe, du hast recht.«

»Gott sei Dank, dass du einverstanden bist!«, stieß Lionel erleichtert aus und ritt wenig später nach Kroonstad, um mehrere Telegramme aufzugeben.

Vier angstvolle Tage vergingen, denn die Gerüchte, dass nun auch Typhus das Lager heimgesucht hätte, bestätigten sich. Lena vergaß ihre Bedenken, dass eine Flucht aus Kaalblad Kopje keine Aussicht auf Erfolg haben konnte, und setzte alle Hoffnungen auf Lionels Plan, über dessen Einzelheiten er sich jedoch nicht näher ausließ.

»Dafür ist es noch zu früh«, erklärte er, als sie ihn mit Fragen dazu bedrängte. »Einiges hängt noch in der Schwebe. Du wirst schon rechtzeitig erfahren, was du wissen musst.«

»Kann ich irgendetwas tun?«

»Nur beten, dass alles so klappt, wie ich es mir ausgedacht habe, und uns nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommt«, antwortete er.

Am späten Nachmittag des fünften Tages kehrte Lionel von einem weiteren Besuch in Kroonstad zurück, wo er angeblich den Dentisten aufgesucht hatte. Lena wartete wie abgesprochen in der Nähe des Tors auf seine Rückkehr und schlenderte zu den Baracken hinüber, als sie ihn ins Lager reiten sah.

»Heute Nacht geht es los!«, raunte er ihr zu, während er aus dem Sattel glitt und Lena scheinbar zufällig an ihm vorbeikam. »Wir treffen uns um zwei Uhr am neunten Pfosten des Südzauns, dort, wo auf der anderen Seite der mannshohe Termitenhügel steht.«

»Ja, verstanden«, erwiderte sie leise, blieb stehen und bückte sich, um sich an ihren Schnürsenkeln zu schaffen zu machen, als müsste sie sie neu binden.

»Bereite deine Schwester und euer Mädchen vor«, sagte er hastig, während er sich den Staub von der Uniform klopfte. »Und kommt ohne Gepäck. Es ist für alles gesorgt. Nehmt nur mit, was ihr auf keinen Fall zurücklassen wollt.«

»Ja.« Lena sah aus dem Augenwinkel Captain Somerset über den Platz kommen und ging schnell weiter. Ihr Herz jagte vor freudiger Aufregung. Endlich hatte das Warten ein Ende. Diese Nacht würden sie es wagen! Allein schon der Gedanke, in wenigen Stunden das Elend dieses Konzentrationslagers nach fast genau einem Jahr hinter sich lassen und bald wieder die Luft in Freiheit atmen zu dürfen, war berauschend wie … wie der Champagner auf nüchternen Magen damals in Johannesburg.

Lena lief die lange Gasse zu ihrem Zelt hinunter, weil sie es nicht erwarten konnte, Dele und Sarie die gute Nachricht zu bringen. Sarie traf sie jedoch nicht an. Sie trieb sich irgendwo im Lager herum. Und wie nicht anders erwartet, hatte sie ihre liebe Not, Dele dazu zu bringen, sich mit ihr so weit vom Zelt zu entfernen, dass weder Bertranella und Dorothea noch sonst irgendjemand hören konnte, was sie ihrer Schwester mitzuteilen hatte.

Unter stummem Protest ließ Dele sich vom Zelt wegzerren. Als sie dann von der vorbereiteten Flucht hörte, wurden ihre Augen weit vor ungläubigem Staunen. Lena glaubte, sogar eine Spur von jener Freude und Erleichterung darin entdecken zu können, die sie erfüllten.

»Verstehst du, was das bedeutet, Dele?«, redete Lena begeistert auf sie ein. »Lionel bringt uns hier heraus. Das Elend und die Schrecken haben für uns, deine Tochter und Sarie heute Nacht ein Ende. Wir bekommen neue Kleidung und Papiere, und Lionels Freunde werden uns irgendwo im Süden an einen Ort bringen, wo wir in Sicherheit sein werden und die restlichen Wochen oder Monate bis zum Ende des Krieges abwarten können, ohne jeden Tag von Hunger, Durst und Angst gequält zu werden!«

Noch immer sah Dele sie stumm an.

Lena rüttelte sie lachend an der Schulter. »Magtig, nun sag doch etwas, Dele. Wollen wir uns nicht endlich wieder versöhnen? Bitte, sag was!«

Dele schluckte schwer. »Warum soll ein britischer Spion und Lageroffizier wie dieser Lionel Faulkner so etwas für uns tun?«, stieß sie schließlich misstrauisch aus.

Lena war zu glücklich, dass ihre Schwester endlich ihr monatelanges Schweigen brach, um sich diesmal wieder an ihrer bösartigen Unterstellung zu stoßen. »Weil er mich liebt!«, erklärte sie spontan und umarmte ihre Schwester.

Dele erwiderte die versöhnliche Umarmung nicht, stieß sie aber auch nicht von sich. Steif stand sie da. »Und du? Liebst du ihn?«, fragte sie schroff.

Lena errötete. »Ich möchte nicht darüber reden, Dele«, antwortete sie ausweichend und mit einem verlegenen Lächeln, um dann hastig fortzufahren: »Und jetzt müssen wir auch erst einmal an heute Nacht denken. Die Swartkop-Schwestern dürfen auf keinen Fall Verdacht schöpfen, dass wir irgendetwas Ungewöhnliches vorhaben.« Und sie gab Lionels Anweisung, so gut wie kein Gepäck mitzubringen, an ihre Schwester weiter.

»Wir sollen alles zurücklassen, was wir von Leeuwenhof gerettet haben?« Dele klang empört.

»Wir retten unser Leben, Dele! Dagegen ist doch alles andere ohne Bedeutung!«

»Das sagst du so!«

»Wenn wir uns an unseren wakis zu schaffen machen und Sachen aussortieren und zusammenräumen, dann werden Bertranella und Dorothea garantiert misstrauisch werden!«, warnte Lena ihre Schwester. »Ich will gar nicht daran denken, was das für Folgen haben könnte: Aber wir reden nachher noch einmal darüber. Jetzt muss ich erst mal Sarie suchen.«

»Lass, das mache ich schon«, sagte Dele. »Ich wollte sowieso zur Promenade.«

Sarie kam jedoch zum Zelt zurück, als Dele sie noch im Lager suchte. Lena weihte sie unverzüglich in den nächtlichen Fluchtplan ein und Sarie weinte vor Freude.

