ERWIN RINGEL

Die österreichische

SEELE

Zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion

Herausgegeben von Franz Richard Reiter

www.kremayr-scheriau.at

Unveränderte Neuauflage der Originalausgabe, in die neue
Rechtschreibung übertragen und mit den nach 1984
erschienenen Publikationen Erwin Ringels ergänzt.

ISBN 978-3-218-00973-7
Copyright © 2005/2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung, Satz und typografische Gestaltung: Media & Grafik, Wien
Coverabbildung: das österreichische Bundeswappen, Archiv Dr. Peter Diem
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhaltsverzeichnis

1. Eine neue Rede über Österreich

2. Wege der Selbstverwirklichung in unserer Zeit

3. Der selbstmordgefährdete Mensch und seine Umwelt, dargestellt mit Liedern von Georg Kreisler

4. Torbergs „Schüler Gerber“ und seine Bedeutung für die moderne Selbstmordverhütung

5. Die Rolle der Sexualität im menschlichen Leben

6. Von der Krankheit zum kranken Menschen

7. Was kränkt, macht krank: Psychosomatik und Arbeitsklima

8. Der Friede im Lichte der Tiefenpsychologie, dargestellt an Beispielen aus der Oper

9. Das Problem der Todesbewältigung am Beispiel Gustav Mahlers

10. Gott ist tot – ist Gott tot? Über die Gottesverdrängung in unserer Zeit

Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten

1. Eine neue Rede über Österreich

Anton Wildgans’ „Rede über Österreich“ ist das Schönste, was bisher über Österreich gesagt wurde. Frage: Stimmt sie auch? Ich möchte Anton Wildgans gegen Anton Wildgans zitieren, eine Stelle aus seinem Drama „Armut“: „Ich hab’ einmal eine Geschichte gelesen von zweien, die arm und glücklich gewesen, doch die Geschichte – ist nicht wahr.“ Vergessen wir nicht, Anton Wildgans hat diese Rede für das Ausland konzipiert, sie sollte in Stockholm gehalten werden (die Krankheit des Dichters hat es verhindert), war als Visitkarte unseres Landes gedacht, das ist Grund und Entschuldigung genug dafür, dass Kritik in ihr kaum zu Wort kam. Ich hingegen bin aus zwingenden Gründen, die ich noch erläutern werde, entschlossen, meine „neue Rede über Österreich“ vor allem der Kritik des Österreichers zu widmen, woraus schon klar hervorgeht, dass ich nicht bereit wäre, sie in dieser Form auch im Ausland zu halten. Aber hier muss ich so sprechen, um der Wahrheit willen – und noch aus einem anderen Grund: ist doch vor wenigen Wochen einer der letzten Wissenden, Propheten und Mahner dieses Landes, ist doch Friedrich Heer gestorben, seine warnende Stimme für immer verstummt: Ich grüße meinen Freund über das Grab hinaus, widme ihm diese Ansprache und kann nur hoffen, dass sie von seinem Geiste getragen ist.

Am 16. Mai 1945 – ein interessantes Datum – notiert Heimito von Doderer in sein Notizbuch: „Nationalismus, eine von Sammelnamen besoffene Welt. Daß ich zum Beispiel Österreicher bin, ist mir mit einer solchen Fülle widerwärtigster Individuen gemein, daß ich es mir verbitten möchte, lediglich mit Hilfe jenes Begriffes bestimmt zu werden. Darauf läuft’s aber bestimmt hinaus, je mehr die Anschaulichkeit der Person ins Unbestimmte der Nation verdunstet.“ Dazu zwei Bemerkungen: Liebe Freunde haben für mich einen kleinen Film gedreht, in dem junge Mädchen fröhlich und ausgelassen auf der Strudlhofstiege tanzen (man hat sie während der Dreharbeiten – typisch für Österreich, siehe später – für verrückt gehalten). Dieser Film soll als Symbol dafür erwähnt sein, dass Sie hier gleichsam einen gemilderten Doderer vorfinden werden, keine feindliche Aggression gegen Österreich (im Übrigen hat kein Geringerer als Friedrich Torberg Doderer als den österreichischsten aller österreichischen Dichter bezeichnet). Ich liebe dieses Land, ich möchte nirgendwo anders leben als hier, dementsprechend wird es eine liebevolle Kritik sein. Aber gerade aus Liebe zu diesem Land müssen wir uns der Wirklichkeit stellen, müssen eine ehrliche Diagnose machen, um Heilung zu ermöglichen, und natürlich, da ich Psychotherapeut und Tiefenpsychologe bin, muss ich diese Diagnose vom Standpunkt meines Berufes abgeben. Noch etwas Zweites: Wenn ich hier vom Österreicher spreche, ist dies nicht verallgemeinernd gemeint. Ich werde Phänomene beschreiben, die hier zwar weit verbreitet, deswegen aber nicht unbedingt ubiquitär sind. Es ist für den Einzelnen nicht leicht, sich ihrem Einfluss zu entziehen, aber doch durchaus möglich, dies gebe ich gerne zu, muss aber im Zusammenhang damit gleich die Sorge äußern, dass nun jeder annehmen wird, er sei eben die (gerne) zugestandene Ausnahme von der Regel. Jedenfalls: Ich möchte nicht, dass im Guten und im Bösen die Anschaulichkeit der Person im Dunstkreis der „Bestimmtheit“ des Österreichers, wie ich sie hier versuche, verschwindet.

Erste These: Dieses Land ist eine Brutstätte der Neurose (doppelt treffendes Wort, weil diese Krankheit ja in der Kindheit „ausgebrütet“ wird). Neurosen gibt es selbstverständlich überall, aber kaum ein Land, in dem sie so „blüht“ wie hier. Ich will das Verdienst Freuds, dieses einmaligen Genies, wahrlich nicht schmälern, aber es war nicht schwer, in diesem Land die Neurose zu entdecken; ja, bei uns musste es geschehen, wo denn sonst, weil es hier einem sozusagen in die Augen sprang und man es auf die Dauer nicht übersehen konnte.

