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WINNETOUS
BLUTSBRUDER

KARL-MAY-BIOGRAFIE

VON

CHRISTIAN HEERMANN

Zweite, überarbeitete und ergänzte Auflage

Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

© 2012 Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1605-2

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

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INHALT

AN ALLEN LAGERFEUERN

FINDING HOLE

AUFTAKT AUF DEN WALDPLÄTZEN

KINDHEIT UND JUGEND

Das alte Weberhaus

Blindheit?

Ahne und Pate

Feuer im Schloss

Birkenhans und Himlini

ZWISCHEN WALDENBURG UND ZWICKAU

Alte Kuckucksuhr im Muldental

„Kein übles Lehrgeschick“

Drama mit der Taschenuhr

Plan mit der Pantoffelmühle

Mein Name ist „Hermes“

Osterstein

DURCH DIE HÖLLE

Falschgeld-Fahndung

Der Räuberhauptmann

Im Wadenbach-Wahn

Inferno Waldheim

MAPPE EINES VIELGEREISTEN

Günstige Grundlagen

Löwe, Rose und Wanda

Als Redakteur

Winnetou

Publikationspraxis

Um die Liebe

IM BANNE VON EMMA POLLMER

Ritterromantik

Probeehe

Amateurdetektiv

Anders in Amadijah

Hochzeitsglockengewirr

AUF DEM WEG ZUM GLÜCK

Drehspiegel des Schaffens

Reiter im Hausschatz

Religiöse Gedanken

Lockrufe der Kolportage

Hälfte der Druckseiten

DURCHBRUCH

Der Sohn des Bärenjägers

Nachbarin Heimburg

Erfreuliches aus Frankreich

Zweiter Kontakt zur Gartenlaube

Zeitgeschichtliches

Fehsenfelds Visite

Erfolgsgründe

WOHLVERDIENTES DENKMAL

Der Wilde Westen

Die Apachen

Was wusste Karl May?

Indianerliteratur

Eigenes Panorama

OLD SHATTERHAND-LEGENDE

„…über 1.200 Sprachen“

Die Plöhns

Villa „Shatterhand“

Abenteuer in Norwegen?

Stellung der Knöchel

Motive

DER WEG INS MORGENLAND

May und Mark Twain in Wien

Goldstücke in Gartow

Grüße aus Grünthal

Doktortitelanfragen

Krise in Kairo

Das Grabmal

NEUBEGINN

Gewittergrollen

Ende einer Ehe

Ins Exil?

Karl Mays Tochter?

China

SEELENNÖTE

Letzter Renommierrest

Heikle Missionen

Sascha Schneider

‚Völkische‘ Töne

Kein Darlehen für Lebius

Der zweite Karl May

Arabische Fantasia

MARTYRIUM

Netzwerk

Nach Amerika

Fehlurteil

Vize auf der Vogelwiese

Euchar Albrecht Schmid

„Sieg! Großer Sieg!“

ANHANG

Epilog und Dank

Zeittafel

Die Prozesse

Das Werk Karl Mays

Literatur

AN ALLEN LAGERFEUERN

Es raschelte in den Zweigen. Dann trat er aus dem Gebüsch heraus.

„Sein langes, dichtes, schwarzes Haar war in einen hohen, helmartigen Schopf geordnet und mit einer Klapperschlangenhaut durchflochten. Keine Adlerfeder schmückte diese indianische Frisur. Dieser Mann bedurfte keines solchen Zeichens, um als Häuptling erkannt und geehrt zu werden… In der Hand hielt er ein doppelläufiges Gewehr, dessen Holzteile dicht mit silbernen Nägeln beschlagen waren. Dies war die berühmte Silberbüchse, deren Kugel niemals ihr Ziel verfehlte … Das war Winnetou, der Apachenhäuptling, der herrlichste der Indianer. … Gerecht, klug, treu, tapfer bis zur Verwegenheit, ohne Falsch, ein Freund und Beschützer aller Hilfsbedürftigen…“

Sein Name ist über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus bekannt, und jetzt steht er vor seinem besten Freund – Old Shatterhand. Die beiden sind durch Blutsbrüderschaft verbunden und kennen sich so gut, dass sie sogar ihre Gedanken gegenseitig erraten können.

Gemeinsam mit Winnetou hat Old Shatterhand schon viele Kämpfe in den ‚dark and bloody grounds‘ bestanden. Wo immer es möglich war, schonte er das Leben des Gegners. Denn mit einem einzigen Hieb seiner Faust kann er jeden Widersacher zu Boden schmettern. Ob dieser Kraft in seiner Hand wird er überall ehrfürchtig Old Shatterhand genannt.

Wegen der „unerquicklichen Verhältnisse in der Heimat“ war er einst über den Großen Teich nach Amerika gekommen. Als komplettes Greenhorn. Sam Hawkens brachte ihm die ersten Schritte im Wilden Westen bei, und dann hatte er bei den Mescalero-Apachen am Rio Pecos noch viel von Winnetou gelernt. Manches erforderte auch langjährige Übung. Beispielsweise das Anschleichen, ohne eine Spur zu hinterlassen: Arme und Beine werden dabei lang ausgestreckt, damit sich der Körper ganz nahe am Erdboden befindet, ohne ihn aber zu berühren. Das gesamte Körpergewicht ruht nur auf den Finger- und Zehenspitzen. Und ehe sich der Westmann ein Stück weiterbewegt, tastet er zuvor den Boden ab. Denn schon das leise Knicken eines kleinen Astes kann einen Feind alarmieren und tödliche Gefahr heraufbeschwören.

Die Zehenspitzen setzen gute Anschleicher stets an die Stellen, wo vorher die Fingerspitzen den Boden berührten. Das gibt weniger Eindrücke im Erdreich und lässt sich leichter verwischen. Weil alle Sinne mit der Zeit außerordentlich scharf werden, kann man sogar das Geräusch eines laufenden Käfers vernehmen. Oder unterscheiden, ob ein dürres Blatt freiwillig vom Baum gefallen ist oder abgestreift wurde.

Old Shatterhand kann den wildesten Mustang zähmen und einen Grizzly mit dem Messer töten. Im Kampf mit dem Tomahawk macht ihm keiner was vor. Greift er zum Henrystutzen, ist er unbesiegbar, und manche glauben, dass er damit immerfort schießen kann, ohne zu laden. An allen Lagerfeuern rühmt man seine Heldentaten und mehr noch seinen Edelmut.

Wenn er auf dem Rücken des prächtigen Rih mit dem treuen Hadschi Halef Omar zur Seite durch Orient und Balkan reitet, heißt er Kara Ben Nemsi. Auch dieser Name ist weithin bekannt und von manchem Bösewicht gefürchtet. Deshalb nähert er sich den beiden Aladschys in der Rolle eines harmlosen Scherifen, wie die Nachkommen des Propheten bezeichnet werden.

