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Zum Buch

„Da hätten sie mir den Kopf abreißen können“, sagt die heute 95-jährige Hilde Kerer, die 1939 für Deutschland optierte. Weil sie die Freundschaft zu einer Dableiberin nicht aufgeben wollte, wurde die Brixnerin von Gleichgesinnten geschnitten. Dieser Druck, der sich in der Zeit zwischen italienischem Faschismus und aufkeimendem Nationalsozialismus in der Südtiroler Gesellschaft aufbaute, war prägend für Kerer.

1940 wanderte sie ins Deutsche Reich aus und wurde zu einem sogenannten Blitzmädel, einer Nachrichtenhelferin der Wehrmacht. Ab 1943 fand sie sich mitten im Krieg vorerst in Russland und dann in Frankreich wieder, wo sie nach der Invasion der alliierten Streitkräfte einen Bombenabwurf überlebte, der zwei ihrer Kolleginnen das Leben kostete.

Die weibliche Kameradschaft war für Kerer ein geschütztes Umfeld, in dem sie die Schrecken des Krieges und der deutschen Besatzung ausblenden konnte. Das Erlebte vertraute sie zwischen 1942 und 1944 ihrem Tagebuch und Jahrzehnte später dem Journalisten Thomas Hanifle an, der ihre Erinnerungen in das vorliegende Buch einarbeitete.

Mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur in der

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Die Buchreihe Memoria mit Aufzeichnungen, Tagebüchern und Biografien aus dem 20. Jahrhundert wird von der Stiftung Südtiroler Sparkasse unterstützt.

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© Edition Raetia, Bozen 2014

Grafisches Konzept: Dall’O & Freunde

Sämtliche Bilder stammen aus dem Fotobestand von Hilde Kerer (außer Abb. 21 bis 24: Fotobestand M. Planinschek, Brixen).

ISBN Print: 978-88-7283-480-0

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com

Inhaltsverzeichnis

Thomas Hanifle: Schöne Momente im Krieg

Geboren im Rösslwirt

Italienische Schule

In der Geheimschule

Deutsch werden

Von der Heldin zur Verräterin?

Neue Freiheiten

Auf zur Wehrmacht

In Minsk

„Du Hitler, ich Stalin“

Wieder in Gießen

Riss in der Gemeinschaft

Versetzung nach Frankreich

Traurige Weihnachten

Ein überschaubares Städtchen

Schlimmer als ein Alptraum

Das Ende naht

Endlich nach Hause

Der Kern meines Lebens

Siglinde Clementi: Sich wehren und hartnäckig sein

Schöne Momente im Krieg

In Poitiers, einer Stadt im Westen Frankreichs, begann der Tag am 6. Juni 1944 mit einem Fliegeralarm. Rund 400 Kilometer entfernt hatten die Alliierten zum Sprung über den Kanal angesetzt und erste deutsche Gefechtsstände überrannt. Mehr als drei Millionen britische und amerikanische Soldaten machten sich auf den Weg, Hitlers Herrschaft zu beenden. Die Lage in Poitiers wie in vielen anderen von den Deutschen besetzten Städten der Gegend war an diesem Tag angespannt. Hilde Kerer, die hier seit Weihnachten 1943 als Nachrichtenhelferin der Wehrmacht Dienst tat, packte vorsorglich ihren Koffer. 70 Jahre sind seit diesem Tag vergangen, der als D-Day in die Geschichte einging.

Hilde Kerer sitzt auf einem Sessel in ihrem Wohnzimmer in Brixen, das der gelernten Schneiderin früher als Arbeitszimmer diente. Erinnerungen an eine andere Zeit umgeben die heute 95-Jährige: Ein gerahmtes Bild ihrer Eltern steht auf dem Fernseher – der Vater starb, als sie sechs Jahre alt war. In einer Vitrine hat sie Fotos von Kolleginnen aus ihrer Zeit bei der Wehrmacht platziert. Was sich an diesem 6. Juni 1944 in Frankreich abspielte, davon kann Kerer nur mehr wenig berichten. Mehr Aufschluss über den D-Day gibt ihr Tagebuch, in das sie damals notierte: „Heute, in den frühen Morgenstunden sind die Angloamerikaner auf französischem Boden gelandet. Wir hatten um 04.50 Fliegeralarm.“ Erst zwei Monate später verließ Kerer Frankreich fluchtartig Richtung Deutschland. Das Kriegsende erlebte sie nach Zwischenstationen in Gießen und Trient in ihrer Heimatstadt Brixen.