Ich weilte gestern in Rom, durfte in der Mittagsstunde diese wunderbare Sonne Italiens genießen, die mich fast zärtlich wärmte und noch heute wärmt. Am Nachmittag hatte ich mit einer Italienerin ein Gespräch: „Das ist ein herrliches Land, euer schönes Österreich mit seiner großen Ruhe.“ – Und da fiel mir mit Erschrecken gleich ein: „Die Ruhe eines Kirchhofs?“ Wenn man die Kinder in Italien betrachtet, so erkennt man, wie frei sie aufwachsen, wie fröhlich und laut sie sind, so laut sie nur sein können! Niemand fühlt sich dadurch gestört, niemand ruft: „Ich will meine Ruhe haben!“, im Gegenteil, alle wären beunruhigt, würden die Kinder plötzlich verstummen! Die drei Zauberworte regieren – und ich wähle sie hier absichtlich wegen ihrer eigentlichen sprachlichen Bedeutung: unbefangen, ungezwungen, ausgelassen. Bei uns ist das Gegenteil der Fall: Die Kinder sind still, gefangen, gezwungen, man „lässt sie nicht aus“. Wiederholte Umfragen haben ergeben, dass die drei wichtigsten Erziehungsziele des Österreichers lauten: Gehorsam, Höflichkeit, Sparsamkeit – von da kommt die Bereitschaft des Österreichers zu „devotem Dienen“, mehr noch, zu „vorauseilendem Gehorsam“, d. h. Befehle, noch ehe sie ausgesprochen, zu erahnen und zu erfüllen – das Wort „Glücklich-Sein“ scheint gar nicht auf. Kinder werden eingeschränkt, eingeengt, dürfen keine Eigenexistenz führen, sind Werkzeuge, mit denen die Eltern ihre eigenen Ziele erreichen wollen. Vergeblich das Wort unseres großen Anton Wildgans: „Wer bist Du, daß Du nicht das Knie zu beugen brauchtest vor dem neuen Menschen?“ Es ereignete sich in diesem Lande, dass Kafka die so genannte Elternliebe als Eigennutz bezeichnete, in diesem Lande hat auch Franz Innerhofer die Situation des Kindes als „Leibeigenschaft“ klassifiziert und hinzugefügt, dass die kindlichen Abhängigkeitsverhältnisse hier von zeitloser Archaik bestimmt seien. In weiten Teilen unseres Landes wird bis zum heutigen Tage nach dem Familiennamen eines Kindes mit den Worten gefragt: „Wem gehörst denn du?“ Allein im vergangenen Jahr ist die Misshandlung von 75.000 Kindern so intensiv gewesen, dass sie nicht verheimlicht werden konnte. Hundert sind an den Folgen einer solchen „Behandlung“ gestorben, ein Beweis dafür, dass die Eltern den Körper des Kindes als ihren Besitz betrachten, über den sie nach „Belieben“ (ein schreckliches Wort in diesem Zusammenhang) verfügen können. Man möchte an dieser Stelle am liebsten auch das Wort „Seeleneigenschaft“ erfinden, weil ja in diesem Prozess nicht nur der Leib, sondern auch die Seele des Kindes als Besitz der Eltern aufgefasst wird. Und, um die Bedeutung des neuen Begriffes ganz auszuloten: Wenn die Seele einem anderen gehört, kann sie sich nicht nach eigenen Gesetzen entwickeln, sondern muss von anderen gewünschte Eigenschaften annehmen und daher Schaden nehmen. Selbst dann noch, wenn Eltern dieses krank machende Verhalten aufgeben, geschieht gewöhnlich Unglück: Denn dann verfallen sie ins gegenteilige Extrem, kümmern sich überhaupt nicht mehr seelisch um ihre Kinder und überlassen sie damit konzeptlos und angsterfüllt ihrem Schicksal.

So wird die Kindheit, von der Turrini gesagt hat, dass sie ein schreckliches Reich sei, hier zur Geburtsstunde der Neurose; zur Liebe, mit der sich das kleine Lebewesen in den Schutz des großen zu bewegen versucht, gesellt sich der Hass, die Einheit des Gefühlslebens ist zerstört, ein Riss geht mitten durch die Person, das gleichzeitige Bestehen von Ja und Nein, das wir Ambivalenz nennen und als erstes schreckliches Symptom der Krankheit Neurose bezeichnen müssen.

Nun höre ich schon den Einwand, der immer laut wird, wenn ich versuche, die Wahrheit zu sagen: Der Ringel übertreibt wieder maßlos. Sicher, es wachsen hier auch gesunde Kinder heran, es wäre ja entsetzlich, wenn es das gar nicht mehr gäbe! Aber die Mehrzahl wird in der Lebensentfaltung und -gestaltung behindert, ja oft zerstört, es resultieren gequälte, gedemütigte, gebrochene Menschen, deren Lebensfreude erlischt. Und wenn Sie’s nicht glauben, so will ich es Ihnen an einem Punkt beweisen: Der Österreicher ist durch nichts so leicht zu fangen, als wenn man ihm sagt: „Du bist ein ungerecht Behandelter, ein Getretener und Unterdrückter, ich aber werde kommen und dich aus dieser Not und aus diesem Elend befreien!“ Da fühlen sich alle mit einem Male angesprochen, weil sie dieses Gefühl seit der Kindheit – bewusst oder unbewusst – mit sich schleppen. Mit dieser „Masche“ hat es schon der Hitler geschafft, der kleine, unbekannte Gefreite, von allen verkannt und verstoßen, das ideale Identifikationsobjekt für den gedemütigten und sich getreten fühlenden Österreicher; so war er imstande, wie der Rattenfänger von Hameln, die Leute hinter sich zu versammeln. So war es aber auch mit Karl Schranz: Wir haben ja mit diesem Schimatador noch einmal eine Massenhysterie erlebt – wieder am Heldenplatz. Um sie auszulösen, genügte die Annahme, dass ihm mit dem Ausschluss von den Olympischen Spielen in Japan ein schweres Unrecht geschehen sei. Die Menge rottete sich zusammen, aus vernünftigen Menschen formte sich eine Masse, die blindlings den Gesetzen der Irrationalität erlag. Man weigerte sich Mautners Senf zu kaufen, weil dieser mit dem Präsidenten des Olympischen Komitees sympathisierte, verfolgte und verprügelte Andersdenkende. Von der aus dem Boden gestampften Schallplatte „Vom Bodensee bis Wien stehen wir alle im Geist auf den Schiern“ (von mir deswegen als neues „Horst-Wessel-Lied“ bezeichnet), einem lächerlichen Machwerk, wurden in einer Woche weit mehr als 50.000 (!) Exemplare verkauft. Ich werde im Verlaufe meiner Ausführungen noch weitere Beweise für meine Feststellungen erbringen, ich befürchte alles in allem, dass die Dinge vielfach noch schlimmer liegen, als selbst ich sie sehe.

