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Michael Ende
Erhard Eppler
Hanne Tächl

Phantasie/Kultur/Politik

Protokoll eines Gesprächs

Mit einem Vorwort von Peter Prange

hockebooks

Samstagvormittag

… der ganz anders verläuft, als man es am Abend zuvor geplant hat. An diesem Morgen sitzen Hanne Tächl, Ingeborg Hoffmann und Michael Ende an dem reich gedeckten Frühstückstisch. Erhard Eppler ist noch nicht erschienen, und man hat auch nicht die Absicht, das Gespräch ohne ihn fortzusetzen.

Während man aber gemeinsam am Frühstückstisch sitzt, entwickelt sich ein Gespräch zwischen Hanne Tächl und Ingeborg Hoffmann über das Theater. Beide haben viel Erfahrung im Theaterbereich, da sie beide Schauspielerinnen sind. Michael Ende wird hellhörig. Es geht ja schließlich um Theater, eines seiner Lieblingsthemen.

Erst später beschließt man, das Tonbandgerät einzuschalten und das Gespräch mitzuschneiden. Aus diesem Grund beginnen die Aufzeichnungen abrupt, mitten im Thema …

Hoffmann: … niemand stellt mehr einen Anspruch, und im Grunde ist noch nie so unverbindlich Theater gespielt worden.

Ich möchte aber noch einmal auf das Heiltherapietheater zurückkommen: Solange die Menschen sterblich sind, ist Kunst unsterblich. Der Hintergrund aller Kunst, der Hintergrund aller Schönheit ist der Tod und die Vergänglichkeit. In Deutschland aber ist das alles kein Maßstab mehr, denn man hat ja den Tod aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeklammert. Es gibt nur zwei Arten von Trost im Leben – Trost aber ist unentbehrlich, weil das menschliche Leben im Grund unerträglich ist. Es finden so viele Dinge statt, auf die der Mensch überhaupt keinen Einfluss hat und denen er sich fügen muss. Die eine Art von Trost also ist der elementare, kreatürliche, dass ich jemandem über den Kopf streiche, ihm aufmunternde Worte zuspreche und alles andere, was in diese Richtung geht. Die zweite Art von Trost aber besteht darin, die Dinge in der Kunst in einen ganz großen Zusammenhang zu stellen, in dem durch das Eigengewicht der auch kleinen menschlichen Angelegenheiten eine universale Ordnung hergestellt wird, die zugleich auch Schönheit ist.

Tächl: Ja, das ist auch eine Aufgabe der Kunst, das Unerträgliche, das nicht zu ändern ist, erträglicher zu machen; eine andere das, was zu ändern ist, als veränderbar darzustellen. Brecht fügt hinzu: »… und die Lust an der Veränderung zu lehren.«

Aber das scheint mir nicht genug. Du sprachst, Ingeborg, von der Unverbindlichkeit, mit der heute Theater gespielt wird. Das stimmt vielfach. Und das ist ein Punkt, an dem das kontaktteater, bei dem ich mitarbeite, ansetzt und fragt: »Was vermag Theater in Bezug auf dies ›veränderbare Unerträgliche‹?« Ist Theater nicht auch ein Mittel zur Verständigung, dessen sich Menschen, die nicht Theaterfachleute sind, bedienen können, wenn man es ihnen nutzbar an die Hand gibt? Also, Michael, deine bisherigen Andeutungen zum Theater, vor allem deine Vorstellungen von Kunst, lassen mich vermuten, dass du mit vielem nicht ganz einverstanden sein wirst. Aber bitte höre mal zu. Für mich ist das alles wichtig, und ich glaube daran …

Es geht mir dabei um die Frage, ob das Theater nicht Forum sein kann, auf dem Vertreter kontrahierender Meinungen szenisch, in Bildern, argumentieren.

Im politischen Bereich gibt es immer wieder unterschiedliche Interessen und Vorstellungen bei Fragen des Gemeinwohls, für die Bürger und Verantwortliche aus Politik und Verwaltung gemeinsam Lösungen finden müssen.