Kerer war erst 21 Jahre alt, als sie Südtirol 1940 nach der Option für Deutschland freiwillig verließ und vorerst in Innsbruck, dann in der Heeresschule für Nachrichtenhelferinnen in Gießen in Hessen landete. So wurde sie eine von rund einer halben Million junger Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs alleine bei der Wehrmacht beschäftigt waren: als Nachrichten- und Flakwaffenhelferinnen oder als Stabs-, Sanitäts- oder Luftschutzwarndiensthelferinnen. Fast eine weitere Million war beim Reichsluftschutzbund oder beim Deutschen Roten Kreuz tätig und 10.000 Helferinnen arbeiteten in Konzentrationslagern und bei SS-Einsatzgruppen, darunter auch manche Südtirolerin. Die Frauen ersetzten frontkommandierte Männer und fanden sich mitten im Krieg und an allen Kriegsschauplätzen wieder.

Die Forschung schenkte dieser weiblichen Mithilfe bisher kaum Aufmerksamkeit. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs schwiegen die Helferinnen weitgehend über das Erlebte und fügten sich vorwiegend in eine unpolitische Opfer- und Mitläuferrolle ein, die ihnen zugeschrieben wurde. Seit den 1990er-Jahren rückte zwar die Frage nach weiblicher Täterschaft ins Zentrum der Forschung, aber eine differenzierte Aufarbeitung, die alle Facetten der Beteiligung von Frauen an Krieg und Nationalsozialismus behandelt, steht nach wie aus.

Dabei waren schon allein die Gründe ihrer Kriegsteilnahme vielfältig: Vor allem am Anfang meldeten sich Frauen freiwillig aus Kriegsbegeisterung und ideologischer Überzeugung für den Kriegseinsatz. Außerdem wollten viele der jungen Kriegshelferinnen, die mindestens 21 Jahre alt und ungebunden sein mussten, der Enge des Elternhauses entfliehen und etwas von der Welt sehen. Später dann, als sich der Krieg für Hitler-Deutschland zum Negativen wendete, wurden die Mädchen auch zwangsdienstverpflichtet.

Hilde Kerer meldete sich freiwillig zur Wehrmacht. Sie erwartete sich, etwas Neues erleben und reisen zu dürfen. Deshalb hatte sie auch Südtirol den Rücken gekehrt: Sie wollte „wieder offen deutsch sein“ und etwas von der Welt kennenlernen, wie sie sagt. Ihre Erfahrungen unter dem italienischen Faschismus und ihre Nähe zum aufkeimenden und „hausgemachten“ Nationalsozialismus in Südtirol spielten in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Dass sie außerdem von Freunden und Bekannten geschnitten wurde, weil sie die Freundschaft zu ihrer besten Freundin nicht aufgeben wollte, die sich bei der Option für den Verbleib im italienischen Südtirol ausgesprochen hatte, verstärkten ihren Entschluss, fern von Südtirol ihr Glück zu versuchen.

Nach ihrer Ausbildungszeit wurde Hilde Kerer als Nachrichtenhelferin vorerst nach Minsk ins heutige Weißrussland und dann nach Poitiers versetzt, wo sie als Fernmeldesprecherin vor allem Telefondienst verrichtete. Sie wurde zu einem von rund 30.000 Blitzmädel – so wurden die Nachrichtenhelferinnen (Fernmeldesprecherinnen und –schreiberinnen) aufgrund des Blitz-Emblems auf Mütze und Uniformjacke genannt.

Diese Zeit war prägend für Kerer: Sie erlebte schlimme, aber auch schöne Momente – und sie fand neue Freunde, mit denen sie auch nach dem Krieg in Kontakt blieb. Über das Erlebte schwieg sie weitgehend: Aber nicht, weil sie sich wie manche ihrer deutschen Kolleginnen schämte, zuzugeben, für ein Unrechtsregime gedient und eben auch schöne Momente erlebt zu haben, während fürchterliche Kriegsverbrechen stattfanden. Es interessierte sich schlichtweg lange Zeit kaum jemand für ihre Vergangenheit und wenige befragten sie deshalb näher dazu. Außerdem ist Kerer keine große Erzählerin, wie sie selbst zugibt. Allerdings führte sie in ihrer Zeit bei der Wehrmacht Tagebuch – die Aufzeichnungen beginnen am 20. Oktober 1942 und enden am 8. August 1944. Darin verarbeitete Hilde Kerer ihren Alltag in den von den Deutschen besetzten Gebieten, wo sie mit ihren Kolleginnen stationiert war. Nur selten, vor allem während der Zeit der Invasion der Alliierten in Frankreich, prägte das unmittelbare Kriegsgeschehen die Gedankenwelt der Brixnerin.