Die Brüder Bybar und Sandar gehören zur Verbrecherbande des Schut. Ihre Kugeln gehen niemals fehl. Am schrecklichsten aber wirken ihre Wurfbeile, todsicher treffen sie den Nacken des Opfers. Kara Ben Nemsi schätzt, dass ihm die breitschultrigen, bärenstarken Aladschys auch an Körperkräften überlegen sind. Dennoch wird er sie unschädlich machen und seine Gefährten vor dem Überfall bewahren.

Noch belächeln die zwei Wegelagerer den Mann mit dem grünen Turban, der verdutzt dreinschaut und zudem hinkt. Als ihn aber Sandar einen Esel schimpft, zeigt Kara Ben Nemsi, dass trotz Verkleidung nicht mit ihm zu spaßen ist. Den Trick, einen weitaus kräftigeren Gegner niederzuringen, beschreibt er so: „Ich legte meine Hand in der Weise auf seine linke Achsel, daß der Daumen unter das Schlüsselbein zu liegen kam, die anderen vier Finger aber den nach oben und außen ragenden Teil des Schulterblattes erfaßten, welcher mit dem Oberarmknochen das Achselgelenk bildet. Wer diesen Griff kennt und ihn anzuwenden versteht, der kann den stärksten Mann mit nur einer Hand zur Erde zwingen. Ich zog die Hand in schnellem kräftigem Druck zusammen. Da stieß er einen lauten Schrei aus, wollte sich loswinden, kam aber nicht dazu, denn der Schmerz ging ihm so durch den ganzen Körper, daß er in die Knie brach und auf den Boden niedersank.“

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Blutsbrüder Old Shatterhand und Winnetou. Illustration von Oskar Herrfurth für den Roman „Der Oelprinz“, erste Buchausgabe 1897.

Bybar will eingreifen, wird aber mit blitzschnellem Ruck emporgehoben und zur Erde geworfen.

Der Aladschy starrt fassungslos und ruft: „Mensch, du bist ja ein Riese! Diesen Griff macht ihm nur einer nach langem Wiederholen nach. Wo hast du das gelernt?“

Bei den heulenden Derwischen in Stambul sei es gewesen. Dort habe man sich in den freien Stunden zum Spaß gebalgt.

Die Aladschys glauben es, aber ihr Misstrauen ist erwacht. Noch ein Weilchen gibt sich Kara Ben Nemsi einfältig. Dann wird es unten am steinigen Pfad lebendig. Wie vorgesehen, kommen die Freunde einzeln. Zuerst Omar, dann Osko, zuletzt Hadschi Halef Omar mit dem Rappen Rih in voller Karriere.

„Jük gürültü – Millionen Donner!“ ruft Sandar. „Welch ein Pferd!“

Bevor die Brüder das Gewehr an der Wange haben, sind Reiter und Ross mit der Schnelligkeit des Windes verschwunden. Nun wollen sie den Steilhang hinab, um in der freien Ebene ihre tödlichen Kugeln abzufeuern. Aber Kara Ben Nemsi vereitelt das Vorhaben. Zwar stolpert er über einen Stein, schnellt jedoch augenblicklich wieder empor, packt den Aladschy Sandar mit beiden Händen am Gürtel und schleudert ihn an den Stamm eines mehrere Ellen entfernten Baumes. Dort sackt der Unhold bewegungslos zusammen.

„Schuft, das sollst du büßen“, ruft Babyr, und der Zorn vervielfacht seine Kräfte.

Kara Ben Nemsi will ihn nicht töten. Dreimal muss er mit der Faust zuschlagen, bis der Feind in Ohnmacht sinkt.

Damit ist ein weiteres Hindernis überwunden, um den Schut zur Strecke zu bringen – jenen Banditen, der lange Zeit die arme Bevölkerung weiter Teile des Balkans terrorisierte.

Es sind längst nicht nur körperliche Vorzüge, die Old Shatterhand beziehungsweise Kara Ben Nemsi jede Situation meistern lassen. Während einer Elefantenjagd auf Ceylon kann der Erzähler aus einer Spur sofort die Nationalität der unbekannten Läufer erkennen.

„‚Es sind lauter Männer. Ein Chinese und zwölf Singhalesen oder vielleicht gar Malayen.‘

‚Bless me! Woraus seht Ihr das?‘

‚Zwölf sind barfuß, und der Umstand, daß die große Zehe weit absteht, läßt mich auf Malayen schließen. Der Dreizehnte trägt, wie ich aus dem Eindruck sehe, lederne Ha-prong, eine Fußbekleidung, für welche sich eben nur ein Chinese entschließen kann.‘“

Aber auch in Medizin oder Musik macht keiner den Helden Karl Mays etwas vor. Beim Abenteuer mit den beiden Aladschys kuriert Kara Ben Nemsi nebenbei ein Kind mit Hilfe psychologischer Kenntnisse vom Zahnschmerz. Nur wenige Tage später macht er einen Arzt mit dem Anlegen von Gipsverbänden vertraut, wie sie der Holländer Mathijsen 1851 entwickelt hatte. Im Heim eines chinesischen Pagodenwächters entlockt er einem gitarrenähnlichen Instrument schnelle Walzerklänge und spanische Fandangotöne. Der Hausherr weicht staunend bis unter die Tür zurück, „wie einer, der vollständig aus dem Sattel geworfen ist“. Und ähnlich fällt die Reaktion der Zuhörer beim Orgelspiel in der Kathedrale von Montevideo aus.

Der Organist hatte falsche Register gezogen. Der Ich-Erzähler „huschte zu ihm hin, schob die volltönenden Stimmen hinein und registrierte anders“, worauf er gebeten wird, zum Schluss des täglichen Ave Maria de la noche selbst Manuale und Pedale zu drücken. „Im Schiffe der Kirche standen die Leute noch alle und oben der Kantor, der Organista und sämtliche Sänger um mich her. Ich mußte noch eine Fuge zugeben und erklärte aber dann, daß ich fort müsse.“

Belassen wir es vorerst bei diesen wenigen Blicken in die Werke.

„Ja, ich habe das Alles und noch viel mehr erlebt. Ich trage noch heute die Narben und Wunden, die ich erhalten habe…

Ich habe jene Länder wirklich besucht und spreche die Sprachen der betreffenden Völker…

Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle…“

So und ähnlich steht es in Briefen, mit denen Karl May Mitte der 1890er-Jahre Leserfragen beantwortet. Viele glauben es, während andere meinen, er habe auf großen Reisen zumindest viele Anregungen empfangen. Aber dann heißt es sogar, er sei nie aus Sachsen herausgekommen, und – schlimmer noch – er habe seine Bücher im Gefängnis geschrieben und es hinter Gittern zu Ruhm und Reichtum gebracht.

Es gibt keinen anderen deutschsprachigen Schriftsteller, der zu Lebzeiten und weit über den Tod hinaus von so widersprüchlichen Legenden umrankt war wie Karl May. Und ähnlich konträr fielen Urteile über sein Schaffen aus. Die Bücher fanden enthusiastischen Beifall, weckten aber auch Neid und lösten Verleumdungskampagnen aus.