Dele fand sich schließlich damit ab, alles im Zelt zurückzulassen, hatte jedoch in den langen Stunden des Wartens auf die Nacht große Mühe, ihre Nervosität unter Kontrolle zu halten.

Endlich erlosch der letzte Lichtschimmer am westlichen Horizont und die afrikanische Spätsommernacht legte sich mit samtener Schwärze über das veld.

Mit der Taschenuhr, die Lionel ihr gegeben hatte, in der Hand und von der Hitze, die sich noch immer im Zelt staute, und vor Aufregung in Schweiß gebadet, lag Lena im hinteren Ende ganz nahe an jener Stelle, wo vier Fuß über dem Boden ein handlanger Riss in der Zeltplane klaffte. Der Schimmer Mondlicht, der durch den fingerbreiten Spalt fiel, reichte aus, damit sie das Zifferblatt und die Zeiger der Uhr erkennen konnte.

Die Stunden von zehn Uhr bis kurz nach halb zwei erschienen Lena, aber wohl auch ihrer Schwester und Sarie wie eine Ewigkeit.

Als die Zeiger auf zwanzig vor zwei standen, nahm Lena das scharfe Küchenmesser, das sie bereitgelegt hatte, schob die Klinge in den Spalt und schnitt die Plane bis zum Boden auf. Das scharfe Geräusch ging ihr durch und durch, weil es ihr entsetzlich laut vorkam. Doch weder Bertranella noch Dorothea rührte sich auf ihrer Matratze beim Zelteingang.

Lena stieß ihre Schwester und Sarie an. Beide waren hellwach. Sarah dagegen schlief tief und fest, was ein Segen war. Sarie glitt zuerst durch den Schlitz ins Freie. Sie nahm Sarah, dann folgten Dele und Lena.

»Dem Herrn sei Dank, dass die Swartkops nichts gemerkt haben!«, stieß Sarie voller Erleichterung aus.

»Nicht rennen!«, sagte Lena, als ihre Schwester ihre Schritte beschleunigte. »Wir haben Zeit genug.«

Am südlichen Ende der Allee bei den beiden Zeltreihen vier und fünf, wo nach etwa vierzig Yards freiem veld der mehr als mannshohe Zaun aufragte, wandten sie sich nach links. Als sie sich dem neunten Pfosten näherten, trat ein Mann aus einer der oberen Zeltgassen.

»Das ist Lionel!«, flüsterte Lena. Sie erkannte ihn jedoch nicht allein an der Kleidung und dem alten Filzhut mit der breiten Krempe, sondern an seiner ganzen Haltung und seinen Bewegungen, die ihr im Laufe der Monate so vertraut geworden waren.

Dele sagte kein Wort zu ihm, als sie sich gegenüberstanden. »Wo sind deine Freunde, die uns aus dem Lager bringen wollen?«, fragte Lena mit gedämpfter Stimme.

»Da kommt euer Führer!« Lionel wies in die Nacht jenseits des Zauns, in dem ein Loch klaffte, das einem Menschen genügend Raum zum Durchschlüpfen bot.

Eine schemenhafte Gestalt lief in geduckter Haltung über das wellige veld auf den Zaun zu. Wenig später hatte sie ihn erreicht. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Lena, als sich der ganz in Schwarz gekleidete Mann durch die Öffnung im Maschendraht zwängte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, weil auch er einen Hut trug, doch seine Statur und seine Bewegungen kamen ihr bekannt vor und erinnerten sie an …

»Julian!«, rief sie fassungslos. »Magtig, du bist es wirklich!«

Dele gab hinter ihr einen Laut des Erschreckens von sich.

Lionel lachte. »Die Überraschung scheint gelungen.«

Julian nahm den Hut ab und Mondlicht erhellte sein fröhliches Gesicht. »Schön, dich wiederzusehen, Lena«, sagte er.

Lena zögerte, doch dann fiel sie ihm um den Hals. »Julian! Mit dir hätte ich am allerwenigsten gerechnet. Mein Gott, dass ausgerechnet du uns aus Kaalblad Kopje herausbringst …«

»Das ist allein Lionels Werk. Ich habe von ihm bloß die Einladung zu einem ganz besonderen Mondspaziergang bekommen, die ich einfach nicht ausschlagen konnte«, spielte er seine Rolle bei den Fluchtvorbereitungen herunter.

»Lena, um Gottes willen! … Ich … ich muss dir etwas sagen, solange noch Zeit dafür ist!«, stieß Dele stockend und hörbar verstört aus.

Lena löste sich aus Julians herzlicher Umarmung und drehte sich zu ihrer Schwester um. »Was hast du?«

»Ich habe nicht gewusst, dass Julian …«

Dele kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, denn in dem Augenblick drang eine schneidende Stimme aus der Zeltgasse hinter ihnen. Und diese Stimme gehörte Captain Somerset. »Niemand rührt sich von der Stelle! Das gilt auch für Sie, Lieutenant Faulkner! Wer zu fliehen versucht, wird ohne weitere Warnung erschossen!«

Gleichzeitig war das scharfe metallische Geräusch von Gewehren zu hören, die schussbereit gemacht und an die Schultern gelegt wurden.

Bis auf Dele fuhren alle zu Tode erschrocken herum. Ein gutes Dutzend Soldaten, das in den letzten Zelten vor dem Zaun nahe des neunten Pfostens auf der Lauer gelegen haben musste, trat nun mit Gewehr im Anschlag auf das freie Gelände hinaus. Unter diesen Umständen war ein Fluchtversuch reiner Selbstmord.

»O mein Gott!«, keuchte Lionel.