Die Aufzeichnungen bilden den Hauptteil für das vorliegende Buch und werden von Kerers Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, die Options-, Kriegs- und Nachkriegszeit ergänzt, die in langen Interviews vorerst aufgezeichnet und anschließend zu Papier gebracht wurden. Es sind Erinnerungen aus der Distanz von mehr als 70 Jahren, die von Gelesenem oder Gehörtem beeinflusst und mit Lücken behaftet sind, die dem Vergessen und manchmal dem Verdrängen geschuldet sind.

In ihre Tagebuchaufzeichnungen wurde so wenig wie möglich eingegriffen. So wurden für die Publikation fehlende Beistriche und Punkte ergänzt, die Schreibweise bei Datierungen vereinheitlicht, offensichtliche Rechtschreib- und Grammatikfehler verbessert sowie kleine Ergänzungen und Erklärungen sparsam in eckiger Klammer hinzugefügt. An viele der im Tagebuch genannten Personen, Kolleginnen oder Soldaten, kann sich Kerer nicht mehr erinnern – somit konnten diese nicht näher erläutert werden.

Neben ihrem Tagebuch bewahrte Kerer einen kleinen Fotoschatz sowie Briefe und Dokumente aus ihrer Jugend- und Kriegszeit auf, die bereits vor rund zehn Jahren einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden: Ihren Privatnachlass gab sie dem damals neu gegründeten Frauenarchiv in Bozen ab. Die Fotos dokumentieren vor allem ihr Aufwachsen in Brixen und ihre Zeit in Minsk und Poitiers. Als Motiv überwiegt der „touristische“ Blick auf den Krieg: Es sind Schnappschüsse von Landschaften oder Kameradinnen, die etwa inmitten der Trümmern von Minsk unbekümmert in die Kamera lachen und den Krieg so als ungefährlichen Ausflug erscheinen lassen. Solche Erinnerungsfotos wurden vom NS-Regime explizit gutgeheißen, weil sie die Verbindung zwischen Heimat und Front herstellen und somit die Moral stärken sollten.

Nach dem Krieg begann Hilde Kerer ein neues Leben. Sie arbeitete bis zur Pensionierung als Schneiderin und machte sich bei unterschiedlichen Vereinen für die Umwelt und Heimat stark. Die Natur war der Kern ihres Lebens. In jeder freien Minute war sie wandernd oder Ski fahrend in der Bergwelt unterwegs. Noch heute, mit 95 Jahren, macht sie einen täglichen Spaziergang und fährt mit dem Fahrrad. So wie damals in Frankreich, als sie mit Freunden die Gegend erkundete. „Wäre nicht der Krieg gewesen, dann wäre es eine schöne Zeit gewesen“, sagt Kerer. Am 8. August 1944, kurz vor der Flucht nach Deutschland, notierte sie in ihr Tagebuch: „Der Feind rückt uns gewaltig nahe. Unsere Lage scheint nicht rosig zu sein. Man sagt, haut ab, wenn die Sache brenzlig ist, und verlasst euch nicht auf andere.“ Es war ihr letzter Eintrag.

Thomas Hanifle, August 2014

Geboren im Rösslwirt

Mein Vater war ein leidenschaftlicher Gastwirt und der Rösslwirt sein Leben. Der Rösslwirt, wie die Gaststätte im Volksmund hieß, war damals eines der größeren gutbürgerlichen Gasthäuser in Brixen und lief prächtig. Mein Vater hieß Michael Kerer, er war ein fescher Mann, witzig und ein guter Unterhalter. Einmal soll er in das volle Lokal gerufen haben: „Ja, warum rennt ihr alle zum Rösslwirt? In der Stadt gibt es ja viele andere Gasthäuser.“ Er konnte es mit den Gästen und erarbeitete sich bald ein Stammpublikum. Ich erinnere mich an einen Schneidermeister, der mit einem Meterband um den Hals gehängt immer am selben Tisch in einer Runde Karten spielte. Meine Mutter versuchte alles, um uns Kinder vom Gasthaus fernzuhalten. In der Früh, als die Putzfrau im Gasthaus war, schlichen wir manchmal hinein, aber wehe, wenn sie uns dabei entdeckte. „Hinaus mit euch“, höre ich sie noch heute rufen. Mutter hat meinen Vater bei allem unterstützt, sie stand hinter der Theke und erledigte auch die Schreibarbeiten. Eine geborene Wirtin war sie aber keine, im Gegenteil. Sie war viel zu gut. Ich glaube, sie hätte den Leuten den Wein am liebsten geschenkt.