Wie kaum bei einem zweiten Autor sind Werk und Biografie Mays miteinander verflochten. In verwandelter Form, häufig an erfundene exotische Orte verlagert, von turbulentem, fantastischem Geschehen umhüllt, sind in die Karl-May-Bücher viele persönliche Erlebnisse eingeflossen. Auch die Behauptung „Ich bin wirklich Old Shatterhand“ wird sich nicht als Kuriosum abtun lassen.

Karl May hatte kein leichtes und in der Jugend ein besonders schweres Leben. Ohne die ‚dunklen Flecke‘ in den frühen Jahren hätte er die ihm angeborene Fantasie kaum in dem uns bekannten Maße entfalten können, wäre er – wenn überhaupt – ein nur mittelmäßiger Schriftsteller geworden.

FINDING HOLE

Gold kann man in einer Bonanza oder an einem Placer finden. Oder auch in einem Finding hole, mit dem es aber „eine eigenartige Bewandtnis“ hat – wie wir im Roman „Weihnacht!“ erfahren. Wenn es nämlich auf dem Grund eines Flussbetts ein tiefes Loch oder einen Spalt im Gestein gibt, so können sich dort Nuggets sammeln, die das Wasser aus den Bergen heruntergeschwemmt hat. Alles Leichtere wird über diese Vertiefung hinweggerissen, „während die größeren Goldstücke ihrer Schwere wegen in das Loch fallen und dieses nach und nach ausfüllen.“ Und wenn das Loch rappelvoll ist, hat man ein Finding hole. Man muss es dann bloß noch aufspüren.

Nach einem Finding hole von etwas anderer Art halten wir Ausschau. Wir suchen nach Nuggets aus Papier, die uns etwas vom Leben und Schaffen Karl Mays mitteilen können.

Der Schriftsteller selbst hat mit autobiografischen Texten die Grundlage zu unserem Finding hole gelegt, unter anderem mit dem Titel Mein Leben und Streben von 1910 (heute in Karl May’s Gesammelte Werke, Band 34, ICH) – ein über weite Strecken erschütterndes Bekenntnisbuch, das zur inneren Anteilnahme herausfordert.

Karl May verfasste es im Alter von 68 Jahren, aber nicht im Befinden abgeklärter Ruhe und Rückschau, wie gemeinhin in einem solchen Lebensabschnitt zu erwarten wäre. Das Werk entstand vielmehr unter dem Druck persönlicher Angriffe und Verleumdungen, derer sich May erwehren musste.

Bis in die Kindheit hinein vermittelt die Selbstbiografie eine Fülle an Tatsachen, wenngleich Erlebnisse der allerfrühesten Zeit mitunter etwas schemenhaft bleiben. Ein Umstand, der sich aus dem Abstand der Jahre erklären lässt. May unterliegt aber auch Selbsttäuschungen, und mitunter überlagert der Ton der Rechtfertigung die sachliche Darstellung. Aus taktischen Gründen überbrückt er verschiedene Lebensabschnitte, macht dies aber kenntlich. „Es kann mir nicht einfallen“, lesen wir, „die Missetaten, die mir vorgeworfen werden, hier aufzuzählen.“ Und schließlich liefert das Werk auch einige Fiktionen, etwa zu den Reiselegenden. Die Wahrheit dieser Selbstbiografie, so sieht es der Theologe Hermann Wohlgschaft, „liegt vor allem in Mays neuer Deutung seiner Lebensgeschichte und seines literarischen Schaffens.“

In den letzten Lebensjahren konzipierte May noch weitere autobiografisch gefärbte Schriften, so bereits 1907 Frau Pollmer. Eine psychologische Studie. Es ist ein handschriftliches Manuskript von 146 Großbogen, das Karl May später in komprimierter Form für seine Selbstbiografie verwenden wollte. „Die vorliegende Monographie“, vermerkt er, „ist nur für mich allein geschrieben, für keinen anderen Menschen.“ Sollte er „plötzlich sterben, ohne die Hand an dieses Werk gelegt zu haben“, empfahl er seinem künftigen Biografen, „Objectivität“ walten und nicht „die Hässlichkeit der subjectiven Züge in den Vordergrund treten zu lassen“.

In der Studie befasst sich Karl May mit seinen Beziehungen zu Emma Pollmer und mit der Geschichte seiner ersten Ehe. Die „Besessenheit“ dieser Frau, die „Pollmerschen Dämonen“ seien die Ursache für vieles Unglück in seinem Leben, und es fallen viele schlimme Worte: Emma wird als „Bestie“, „Furie“ und „Vampyr“ bezeichnet.

1982 erschien die Studie posthum im Karl-May-Verlag und 2004 im Band 85 der Gesammelten Werke: Von Ehefrauen und Ehremännern. Wenn über dieses Werk geurteilt wurde, so als Schrift, die May im Zustand hochgradiger Erregung und Verzweiflung, vielleicht sogar bei zeitweilig gestörter Zurechnungsfähigkeit geschrieben habe.

Die Juristin Gabriele Wolff hat im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2001 sehr ausführlich – auf über 340 Seiten – Ermittlungen in Sachen Frau Pollmer vorgenommen und mit großer Sorgfalt – unter anderem durch Vergleiche mit biografischen Daten und anderen Texten – diese Maysche Monografie auf den Wahrheitsgehalt hin analysiert. Die Studie sei „kein Beleg für eine seelische Erkrankung ihres Verfassers“, so das Fazit, sondern der Versuch, sich „den Felsbrocken von unbewältigtem Schmerz ‚von der Seele schreiben‘ zu können.“

Alle wesentlichen Fakten könne man „als zutreffend nachweisen“. Zahllose Zusammenhänge, Details und Indizien werden dazu vorgelegt, alles erscheint in sich schlüssig, dennoch werden wohl nicht alle Leser dieser Sicht folgen. Denn so manches Mal muss die Darstellung im Konjunktiv verbleiben. Gleichwohl: In unserem Finding hole haben wir mit der Studie einen weiteren Schatz.

Einige andere Texte mit autobiografischem Einschlag ließ Karl May in kleinen Auflagen als Privatdrucke herstellen: Ein Schundverlag (1905), Ein Schundverlag und seine Helfershelfer. Band II (1909) und An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichtes III in Berlin. Berufungssache May-Lebius (1910; 2. Fassung 1911; heute GW 83, „Am Marterpfahl“). Diese Prozessschriften legte der Karl-May-Verlag 1982 in zwei schönen Reprintbänden vor.

Mit diesen Titeln hoffte May, Einfluss auf das Prozessgeschehen nehmen zu können. Mit den Schundverlag-Schriften sollte zudem der Eindruck erweckt werden, dass noch weiteres Material im Umlauf sei. Die Texte beginnen mitten im Satz; der erste Teil von 1905 beispielsweise setzt mit Seite 257 ein und endet auf Seite 416. Auf dem Titelblatt soll die Angabe „Korrekturheft, Bogen 17 bis 26“ jene Fiktion ebenso unterstreichen wie mehrfache Hinweise auf Kapitel, die überhaupt nicht existieren.