Zweite These: Der durch die Neurotisierung entstandene Hass gegen die Eltern darf nicht ausgedrückt werden. Die Kinder sind ja von ihnen abhängig und das Gewissen verbietet andere kindliche Gefühle als Liebe. Die Eltern ihrerseits neurotisieren nicht nur, sondern sie wünschen auch, dass die Kinder mit ihrem Schicksal zufrieden sind, alles akzeptieren und kein Symptom des Protestes zeigen. Da haben wir also eine Fülle von Gründen dafür, warum das Kind lernt, die negativen Erlebnisse und die daraus resultierende Erbitterung ins Unbewusste zu verdrängen. So verlässt sein Nein als devotes Ja den Bereich des Mundes, so wird es ihm unmöglich, die Wahrheit zu sagen, wenn es gelernt hat, mit der Höflichkeit zu überleben (um nochmals Peter Turrini zu zitieren). Alice Miller hat ihren zwei grundlegenden Werken „Die Tragödie des begabten Kindes“ und „Im Anfang war Erziehung“ ein nicht minder bedeutendes drittes unter dem Titel „Du sollst nicht merken“ folgen lassen. Die Parole der Eltern lautet: „Vergiss alles Unangenehme, das dir widerfahren ist, so lange bis du überzeugt bist, eine wunderbare, eine ,märchenhafte‘ (sind Märchen nicht Lügen?) Kindheit gehabt zu haben.“ Mir fällt das Lied aus der „Fledermaus“ ein: „Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist.“ Man könnte dies als die heimliche Hymne des Österreichers bezeichnen. (Ich darf bei dieser Gelegenheit mein tiefes Bedauern darüber äußern, dass uns die ehrwürdige Haydn-Melodie, die selbst das Jahr 1918 überstanden hat, 1945 „abhanden“ gekommen ist, nur weil sie von Deutschland jahrzehntelang mit einem aggressiven Text missbraucht worden war!) Vergessen, verdrängen bedeutet aber resignieren; nur Bewusstes kann verändert werden, Unbewusstes natürlich nicht. Und so werden durchaus revidierbare Dinge erst durch Verdrängung unveränderbar, wir müssten also singen: „Unglücklich ist, wer vergisst, was dann nicht zu ändern ist!“

Was wir nun in der Kindheit so „gut“ und intensiv gelernt haben, nämlich das Verdrängen, das setzen wir später konsequent fort, so dass man uns geradezu eine „Verdrängungsgesellschaft“ nennen könnte. Bevor ich aber näher darauf eingehe, möchte ich gerade jetzt nochmals darauf hinweisen, dass ich diesen Vortrag keineswegs aus einer anklagenden Position halte, sondern vielmehr aus einer klagenden. Ich versuche ja zu verstehen, wieso es mit den Österreichern „so weit“ gekommen ist, was freilich nicht bedeuten kann, alles zu verzeihen, aber doch von einer pauschalen Verurteilung abhält. Ich brauche nur an mich selber zu denken: Wenn ich in manchen Punkten das Glück hatte, mich nicht so zu entwickeln, wie ich es hier als typisch „österreichisch“ schildere, so verdanke ich das einer einmalig schönen, wunderbaren Kindheit, die in mir noch bis zu dem heutigen Tage nachwirkt; weil ich damals Liebe erfahren durfte, konnte ich dem Prinzip der Liebe treu bleiben, Unmenschlichkeit zurückweisen, Zuwendung ausstrahlen, als was ich meine Existenz bis zum heutigen Tage auffasse. Wer kann garantieren, dass es mit mir unter anderen Umständen nicht auch ganz anders hätte kommen können?

Wie dem auch sei, ich komme zu unserer Vorliebe für die Verdrängung zurück und behaupte, dass wir uns größtenteils nicht kennen, nicht kennen wollen. Nicht zufällig war es ein Österreicher, Ferdinand Raimund, der in seinem „Alpenkönig und Menschenfeind“ formulierte: „Du begehst die größte Sünde, die es gibt: du kennst dich selber nicht!“ – Viele Beispiele ließen sich dafür anführen, keines aber liegt mir so sehr am Herzen wie die Art, mit der wir die Zeit zwischen 1938 und 1945 behandeln. Was haben wir gemacht in diesen sieben Jahren, die heute plötzlich im Geschichtsunterricht gar nicht mehr existieren, weil sie uns peinlich sind? Ja sicher, politisch gesehen, sind wir das erste Opfer Hitlers gewesen, so wie es die Moskauer Deklaration lehrt. Aber wie war es denn menschlich? Haben wir uns da wirklich als Opfer gefühlt? Ich erinnere mich der Stunde, als der damalige Unterrichtsminister und heutige Bundeskanzler Fred Sinowatz bei der Ehrung, die dieser ganz großartigen Dorothea Neff im Akademietheater dafür zuteil wurde, dass sie viele Jahre eine Jüdin in ihrer Wohnung versteckt hatte, folgende Sätze formulierte: „Nachher haben alle gesagt: ,Ich habe ja nichts getan.‘ Und sie wissen gar nicht, welche Selbstanklage in diesem Satz eigentlich enthalten ist! Wir haben nichts getan, wo Menschen verfolgt worden sind, wir haben nicht geholfen, haben weggeschaut, haben es geduldet, sind still geblieben.“ Ich zitiere Friedrich Torberg: „Bruder, hättest manche retten können, und nun sind sie tot, Bruder, ach, du hättest müssen wachen, und du hast geträumt, hättest müssen rasche Schritte machen, und du hast gesäumt.“ – Ja, wir haben vieles nicht getan, was wir hätten tun müssen. Aber es ist damit noch nicht abgetan. Wir haben vieles getan, ganz aktiv getan, was wir niemals hätten tun dürfen. Der Herr Vizekanzler Steger hat vor kurzem gesagt, Mauthausen sei eigentlich gar kein so schlimmes Konzentrationslager gewesen, eine Art österreichische, d. h. bescheidenere Dimension des Unheils, gemessen an Auschwitz. Ich muss leider entgegnen, dass man bei den entscheidenden Männern des nationalsozialistischen Reiches, vom „Führer“ angefangen, bis hin zu Schreckensnamen wie Eichmann, Kaltenbrunner, Seiß-Inquart usw., in einer erschütternden Weise immer wieder auf Österreich stößt. Wir haben uns also keineswegs in einer kleinen Dimension beteiligt, sondern mitunter sogar in einer wesentlich größeren Dimension als die im so genannten „Altreich“. – Das muss endlich einmal ehrlich ausgesprochen werden. Auch damit aber noch nicht genug: Die Österreicher haben vielfach in Hitlers Heer nicht nur gezwungen gedient, sondern mit einer Leidenschaft – und ich zögere gar nicht, das auszusprechen –, mit einer Tapferkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen wären. Wir haben damit einen Beitrag dazu geleistet, dass dieses Regime sich über weite Teile Europas ausbreiten, seinen Untergang um Jahre hinausschieben und in all diesen Ländern und in dieser ganzen Zeit ungezählte unschuldige Opfer vernichten konnte! Das war mit unser Werk, daran haben wir außer Zweifel teilgehabt. So weit, so schlecht. Aber wie sehen wir die Sache heute? Viele sagen: Wir sind auf der falschen Seite gestanden; damit ist aber nicht gemeint, dass wir auf der moralisch falschen Seite, sondern auf der Seite gekämpft haben, die den Krieg verloren hat. – Ich erinnere mich an eine Diskussion über Stalingrad im „Club 2“, wo eine Dame gesagt hat: „Ja bei Stalingrad, da habe ich zum ersten Mal begriffen, dass es ein böser Krieg ist.“ Und auf die Frage des Tass-Korrespondenten: „Früher haben Sie das nicht entdeckt?“, antwortete sie: „Nein, damals haben wir ja gewonnen, da hat sich der Krieg in fremdem Land abgespielt, aber jetzt kam er unbarmherzig zu uns, und da hab’ ich auf einmal verstanden, dass das ein schlechter, ein böser Krieg ist.“ Viele Österreicher werfen bis heute Hitler vor allem vor, dass er sich auf längere Sicht nicht als größter Feldherr aller Zeiten erwiesen und den Krieg verloren hat. Ich will gar nicht darüber nachdenken, was die Österreicher heute sagen würden, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte – das wage ich nicht mir auszumalen, ich muss es der Fantasie jedes Einzelnen überlassen.