Weder Vater noch Mutter waren große Erzähler. Mein Vater hatte dafür auch wenig Zeit, denn neben der vielen Arbeit im Gasthaus spielte er auch noch Trompete bei der örtlichen Musikkapelle. Vieles, was ich heute über ihn weiß, habe ich von meiner Mutter erfahren. Er ist zwar in Lüsen geboren, den Großteil seiner Kindheit und Jugend verbrachte er bei St. Andrä oberhalb von Brixen. Als junger Mann kam er als Hilfskraft beim Talerwirt am Ende der Alten Marktgasse in Brixen unter, den Verwandte bewirtschafteten. Dort lernte er meine Mutter kennen und hat sie kurze Zeit später geheiratet. Dann machte er sich selbstständig. Zuerst führte er eine „Kracherlefabrik“, füllte dort Limonaden ab und handelte damit. Als Kind fand ich einmal auf einer Wiese einen Flaschenverschluss dieser Brauselimonaden, auf dem der Name meines Vaters aufgedruckt war, das machte mich in dem Moment sehr stolz. Schließlich pachtete er den Gasthof zum Goldenen Rössl und fand dort vorerst sein Glück. Im Ersten Weltkrieg wurde Vater bei einem Einsatz auf dem Monte Piano verletzt und in ein Lazarett in Verona gebracht. Dort besuchte ihn meine Mutter, es war die erste Zugfahrt ihres Lebens. Meine Mutter war der ruhende Pol der Familie. Sie hieß Kreszenz Schacher, wurde aber von allen Zenzi gerufen. Sie wuchs in Vintl auf, verlor aber schon als Kind beide Eltern und wurde praktisch von ihrer ältesten Schwester großgezogen. Sie war noch keine zwanzig, als sie meinen Vater heiratete und dann insgesamt acht Kinder zur Welt brachte.

Ich bin am 25. August 1919 in der Wohnung oberhalb des Gasthauses zur Welt gekommen, wie auch einige meiner Geschwister. Wir waren vier Buben und vier Mädchen, der kleine Franz ist während des Ersten Weltkrieges an einer Kinderkrankheit gestorben, da war er gerade sechs Monate alt. Die Paula war die Älteste, dann kamen nacheinander die Maria, von uns Mimi gerufen, Rudi, der Sepp, der Franz, die Berta, dann ich und die Flora zur Welt. Langweilig wurde es bei dieser Kinderschar jedenfalls nie.

Einer meiner Brüder sagte immer, dass er unter einer Linde geboren wurde, weil neben unserem Geburtshaus ein solch prächtiges Exemplar stand. Damals gab es dort auch eine Wiere, also einen Wasserlauf, in der die Frauen ihre Wäsche auf einem Brett schwänzten. Hinter dem Gasthof erstreckte sich unsere „Spielwiese“, da tobten wir uns als Kinder richtig aus – sie reichte bis zur ehemaligen Zagler-Schmiede am Ende der Trattengasse. Vom Schmied holten wir uns häufig Eisenrollen und spielten damit.

Aus meinem Geburtshaus ist heute ein stattliches Hotel geworden. Vor dem Haus verläuft die Brennerstraße, auf der in meiner Kindheit noch Kutschen fuhren, Autos kamen alle heiligen Zeiten vorbei. Ein Erlebnis werde ich nie vergessen, es muss 1922 oder 1923 gewesen sein. Mein Vater verschloss an diesem Tag alle Tore des Gasthauses. Irgendetwas Außergewöhnliches ging vor sich, das verstand ich damals. Weil das große Eingangstor nicht bündig mit dem Boden schloss, legte ich mich darunter und lugte durch den Spalt neugierig auf die Straße. Was dann geschah, läuft heute noch wie in einem Film in meinem Kopf ab: Plötzlich stapften Männer vorbei, ich sah allerdings nur ihre Stiefeln und die dunklen Hosenkrempen. Es waren die ersten Faschisten, die durch die Stadt marschierten.