Autobiografische Aufschlüsse liefern auch einige Beiträge Mays, die er in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlichte, sowie Meine Beichte (1908) – ein kurzer Vorläufer der Selbstbiografie. Schließlich gibt es in den Erzählungen und Romanen zahllose, zumeist verschlüsselte Hinweise auf das eigene Leben. Karl May hat ein umfangreiches Werk hinterlassen – im Satzspiegel der ‚Grünen Bände‘ rund 50.000 Druckseiten. Das meiste erschien zuerst in Zeitschriften, vieles arbeitete er später selbst für Buchausgaben um. Einiges schrieb er dafür auch direkt.

Gedruckt begegnet uns Karl May erstmals 1872 mit einem kleinen Vierzeiler im Kalender Neuer deutscher Reichsbote, der in Stolpen erschien. Seine erste Erzählung – Die Rose von Ernstthal – steht 1874 oder 1875 in der Deutschen Novellen-Flora, einem Periodikum aus Neusalza im Lausitzer Gebirge.

Noch 1875 Jahr erfindet Karl May die Figur des Winnetou, und als 1879 der Stuttgarter Verlag von Franz Neugebauer das frühe Karl-May-Buch Im fernen Westen (Reprint im Karl-May-Verlag 1975, Band 89 der Gesammelten Werke 2011) veröffentlicht, verwendet er dafür diese früheste Winnetou-Erzählung in etwas bearbeiteter Form.

Von 1892 bis 1910 bringt der Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld in Freiburg im Breisgau eine Serie von 33 Bänden heraus. Es gibt insgesamt neun verschiedene Ausstattungsformen, darunter die Ausgaben im Kleinoktavformat mit grünem Leinen, farbigem Deckelbild und goldgeprägtem Schild auf einem mit Jugendstilornamenten verziertem Buchrücken – die berühmten ‚Grünen Bände‘, die jeder May-Fan schon von Weitem als Bücher seines Lieblingsautors erkennt.

Jene 33 ‚Fehsenfeld-Bände‘, zuerst als gesammelte Reiseromane, ab 1896 als gesammelte Reiseerzählungen auf dem Büchermarkt, sind der Grundstock von Karl May’s Gesammelten Werken, die der Karl-May-Verlag seit der Gründung im Jahre 1913 aufgebaut hat und womit eine einzigartige Erfolgsgeschichte geschrieben wird: Grüne Karl-May-Bücher gehören nun seit 1892 (!) zum Angebot fast jeder Buchhandlung, und seit 1913 existiert ein Verlag, der sein Programm fast nur auf einen Autor konzentriert. Ein solches Phänomen ist zumindest in der deutschen Literatur einmalig.

Die bunten Deckelbilder haben sich verändert, ein paar Titel wurden wirkungsvoller gewählt – zum Teil unter Rückgriff auf Bezeichnungen, die May einst selbst bei den Zeitschriftenerstdrucken verwendet hatte. Hinzugesellt haben sich mittlerweile fast 60 weitere Bände: Es sind Texte, die zu Mays Lebzeiten in anderen Verlagen erschienen waren oder noch nicht erschlossen wurden.

Als Karl May an der Umsetzung von Zeitschriften- in Buchfassungen arbeitete, hat er an den Texten immer wieder Veränderungen vorgenommen, auch kürzere Geschichten zusammengefügt und durch Überleitungen verbunden.

Schlimme Geschehnisse in den letzten Lebensjahren und dann Mays Tod haben verhindert, dass die Zahl der damals gesammelten Werke über 33 hinausging.

Diese Weiterführung im Sinne Karl Mays erfolgte durch den am 1. Juli 1913 von Friedrich Ernst Fehsenfeld, Witwe Klara May und Dr. Euchar Albrecht Schmid in Radebeul gegründeten Karl-May-Verlag; Schmid wurde alleiniger Geschäftsführer.

Die bei anderen Verlagen liegenden Rechte an Werken Karl Mays wurden erworben, noch laufende Rechtsstreitigkeiten beendet und schließlich begann man mit der notwendigen Bearbeitung der Texte. Sachliche Fehler, die sich bei einem ‚Vielschreiber‘, wie es May nun einmal war, immer einschleichen, mussten korrigiert werden.

Und dann gab es Werke, die sogenannten Kolportageromane, die May über viele Jahre hinweg unendliches Leid gebracht hatten. Nach damaligen, heute nicht mehr nachvollziehbaren Moralvorstellungen galten sie als ‚sittlich anstößig‘; entsprechende Passagen wollte man tilgen, um den Anwürfen und der Verfemung den Boden zu entziehen. Schon seinerzeit war auch bekannt, dass manche dieser zweifelhaften Stellen gar nicht von May stammen. Aber Einzelheiten und Umfang werden wohl immer im Dunkeln liegen, denn die handschriftlichen Manuskripte existieren nicht mehr.

Zugleich sollten die für Kolportageromane typischen vielen Verflechtungen und Überschneidungen von Haupt- und zahllosen Nebenhandlungen etwas aufgeknotet und in übersichtlicherem Ablauf dargestellt werden.

Euchar Albrecht Schmid hatte seine Ideen zur Überarbeitung der Kolportageromane im Februar 1911 im Wiener Montags-Journal dargelegt und damit erstmals öffentlich etwas zur Konzeption der Gesammelten Werke gesagt. Karl May kannte diesen Artikel, beide Männer trafen sich danach, sprachen über alles Mögliche, wobei es zu Mays denkwürdigem Ausruf „Sie sollten mein Verleger werden!“ kam (Siehe Karl May auf sächsischen Pfaden, Sonderband zu den Gesammelten Werken, Bamberg – Radebeul, 1999).

Karl May war schon zu Lebzeiten ein bekannter Autor geworden. Er brachte Sonnenschein in die Herzen seiner Leser, befriedigte ihre Wünsche nach unterhaltsamer und spannender Lektüre, er traf ihren Geschmack. Dass sich aber Bedürfnisse und Neigungen der Leser über die Jahrzehnte hinweg ändern, steht wohl außer Zweifel. Durch seine Bearbeitungen – nicht nur der Kolportageromane – ist dem Karl-May-Verlag das schon angesprochene Phänomen gelungen: Karl May ist über den langen Zeitraum seit Ende des 19. Jahrhunderts immer in der Gunst eines Millionenpublikums geblieben. Andere Autoren des gleichen Genres, Zeitgenossen von May, sind in Vergessenheit geraten oder verschwinden allmählich aus dem Sichtkreis der Leser, haben allenfalls noch einen kleinen Zirkel von Liebhabern und Kennern. Der Karl-May-Verlag hat seinen Hausautor vor solchem Schicksal bewahrt.

Nun sind im Laufe der zahlreichen Jahrzehnte manche Bearbeitungsschritte ganz sicher auch über das Ziel hinausgeschossen. Einiges wurde später wieder korrigiert, aber das alles bleibt immer Ansichtssache.