Alexander Mitscherlich hat das große Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ geschrieben. Betrifft die Unfähigkeit, die eigene Schuld einzugestehen und sie damit zu verarbeiten (Trauerarbeit), wirklich nur die Bundesrepublik, betrifft sie nicht ganz genau so auch Österreich? Als ich zum 60. Geburtstag von Mitscherlich die Laudatio im Rundfunk halten durfte und törichterweise bereit war, sie schon vorher auf Band aufnehmen zu lassen, musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass gerade die Passage, wo ich auf die Mitschuld Österreichs hingewiesen hatte, einer Streichung zum Opfer gefallen war. Zufall war dies wohl kaum, vielmehr ein Beweis mehr dafür, wie intensiv der Verdrängungswunsch ist und dass er sich (heute mehr denn je) auch auf Menschen in sehr einflussreicher Position stützen kann, auf die „Verlass“ ist.

Noch eine Bemerkung: Kann man im Begriff der Kollektivschuld untertauchen, der persönlichen Verantwortung damit entkommen? Wenn man bereit ist, sich einem Kollektiv einzuordnen, welches dem Gesetz der Massenpsychologie unterliegt, wo man also andere für sich denken lässt und nur Befehle ausführt, so bleibt man doch verantwortlich dafür, dass man sich zu einem Mitglied einer solchen Pseudogemeinschaft hat machen lassen. Es gibt also keine Kollektivschuld, sondern nur eine Schuld Einzelner, die das Kollektiv bildeten.

Ich sage das alles nicht zum Anklagen, nicht um Gerichte zu konstituieren, Schuldsprüche und Rache zu verlangen, Menschen aufzufordern, als Büßer in Sack und Asche herumzugehen! Das kann niemand wollen, dem an Österreichs Zukunft etwas gelegen ist. Was wir wollen, ist vielmehr echte Versöhnung! Vor einiger Zeit hat ein Politiker der Freiheitlichen Partei Österreichs die Ansicht vertreten, es sei Beweis genug für die Versöhnungsgesinnung dieser Partei, wenn nun eines ihrer prominentesten Mitglieder bereit sei, den Posten eines Dritten Nationalratspräsidenten anzunehmen, das enthalte ja ein Bekenntnis zu Österreich. Dies ist – ich möchte es mit größtem Nachdruck betonen – nicht die Art der Versöhnung, die ich mir vorstelle. Ich sprach von einer Versöhnung, die auf Einsicht beruht, auf einer Erkenntnis, auf dem Bekenntnis: Das habe ich falsch gemacht. Der schon zitierte Mitscherlich hat einmal gesagt: „Identität haben, das heißt die tausend Irrtümer einzugestehen, die man im Verlauf seines Lebens durchgemacht hat, da, dort und dann; denn unser Leben ist eine Kette, eine Aneinanderreihung von Irrtümern, von Fehlern.“ Errare humanum est. Das Menschliche ist das Irren, aber es hat nur dann einen Sinn, wenn wir unsere Irrtümer erkennen, nur so können wir durch Schaden klug werden und nur so kann es uns helfen, unsere Identität zu finden. Und da bin ich bei der Feststellung, dass natürlich unsere Vergangenheitsbewältigung entscheidend ist für die Beziehung der älteren Generation zu der Jugend, um die es mir ganz besonders geht. Wenn auf die schicksalhafte Frage: „Wie war eine solche Unmenschlichkeit möglich?“, die Eltern antworten: „Ja, wir haben das falsch gemacht“, dann würden sie in den Augen der Jugend sicher nicht verlieren, sondern ganz im Gegenteil gewinnen. Vor einigen Tagen wurde im Fernsehen ein Porträt von Hilde Krahl, der berühmten Schauspielerin, gezeigt. Ganz vorsichtig und behutsam hat sich der Reporter vorgetastet: „Gnädige Frau, Sie haben doch Karriere gemacht in diesen sieben Jahren, in dieser schrecklichen Zeit. Sie waren mit so vielen Juden befreundet, haben den Nationalsozialismus sicherlich abgelehnt: Haben Sie da nicht mitunter bei dieser Karriere ein schlechtes Gefühl gehabt?“ Und ohne jedes Zögern antwortete Hilde Krahl mit jener Aufrichtigkeit, die uns allen gut anstünde und die uns weiterbrächte: „Ja, sehen Sie, das war wirklich schrecklich. Ich hab’ nur immer gedacht, mach den nächsten Film und wieder den nächsten, dann bekommst du Geld und kannst mit deinen Angehörigen der sozialen Enge entkommen. Und dafür, dass ich das damals gedacht habe, dass ich nicht das Einzige getan habe, was ich hätte tun müssen, nämlich wegzugehen, dafür schäme ich mich heute noch immer aufs Neue.“ Ich zögere nicht zu bekennen, dass ich da am liebsten aufgesprungen wäre, um diese wunderbare Frau zu umarmen, und möchte, dieses Thema abschließend, noch darauf hinweisen, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt, die notwendige Vergangenheitsbewältigung durchzuführen. Über kurz oder lang wird die betroffene Generation nicht mehr am Leben sein und aus der psychotherapeutischen Erfahrung wissen wir, dass der Tod ein schlechter Löser von Problemen ist.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas über die Sprache des Österreichers sagen: Er hat sie zunehmend in den Dienst der Verdrängung gestellt und insofern ist die Feststellung Helmut Eisendles „Österreich ist seine Sprache“ zutreffend. Der Außenminister Frankreichs, Talleyrand, ein großartiger Diplomat, hat einmal gesagt: „Worte sind dazu da, die Gedanken zu verbergen.“