Dass wir im Jahr 1924 den Rösslwirt verlassen mussten, hatte allerdings nichts mit den italienischen Faschisten zu tun, die sich nun auch in Brixen eingenistet hatten. Es lag wohl eher an der Tüchtigkeit meines Vaters und daran, dass die Geschäfte im Rösslwirt so gut liefen. Den Besitzern des Gasthauses war dieser Erfolg nicht unbemerkt geblieben und nun wollten sie den Betrieb selbst übernehmen. Wohl oder übel mussten wir die Koffer packen. Das war ein schwerer Schlag für meinen Vater, den er, glaube ich, nie überwand. Wir zogen anschließend in die Trattengasse. Dort hatte Vater das abgewirtschaftete Gasthaus Lampl gepachtet, das ihm aber von Anbeginn keine Freude machte. Aus dieser Zeit sind mir wenige Erinnerungen geblieben: Es gab dort im hinteren Bereich des Gasthauses eine Kegelbahn, wo wir Kinder gerne spielten, und einen zum Gasthaus gehörenden Moorgarten. Unsere Wohnung lag über dem Gasthaus. Für meinen Vater war der Lamplwirt nur eine Zwischenlösung, er hielt ständig nach einem anderen Gasthaus Ausschau, das er pachten konnte. Leider blieb sein Wunsch unerfüllt.

Wie lange wir beim Lamplwirt geblieben sind, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Als ich aber sechs Jahre alt war, wohnten wir bereits in einer Wohnung in der Villa Sonnheim im Sankt-Johann-Weg, nicht allzu weit vom Zentrum von Brixen entfernt. Vater hielt uns mit Gelegenheitsarbeiten vorerst über Wasser. Außerdem bewirtschaftete er ein kleines Weingut oberhalb der Zugstrecke, das ihm auch gehörte. Dann passierte eines Tages das Unglück: Als er wieder einmal in der Landwirtschaft beim Hotel Elephant aushalf, erlitt er einen Schlaganfall. Als er nach Hause kam, klagte er über Kopfschmerzen und legte sich ins Bett. An das, was sich danach abspielte, erinnere ich mich nur mehr sehr dunkel, einiges davon erzählte mir später meine Mutter. Mein Vater lag am Morgen röchelnd in seinem Bett im oberen Stock, ich war auch noch kurz in seinem Zimmer. Während meine Mutter außer Haus eilte und versuchte, Doktor Dejaco zu holen, war ich mit ihm alleine zu Hause: Meine Geschwister waren in der Schule oder bei der Arbeit. Angst hatte ich zwar keine, aber ein Gefühl umgab mich, das ich heute als „antrisch“ beschreiben würde. Als Sechsjährige war ich natürlich auch stark verunsichert. Meine Mutter hatte den Doktor nicht erreichen können. Jegliche Hilfe wäre ohnehin zu spät gekommen, denn Vater lag schon in den letzten Zügen. Erst später, als der Rummel rund um seinen Tod vergangen war und ich verstanden habe, dass er nicht mehr wiederkommen würde, begann ich, ihn zu vermissen. Er war 47 Jahre alt geworden.

Es begann eine schwere Zeit. Meine älteren vier Geschwister waren 1925 schon flügge geworden: Paula arbeitete in einer Bank in Mühlbach, Sepp in einer Gärtnerei in Bruneck, Rudi in einer Eisenhandlung in Tione bei Trient und Maria war in der Schneiderlehre in Brixen. Sie halfen, wo sie konnten. Dennoch war es für meine Mutter schwierig genug, uns drei kleine Mädchen zu versorgen. Sie war eine sehr stille Frau und sehr intelligent. Im Kopfrechnen war sie nicht zu schlagen. Und sie hatte für Notfälle vorgesorgt. Das kam so: Als wir noch beim Rösslwirt waren, kam eines Tages eine Frau ins Gasthaus und fragte, ob sie ihr sogenannte Goldfüchslein gegen Bargeld eintauschen wollte. Goldfüchslein waren goldene 20-Mark-Stücke des deutschen Kaiserreiches, mit denen manche Gäste damals noch zahlten. Meiner Mutter ging damals ein Licht auf und so machte sie sich selbst daran, die begehrten Goldfüchslein zu sammeln. Gold, so dachte sie, würde immer seinen Wert behalten. Und sie hatte recht. Nach dem Tod meines Vaters halfen uns diese Goldfüchslein einige Zeit über die Runden. Dann verdiente meinte Mutter als Aushilfskraft in Gasthäusern genug Geld, damit wir relativ sorgenfrei aufwachsen konnten. Ich wundere mich heute noch, wie es meine Mutter schaffte, mit dem wenigen täglich eine warme Mahlzeit auf den Tisch zu zaubern. So leckere Knödel, wie sie damals Mutter gekocht hat, aß ich danach nie wieder.