Wenn Kritik geäußert wurde, dann gelegentlich mit zelotischem Purismus – wobei zwei Tatsachen leicht übersehen werden: Jedwede Diskussion wäre hinfällig, wenn es die bearbeiteten Leseausgaben nicht gäbe, denn dann gäbe es heute wohl auch keinen Karl May mehr! Und wer die Erstausgaben lesen oder für wissenschaftliche Zwecke verwenden möchte, kann auf ein umfangreiches Repertoire zurückgreifen.

Allein der Karl-May-Verlag hat von den bisher 89 Bänden der Gesammelten Werke zu über 50 Titeln – darunter alle 33 Fehsenfeld-Bände – Faksimiles der Erstausgaben ediert. Hinzu kommen elf weitere Reprint-Ausgaben mit Texten, die bisher nur handschriftlich vorlagen oder noch nie veröffentlicht wurden oder als einzelne Geschichten in unterschiedliche Bände Eingang fanden (Übersicht S. 544ff.), sowie Titel im originalen Neusatz. Das Fazit: Von den Gesammelten Werken hat der Karl-May-Verlag über 60 Prozent der Texte auch als Faksimiles der Erstausgaben herausgegeben. Unser Finding hole ist damit schon beträchtlich gefüllt.

Schöne Reprints gestalteten auch die Verlage Olms Presse, Hildesheim-New York, und Edition Leipzig.

Wird aus Mays Werken – aus Zeitschriften oder Büchern – zitiert, so immer aus den ältesten Quellen. Auf handschriftlichen Nachlass können wir nur in ganz wenigen Fällen zurückgreifen, wollen aber wenigstens der Entstehung zeitlich so nahe wie nur möglich kommen. Um das alte Flair aus Mays Lebzeiten wirken zu lassen, übernehmen wir auch die damalige Rechtschreibung unkorrigiert. Wir zitieren auch bei Briefen usw. immer zeichengetreu. Und natürlich werden wir, falls das nicht ohnehin ersichtlich ist, darauf hinweisen, wo man diesen oder jenen Sachverhalt heute in den Gesammelten Werken findet.

Über Aufbau und Erfolgsgeschichte der Gesammelten Werke informiert der Sonderband Der geschliffene Diamant (Bamberg-Radebeul 2003).

1969 wurde die Karl-May-Gesellschaft gegründet, die heute rund 1700 Mitglieder aus 25 Ländern umfasst und zu den größten deutschen literarischen Vereinigungen gehört. Sie stellte sich die Ziele, „das literarische Werk Karl Mays zu erschließen und zu bewahren, sein Leben und Schaffen zu erforschen und zu dokumentieren, dem Autor und seinem Werk einen angemessenen Platz in der Literaturgeschichte zu verschaffen.“ Nach der Satzung von 2009 will man auch dazu beitragen, „dass Karl May und sein Werk in der Öffentlichkeit lebendig bleiben“.

Das angesprochene „literarische Werk Karl Mays“ betraf vor allem die Zeitschriften-Erstveröffentlichungen, deren Text sich von den späteren Buchausgaben häufig, mitunter erheblich, unterscheidet. Für wissenschaftliche Untersuchungen kann das sehr interessant und bedeutsam sein. Durch ein umfangreiches Reprintprogramm hat die Karl-May-Gesellschaft beinahe alle Erstdrucke dieser frühesten Zeitschriften-Texte wieder zugänglich gemacht.

In einzelnen Fällen waren die uralten Journale nur noch in einem einzigen Exemplar vorhanden. Das konnte aufgespürt und faksimiliert und so für die Zukunft bewahrt werden.

Wer vor noch wenigen Jahrzehnten ein Werk der Literaturgeschichte aufschlug, suchte den Namen Karl May zumeist vergebens. Und wenn doch vorhanden, dann oft nur mit ganz wenigen und dazu diffamierenden Worten.

Es gab ein paar wenige Ausnahmen. Für den Luxemburger Publizisten Karl Lessel ist die „Beliebtheit K. May’s … der erste Grund“, schon 1899 eine Litterarische Studie zu May zu veröffentlichen, zuerst in der Zeitung Luxemburger Wort und dann als Broschüre. Der Luxemburger Schriftsteller Emil Angel hat die Abhandlung wiederentdeckt und im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2011 präsentiert.

Lessel untersucht die bis 1899 edierten 27 ‚Fehsenfeld-Bände‘: Habe May das alles nicht selbst erlebt, sondern erdichtet, sei das „nur um so bewunderungswürdiger“. Und mehr als beachtlich, was Lessel vor weit über 100 Jahren als das Wichtigste der Werke ausmacht – „daß May die Wahrung der Menschenrechte eines jeden einzelnen fordert … das Recht auf persönliche Freiheit und Gleichheit sowie das Recht auf Persönlichkeit … das Recht auf Leben und die körperliche Integrität…“

„Was für das Individuum gilt, das verlangt er auch für die einzelne Nation, deren erstes Recht das Existenzrecht ist“, stellt der Luxemburger Lessel fest.

Erst zehn Jahre später folgt mit der Schrift von Adolf Droop Karl May. Eine Analyse seiner Reise-Erzählungen (Reprint im Karl-May-Verlag 1993) die erste einschlägige Studie in Mays Heimat. Ansonsten befand er sich bei den literaturwissenschaftlichen Ignoranten jener Zeit in guter Gesellschaft. Genauso wenig beachtet wurden beispielsweise der Verfasser der berühmten Lederstrumpf-Romane James Fenimore Cooper, der Reiseschriftsteller Friedrich Gerstäcker, der amerikanische Western-Klassiker Zane Grey, Alexandre Dumas oder die Kriminalschriftsteller Arthur Conan Doyle und Edgar Wallace. Die Bücher solcher Autoren wurden von Millionen Menschen gelesen und verschlungen, genügten aber nicht den ‚Maßstäben‘, nach denen Literaturgelehrte ihre Urteile fällten.

Diese selbstgefälligen Verhältnisse haben sich in jüngerer Zeit gewandelt; die akademische Wissenschaft ließ die unsinnige Grenze zwischen sogenannter ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Literatur – Letzteres ein lange Zeit gebräuchliches Synonym für Unterhaltungsliteratur – allmählich schwinden.

Im Falle Karl Mays bereitete sich der Wandel durch einige Dissertationen langfristig vor. Eine Pioniertat vollbrachte Heinz Stolte, der 1936 an der Universität Jena mit dem Thema Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde zum Dr. phil. promovierte. Es folgten Arbeiten von Winfried-Johannes Weber (Berlin 1941), Emanuel Kainz (Wien 1949) und Viktor Böhm (Wien 1955).

Zwischen 1918 und 1933 erschienen 16 Karl-May-Jahrbücher, unter anderem mit kürzeren Nachlasstexten von May, kleineren Geschichten und Gedichten über May und kämpferischen Beiträgen für May. Das bunte unterhaltsame Spektrum und ein wissenschaftliches Niveau, das nicht durchweg heute üblichem Level entsprach, führten gelegentlich zu hämischen Bemerkungen. Das änderte freilich nichts an der Tatsache, dass diese Jahrbücher heute zu den meistgesuchten ‚kostbaren Altertümern‘ der Karl-May-Forschung zählen. Eine ganze Reihe von Beiträgen dokumentiert die Anfänge einer wissenschaftlichen Untersuchung von Mays Leben und Schaffen.