Was in der Politik sinnvoll sein mag, ist aber für das menschliche Zusammenleben eine Katastrophe. Trotzdem haben wir uns eine Sprache angewöhnt, die aus Phrasen und Formeln besteht und die Perpetuierung des spanischen Hofzeremoniells im Rhetorischen bedeutet (es gibt namhafte Forscher, welche die bis zum heutigen Tage anhaltend hohen Suizidraten in den ehemaligen Teilen der österreichisch-ungarischen Monarchie damit in Zusammenhang bringen – Sprachverarmung ist immer mit erhöhter Selbstmordgefahr verbunden!). Jedenfalls haben wir zu reden gelernt, ohne Gefühle äußern zu dürfen (zu müssen), und damit verlernt, sie ausdrücken zu können, wir verstecken uns also vor den anderen. Sprachnot hat in diesem Sinne Entfremdung und Isolation zur Folge. Nach neuesten Ergebnissen treffen vier von zehn Erwachsenen in Österreich nur ein bis drei Bekannte pro Monat! 1,4 Millionen Österreicher haben in normalen Monaten (außerhalb der Arbeit) praktisch gar keinen Kontakt zu Freunden, Ehepaare sprechen im Durchschnitt sieben Minuten pro Tag (!) miteinander. Vielen Betroffenen bleibt nichts anderes übrig als zu „verstummen“, „alles in sich hineinzufressen“, wie sie sagen, was vor allem psychosomatische Erkrankungen zur Folge hat, manche ersticken im übertragenen Sinn an ihrem unbewältigten, nicht entäußerbaren Gefühl. Es darf in diesem Zusammenhang nicht der fast übermenschliche Versuch von Karl Kraus vergessen werden, der österreichischen Sprache – ich darf diesen Ausdruck gerade im Zeichen dieses großen Verkünders verwenden, der gesagt hat: „Die gleiche Sprache ist es, die den Österreicher von den Deutschen unterscheidet.“ – wieder ihren Wert zurückzugeben und sie zur Grundlage einer aufrichtigen und wahrhaft menschlichen Kommunikation zu machen: Er wurde in der Umgangssprache ebenso zu Fall gebracht, wie sein Schöpfer ein typisches österreichisches „Mahner-Schicksal“ erlitten hat.

Dritte These: Damit sind wir bei einem wichtigen Punkt: Die Verdränger haben vor niemandem so große Angst wie vor denjenigen, die kommen und versuchen, diese Verdrängung aufzuheben. Darum sind die Mahner, die Aufdecker die Wahrheitssucher, die Propheten in diesem Lande nicht erwünscht. Ich komme zurück auf die Rede von Anton Wildgans: Dort zählt er eine Reihe großer Namen auf, die den Ruhm unseres Vaterlandes ausmachen. Man darf aber nicht fragen, unter welchen Bedingungen die meisten von ihnen hier leben mussten, unter welchen Umständen sie gestorben sind. Man wird unwillkürlich an den Mahler’schen Ausspruch erinnert: „Muss man denn hier immer erst tot sein, damit sie einen leben lassen?“ Die gute Nachrede setzt jedenfalls immer erst nach dem Tode ein, zu Lebzeiten erscheint die Größe, nach dem Ausspruch Grillparzers – der es am eigenen Leibe erfuhr –, gefährlich und wird erbittert bekämpft. Es ließe sich ein Schattenzug zusammenstellen tragischer Art, um dies zu beweisen. Ich will nur ein paar Beispiele bringen, die mir so besonders wichtig sind in unseren Tagen. Zuerst einmal Gustav Mahler, den man mit Intrigen aus der Staatsoper verjagt hat, als deren Direktor er durch zehn Jahre Maßstäbe gesetzt hatte, die bis zum heutigen Tage nicht erreicht worden sind – er musste die Flucht in die Fremde antreten. „Leb wohl!“ – die Worte, die er so oft auf die Partitur seiner „Zehnten“ geschrieben hat, in Verzweiflung –, es stellte sich für ihn und für viele andere Bedeutende heraus: Man kann hier nicht wohl leben, wenn man ein Prophet ist. Das „Leb wohl!“ bekommt dann die andere Bedeutung: „Adieu, weg, fort mit dir!“ Und ein Prophet war er; seine Musik erschaute den bevorstehenden Untergang, während die anderen nichts ahnend blind in den Abgrund tanzten.