In der Regel verständigt man sich durch das gesprochene oder geschriebene Wort. Aber gerade die Auseinandersetzung zwischen Andersdenkenden krankt oft daran, dass man nicht richtig zuhört, dass man sich in die Position des anderen nicht genügend hineinversetzt. Da kann Theater hilfreich sein, indem es die verschiedenen Argumente anschaubar und sinnlich erlebbar macht. Und das hat sich das kontaktteater zum Ziel gesetzt. Es möchte Forum, es möchte öffentliche Auseinandersetzung mit szenischen Mitteln sein.

Aber ich sollte jetzt einmal schildern, wie der praktische Weg dazu aussieht und wie überhaupt ein solcher Prozess in Gang kommt. Das ist nämlich nicht immer einfach … Häufig ist es so, dass Betroffene eines Konflikts – Bürgergruppen, Politiker, Verwaltungsleute – mit der Bitte um Bearbeitung ihres Themas an das kontaktteater herantreten.

Optimal wäre es dann, wenn sie selbst ein Stück, eine Szenenfolge entwerfen und auch selbst darstellen würden. Das Angebot besteht jedenfalls; das kontaktteater leistet dann höchstens noch fachliche Hilfestellung. Aber das Mindeste ist, dass im Gespräch die Meinung deutlich wird und Ideen zu ihrer Umsetzung entwickelt werden, die das kontaktteater verwirklicht. Das Ergebnis – Sketch, Szene oder Song – wird dann autorisiert.

Nun, ihr könnt euch vorstellen, dass man bei einem solchen Umsetzungsprozess seine Ansicht schon ganz anders reflektiert, als wenn man nur über das Thema redet. Bei diesem Prozess geschieht ein Stück Auseinandersetzung – auch dadurch, dass die Beteiligten akzeptieren müssen, dass am selben Abend, auf derselben Bühne auch der Kontrahent, die andere Meinung, der »Gegner«, zu Wort und Bild kommt. Das ist Spielregel, ist Bedingung beim kontaktteater.

Selbstverständlich gibt es dabei auch Schwierigkeiten. Das könnt ihr euch ja denken. Vielleicht sollte ich euch auch darüber etwas sagen … Ein ablehnendes »Was – die machen da auch mit?« haben wir schon mal zu hören bekommen – aber an dieser Stelle machen wir keinen Kompromiss, auch wenn es manchmal schwerfällt, dem politischen Gegner »auf die Bühne zu verhelfen«. Es muss sich jeder darstellen können, dessen Meinung zum Thema relevant ist und der sich an die Spielregeln hält, denn wir wollen mit diesem Angebot der gleichberechtigten Beteiligten, der unterschiedlich Denkenden und Fühlenden versuchen, zum Abbau des Freund-Feind-Schemas beizutragen – phantasievoll und theatralisch. Das Erstaunliche ist nun, dass Politiker da schon mitgemacht haben und es noch tun. Wir sprechen sie an, mündlich oder schriftlich, vereinbaren die Termine, besprechen die Form, und so weiter. Also – die Bereitschaft ist durchaus da. Ich lese in euren Gesichtern schon die Frage ab, in welcher Form die Politiker da überhaupt mitmachen. Es ist auch schon vorgekommen, dass Politiker mal selbst eine Szene geschrieben haben, wenn auch nicht oft.