»Sie können uns nichts nachweisen!«, stieß Julian hastig aus. »Ich habe die Papiere für euch nicht bei mir. Sie sind bei Rykloff, der bei den Hügeln mit den Pferden wartet. Ich bin nur hier, um euch zu besuchen, vergesst das nicht!«

Lena fuhr zu ihrer Schwester herum, von der Erkenntnis wie von einem Blitz getroffen. »Du hast uns verraten!«, rief sie und wurde von einer Woge der Wut und Verzweiflung erfasst. »Du hast dein eigen Fleisch und Blut verraten!«

»Ich habe nicht gewusst, dass …«

»Du Judas! Du hast dein eigen Fleisch und Blut verraten, deinen Bruder! Wofür hast du ihn verkauft? Judas! … Judas!« Lena stürzte sich mit einem gellenden Schrei und geballten Fäusten auf ihre Schwester, riss sie zu Boden und schlug wie von Sinnen auf sie ein. Augenblicke später waren sie von Soldaten umringt. Raue Männerarme rissen sie grob zurück. Wimmernd und mit blutüberströmtem Gesicht lag Dele vor ihren Füßen.

Lena war wie benommen und fühlte nichts.

17

Eine Wellblechbaracke, die in sechs schmale Bretterverschläge mit bodenlangen Gittertüren unterteilt war, diente in Kaalblad Kopje als provisorisches Gefängnis. In den seltenen Fällen, da eine Zelle benötigt wurde, schafften Soldaten die eingelagerten Kisten und Säcke aus einem der Räume, stellten eine Feldpritsche und einen Blecheimer hinein – und fertig war die Zelle.

Lena saß auf einem dreibeinigen Hocker im Gang vor der Gittertür und rieb sich die schmerzenden Knöchel ihrer Hände. Julian hatte das Feldbett näher an das Gitter herangezogen und hockte auf dessen Kante. Der Wachsoldat, ein junger Bursche mit einem nervösen Augenzucken, stand am anderen Ende des Durchgangs gleich bei der Barackentür und ließ sie nicht aus den Augen.

»Bist du schon bei Lionel gewesen?«, fragte Julian.

Lena schüttelte den Kopf. »Ich habe es versucht, doch man hat mich nicht zu ihm gelassen. Captain Somerset hat ihn unter Hausarrest gestellt und Sergeant Finch hat vor Lionels Unterkunft Posten bezogen. Niemand darf zu ihm, und ich schon gar nicht«, sagte sie und fuhr sich mit der Hand über die Augen, als könnte sie wegwischen, was geschehen war. Obwohl nun schon Stunden seit der Verhaftung von Julian und Lionel vergangen waren, war die Benommenheit immer noch nicht ganz von ihr gewichen.

»Hat man dich anständig behandelt oder haben sie dir gedroht und gemein zugesetzt?« Seine Stimme war voller Besorgnis um ihr Wohlergehen.

»Was? Ja, sie haben uns vernommen … Jeden einzeln … Erst Sergeant Finch, dann der Captain selbst«, antwortete Lena und kam sich wie in einem allzu realistischen Albtraum vor. »Ich habe immer wieder dasselbe gesagt, nämlich dass ich von einer Flucht nichts weiß, dass du mein Bruder bist und uns wiedersehen wolltest und dass wir Lieutenant Faulkner zufällig dort am Zaun getroffen haben. Sie waren wütend, aber getan haben sie mir nichts.« Ihr Blick ging zum Wachsoldaten hinüber und mit etwas lauterer Stimme fügte sie hinzu: »Wie hätten sie auch, habe ich doch die Wahrheit gesagt. Es hat nie einen Fluchtplan gegeben, und schon gar keinen, an dem Lieutenant Faulkner beteiligt gewesen wäre.«

Julian lächelte anerkennend. »Das hast du gut gemacht, Lena«, lobte er sie. »Ohne Beweise hängen sie nämlich völlig in der Luft. Aber weißt du auch, was Dele ausgesagt hat?«

»Ja.«

»Und was?«

»Sie hat beharrlich abgestritten, jemals auch nur ein einziges Wort mit Sergeant Finch gesprochen, geschweige denn ihm irgendetwas von einem Fluchtplan erzählt zu haben.«

»Woher weißt du das?«

»Ich wurde zuerst vernommen. Doch als ich nicht die Antworten gab, die sie offenbar gern gehört hätten, holten sie Dele, wohl um mich mit ihrer Aussage zu konfrontieren und auf die von ihnen gewünschte Linie zu bringen«, berichtete Lena mit gedämpfter Stimme. »Sie waren sich ihrer Sache sehr sicher. Doch Dele hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie hat zum Schluss einen wahren Tobsuchtsanfall bekommen.« Lena biss sich kurz auf die Lippen. »Es war schrecklich, aber sie … sie hat uns nicht noch einmal verraten. Und Sarie hat sich natürlich völlig dumm gestellt.«

»Gott sei Dank!«, sagte Julian erleichtert. »Damit haben sie nichts gegen uns in der Hand, was vor einem Gericht Beweiskraft hätte. Jetzt können sie nicht einmal Lionel daraus eine Schlinge drehen. Wir haben noch einmal Glück im Unglück.«

»Das nennst du Glück?«, fragte Lena. »Meine eigene Schwester verrät uns, zerstört all unsere Hoffnung auf Freiheit, wohl weil sie Lionel vernichtet und mich leiden sehen will – und du sprichst von Glück im Unglück?«

»Es hätte schlimmer kommen können, Lena.« Er beugte sich zum Gitter vor und raunte: »Hätte ich die falschen Papiere für euch bei mir gehabt, hätte ich jetzt schon mal anfangen können, mit dem Leben abzuschließen und herauszufinden, wie stark mein Glaube im Angesicht eines Erschießungskommandos oder eines Galgens ist. Und Lionel wäre wohl eine Verurteilung durch ein Kriegsgericht genauso sicher gewesen. Ich finde, in diesem Licht betrachtet, können wir sogar von großem Glück reden, auch dass unsere Schwester sich noch einmal besonnen hat. Es war spät, aber gottlob nicht zu spät. Unter dem Strich also haben wir mehr Grund, uns zu freuen, als mit dem Schicksal zu hadern.«

Sie sah ihn ungläubig an. »Wie kannst du nur so ruhig sein und noch von Dele als deiner Schwester sprechen, nachdem sie uns das angetan hat und du nicht weißt, wie diese Sache wirklich ausgeht?«

»Dele ist und bleibt meine Halbschwester, ob wir uns nun verstehen oder nicht. Außerdem hat sie ja nicht gewusst, dass ausgerechnet ich euch bei eurer Flucht helfen würde.«

»So viel Verständnis, wie du für sie hast, habe ich nicht! Und in meinen Augen gibt es auch keine Entschuldigung für ihren Verrat!«, erwiderte sie heftig.