Es ist von unheimlich logischer Konsequenz, dass die Großverdränger in Österreich diejenigen am intensivsten ablehnen, welche zuerst den Mechanismus der Verdrängung durchschauten und bis heute und wohl zeitlos gültige Wege zu ihrer Aufhebung gewiesen haben: Sigmund Freud und Alfred Adler. Wohin kämen wir, wenn wir die Wahrheit über uns zuließen? Das darf unter keinen Umständen geschehen. Und deshalb werden den beiden Ansichten unterstellt, die sie nie gehabt haben (Wille zur Lust, Wille zur Macht), die dann aber ihre Negation geradezu zur selbstverständlichen Pflicht machen. Wildgans in der „Rede über Österreich“ wörtlich: „Der Österreicher ist von Geburt Psychologe, und Psychologie ist alles.“ Frage: Ist der Österreicher wirklich Psychologe? Ist ihm die Psychologie alles? Welche Aufnahme ließ dieser Österreicher Sigmund Freud und Alfred Adler zuteil werden, wie hat er die Gnade, solche Genies der Psychologie Mitbürger nennen zu dürfen, zu schätzen gewusst? Als Freud von Amerika triumphierend zurückkam, meinte er: „Drüben verstehen sie mich falsch“ – ein prophetisches Wort –, „aber hier lehnen sie mich aus tiefster Seele ab.“ So ist es im Grunde bis zum heutigen Tage geblieben. Es existiert in Wien z. B. zweimal eine Hansi-Niese-Gasse – ich bin ein Opfer davon, weil ich in der einen wohne, und viele Menschen verirren sich zuerst in den 13. Bezirk, um dann nach einer Stunde mühsam bei mir zu landen –, derselben Hansi Niese gewidmet, der Karl Kraus in „Die letzten Tage der Menschheit“ als Kriegsverherrlicherin ein so unrühmliches Denkmal gesetzt hat. Vergeblich wird man aber in der Stadt eine Straße, einen Platz suchen, der nach Freud oder nach Adler benannt ist. Mühsam müssen sich Amerikaner zur Berggasse 19 durchfragen, oft ist es ihr wichtigstes Ziel in Wien und sie können es nicht fassen, dass der große Meister hier totgeschwiegen wird. Aber lassen wir jetzt die Spielereien mit den Straßen, denn das sind ja nur Kleinigkeiten, freilich symbolträchtige. Schlimm ist schon, dass ein Denkmal, das im Hotel Bellevue daran erinnert, dass dort dem „Doktor Freud sich das Geheimnis des menschlichen Traumes enthüllte“, verwüstet wurde, am schlimmsten aber, dass man hier heute so lebt, als hätte Freud nie gelebt! Das ist das Entscheidende: Man kehrt in die vorfreudsche Zeit zurück, man verdrängt, huldigt einer Oberflächenpsychologie, betreibt jene Bewusstseinsverengung, von der gerade Freud gesagt hat, dass sie eine Vorstufe des Unterganges ist. Und Alfred Adler? Man hat das Wort „Minderwertigkeitskomplex“ von Adler losgetrennt, es gehört der Allgemeinheit, ist gleichsam zum Volkslied geworden. Man könnte das begrüßen, es als Zeichen großer Popularität werten, wenn nicht eine Absicht dahinter stünde, die man merkt und einen mehr als verstimmt, nämlich den Erfinder in der Versenkung des Vergessens verschwinden zu lassen. Und das in einem Lande, dessen Bewohner ständig zwischen rührseliger Unterschätzung und grenzenlosen Grandiositätsgefühlen hin und her schwanken! Zu Lebzeiten ist Freud niemals Ordinarius in Österreich geworden (Stefan Zweig: „Nun sind Sie ein außerordentlicher Professor unter so vielen ordentlichen!“), Adler hat man gar die Habilitation verweigert. Und heute? Nur mit Mühe und unter besonderem Druck ist endlich ein Lehrstuhl für Tiefenpsychologie geschaffen worden. Bis zum heutigen Tage wird Psychotherapie von den Krankenkassen kaum bezahlt, gibt es in weiten Landstrichen Österreichs keine Möglichkeit, diese Behandlung zu erhalten. Mit Recht hat Julia Schmidt die Vermutung geäußert, die meisten Österreicher wüssten gar nicht, was Psychotherapie ist, nicht zuletzt deswegen, weil es sich um eine „österreichische“ Erfindung handelt. Noch jetzt gehen Menschen, die eine Psychotherapie benötigen, möglichst heimlich zu ihrem Therapeuten. Es gilt als Zeichen der Schwäche, wenn man in seelischen Schwierigkeiten Hilfe benötigt, bei Christen wird es als Symptom mangelnden Glaubens gewertet, denn wer auf Gott vertraut, kann die Behandlung des Seelenarztes leicht entbehren! An dieser Stelle muss einbekannt werden, dass das „natürlich“ auch ganz wesentlich mit dem heute hier immer noch lebendigen Antisemitismus zu tun hat, der geradezu als ein Charakteristikum des Österreichers zu bezeichnen ist: Nicht zufällig fällt die Verschärfung der nationalsozialistischen antisemitischen Maßnahmen genau mit dem „Eintritt Österreichs in das großdeutsche Reich“ zusammen. Mahler, Kraus, Freud, Adler, die Liste ließe sich endlos fortsetzen – ja es ist nun einmal so, dass aus diesem Volk ganz besondere Entdecker, Pioniere und Mahner hervorgingen und noch hervorgehen. Und es ist eben so, dass das Neid erzeugt: „Warum sind die und nicht wir die erste Liebe Gottes gewesen?“ Und es ist eben so, dass bis zum heutigen Tag der christliche Antisemitismus, der die Wurzel des Hitler’schen Antisemitismus war – wie Heer nachgewiesen hat –, nicht überwunden erscheint. Das geht so weit, dass, wenn einer für die Juden eintritt, man sofort sagt – ich weiß davon ein Lied zu singen –: „Der muss selber ein Jud’ sein, sicher, den einen oder anderen Tropfen jüdischen Blutes wird er schon in sich haben.“ Ich habe bei einer Gelegenheit einmal geantwortet: „Ich kann nicht damit dienen, aber ich wäre sehr stolz, diesem Stamme anzugehören, aus dem so viele große Menschen gekommen sind.“

Darf ich zum Abschluss dieser These noch einmal auf Friedrich Heer zurückkommen? Wenn man ihn in der letzten Zeit besucht hat, konnte man ihn sagen hören: „Schaut mich an, ich bin ein Sterbender, ich sterbe schon seit Monaten, vielleicht schon seit Jahren. Erschreckt nicht, mein Sterben ist ein Teil des Lebens. Ich genieße dieses Sterben! Und seid nicht traurig, denn es gehört zu mir.“ Und manchmal fügte er hinzu: „Und wenn ihr wissen wollt, woran ich sterbe, dann sage ich euch, ich sterbe an Österreich, wir alle sterben an Österreich“, und verstummte. Wir alle sterben an Österreich. Ich glaube, es ziemt sich hier, wo wir an diesem Abend ganz besonders natürlich auch an Anton Wildgans denken, zu sagen, dass auch Anton Wildgans zweifellos an Österreich gestorben ist. Er hat genau dieses österreichische Schicksal erlitten, das er so präzise beschrieben hat. „Dieses Schicksal bedeutet, zu viel Energie aufwenden müssen, um eine Sache durchzusetzen, sie als notwendig den Maßgeblichen begreiflich zu machen, so daß Müdigkeit eingetreten ist, bevor die endlich durchgesetzte Sache durchgeführt werden darf.“

Wie intensiv sind die autobiografischen Züge im folgenden Gedicht:

Vieles magst Du an uns verschwenden
Alles verweht
Immer kommst Du mit Deinen Spenden
Leben, zu spät.

Nahmen wir doch in schaffenden Träumen
Alles bereits
Längst vorweg deinem kleinlichen Säumen
und deinem Geiz.

Müde sind wir, eh wir gefunden
Spuren des Lichts,
Außer jenen träumerischen Stunden
Haben wir nichts.

Es scheint mir für viele Österreicher geschrieben zu sein.

Vierte These: Ich habe gesprochen über die Neurotisierung, über die Verdrängung, über die Unterdrückung und Abschiebung der Aufdecker. Ich möchte jetzt über ein Symptom sprechen, das ich schon als Symptom jeder Neurose erwähnte, nämlich die Ambivalenz. Neurotisiert werden heißt, einen Menschen zugleich zu lieben und zu hassen, eine unheimliche Strukturierung des menschlichen Gefühlslebens. Es gibt in Holland einen Komponisten, Bernard van Beurden, der zur Eröffnung des Steirischen Herbstes 1979 eine Symphonie geschrieben und bei dieser Gelegenheit etwas sehr Interessantes über die Bewohner unseres Landes gesagt hat: „Der Österreicher hat eine Zweizimmerwohnung. Das eine Zimmer ist hell, freundlich, die ,schöne Stube‘, gut eingerichtet, dort empfängt er die Gäste. Das andere Zimmer ist abgedunkelt, finster, verriegelt, unzugänglich, völlig unergründlich.“

Ich verdanke Wendelin Schmidt-Dengler den Hinweis auf zwei ähnliche Stellen in der österreichischen Literatur.