Italienische Schule

Meine Mutter schickte mich ab Oktober 1922 in den Kindergarten, der sich am linken Eisackufer befand. Da wurden wir noch von Klosterfrauen betreut, die mit uns Deutsch sprachen. In der Vorweihnachtszeit saßen wir alle gemeinsam an einem großen Tisch und durften unter Anleitung der Klosterfrauen aus Wolle Filz machen und daraus kleine Tiere basteln. Das ist die letzte Erinnerung, die ich an diese Zeit habe. Nach Weihnachten durfte ich nicht mehr hin, weil die Klosterfrauen von italienischen Erzieherinnen abgelöst wurden.

Das große Pathos war bestimmt nicht die Sache meiner Mutter. Aber sie betonte stets, dass sie eine alte Österreicherin war und sich daran auch nichts ändern würde, nur weil jetzt die Italiener das Sagen hätten. So war sie sich auch sicher, dass die Italiener und Faschisten bald das Land verlassen würden, spätestens sobald ich in die Schule kommen würde. Daraus wurde bekanntlich nichts. Da half es auch nicht, dass ich erst mit sieben Jahren eingeschult wurde, weil ich mit sechs dafür noch zu klein war, wie mir später meine Mutter erklärte.

Im Herbst 1926 begann schließlich meine Volksschulzeit. Am ersten Schultag trafen wir uns am Domplatz, nach der Messe ging es in die Klassen. Die ersten beiden Jahre waren wir bei den Englischen Fräulein am Graben, danach in der ehemaligen Kaiserjägerkaserne in der Runggadgasse in Brixen untergebracht. Wir hatten täglich von 8 bis 12 Uhr am Vormittag und von 14 bis 16 Uhr am Nachmittag Unterricht. Der Schulweg war zwar nie allzu lang, allerdings vergaßen wir auf dem Heimweg häufig die Zeit, spielten oder trödelten herum. Brixen war damals ein überschaubares kleines Städtchen, das viele Abenteuerplätze für uns Kinder bot.

Ich hatte nie ein gutes Namensgedächtnis, aber den Namen meiner ersten Lehrerin habe ich nicht vergessen: Sie hieß Alma Emer, stammte aus dem Trentino und wurde von uns Kinder heiß geliebt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir von ihr jemals eine Strafe bekommen hätten. Außerdem war sie eine sehr geduldige Lehrerin. Obwohl es strengstens verboten war, sprach sie mit uns manchmal Deutsch und baute uns damit Brücken ins Italienische. Für die Faschisten war sie vermutlich zu milde, denn im nächsten Jahr kam Lehrerin Emer nicht wieder. Interessanterweise bekamen wir danach keinen strengen, systemtreuen Lehrer, sondern mit Hermann Bonell einen deutschsprachigen Brixner, dem es weiterhin erlaubt wurde, zu unterrichten. Auch er sprach mit uns hauptsächlich Italienisch, aber das eine oder andere deutsche Wort schlich sich immer wieder in den Unterricht ein. Vor allem in der Früh, wenn wir vor Unterrichtsbeginn beteten, sprach er häufig das Vaterunser auf Deutsch vor. Soweit ich weiß, wurde Hermann Bonell nach diesem Jahr nach Como versetzt. Über sein weiteres Schicksal habe ich danach nichts mehr erfahren.