Um es nur an einem Beispiel zu zeigen: Im Karl-May-Jahrbuch 1925 erschien von Max Finke der Aufsatz Karl May und die Musik. Das war für fast ein Dreivierteljahrhundert die einzige fundamentierte Arbeit zu diesem Thema. Erst 1999 folgte mit dem Buch Karl May und die Musik von Hartmut Kühne und Christoph F. Lorenz eine umfassende Behandlung.

Dr. Euchar Albrecht Schmid teilte in seiner autobiografischen Abhandlung Mein Leben und Streben aus dem Jahre 1921 – erstmals in der Jubiläumsschrift 50 Jahre Karl-May-Verlag gedruckt – die Absicht mit, „eine umfassende kritische Biografie über den Dichter zu veröffentlichen“. Das hatte er für die Zeit nach dem 1. Januar 1943 geplant.

Nach damals geltendem Urheberrecht wäre zu diesem Termin die Schutzfrist für Mays Werke ausgelaufen. Schmid wollte dann seine Verlagstätigkeit beenden und sich dem Biografie-Projekt widmen – unbefangen und ohne sich einem Vorwurf der „Verquickung des Geschäftlichen mit dem Literarischen“ auszusetzen.

Aber die Planungen von 1921 waren 1943 durch die Realitäten hinfällig geworden. Schon die Schutzfrist hatte sich geändert. Die 1901 festgelegte Dauer von 30 Jahren nach dem Tod des Autors war 1934 auf 50 (und 1965 auf 70) Jahre verlängert worden.

Ausschlaggebend wirkten jedoch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse. Der Karl-May-Verlag musste um sein Fortbestehen in Radebeul kämpfen. 1951 ist Euchar Albrecht Schmid gestorben, ohne sein großes Vorhaben verwirklichen zu können.

Noch an anderer Stelle entstand das Konzept zu einer Biografie. Der Wiener Karl-May-Forscher Ludwig Patsch befasste sich seit 1924 mit dem Material und begann 1934 mit der ersten „Reinschrift einer umfangreichen Notizensammlung zu KMs Leben – das Gerippe einer ausführlichen Biografie entstand“. Im Karl-May-Verlag konnte er umfangreiches Archivmaterial nutzen, so Briefe, Manuskripte oder alte Zeitschriften-Erstdrucke.

Als wichtiges Anliegen betrachtete Patsch das Zusammentragen aller erreichbaren Lebensdaten und das Vergleichen „mit den ‚Spiegelungen‘ in KMs Werken“.

Solche ‚Spiegelungen‘ scheinen hier etwas über Gebühr betont zu sein, denn es gibt ja dafür keine objektiven Kriterien. Es sind lediglich subjektive Empfindungen für oftmals nur scheinbare Übereinstimmungen von Lebensdaten und Textstellen. Neue gesicherte biografische Erkenntnisse lassen sich damit kaum gewinnen. Darauf wäre Ludwig Patsch wohl auch noch selbst gestoßen, hätte er sein Werk vollenden können.

Es blieb bei einer gewaltigen Vorarbeit. In fast 20 ‚Schwarzen Büchern‘ – Ringbinder im Quartformat mit dunklem Einband – hat er in gestochen scharfer, aber winzig kleiner und oft nur mit der Lupe lesbarer Handschrift seine Materialsammlung hinterlassen: beispielsweise Anmerkungen und Notizen fast Seite für Seite zu den meisten Erstausgaben der Werke – zu Auffälligkeiten in der Handlung, Querverbindungen und ein paar Ungereimtheiten. Dazu natürlich die seinerzeit bekannten biografischen Daten. Und ab und an stehen mal Randglossen da. So am Exzerpt der Pollmer-Studie etwa die Frage: „Warum hat KM die Ehebrüche Emmas bei der Scheidung nicht auf den Tisch geknallt!!?“

Eine Antwort gibt Gabriele Wolff viele Jahrzehnte später – anno 2001 –, wenn sie zu Mays Haltung unter anderem schreibt: „Letztlich wird er selbst Zweifel daran gehabt haben, ob es in der heimlichen Beziehung zwischen Max [= Max Welte] und Emma bis zum Äußersten gekommen war.“

Der Zweite Weltkrieg beendete vorerst auch die Arbeiten von Patsch. Im Februar 1940 schreibt er an seinen Freund Alfred Schneider, dass wegen enormer Arbeitsbelastung der Biografie-Plan „noch einstweilen ruhen“ müsse.

Erst Jahre später findet er Zeit und Muße. Aber schon 1960 nimmt ihm der Tod nach wenigen Kapiteln den Stift aus der Hand.

Die ‚Schwarzen Bücher‘ des Ludwig Patsch werden wir in unserem Finding hole gut positionieren. Ebenso die von Oktober 1944 bis September 1959 von ihm versandten 179 Karl-May-Rundschreiben.

Im Jahre 1931 erschien der geistreiche Essay Karl May. Traum eines LebensLeben eines Träumers von Otto Forst-Battaglia. Die biografische Darstellung, um Objektivität bemüht und psychologisch ausgelotet, entsprach dem damaligen Kenntnisstand und war damit nicht frei von Lücken und Irrtümern. Eine 1966 im Karl-May-Verlag edierte Neubearbeitung, literarisch abermals auf überragendem Niveau, spiegelte den erreichten Wissenszuwachs wider, konnte aber noch nicht eine kurz vorher erschienene grundsätzliche Arbeit von Hans Wollschläger berücksichtigen.

Eingängiger zu lesen war Das Leben Old Shatterhands von Karl Heinz Dworczak aus dem Jahre 1935 – eine populäre, objektive Schilderung und natürlich auch der zeitgenössischen Sachlage entsprechend. Einiges aus dem ersten Winnetou-Band betrachtet der Autor als Realität, was man ihm freilich nicht verübeln kann: Denn sein Buch trägt den Untertitel Der Roman Karl Mays.

Im Jahre 1965 veröffentlichte Hans Wollschläger seine bahnbrechende Karl-May-Biografie. Ab 1970 erscheinen die Jahrbücher der Karl-May-Gesellschaft mit den wichtigsten Ergebnissen der Karl-May-Forschung. Die Beiträge behandeln unter anderem Fragen aus Leben und Werk Karl Mays, untersuchen seine Quellen und Beziehungen zu Zeitgenossen.

Weitere Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit werden noch in mehreren Periodika dargelegt, so in den aktuellen Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (vierteljährlich ab 1969), in den Sonderheften der Karl-May-Gesellschaft (unregelmäßig ab 1972) und in den Materialien zur Karl-May-Forschung (unregelmäßig ab 1974; seit 1999 Materialien zum Werk Karl Mays). 1966 hatte der Karl-May-Verlag die Reihe Beiträge zur Karl-May-Forschung gestartet.