Meist artikulieren sich Vertreter der amtierenden Parteien in Rathaus und Landtag in Form eines szenischen Dialogs. Wir streben an, dass sich der Politiker oder Beamte auf der Bühne selbst vertritt, und das ist auch schon öfter gelungen. Dass das besondere Verbindlichkeit erzeugt, könnt ihr euch vielleicht vorstellen. Aber die Präsenz auf der Bühne hat – vor allem bei viel beschäftigten Personen – natürlich ihre Grenzen, und da haben wir uns Präsentationsformen einfallen lassen, mit denen wir eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens visuell ersetzen können: durch Puppen zum Beispiel, lebensgroße Nachbildungen aus Schaumgummi, mit denen sich ein Schauspieler auf der Bühne live unterhält. Die Stimme des Politikers kommt dann im Originalton vom Tonband. Übrigens – so eine Puppe gibt’s unter anderem vom Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, Manfred Rommel, der schon öfter beim kontaktteater mitgemacht hat und dem wir es wohl zu einem Gutteil verdanken, dass wir einen städtischen Zuschuss bekommen und diese Theaterform in Stuttgart erproben können. Jedenfalls ist es wichtig bei der ganzen Sache, dass das Publikum weiß: Die Aussagen des Politikers sind authentisch oder autorisiert. Man kann nach dem Spiel diese Person auf ihre Meinung hin ansprechen, fragen, beim Wort nehmen. Und nach einer Aufführung ist Gelegenheit zum Gespräch oder zur Diskussion.

Natürlich muss da eine Menge theaterfremde Arbeit gemacht werden. Kontaktpflege, Korrespondenz, Organisation … Aber das ist wohl beim Theater immer so …

Dieser Teil ist sogar ziemlich umfangreich und sprengt den Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit, denn an sich arbeitet das kontaktteater ehrenamtlich. Zurzeit macht eine hauptamtliche Kraft – ich selber – diesen Kontakt- und Organisationsteil, ohne den diese Theaterform gar nicht durchgeführt werden könnte.

Effektiver wäre es natürlich, wenn die hochsubventionierten Stadt- und Staatstheater eine Sparte kontaktteater einrichten und ca. zehn Prozent ihrer Kapazität dafür einsetzen würden. Ja, ich weiß, Michael, dass du dich gestern gegen die staatliche Subventionierung von Theater ausgesprochen hast. Aber ich meine, dass es hier um etwas anderes geht … Hier wird Kunst eigentlich dienstbar gemacht.

Es mag verwundern oder nicht, aber der Widerstand bei »normalen Theaterleuten« gegen eine solche Konzeption ist groß. Bei einer Befragung von über hundert Intendanten bundesdeutscher Theater lautete die Antwort unisono: »Das ist nicht Aufgabe des Theaters, was Sie da zum Ziel haben«. Oder ausweichender: »Das ist in unserem Hause nicht durchführbar.«

Ich finde aber, dass Theater gerade in der Politik ein sehr wirksames Mittel sein kann, eben da, wo man gemeinhin meint, da hätte es nichts zu suchen. Durch Phantasie und Beteiligung am darstellenden Spiel können wesentliche Anregungen für Lösungen politischer und sozialer Fragen entstehen. Das ist noch viel zu wenig erforscht. Was mich bei der kontaktteater-Form fasziniert, das ist, dass der Beteiligte Handelnder und Betrachtender zugleich ist. Er gestaltet sein Anliegen, von dem er unmittelbar betroffen ist, macht damit schon einen Bewusstseinsprozess durch – und er schaut sich die Darstellungen der kontrahierenden Auffassungen an …

Aber eines möchte ich noch einmal deutlich hervorheben, denn es handelt sich dabei um ein Missverständnis, das oft entsteht, wenn ich von dem kommunalen kontaktteater erzähle. Habt also bitte noch Verständnis, wenn ich diesen Punkt von Anfang an klarstellen will. Wir dürfen das nicht mit Psychodrama oder mit improvisiertem Rollenspiel verwechseln, Formen, die therapeutischen Anspruch haben, den das kontaktteater nicht mitbringt. Wenn ein therapeutischer Effekt sich einstellt, dann ist er jedenfalls nicht ausdrücklich beabsichtigt. In unserer Arbeit am Thema »Strafvollzug« hat es möglicherweise so etwas wie einen therapeutischen Nebeneffekt gegeben.