Meine Schulkameraden in der ersten Klasse stammten alle aus deutschsprachigen Brixner Familien. Erst ab der zweiten Klasse kam ein italienischsprachiger Mitschüler hinzu: Er hieß Fulvio und sein Vater war Eisenbahner. Die Familie war nach Brixen gezogen und quartierte sich in einer Wohnung in der Villa Sonnheim ein. Wir schlossen schnell Freundschaft und spielten auf der großen Wiese vor dem Haus. Wir spielten Fangen oder speckerten und stritten manchmal, wie es alle Kinder tun. Wir sprachen ausschließlich Italienisch miteinander, weil Fulvio und seine Geschwister kein Deutsch konnten. Mir kam das allerdings zugute, weil ich somit ein recht ordentliches Italienisch erlernte. Meine Mutter sagte zu mir manchmal: „Du kannst bald besser Italienisch als Deutsch.“ Damals gab es zwischen uns Kindern keinen Fanatismus und keine Grenzen und das war gut so. Nur wenn es um politische Einstellungen ging, war klar: Der Faschismus hatte in unserem Haus keinen Platz und wir wehrten uns dagegen.

Bis zum Ende der Volksschule verstärkten noch weitere italienische Kinder unsere Klasse, in der vierten zählten wir insgesamt 42 Kinder! Jährlich stand unserer Klasse ein neuer Lehrer vor, allesamt Italiener, die alle nach Brixen versetzt worden waren. Ich kann mich an einen gewissen Mario Trotter und eine Maria Dalla Torre erinnern, die uns glaube ich in der letzten Volksschulklasse unterrichtete. Einer dieser Lehrer, den Namen habe ich vergessen, hatte selbst wenig Lust auf Unterricht. Manchmal fragten wir ihn deshalb: „Maestro, andiamo a passeggio?“ Meistens erfüllte er unseren Wunsch und so spazierten wir durch Brixen.

Ich kann nicht behaupten, dass eine meiner Lehrpersonen ein fanatischer Faschist gewesen wäre. Es wurde außerdem weder von den Lehrern noch von anderen faschistischen Stellen Druck ausgeübt, irgendeiner faschistischen Jugendorganisation beizutreten. In der Schule mussten wir zwar ausschließlich Italienisch sprechen, auch während der Pause, und uns anhören, was für ein toller Hecht der Oberfaschist Mussolini war oder wie schlechte die austriacanti, die österreichischen Feinde, waren. Wir hielten uns weitestgehend an die Spielregeln, streckten den Arm zum faschistischen Gruß aus, wenn es von uns verlangt wurde, um ja nicht aufzufallen. Aber das beeindruckte und beeinflusste uns wenig und zu irgendetwas gezwungen oder kontrolliert wurden wir ohnehin nicht. Beim faschistischen Gruß legte ich meistens den ausgestreckten Arm auf die Schulter einer meiner Schulkolleginnen, die vor mir stand, ohne je eine Konsequenz dafür zu erfahren.

Einmal brachte mir die befana fascista, das war das faschistische Christkind, ein wunderschönes lindgrünes Röckchen und Jäckchen. Wie ich mich über das Geschenk damals freute: Stolz rannte ich nach Hause und zeigte es meiner Mutter. Ihre Reaktion war ernüchternd: „Von den Faschisten?“, fragte sie. „Das kommt mir nicht ins Haus.“ Bei meiner Mutter blieb ein Nein ein Nein, da war nichts zu machen. Am nächsten Tag musste ich schweren Herzens Jacke und Rock zurückgeben. Später, da war ich schon ein paar Jahre älter, hätte ich im Speerwurf an den Jugendspielen in Rom teilnehmen können. Ich war eine ausgezeichnete Turnerin und der Sport meine große Leidenschaft. Aber von zu Hause gab es dazu ein klares Nein: „Mit den Walschen fährst du nirgendwohin“, hieß es trocken.

Meine Familie war von Anbeginn antifaschistisch eingestellt und als solche in Brixen bekannt. Meine älteren Geschwister waren dabei weitaus radikaler als meine Mutter. Besonders mein älterer Bruder Sepp versuchte mit einer Gruppe Gleichgesinnter, die Faschisten in der Stadt zu ärgern, und war später, als Hitler in Deutschland die Macht ergriff, an der Propaganda für das Deutsche Reich beteiligt.

Diese Einstellung prägte mich natürlich, außerdem zeichnete mich schon bald ein freches Mundwerk aus und ich sagte fast immer und überall meine Meinung. Nach den fünf Volksschuljahren besuchte ich noch zwei Jahre das sogenannte Istituto di avviamento al lavoroDucepiccole italiane