»Hast du es je für möglich gehalten, dass du eines Tages dazu fähig sein würdest, mit Fäusten auf deine Schwester loszugehen und sie blutig zu schlagen?«, fragte er, jedoch ohne Vorwurf in der Stimme.

»Es tut mir nicht leid!«, behauptete sie entrüstet, obwohl es nicht ganz der Wahrheit entsprach. »Und sie hat das mehr als verdient!«

»Vielleicht, aber das war nicht die Frage, Lena.«

Sie wich seinem Blick aus. »Nein, Julian«, gestand sie und verdrängte das Gefühl der Scham und Bestürzung über ihr blindwütiges Verhalten nicht länger. »Vermutlich hätte ich sie erschlagen, wenn mich die Soldaten nicht von ihr gerissen hätten. Ja, ich hätte meine eigene Schwester umgebracht – wie Kain seinen Bruder.« Sie lachte auf, um ihrer Erschütterung Herr zu werden. »Die eine Schwester ein Judas, die andere ein Kain. Was ist nur aus uns geworden?«

»Das ist der Krieg, Lena. Er bringt das Animalische, das Böse in uns zum Vorschein, besonders wenn wir dem Grauen und dem Elend des Kriegs zu lange ausgesetzt sind. Niemand kann sich davon freisprechen«, sagte er. »Wir fühlen uns den sogenannten Wilden gegenüber unendlich überlegen, weil wir ja gebildet sind und eine so hochstehende Kultur, Moral und Zivilisation entwickelt haben. Dabei ist unsere kultivierte Haut dünn wie Papier und darunter lauern all die animalischen Triebe, die wir in unserer Selbstüberschätzung allein den Wilden und unseren Feinden zuschreiben.«

»Dele war schon vor dem Krieg nicht viel anders. Und ich habe nie verstanden, wieso sie so ist und wir uns nie wirklich nahe gefühlt haben«, entgegnete Lena. »Aber warum darüber reden und die kostbare Zeit vergeuden. Wer weiß, wann ich dich wiedersehe.«

»Mach nicht so ein Gesicht, als stünde mir lebenslange Verbannung bevor!«, sagte er mit einer Unbekümmertheit, die natürlich wirkte.

Lena wurde aber dennoch den Verdacht nicht los, dass er ihr nur etwas vorspielte, damit sie sich nicht mit noch mehr Sorgen und Selbstvorwürfen quälte. »Mach mir doch nichts vor, Julian!«, erwiderte sie mit gedämpfter Stimme, damit der Wachsoldat sie nicht hören konnte. »Auch wenn sie dir das mit der Flucht nicht nachweisen können, werden sie dich nicht einfach so laufen lassen. Immerhin haben wir noch Krieg.«

Er lächelte fast schelmisch. »Ja, und ich habe noch immer einen französischen Pass – dank meiner Mutter. Noch kurz vor ihrem Tod hat sie mich beschworen, nur ja nicht meine französische Staatsbürgerschaft aufzugeben, schon nicht aus ehrenvollem Gedenken an meinen Vater. Dass er nicht mein leiblicher, sondern ›nur‹ mein legaler Vater war, der mich jedoch bedingungslos als sein Kind angenommen hat, habe ich erst nach dem Tod meiner Mutter aus ihrem Brief erfahren und das hat ihrem Wunsch noch mehr moralische Verpflichtung gegeben. Es bestand auch gar keine Notwendigkeit, die Staatsbürgerschaft in einer Stadt wie Kimberley zu wechseln, wo sich die Bevölkerung seit ihrer Gründung aus einem bunten Nationalitätengemisch zusammensetzt. Auf jeden Fall habe ich noch immer meinen französischen Pass.«

»Und was bedeutet das?«

»Dass die Briten in diesem Stadium des Kriegs sicherlich kein Interesse daran haben, wegen einer Lappalie diplomatische Schwierigkeiten mit Frankreich heraufzubeschwören. So wie die Dinge stehen, können sie mich also nicht einmal in ein Gefängnis oder ein Lager stecken, sondern höchstens des Landes verweisen.«

»Magtig, das ist schrecklich genug!«

»Ach was, wenn der unselige Krieg erst einmal vorbei ist, wird man vieles nicht mehr so überspannt sehen«, war Julian überzeugt. »Das ist noch immer so gewesen. Außerdem ist es sowieso mein Wunsch, zumindest einen Teil meiner Priesterausbildung in Europa zu absolvieren, am liebsten natürlich in Rom.«

»Du bist dir deiner Berufung zum Priesteramt also noch immer sicher?«

Seine Augen leuchteten. »O ja, mehr denn je.«

Sie sah ihn fast neidvoll an. »Und Gott …« Sie zögerte.

»Ja, Lena?«

»Dein Glaube an Gott ist trotz des Kriegs, der so viel Tod und Elend gebracht hat, noch genauso unerschütterlich wie davor?«

»Warum soll der Krieg, so abscheulich und unmenschlich er auch sein mag, meinen Glauben an Gott erschüttern?«, fragte er zurück.

Sie zuckte mit den Schultern. »Wie kann Gott, wenn er doch der Gott der Liebe und Barmherzigkeit ist, dieses jahrelange Morden zulassen?«, forderte sie ihn heraus. »Was für ein Gott ist er, dass er untätig zuschaut, wie Menschen, die sich vorher nie begegnet sind, mit mörderischem Hass übereinander herfallen und wie ein ganzes Volk in Konzentrationslagern eingesperrt wird, die mehr Tote unter Kindern, Frauen und Alten fordern, als vermutlich Soldaten im Kampf gefallen sind! Warum schreitet er nicht ein, Julian? Vielleicht hat er ja seinen Spaß daran. Oder aber er ist machtlos.«

Julian schwieg einen Moment. »Du findest also, Gott müsste eingreifen, wenn wir Menschen uns nicht an seine Gebote halten?«

»Warum nicht?«

Er nickte. »Ja, warum nicht. Aber sag mir, wann genau er eingreifen soll?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Er hätte diesen jahrelangen Krieg verhindern können, der so viel Mord und Totschlag und Elend über die Menschen gebracht hat!«

»Ja, ich gebe zu, das wäre wirklich eine noble Aufgabe für Gott gewesen. Aber nach dieser Logik, die Gott zum allgegenwärtigen Schutzengel und göttlichen Schutzmann macht, müsste er da nicht auch eingreifen, wenn beispielsweise jemand in Friedenszeiten kurz vor einem Mord oder Totschlag steht?«

»Ich hätte nichts dagegen«, sagte Lena fast trotzig.