In Grillparzers „Der arme Spielmann“ (1848) beschreibt der Erzähler den Raum des unglücklichen Geigers, den dieser mit einem Handwerker teilen muss: „Der arme Spielmann hat seinen Teil von dem des Mitbewohners durch einen Kreidestrich getrennt, wodurch auf seiner Seite Ordnung, ja Pedanterie, auf der anderen Seite Unordnung und Chaos sichtbar werden.“ Die Hauptfigur in Wolfgrubers Roman „Verlust eines Sommers“ (1981), Martin Lenau, erinnert sich an seine Kindheit: „Den ordentlich verwalteten Teil seines Zimmers hat er von dem Durcheinander seines Bruders durch einen Kreidestrich getrennt.“ In beiden Fällen der „Äquator einer Welt im kleinen“ (Grillparzer).

Schmidt-Dengler meint, dass damit Ordnung und Anarchie einander gegenübergestellt seien – ich finde damit jedenfalls das Bild Beurdens bestätigt, das mich fasziniert und von dem ich überzeugt bin, dass es die Ambivalenz ebenso ausdrückt wie den Gegensatz zwischen bewusst und unbewusst. Da ist auf der einen Seite die Höflichkeit, diese Freundlichkeit, die zur Scheinfreundlichkeit oder, wenn ich dieses Wort verwenden darf, zur Scheißfreundlichkeit wird, ein „Entgegenkommen“, das sich als ungedeckter Wechsel entpuppt. Hier wird dir alles versprochen, du betrittst das (erste) Zimmer, Hoffnungen werden genährt, aber wenn du weg bist, bist du nicht mehr vorhanden, denkt der Mensch nicht daran, auch nur den kleinen Finger für dich zu rühren. „Groß ist das Wort und klein ist der Sinn“, sagt mein Freund Georg Kreisler, auch ein Vertriebener, nicht gewünscht in Österreich, weil er die Menschen ihr eigenes Bild im Spiegel sehen ließ, ein schweres Vergehen; heute will er hier nicht mehr auftreten. Und Peter Handke, der in „Wunschloses Unglück“ den tragischen Weg seiner Mutter in den Selbstmord beschreibt, kommentiert: „Es brauchte nur jemand mit dem kleinen Finger zu winken, und sie wäre auf den richtigen Gedanken gekommen.“ Und fügte resignierend hinzu: „hätte, wäre, würde“.

Ich glaube, dass für die hohe Suizidrate des Österreichers dieses Wechselbad, dieses (wenn man ahnungslos ist) Glauben und Vertrauen und Alles-Erwarten und dann dieses Fallen in einen umso schrecklicheren, tieferen Abgrund, in dieses finstere Loch der Enttäuschung und des Im-Stich-gelassen-Werdens, wenn Sie so wollen, in das zweite Zimmer, wesentlich mitverantwortlich ist. Und auch die Sprache des Österreichers kennt diese zwei Zimmer. Wenn es im österreichischen Lied von Wildgans heißt: „... einfach und echt von Wort, wohnen die Menschen dort“, so bekommt das heute für mich einen ganz anderen Sinn. „Echt von Wort“ heißt: „Es ist uns echt nicht zu trauen.“ Nicht zufällig bekommt hier der Satz „Ich werde dir schon helfen“ eine zweite Bedeutung – nämlich eine drohende. Und „einfach wohnen die Menschen dort“ erinnert eben an „die Zweizimmerwohnung, die wir haben“. In den unterdrückten, frustrierten Menschen, in denen diese Verzweiflung in der Kindheit erzeugt wurde, da lauert natürlich ein Hass. Er wird lange Zeit im zweiten Zimmer sorgfältig eingeschlossen und versteckt, aber er kann bei irgendeinem Anlass verhängnisvoll ausbrechen. Wie oft erschrecken dann Menschen über sich selber und sagen: „Ich habe gar nicht geahnt, dass solche böse Dinge in mir drinnen sind.“ Da tritt zum Beispiel dieser Neid hervor, wenn dem anderen irgendetwas gelingt: „... da ist der allerärmste Mann dem andern viel zu reich.“ Wenn einer irgendeine Entdeckung macht, ist der erste Gedanke: „Wieso ist das nicht mir eingefallen?“, und: „Wenn’s einem anderen gelungen ist, dann darf das einfach nichts wert sein.“ Die erste Herzoperation wird in Österreich erfolgreich durchgeführt – da steht schon am Tag vorher in der Zeitung, dass sie unüberlegt, viel zu früh aufs Programm gesetzt wurde, die Neidgenossenschaft tritt voll in Aktion.

Im „zweiten Zimmer“ finden sich aber nicht nur Neid und Hass, sondern auch Unsicherheit und Angst. Es ist ganz unfassbar – selbst der Psychiater, der an vieles gewöhnt ist, vermag es kaum zu glauben –, welche Ängste hier weit verbreitet sind. Jeder fürchtet jeden, hält ihn für einen Konkurrenten, einen potenziellen Feind, man beobachtet einander misstrauisch, stellt gleichsam schon weit draußen, im Vorfeld der Begegnung, Horchposten auf, jedes Gerücht über angeblich böse Absichten des anderen, und sei es auch noch so abstrus, wird geglaubt. Im Grunde sind das alles Folgen der missglückten Eltern-Kind-Beziehung: Eine Welt bricht zusammen, wenn das Vertrauen zu den Eltern verloren geht. Und weil ich bei der Angst bin, so möchte ich daran erinnern, wie leicht diese Angst wiederum zum Hass wird, z. B. zum Hass gegen alles Fremde. – Ja, die Österreicher verlangen in Südtirol zweisprachige Ortstafeln und Gleichberechtigung für die Minderheit. Aber was tun denn wir mit unseren Minderheiten? Dort stürmen und zerstören wir zuerst einmal die zweisprachigen Ortsbezeichnungen. Nun stehen sie zwar, aber verlangen Sie in Südkärnten auf slowenisch eine Fahrkarte, dann bekommen Sie keine und stattdessen die Antwort: „Kannst das net deutsch sagen?!“ – eine demütigend-sadistische Szene, die an faschistische Zeiten erinnert. Als mir die Auszeichnung zuteil wurde, für die Slowenen psychohygienische Vorträge halten zu dürfen, wurde mir folgende Geschichte erzählt: Slowenische Eltern hatten alles getan, um ihre Tochter deutschsprachig zu erziehen. Als sie einen Slowenen heiratete und damit für sich und ihre Kinder die slowenische Sprache an die erste Stelle setzte, klagten die Eltern: „Wir haben versucht, aus dir einen Staatsbürger erster Klasse zu machen, und nun zerstörst du mit einem Schlage unsere Bemühungen und machst dich wieder zu einem Menschen zweiter Klasse.“ Das heißt also: In Österreich muss man dem Slowenentum abschwören (ich glaube, die Situation der Kroaten im Burgenland ist besser), um ein „ordentlicher“ Staatsbürger zu werden. So gehen wir mit den Anderssprachigen um, die wir bis zum heutigen Tage mit dem Odium der „Verräter“ umgeben, obwohl wir nachweisbar die Volksabstimmung nach dem Ersten Weltkrieg ohne die slowenischen Stimmen niemals hätten gewinnen können! Nein, unter diesen Umständen hat der österreichische Unterrichtsminister Zilk vollkommen Recht, wenn er sagt: „Hört auf von Südtirol zu sprechen, bevor ihr nicht begonnen habt, in Österreich einwandfreie Verhältnisse zu schaffen.“