Durch diese Fülle von wissenschaftlichen Publikationen – reiche Schätze für unser Finding hole – wurden „Leben und Schaffen“ Mays weitgehend dokumentiert und auch das dritte Ziel, das sich die Karl-May-Gesellschaft einst stellte, im Wesentlichen erfüllt: Der Autor und sein Werk haben „einen angemessenen Platz in der Literaturgeschichte“ gefunden. Karl May ist zum Thema zahlreicher akademischer Arbeiten geworden.

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Ludwig Patsch.

Zum Wandel haben ebenso die alle zwei Jahre durchgeführten internationalen Kongresse der Karl-May-Gesellschaft beigetragen. Schon wiederholte Male haben Universitäten auch eigene May-Veranstaltungen organisiert. Im September 2000 fand erstmals ein Karl-May-Symposium in den USA statt. Eingeladen hatte die Texas Tech University in Lubbock – „the agricultural, educational, medical, cultural and artistic focal point of the Llano Estacado of Texas“.

Bei der intensiven Beschäftigung mit Karl Mays Biografie kommt es immer wieder zur erstaunlichen Feststellung, dass es noch einige weiße Flecken in seiner Vita gibt – für einen Forscher stets eine erfreuliche Tatsache, denn das Erkennen eines Problems ist ja allemal der erste Schritt zur Lösung. Der Wissenschaftliche Beirat Karl-May-Haus – ein kleines Team engagierter May-Fans und -Forscher in Hohenstein-Ernstthal – hat sich seit längerem solcher offenen Fragen in der Biografie angenommen. Seit 1989 erscheint die Reihe Karl-May-Haus Information, in der insbesondere ab Nummer 9 (1996) zahlreiche Beiträge publiziert wurden, mit denen ein paar weiße Flecken getilgt oder neue biografische Gesichtspunkte aufgezeigt werden konnten.

Einen Meilenstein der Forschung markiert die 2005/06 im Karl-May-Verlag erschienene Karl-May-Chronik (fünf Bände, ein Begleitbuch). Dieter Sudhoff und Hans Dieter Steinmetz haben in rund zehnjähriger Arbeit die gesamte Sekundärliteratur, die zeitgenössische Presse, von May hinterlassene Schriften und unzählige Briefe ausgewertet. Zu den Quellen (Sigel: heer 4) gehört auch unsere 2002 edierte Erstauflage von Winnetous Blutsbruder.

Vieles hat sich in unserem Finding hole angesammelt, auch noch manches von anderen als den genannten Verlagen oder Institutionen, ebenso aus Archiven – vor allem im sächsischen Raum.

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Hans Zesewitz vor der Karl-May-Höhle.

Im gleichen Jahr 1912, als Karl May starb, kam ein junger Lehrer nach Hohenstein-Ernstthal – Hans Zesewitz (1888-1976). 1919 übernahm er zusätzlich die Stadtbibliothek und ein wenig später noch das Ehrenamt des Stadtarchivars. Er befasste sich mit der Regionalgeschichte und ab 1921 mit dem „großen Sohn der Doppelstadt“.

Die Bücher fesselten ihn, und er empörte sich „gegen die ungerechte Beurteilung seiner Persönlichkeit und seines Schaffens“. So forschte er in Archiven, hielt Vorträge, publizierte in Zeitungen, verfasste wissenschaftliche Beiträge: Hans Zesewitz gilt als Begründer der Karl-May-Forschung.

Im Karl-May-Jahrbuch 1932 erschien seine Arbeit „Alte Urkunden sprechen“. Er wolle, hieß es zum Schluss, dem May-Freund „sichere Kunde“ bringen „von Karl Mays großem, wenn auch schwerem Leben“. In dieser Zesewitzschen Tradition – frei von Spekulation – steht unsere Karl-May-Biografie.

AUFTAKT AUF DEN WALDPLÄTZEN

„Zwischen den Ausläufern des sächsischen Erzgebirges, da, wo das berühmte Zwickauer und Würschnitzer Kohlenbecken sich bis in die Nähe von Chemnitz zieht, liegen am nördlichen Rande desselben die beiden Schwesterstädte Hohenstein und Ernstthal, welche dem freundlichen Leser ihres Gewerbefleißes wegen gewiß bekannt sein werden. Besonders ist es Ernstthal, dessen Weberei schon vor langen Zeiten sich eines weitgehenden Rufes erfreute und für seine Waaren nicht blos in Deutschland und den angrenzenden Ländern, sondern auch über die See hinüber ein weites Absatzgebiet fand.

Aber der Webstuhl vermag der Hand auch des fleißigsten Arbeiters keine Reichthümer zu bieten…“

Mit diesen Worten beginnt Karl May seine allererste Erzählung (Die Rose von Ernstthal, 1874 oder 1875). Es ist, so der Untertitel, eine „Geschichte aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts“, und ein Säkulum später, zu Mays Kindheit, hat sich an den Verhältnissen nichts geändert. Es ist eine Region geblieben mit viel Armut und dazu noch mit ziemlich verworrenen Strukturen.

Jene Gebiete im Erzgebirgsvorland (582 km2) mit etwa 135 Städten und Dörfern, zu denen auch Ernstthal gehört, waren einst kein kursächsisches, sondern schönburgisches Land. Als Reichsunmittelbare unterstanden die Herren von Schönburg direkt der Oberhoheit von Kaiser und Reich.

Es gab die Reichsstandesherrschaften Forder- und Hinterglauchau, Waldenburg, Lichtenstein, Hartenstein und Stein und außerdem die Lehnsherrschaften Penig, Rochsburg, Wechselburg und Remse. Durch Vererbung und Teilung, Zusammenschluss und Verkäufe tauchten neue Namen auf und verschwanden wieder, die Färbung der Landkarte wechselte häufig, unveränderlich blieb allein der Dauerzwist mit Kursachsen, das mit seinem Territorium die Schönburger Gebiete umschloss.

Anno 1740 wurden Streitigkeiten durch einen Vergleich oder Rezess beigelegt. Die Standesherrschaften hießen fortan Rezessherrschaften und die Herren von Schönburg durften sich nicht mehr Landesherren nennen, behielten aber obrigkeitliche Gewalt, die Bewohner blieben Untertanen der Grafen von Schönburg.

Die finanzielle Lage im Schönburger Land war seit Olims Zeiten miserabel und durch das Abkommen mit Sachsen ein wenig aufgebessert worden. Nach dem gleichen Prinzip – ein Stück Aufgabe der Souveränität gegen sächsische Silbertaler – folgten weitere Rezesse, 1835 und nochmals 1878, womit der letzte Rest landesherrlicher Macht verschwand und das Territorium vollständig in den sächsischen Staat integriert wurde.