Er lächelte. »Wie sieht es mit Folter aus, Lena? Mit Brutalitäten und Qualen aller Art, die manchmal schrecklicher sind als jeder Mord. Soll Gott sich auch darum noch persönlich kümmern? Und was ist mit den Menschen, denen ein Unglück zustößt? Soll er rettend eingreifen, wenn ein Passagierschiff im Sturm unterzugehen oder eine Familie in einem Feuer umzukommen droht? Soll er den jungen Mann, der in die Berge geklettert ist, vom Sturz in die Tiefe bewahren oder soll er nur Familienväter und Mütter retten? Sag, wo soll Gott die Grenze seines rettenden Einsatzes ziehen?«

»So, wie du es darstellst, klingt es lächerlich, was ich von Gott verlangt habe«, räumte Lena widerstrebend ein.

»Nicht lächerlich, sondern nur widersinnig«, sagte er. »Wir rufen immer nach Gott und fordern als Beweis seiner Liebe, ja seiner Existenz stets dann sein Eingreifen, wenn uns persönlich etwas betrifft und wir uns nicht zu helfen wissen. Doch Gott hat uns als sein Ebenbild erschaffen, nicht als seine Marionetten.«

»Aber sind wir angeblich nicht Gottes Kinder?«

»Ja, durch Jesus Christus. Unser Leben ist unabänderlich mit Gott verbunden, doch er ist nicht der Drahtzieher in der himmlischen Kulisse, der den Ablauf der menschlichen Geschichte bestimmt wie ein Puppenspieler.«

»Aber wenn er uns wirklich liebte …«, setzte Lena zu einem Einwand an.

Leidenschaftlich fiel er ihr ins Wort. »Gerade weil Gott uns liebt und auf unsere Gegenliebe wartet, hat er uns in die Freiheit entlassen. Denn Liebe kann nur aus freien Stücken erwachsen. Freiheit aber birgt in sich immer auch die Möglichkeit des Missbrauchs. Der Mensch kann sich Gottes Liebe entziehen und sich ihm verweigern, indem er sein Glück fern der gottgegebenen Ordnung und Werte sucht, obwohl sie doch seinem Wohl dienen. Der Mensch vermag sich nun mal ebenso für das Gute wie für das Böse zu entscheiden, gerade weil Gott ihm das Geschenk der Freiheit nicht entzieht – im Gegensatz zur Willkürherrschaft eines totalitären Herrschers, der seinen Sklaven oder Untergebenen nach Gutdünken heute großzügige Freiheiten gewährt und sie morgen, wenn es ihm aus irgendeinem Grund nicht mehr passt, ebenso willkürlich widerruft. Gott ist nicht wankelmütig, der Mensch ist es. Sein Glaube wankt immer dann, wenn die Freiheit sich als Bürde erweist und sein Leben nicht den Verlauf nimmt, den er sich wünscht. Es ist natürlich einfacher, Gott auf die Anklagebank zu zerren und ihn für alles Leiden verantwortlich zu machen, als Eigenverantwortung zu zeigen und die uns von Gott gegebene Freiheit nach dem Gebot der Nächstenliebe zu leben. So gesehen ist Gott auf gewisse Weise natürlich schon ohnmächtig, indem er nämlich die Freiheit des Menschen respektiert und all unserer verpassten Chancen und unseres immer wieder schuldhaften Versagens zum Trotz geduldig wartet, dass seine Liebe in unseren Herzen und in unserem Leben Widerhall findet.«

Ein schwaches Lächeln huschte über Lenas Gesicht. »Mit dem Predigen wirst du bestimmt keine Schwierigkeiten haben, Julian«, sagte sie, doch dann wurde sie wieder ernst. »Aber was ist, wenn … wenn es Gott überhaupt nicht gibt? Wenn er bloß ein Traumbild, eine Einbildung des Menschen ist.«

»Eine Welt ohne Gott ist eine absurde Welt.«

»Das behauptest du. Aber wer kann denn beweisen, dass es Gott gibt?«, hielt sie ihm vor.

»Niemand kann Gottes Existenz beweisen, was auch paradox wäre, denn Gott ist per definitionem der Unfassbare, der Unvorstellbare und Unermessliche, der alle Dimensionen menschlichen Begriffsvermögens sprengt. Er ist das letzte und unendliche Geheimnis und damit auch unaussprechlich erhaben über alles, was vom Menschen gedacht werden kann. Nein, seine Existenz lässt sich nicht beweisen …«

»Siehst du!«

»Aber ebenso wenig lässt sich die Nicht-Existenz Gottes beweisen«, fuhr Julian fort. »Kein Wissenschaftler vermag das und kein Philosoph. Es ist also ein Trugschluss, wenn man aufgrund der Nicht-Beweisbarkeit Gottes auf seine Nicht-Existenz schließt. Das ist genauso unsinnig, als würde man sagen, Liebe gibt es gar nicht, weil sie sich in einem wissenschaftlichen Experiment nun mal nicht nachweisen lässt. Mit der Liebe zwischen zwei Menschen verhält es sich nämlich wie mit dem Glauben: Beides wird von einem Wissen aus Gewissheit genährt. Es ist ein Wissen, das sich nicht den Beweisen der Wissenschaft verdankt, sondern das man in sich spürt und als wahr weiß. Oder glaubst du erst an die Liebe, wenn dir ein Wissenschaftler nüchterne Beweise für ihre Existenz vorlegt?«

»Natürlich nicht«, sagte Lena. »Aber warum nur ist es oft so schwer, am Glauben festzuhalten und nicht zu zweifeln?«

»Weil nur der wirklich zu Gott findet, der sich ihm öffnet und sich zu ihm auf den Weg macht, denn Gott ist keine mathematische Formel, die man durch einen Beweis begreift und auswendig lernt«, antwortete Julian. »Der Verstand kann Gott niemals fassen. Nur das Herz vermag das. Und jemand, der allen Menschen von vornherein mit Ablehnung und Misstrauen begegnet und sich Gefühlen völlig verschließt, der wird niemals das Wunder der Liebe erfahren. Genauso verhält es sich mit dem Glauben und den Glaubenserfahrungen. Denk doch bloß an die Glasfenster einer Kirche. Wer draußen bleibt, erblickt so gut wie nichts von ihrer Schönheit. Nur wer sich hineinbegibt und zu sehen bereit ist, kann sich von ihrer Farbenpracht und Erhabenheit überwältigen lassen.«