Und jetzt bin ich bei Wildgans, bei seinem Satz aus der „Rede über Österreich“: „Psychologie ist Pflicht im Zusammenleben der Völker!“ – Erfüllen wir diese Pflicht? – Ich muss es leider bestreiten. – Wir haben sehr lange eine einmalige Chance gehabt, im Herzen Europas eine „vorwegnehmende Zukunft“ zu gestalten, wenn wir bereit gewesen wären zur Verständigung und Partnerschaft, zu Gleichberechtigung und Achtung. Es hätte ein Experiment sein können, das den Weg gewiesen hätte zu den „Vereinigten Staaten von Europa“. Wir haben aber diese Chance – und das muss man doch einbekennen, statt larmoyant über den Untergang des „großen Reiches“ zu klagen – nicht wahrgenommen: Wir haben uns als Herrschende aufgespielt und ab 1867 hat es zwei Herrenvölker gegeben, die Österreicher und die Ungarn, die noch bis zum heutigen Tage daran schwer zu tragen haben, dass sie bei dieser Sache mitgemacht haben. Das ist wieder eine Wahrheit, die wir nicht „wahrhaben“ wollen! Sicher, wir waren relativ menschlich. Wenn Sie nach Polen gehen – das unglückliche Land war zwischen Russland, Deutschland und Österreich aufgeteilt –, können sie noch heute hören: Die Österreicher waren die mildesten Herrscher. Sicher – aber eben doch Herrscher. Und so haben wir eigentlich die Psychologie des gegenseitigen Verständnisses, die Wildgans zu Recht als Pflichtgegenstand bezeichnet, haben wir die eben nicht beherrscht! Und darum sind wir als Vielvölkerstaat im Zeitalter des Nationalismus zugrunde gegangen; es wird vielleicht Jahrhunderte dauern, bis diese Chance von damals wiederkommt.

Fünfte These: Es wurde schon darauf hingewiesen, dass als erstes Symptom der Neurotisierung im Kind Hassgefühle gegen die Eltern entstehen. Dafür kann das Kind gar nichts, es kommt schuldlos in diese Situation (oft sind auch die Eltern schuldlos, weil sie selbst in ihrer Kindheit neurotisiert worden sind und nur in einer verhängnisvollen Stafette diese Neurotisierung weitergeben). Aber da sich Hassgefühle in ihm regen und weil diese Hassgefühle mit seinem Gewissen nicht vereinbar sind, fühlt es sich schuldig. Ist unschuldig und fühlt sich schuldig – man kann gar nicht genug Zeit aufwenden, um sich in diesen tragischen Tatbestand einzufühlen und zu begreifen, was es bedeutet! Dieses Schuldgefühl nun erzeugt ein unersättliches Bedürfnis – dieser in dem Zusammenhang ausgezeichnete Ausdruck stammt von Karl Stern – nach Sühne und Strafe! So wird der Neurotiker zu seinem eigenen Feind, er verfolgt sich selbst mehr, als jeder Außenstehende es könnte. Der österreichische Dichter Lenau sagt: „Mich regiert eine Art Gravitation nach dem Unglück.“ Die Patienten drücken es so aus: „Glück ist für mich ein Fremdwort“; „Ich bin ein totaler Versager“; „Das Schicksal hat mich in den Abfallkorb des Lebens geworfen“; „Mein Leben ist auf Sparflamme gestellt“; „Ich inszeniere alles vortrefflich, aber ich inszeniere es so, dass es nicht gelingen kann“; „Alle meine Enttäuschungen sind in Erfüllung gegangen“.

Diese Feindschaft auch gegen die eigene Person ist in Österreich, ich möchte sagen, allgegenwärtig, ein Beweis für die weite Verbreitung der Neurose. Viel zu viele Menschen hier werden beherrscht von Lebensverunstaltung, Selbstschädigung, Selbstzerstörung, Selbstvernichtung. Nicht zufällig stammt das Wort „Die wichtigste Aufgabe ist es, den Menschen vor sich selber zu beschützen“ von einem Österreicher, von Franz Theodor Csokor.

Es ist ganz unmöglich, hier alle Formen der Selbstschädigung, die der Österreicher ersonnen hat, aufzuzählen, nur ein paar ausgewählte Beispiele kann ich bringen. Fangen wir mit etwas Harmlosem, mit unserer Fußballmannschaft an: Sie gewinnt fast immer, nur wenn man ihr sagt, heute gehe es um alles – dann verliert sie garantiert. Sie kann den Druck, der dabei vom (Vater) Staat ausgeht, nicht aushalten, dabei entsteht, in Erinnerung an die Eltern in der Kindheit, unbewusster Protest: „Jetzt erst recht nicht.“ Treffen doch auch viele Kinder ihre Eltern in unbewusstem Protest durch nicht bestandene Prüfungen und missglücktes Leben, nach der Devise: „Recht geschieht meinem Vater, wenn ich mir die Finger erfriere“, und übersehen dabei beharrlich, dass ja sie selbst es sind, die die Rechnung vorwiegend bezahlen!

In diesem Lande blüht die Kriminalität und Verbrechen ist oft nicht nur Aggression gegen andere (die ja begreiflicherweise immer bemerkt wird), sondern auch gegen die eigene Person (was gerne übersehen wird). Zerstört der Täter in der Mehrzahl der Fälle nicht auch sein Leben, seine sozialen Chancen, ist es ein „Vergnügen“, für Jahre Gefangener zu sein? Auch die Zahl von Verkehrsunfällen und Verkehrstoten ist in unserem Lande überdurchschnittlich hoch. Hier ist der Entgegenkommende oft nicht ein Entgegenkommender in der anderen Bedeutung des Wortes. Vielmehr huldigt er einem Fahrstil, den man mit Stengel als ein Gottesurteil über Leben und Tod bezeichnen könnte: „Geht’s gut, soll es mir recht sein, geht’s schlecht, ist es auch gut.“ Und sehr oft werden natürlich auch andere, Unschuldige, zu Opfern dieser besonderen Form der Selbstzerstörung.