Thema war der »Beruf des Strafvollzugsbeamten«, und wir hatten Gesprächsgruppen mit Vollzugsbeamten und mit Gefangenen. Die Gefangenen mussten sich in die Haut derer versetzen, die sie als ihre Gegner empfinden: in die Schließer, die Wächter, die Beamten, die eigentlich Betreuer sein könnten – und oft auch sein möchten. Aber warum sind sie’s nicht? Es war erstaunlich, was bei diesen Gesprächen herauskam darüber, wie man die Beamten sehen und sich ihnen gegenüber verhalten könnte, wie die Struktur dieses Berufes, die Struktur der Anstalt, die Grundsätze für den Strafvollzug in unserer Gesellschaft überhaupt von den Gefangenen gesehen wurde.

Nach diesen Gesprächen sind Szenen ausgearbeitet worden, und die Gefangenen haben schließlich ihr Verhalten und die Situation eines Beamten während einer Nachtschicht dargestellt. Was herauskam, war der Beamte als »Dackel vom Dienst«, der sich kümmern muss um »jeden Dreck«. Die Szene endet damit, dass der Beamte, dargestellt von einem ehemaligen Gefangenen, erschöpft und frustriert am Morgen seine Schlüssel – die Symbole seiner Macht beziehungsweise seiner Ohnmacht, auf den Tisch knallt. Der Titel des Stückes lautete übrigens »Schlüsselpositionen«.

Wisst ihr, was nach dieser Szene im Raum zu spüren war? Solidarität der »Gegner« füreinander. Und das im Theatersaal einer Vollzugsanstalt, wo die Aufführung stattfand.

Zu dieser Wirkung muss man noch den Gesamtzusammenhang des Stückes sehen, in dem diese Szene spielte. Es waren nämlich weitere »Schlüsselpositionen« im Stück beteiligt: die Anstaltsleitung, das Justizministerium – das als Person auftrat; Landtagspolitiker von CDU, SPD und FDP, dargestellt von einem Schauspieler, weil alle Parteienvertreter unisono gewichtige Worte, nicht aber Geld für die nötige Strafvollzugsreform hatten (Unterlagen dazu stammten aus dem Landtag), die »Dame Strafvollzugsreform, Resi Knast«, trat persönlich auf und geht dann weinend davon, als sie von dem Politiker statt der für ihre Reform erbetenen Summe nur zwanzig Mark bekommt, damit sie sich »erst mal frisieren lasse«; als Greis am Stock wankt das total veraltete Vollzugsgebäude auf die Bühne und sagt: »Ehe ich meine lieben Knackis auf die Straße setze, bleib’ ich halt noch eine Weile am Leben«.

Die Öffentliche Meinung tritt auf mit Halbmaske und macht in einem Song klar, dass sie »sage, was ihr passt – und ich halt’ nicht viel, das wisst ihr, von Reform im Knast«.

Die anschließende spannungsreiche Diskussion dauerte ganze zwei Stunden, eine sensationelle Zeit, die ohne das vorangegangene Spiel, an dem Betroffene beteiligt waren, gar nicht möglich gewesen wäre.

Es ist klar, dass hier nicht ein im herkömmlichen Sinne »hohes Kunsttheaterspiel« stattgefunden hat, sondern das lebte von der Beteiligung, von dem Mut der Betroffenen, ihr Anliegen auf der Bühne vorzutragen, sich der Öffentlichkeit zu stellen, Kritik zuzulassen, sich auseinanderzusetzen. – Freilich, ganz ohne Beherrschung des Theaterhandwerks bringt man so etwas auch nicht auf die Beine und zur erwünschten Wirkung …

Ich finde ja, dass wir im wahrsten Sinne des Wortes eine soziale Kunst brauchen! Ohne die kommen wir in unserer komplexen industriellen Gesellschaft nicht mehr aus. Der erste Akt künstlerischer Gestaltung besteht darin, soziale Schwachstellen zu erkennen und zum Gegenstand der künstlerischen Gestaltung zu machen.