Lena lächelte. »Die Antworten genügen nie, weil immer eine Frage zu viel da ist, nicht wahr?«

»Ja, und aus jeder Frage, die die Wissenschaft gelöst hat, ergeben sich zehn neue. Aber was wäre der Glaube auch wert, ja, wozu bräuchten wir ihn überhaupt, wenn Gott beweisbar wäre wie der Gefrierpunkt von Wasser? Gott will unsere Liebe und Anbetung, nicht unsere unvermeidliche Unterordnung unter etwas, was nun mal bewiesen ist und sich so wenig ändern lässt wie etwa die Tatsache, dass ein Stein, den man in die Luft wirft, wieder zu Boden fällt.«

Lena streckte die Hände durch das Gitter nach ihm aus. »Hier sitzen wir uns gegenüber und reden über Gott und Glaube, als hätten wir alle Zeit der Welt. Dabei wissen wir nicht, wie lange es dauert, bis wir uns wiedersehen.«

Er ergriff ihre Hände und hielt sie fest. »Wir haben über das Wichtigste gesprochen. Oder gibt es etwas im Leben, das wichtiger wäre als Glaube, Hoffnung und Liebe?«

Sie lächelte ihn an. »Nein, Julian«, sagte sie leise und spürte eine Liebe zu ihm, die ohne Schmerz und Bitterkeit und ohne Begehren war. Jetzt, fast drei Jahre nach jener Nacht in Johannesburg, liebte sie ihn wie eine Schwester, die sich mit ihrem Bruder besonders innig verbunden fühlte, ohne dabei jedoch völlig unempfänglich für seinen Charme und seine männliche Attraktivität geworden zu sein. Julian würde immer einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen einnehmen.

Sie sahen sich schweigend an und in diesem Schweigen lag so viel Frieden, Wärme und Zuneigung, dass Lena die Tränen kamen.

»Weg da vom Gitter!«, unterbrach die schroffe Stimme des Soldaten diesen wunderbaren Moment stummer Versöhnung. »Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr von der Tür fortbleiben sollt? Es reicht jetzt auch, Miss! Genug gequatscht. Kommen Sie, Miss!« Lena versuchte, den Soldaten zu ignorieren. »Ich habe Angst, dich nicht wiederzusehen, wenn ich dich jetzt loslasse«, sagte sie mit erstickter Stimme.

Er lächelte sie an. »Wir sehen uns wieder, ganz sicher, auch wenn es etwas dauern sollte. Ich werde euch schreiben, sowie ich kann.«

»Ja, ich werde ganz fest an dich denken …«

»Und bete für mich, wie ich für dich beten werde.«

»Ja, das werde ich«, flüsterte sie.

»Schluss, habe ich gesagt! Sind Sie taub, Miss?«, rief der Soldat ungehalten. »Oder muss ich erst nachhelfen.«

Langsam glitten ihre Hände auseinander.

»Ich bin sicher, dass Captain Somerset uns vom Hals haben will. Bestimmt lässt er uns gleich nach Sonnenaufgang nach Kroonstad bringen, damit an höherer Stelle entschieden werden kann, was mit uns geschehen soll«, nahm Julian an. »Falls ich Gelegenheit habe, mit Lionel zu reden oder ihm eine Nachricht zukommen zu lassen, soll ich ihm etwas Besonderes von dir ausrichten?«

Lenas Antwort kam ohne Zögern. »Ja, sag ihm, dass ich auf ihn warte, wie lange es auch dauern mag!«, erklärte sie mit fester Stimme.

Julians Lächeln verriet, dass er längst darüber unterrichtet war, was Lionel für sie empfand. »Ich glaube, das weiß Lionel auch so. Aber ich werde es ihm dennoch gern ausrichten. Und er wird dich keine Stunde länger warten lassen, als man ihn zwingt.«

Der Wachsoldat kam wütend den Gang hinunter, packte Lena an der Schulter und riss sie vom Gitter zurück. »Raus jetzt!« Er stieß sie in Richtung Barackentür.

Julian rief ihr einen Segensgruß nach. »Und geh nicht zu hart mit unserer Schwester ins Gericht. Sie weiß nicht, was sie getan hat, und ist schon mit sich selbst gestraft genug!«

Lena trat aus der Baracke ins Freie.

Im Osten leuchtete der Himmel in rotgoldenen Farben. Ein neuer Tag begann in Kaalblad Kopje und der Leichenbestatter machte sich mit seinem Kastenwagen auf seine Runde durch das Lager.

18

Ein Korporal hatte Sergeant Finch als Wache vor der Baracke abgelöst, in der Lionel unter Hausarrest gehalten wurde. Lena lief sofort zu ihm hinüber und versuchte nun bei ihm ihr Glück, Lionel sprechen zu dürfen. Der Korporal zeigte sich jedoch genauso abweisend wie Sergeant Finch.

»Nur fünf Minuten!«, flehte sie ihn an. »Nur für einen Augenblick!«

Aber alles Flehen und Zureden vermochte den Mann nicht zu erweichen. Stur berief er sich auf seinen Befehl, niemanden zu Lieutenant Faulkner zu lassen.

Lena kehrte nicht zu ihrem Zelt zurück, sondern begab sich auf die andere Seite des Vorplatzes und hockte sich an einer Stelle in den Sand, von wo aus sie Lionels Unterkunft gut im Blick behalten konnte.

Julian hatte richtig vermutet. Lionel und er wurden kurz nach Sonnenaufgang unter starker Bewachung aus dem Lager gebracht. Sofort nach dem Soldatenappell, der an diesem Morgen besonders zackig ausfiel, weil Captain Somerset ausnahmsweise mal keinen Rausch ausschlief, sondern gestiefelt und geschniegelt auf der Veranda seiner Baracke stand, schallten die entsprechenden Befehle über den Platz. Minuten später verließ die Eskorte mit Julian und Lionel in ihrer Mitte und unter Führung von Captain Somerset das Lager.