Die Anfangszeit der Schönburger war freilich weniger von pekuniären Nöten verdüstert als vielmehr von silberner Glorie überstrahlt. Denn als 1168 die Freiberger Flur fündig wurde, großes „Bergkgeschrey“ anhob und viel Volk aus dem Harz wie aus anderen Gegenden anlockte, wurde nicht nur allerwärts im Gebirge, sondern auch im Vorland nach dem glänzenden Metall gegraben. Um 1320 soll es die ersten Stollen am Südhang des Hohen Steins gegeben haben, aber erst knapp 200 Jahre später kommt es in diesem Revier am heutigen Pfaffenberg zu einer beachtlichen, wenn auch nur kurzen bergbaulichen Blütezeit. Alte Ausbeuteregister nennen Silber-, Kupfer-, ja sogar Golderze, und vermutlich anno 1510 wird der Ansiedlung der Bergknappen das Stadtrecht verliehen. Im nunmehrigen Hohenstein entwickelt sich jedoch schon bald die häusliche Handweberei zum Haupterwerbszweig. Der Erzbergbau läuft mit wechselnden Erträgen weiter, bis schließlich im Jahre 1910 die Glocke von St. Lampertus zur letzten Schicht läutet.

1632 ging als Jahr des Schreckens in die Annalen ein: Eine Pestepidemie raffte 568 Hohensteiner dahin. Als 1680 wieder der ‚schwarze Tod‘ Städte und Dörfer bedroht, riegelt man Hohenstein hermetisch ab; kein Bürger darf die Stadt verlassen, niemand hereinkommen. Der Handelsherr Johann Simon aber setzt sich über alle Verbote hinweg und reist in dringenden Geschäften in die Residenz. Die Heimatstadt verweigert ihm daraufhin die Rückkehr.

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Hohenstein ( links ) und Ernstthal nach einer Zeichnung von 1688, die den frühesten Hinweis auf das Geburtshaus gibt.

So muss er sich notgedrungen auf ein Waldgrundstück seines Vaters Jacob Simon zurückziehen, das einige hundert Meter östlich vom hölzernen Stadttor liegt und vordem als Bleiche für Garn und Leinwand diente. Dieser Zufluchtsort ist die erste Wohnstätte von Ernstthal.

Nach dem Erlöschen der Pest übernimmt Johann Simon das väterliche Anwesen im Wald, kauft weitere Fluren hinzu und rührt die Werbetrommel. Aus Hohenstein und anderen Orten kommen arme Weber, um in seine Dienste zu treten. Sie roden den Tannicht und bauen Häuser, die sie anschließend „für billiges Geld“, so besagt ein Chronistenbericht, erwerben können.

Bald klappern Webstühle in der Siedlung auf den Waldplätzen, wie die Simonsche Gründung anfangs genannt wird. 1687 verleiht ihr der auf Schloss Hinterglauchau sitzende Grundherr zur Huldigung eines Vorfahren den Namen Ernstthal. Nach weiteren sieben Jahren erhält der Ort mit seinen 110 Häusern das Stadtrecht.

Mit dem benachbarten Hohenstein gibt es von Anbeginn an etliche Querelen, nicht zuletzt deshalb, weil beide Städte verschiedenen Regenten unterstehen. Erst 1898 werden die gleichsam nahtlos zusammenhängenden Gemeinwesen zur Stadt Hohenstein-Ernstthal vereint.

Unter den Allerersten, die dem Ruf Johann Simons gefolgt waren, lassen sich in der siebenten Vorgeneration mütterlicherseits drei Urahnen von Karl May nachweisen: der Tischler Johann Teucher, der die Siedlung miterbaute, sowie die Lein- und Wollweber Andreas Stephan und Christoph Spindler. Wir wissen nicht, woher jene Altvorderen kamen. In Ernstthal sind sie gestorben.

„Es ging die Sage“, schreibt Karl May in seiner Selbstbiografie, „daß es in der Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren gegeben habe…“

Genaueres wusste er nicht zu berichten, aber Hainer Plaul konnte Beweise für „die Sage“ ermitteln. Die Ahnenreihe lässt sich heute lückenlos bis zu den erwähnten Vorfahren nachweisen.

Sucht man über die Großmutter väterlicherseits nach der zehnten Vorgeneration, dann findet man im 16. Jahrhundert einen Johann Niederstetter aus Torgau, der Vorlesungen Luthers an der Wittenberger Universität besuchte, anschließend in Freiberg predigte und der Nachwelt in einer kleinen Schrift über ein gewaltiges Unwetter im Gebiet der erzgebirgischen Bergstadt berichtete. Nach damaligem Maßstab kann er durchaus als „weitgereist“ gelten. Von seinem Sohn Michael, weiland sogar zweiter Hofprediger in Dresden, sind mehrere gedruckte Erbauungsschriften überliefert.

In der achten Generation gibt es einen Pfarrer Gottfried Dexelius, Enkel des Johann Niederstetter, der im erzgebirgischen Forchheim lebte und eine Biografie seines Dienstherrn verfasste. Als im Dreißigjährigen Krieg die Schweden ins Dorf kommen, zeigen sie allerdings wenig Respekt vor dem Amt ihres Glaubensbruders: Sie „gießen ihm einen so genannten Schweden-Tranck (Jauche!) in den Halß“. Sein gleichnamiger Enkel – der Bruder einer vierten Urgroßmutter Mays – verfasst sechs Bücher, unter anderem über „seltzamste Denck- und Merckwürdigkeiten“ wie Straßenräubereien, Kindsmörderinnen und ähnliches mehr. Die Schwester dieses Schriftstellers, über die eine gerade Linie zu May führt, ist schon mit einem Weber verheiratet. Ihr gemeinsamer Sohn, einer der Urururgroßväter Mays, lässt sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Ernstthal nieder.

„Es war eine reine Weberstadt“, berichtet Hans Zesewitz, „kaum ein Haus gab es in ihr, in dem nicht mindestens ein Webstuhl klapperte, der den Familien notdürftigen Unterhalt gewährte.“

Zuerst hatten die Handelsherren die von den Webern gefertigten Stücke direkt übernommen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schalten sich die sogenannten Verleger dazwischen. Sie liefern die Garne und erteilen die Aufträge, nehmen die Ware ab und zahlen den Lohn aus und wollen natürlich auch selbst verdienen. Die ohnehin schon kärglichen Einkünfte der Weber schrumpfen noch weiter.

Nach kümmerlichen Jahrzehnten markiert Napoleons Kontinentalsperre von 1806 einen Silberstreif; die Nachfrage nach heimischen Erzeugnissen steigt sprunghaft an, weil englische Produkte ausbleiben. Das aber ist nicht mehr als ein kurzer Aufschwung, dem bald wieder der Jammer folgt. Das Ende der Blockade kommt in den Jahren 1812/13. Preisgünstige englische Tuche aus modernen Industiebetrieben erobern rasch die alten Positionen zurück und neue hinzu. Damit beginnt auch das langsame, aber sichere Ende der Heimweberei. Die Hausweber aber wollen ihre vermeintliche Selbstständigkeit behalten, hoffen auf bessere Zeiten, dehnen den Arbeitstag bis an ihre physischen Grenzen aus.