Wir können das Interesse am anderen wieder lernen, indem wir künstlerisch gestalten, und dann nehmen wir auch die Spannung wieder wahr, unter der der andere steht, und vielleicht werden wir sogar wieder sensibler für die magischen Felder auf der Bühne …

Jetzt habe ich aber lange geredet. Jetzt langt’s! Aber ich glaube, es war einmal notwendig, dass ich euch meine eigene Vorstellung von Theater erkläre. Schließlich ist es mein Beruf – und so habt ihr auch gleichzeitig etwas von mir erfahren. Aber an euren Gesichtern merke ich, dass diese Auffassung vom Theater der euren womöglich widerspricht, oder? Michael, von dir hatte ich das Gefühl, dass du dich öfters zurückhalten musstest …

Ende: Ja … liebe Hanne, es mag ja sein, dass das alles, was du uns da vom kontaktteater erzählt hast, seine diskussionsfördernde und aufklärende Wirkung hat. Für diese Kombination von Sozialem, Politischem und Künstlerischem müsste man eigentlich einen neuen Namen erfinden. Mit Kunst, so wie ich sie verstehe, hat das nichts zu tun. Sei mir nicht bös, aber offen gesagt, vom Künstlerischen her sträuben sich mir ganz einfach die Nackenhaare. Nichts gegen dich und deine Versuche … Aber ich muss jetzt um der Klarheit willen etwas sagen, wovon ich glaube, dass wir da einer Meinung sein werden: Wenn ich gestern von einem sozialen Kulturleben gesprochen habe, dann meinte ich damit absolut nicht ein allgemeines Herumdilettieren sämtlicher Leute in allen möglichen Kunstformen. So habe ich es nicht gemeint.

Zu deinem kontaktteater hätte ich ja sehr viel zu sagen, und ich weiß im Moment gar nicht, wo ich beginnen soll … Hier wird doch im Grunde wieder einmal die eigentliche künstlerische Frage umgangen, indem man die Theaterform unmittelbar zu pädagogischen, didaktischen oder politischen Zwecken missbraucht. Ich halte dies Durcheinanderwerfen der ästhetisch-imaginären Ebene und der realen Ebene für ausgesprochen gefährlich. Ich glaube, ich muss einmal ganz grundsätzlich erklären, worin der Unterschied zwischen dem magischen Raum der Bühne und dem Bereich einer äußeren Realität besteht.