Lena lief zum Tor, als sich die Kavallerieabteilung in Bewegung setzte. Zu ihrer großen Erleichterung sah sie, dass Lionel die Demütigung erspart blieb, mit gefesselten Händen weggebracht zu werden. Auch trug er seine Uniform mit allen Rangabzeichen, nicht jedoch die Pistole, die jeder Offizier gewöhnlich im Lederholster am Gürtel mit sich führte. Sein Gesicht wies eine leichte Blässe auf, aber er hielt sich aufrecht und ging hocherhobenen Hauptes zu seinem Pferd, als man ihn aus der Baracke führte. Alles an seiner Haltung verriet, dass sein Stolz und sein Ehrgefühl unangetastet waren von dem, was mit ihm geschah.

Sie wollte seinen Namen rufen. Tausend Worte, die sie ihm sagen wollte, drängten sich von ihrem Herzen auf ihre Zunge. Sie wollte ihm so viel zurufen, was sie für ihn empfand, was ihm Mut machte und ihm Kraft gab. Aber kein Ton kam über ihre Lippen. Sie wagte es nicht, weil sie fürchtete, dadurch seine Lage nur noch zu verschlimmern.

Doch Lionel sah sie. Sein Gesicht schien zum Leben zu erwachen, als er die Zügel seines Pferdes aufnahm und sie dabei erblickte. Alle Sorgen und Kümmernisse schienen von einer Sekunde auf die andere von seinem Antlitz gewischt zu sein. Er lächelte sie an, als wäre sie es, die des Zuspruchs und der Tröstung bedurfte. Und als er in der Nähe des Tors mit ihr auf einer Höhe war, legte er die Finger seiner Hand kurz auf seine Lippen und blies ihr einen Kuss zu.

Und er formte Worte, die sie ihm von den Lippen zu lesen versuchte. Doch was war es, was er ihr da noch im letzten Moment mitteilen wollte?

Ich liebe dich, Lena? Ich komme zu dir zurück?

Ja, etwas in diesem Sinne!

Die Abteilung ritt durch das Tor und die Rücken der Soldaten verwehrten jeden weiteren Blick auf Lionel. Die Staubwolke, die die Reitergruppe wie einen schmutzigen Schleier hinter sich herzog, hüllte sie ein. Doch sie wandte sich nicht ab, sondern stand am Zaun und schaute den Reitern nach, bis das veld sie verschluckt hatte und nicht mal mehr eine Staubfahne von ihnen kündete.

Als der Horizont verlassen unter dem rasch aufsteigenden Glutball lag, presste sie die Stirn gegen den harten Maschendraht und schloss die Augen. Sie weinte jedoch nicht. Ihr war, als wäre ihr Vorrat an Tränen erschöpft.

19

Sarie machte sich gerade an der Kochstelle vor dem Zelt zu schaffen, als Lena die Gasse herunterkam. Sie blickte kurz auf, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, deutete mit dem Feuerhaken in Richtung Zelteingang, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem primitiven Herd zu.

Lena betrat das Zelt und war im ersten Moment überrascht, weder Bertranella noch Dorothea zu erblicken. Noch nie zuvor hatten die Swartkop-Schwestern das Zelt zur selben Zeit verlassen.

Dann bemerkte sie zu ihrer wachsenden Verwunderung, dass nicht nur die Schwestern verschwunden waren, sondern auch ihre Matratzen und ihre anderen persönlichen Habseligkeiten. Nichts deutete mehr darauf hin, mit welcher Verbissenheit sie monatelang ihre Plätze am Eingang verteidigt und mit welcher Skrupellosigkeit sie sogar ein Baby wie Sarah bestohlen hatten. »Sie sind weg«, kam Deles tonlose Stimme aus dem Halbdunkel des Zelts. »Für immer. Sergeant Finch hat Wort gehalten. Wir haben das Zelt jetzt ganz für uns allein.«

»Also das ist der Judaspreis!«, sagte Lena hart.

»Er hat mir versprochen, dass uns nichts geschieht. Und du hast Bertranella und Dorothea genauso verabscheut wie ich!«, verteidigte sich Dele, doch ohne Nachdruck. Ihrer Stimme fehlte jegliche Aggressivität, die sie sonst stets Lena gegenüber an den Tag gelegt hatte. Sie klang, als wäre in dieser Nacht etwas in ihr unwiderruflich zerbrochen, was sie bis dahin zu Hass und Missgunst angetrieben hatte.

»Du hast den Mann verraten, der uns mehr als bloß ein stinkendes Zelt für uns allein schenken wollte, nämlich die Freiheit!«, warf Lena ihr vor.

»Wir wären nicht weit gekommen.«

»Diese Rechtfertigung ist so absurd und an den Haaren herbeigezogen, wie dein Verrat abscheulich ist!«, fuhr Lena sie erregt an.

»Na, das passt ja ganz ausgezeichnet, da doch hier eigentlich alles abscheulich ist«, erwiderte Dele matt. »Und warum soll es ausgerechnet uns besser gehen, als all den anderen Lagerinsassen, die niemanden haben, die eine Flucht für sie aus Kaalblad Kopje organisieren können, und die keine geheimen Freunde unter den verfluchten rooineks besitzen? Wir haben nichts Besseres verdient als unsere Landsleute. Also was regst du dich so auf? Ich habe bei den Vernehmungen den Mund gehalten, oder? Julian und dein feiner Offizier kommen doch mit dem Schrecken davon. Und du bist ja selber schuld, dass du dich mit einem britischen Offizier eingelassen hast!«

»Wie kann man nur so verbohrt sein und so dumm daherreden!«, regte sich Lena auf.

Sarah krabbelte von der Matratze und Dele folgte ihr aus dem Dunkel ins helle Sonnenlicht. »Denk doch von mir, was du willst«, sagte sie gleichgültig.

Lena erschrak, als das Gesicht ihrer Schwester aus dem gnädigen Halbdunkel auftauchte. In der Nacht bei der Vernehmung hatte Dele schlimm genug ausgesehen, obwohl sie sich vorher das Blut vom Gesicht gewaschen hatte. Doch erst jetzt war zu erkennen, was ihre, Lenas, Schläge angerichtet hatten.

Das Gesicht ihrer Schwester war angeschwollen und die Haut begann sich an vielen Stellen zu verfärben. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt. Eine zweite, hässliche Platzwunde zog sich über ihren linken Wangenknochen. Das Auge darüber war unförmig angeschwollen, dass es fast geschlossen war. Und über ihre Stirn zogen sich drei blutige Kratzer, die wohl ihre Fingernägel hinterlassen hatten.

Dele nahm Sarah hoch und begegnete Lenas entsetztem Blick, als sie zu ihr aufschaute. »So bist du nun mal, Schwester. Du tust nichts Halbes«, sagte sie sarkastisch. »Was meine so unübertrefflich tüchtige und pflichtbewusste ältere Schwester in die Hand nimmt, das macht sie richtig.«

Lena schluckte und wurde von Reue und Scham gepackt. Wie hatte sie nur so die Kontrolle über sich verlieren und derart auf ihre Schwester einschlagen können? Auch wenn Dele tausendmal Prügel verdient gehabt hatte, das hätte sie ihr nicht antun dürfen!

Erschüttert über ihren eigenen Sturz in die Haltlosigkeit, ging sie vor ihrer Schwester in die Knie. »O mein Gott, das habe ich nicht gewollt«, flüsterte sie und streckte die Hand nach Deles Gesicht aus.

Ihre Schwester zuckte unter der Berührung zurück, doch nicht aus Schmerz. »Spar dir dein Mitleid, Lena! Und wage es bloß nicht, mich um Verzeihung zu bitten, denn ich denke gar nicht daran, dir zu verzeihen. Ich bin froh, dass du mich so übel zugerichtet hast. Ich habe lange genug unter deiner unerträglichen Großherzigkeit und Selbstlosigkeit und deinem Arbeitseifer und Pflichtgefühl gelitten. Jetzt weiß ich, dass du auch nicht viel besser bist als ich!«

Lena sah sie verstört an. »Natürlich bin ich das nicht! Wie bist du bloß auf diesen unsinnigen Gedanken gekommen, Dele? Ich wollte doch immer nur …«

Dele hörte sie gar nicht. »Wie habe ich darunter gelitten, dass ich niemals so anständig und tüchtig sein würde wie du, obwohl ich es mir so sehr gewünscht habe. Ich wollte so sein wie du, und wie oft habe ich es versucht, aber ich konnte einfach nicht über meinen Schatten springen. Ich habe nicht die Ausdauer und den Willen und auch nicht deine Rechtschaffenheit.«

»Um Gottes willen, Dele! Was hast du dir da bloß eingeredet? Mir ist nie der Gedanke gekommen …«

»Ihr alle habt gedacht, ich hätte mit Julian nichts zu schaffen haben wollen, weil er ein Bastard ist und ein Katholik, wie sich später herausgestellt hat. Aber dem ist nicht so. In erster Linie habe ich ihn abgelehnt, weil er all seine Aufmerksamkeit nur dir geschenkt hat!«

»Aber das stimmt doch gar nicht!«

»Und ich habe Fabricius auch nicht aus Liebe verführt und geheiratet, sondern weil er eigentlich dich wollte und weil ich ihn dir schon deshalb nicht gegönnt habe«, fuhr Dele unbeirrt fort, als hätten sich in ihrer Seele Schleusen geöffnet, die sich unter dem Druck der angestauten und nun herausströmenden Empfindungen nicht mehr schließen ließen. »Oh, ich weiß, du hättest so etwas Gemeines nie getan, nicht mal im Traum hättest du daran gedacht. Und natürlich hättest du Fabricius auch nicht verführt, wie du ihm bestimmt auch kein Mädchen, sondern, ganz die zuverlässige Lena, einen Sohn geschenkt hättest. Ja, du hättest auch da alles richtig gemacht und weder deinen Mann noch deine Schwiegereltern enttäuscht. Auf dich war immer Verlass. Schon als Kind war an deinen Näharbeiten nie etwas auszusetzen gewesen. Mir hätte Pa niemals die Leitung der Farm übergeben, auch wenn ich die ältere von uns beiden gewesen wäre. Und sogar Tante Sophie hat sich immer zuerst an dich gewandt, wenn sie etwas ganz Besonderes erledigt haben und gewiss sein wollte, dass es auch in ihrem Sinne getan wurde. Ja, das lassen wir Lena machen, unsere tüchtige, zuverlässige, treuherzige, arglose und immer versöhnliche Lena! Gott, wie habe ich dich beneidet und angehimmelt! Und als ich nicht so sein konnte wie du, da habe ich alles versucht, um dich zu verachten und …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf.

Lena war im ersten Moment sprachlos vor Fassungslosigkeit und Bestürzung. Dann stammelte sie: »Dele, so wie du … mich beschrieben hast … war ich nie.« Sie dachte an all die Lügen und Verfehlungen, die sie auf sich geladen hatte, als sie in glühender Leidenschaft zu Julian entbrannt und bereit gewesen war, jede Art der Schuld auf sich zu nehmen. »Wenn du bloß wüsstest, welche …«

Erneut schnitt Dele ihr das Wort ab und diesmal mit mehr Schärfe. »Erspar mir deinen großherzigen Versuch, mir weismachen zu wollen, dass du in Wirklichkeit eine ganz andere, niederträchtige Person bist. Mir reicht es. Wir sind quitt, Lena. Wir sind quitt«, wiederholte sie wie eine magische Befreiungsformel. »Wir sind quitt. Das reicht mir. Ich will nicht mehr darüber reden und ich werde es nicht, egal, was du auch unternimmst.«

Lena sah ihr an, dass jeder Versuch, mit ihr reden zu wollen, sinnlos war. Sie nickte. »Also gut, wir sind quitt. Und von mir wird keiner erfahren, was letzte Nacht passiert ist.«

»Wie edelmütig«, erwiderte Dele mit müdem, halbherzigem Hohn. »Aber du brauchst dir auch gar nicht die Hände dreckig zu machen und dein blütenweißes Gewissen damit zu beschmutzen, denn Pa und Adriaan und Fabricius werden es auch so irgendwie erfahren.«

»Dele …«

»Doch es macht nichts«, fuhr ihre Schwester gleichgültig fort. »Es ist mir egal. Ich bereue es nicht, kein bisschen. Wir sind quitt, Lena!« Damit nahm sie ihr Kind und zog sich wieder in das Halbdunkel zurück.