Wenn du auf der Straße siehst, dass auf dem gegenüberliegenden Trottoir eine Frau von einem Kerl überfallen wird und um Hilfe schreit, dann stehst du, ob du willst oder nicht, im gleichen Augenblick in irgendeiner moralischen Entscheidungssituation; du kannst hinlaufen und ihr helfen, du kannst so tun, als hättest du es nicht bemerkt, du kannst auch weglaufen. Du hast dich in jedem Fall in irgendeiner Weise moralisch entschieden. Wenn du aber auf der Bühne siehst, wie Othello die Desdemona erwürgt, dann stehst du in keiner moralischen Entscheidungssituation. Du weißt, dass es ein imaginärer, ein nur gespielter Vorgang auf der Bühne ist, dennoch ist dir der Vorgang ja nicht gleichgültig, du erlebst etwas – wenn die Aufführung gut ist, sogar sehr heftig, bis zur Erschütterung – du empfindest Angst oder Mitleid oder auf irgendeine Art genießt du diesen Mord sogar. Genau dieses Zurücktretenkönnen hinter alle Notwendigkeiten, in die wir sonst eingeschlossen sind, auch hinter die eigene Emotion, dieser Bereich des ästhetischen Spiels schafft ein Freiheitserlebnis ganz besonderer Art, das eben nur die Kunst bieten kann. Das ist es, was Schiller meint, wenn er sagt, das Theater sei eine moralische Anstalt[14]. Er meint damit ganz und gar nicht, das Theater solle Moral lehren, oder das Theaterstück solle moralische Inhalte vermitteln – das ist das alte Schulmeistermissverständnis – sondern dieses Freiheitserlebnis, das ich am ästhetischen Spiel habe, sei selbst die höchste moralische Qualität; darin würde dem Menschen seine Fähigkeit zur Freiheit überhaupt erst bewusst. Der Mensch steht nämlich nach Schiller zwischen zwei Bereichen, in denen er nicht frei ist, dem der Natur und dem des Geistes. Durch das ästhetische Spiel wird er überhaupt erst gewahr, was die Freiheit ist. Im Theater nimmt der Zuschauer für die Dauer der Aufführung – hier ist der einzige Ort, wo dies erlaubt ist und wo es auch richtig ist und so sein soll – den Standpunkt eines Gottes ein. Er schaut zu, wie Jago seine Intrigen spinnt, und er allein weiß, wie die Dinge in Wirklichkeit liegen. Er sieht, wie Othello in sein Unheil hineinrennt, er sieht die Tragödie sich vollziehen und weiß, es ist alles notwendig, denn Schicksal ist nicht mit moralischen Maßstäben zu messen. Hier geht es um eine andere Dimension. Der Böse ist nicht weniger berechtigt als der Gute, beide müssen sein. Wichtig ist, dass das Schicksalsspiel stattfindet. Das ist eine Erfahrung, die heilend, also therapeutisch auf die Seele wirkt, die lebensnotwendig ist, solange man sie dort lässt, wo sie hingehört, die aber lebensgefährlich, Leben zerstörend wird, wenn ich die Ebenen verwechsle; denn wenn ich diese Erfahrung ohne Weiteres zur allgemeinen Lebenshaltung mache, dann komme ich in eine totale moralische Indifferenz hinein. Man kennt ja den Typus des eiskalten Ästheten, angefangen von Nero, der das brennende Rom besingt, bis zu Jean Genet, der das Verbrechen nicht nur verherrlicht, sondern auch real begeht. Hier liegt eine der abgründigsten Problematiken der Künstlernatur. Kierkegaard hat sie in seinem Tagebuch eines Verführers beschrieben. Ich will diesen Gedanken noch deutlicher zu machen versuchen.

Zur christlichen Erlösungsgeschichte gehört ja unabdingbar auch der Judas dazu und der Kriegsknecht, der den Christus ans Kreuz nagelte. Für den Künstler sind alle gleich wichtig, gleich notwendig. Wenn man selber aber in der Situation einer solchen Entscheidung steht, dann darf man nicht sagen: Da das Böse im Weltganzen ebenso berechtigt und notwendig ist wie das Gute, ist es ja egal, was ich tue. Das wäre ein verhängnisvoller Kurzschluss; was im historischen Rückblick und in der künstlerischen Konzeption gilt, gilt nicht in der individuellen Entscheidungssituation. Die Erfahrung der Menschheit, die Geschichte der Menschheit kann uns zeigen, dass alles notwendig war. Der Cesare Borgia war notwendig wie der Heilige Franziskus. Es wäre Unsinn zu sagen, Hitler hätte es besser nicht gegeben; es hat ihn eben gegeben, ob wir wollen oder nicht. Er ist Teil der Geschichte, der Menschheitserfahrung – wir müssen diese Erfahrung in unser Bewusstsein aufnehmen, um uns und unsere Situation zu begreifen. Eine moralisierende Geschichtsbetrachtung wird unwahr – ebenso wie eine moralisierende Kunstbetrachtung: Richard III. ist ein gutes Stück über einen bösen König. Die moralische Frage sitzt an einer völlig anderen Stelle als die rückblickende Betrachtung der Menschheitsgeschichte und die künstlerische Frage. Die moralische Frage gilt nur im »Hier und Jetzt« der individuellen Entscheidung des einzelnen Menschen. Kant hat mit seiner Verallgemeinerung des Moralischen, mit seinem »kategorischen Imperativ« eine enorme Verwirrung in die ganze Problematik hineingetragen. Die moralische Frage ist nicht gültig für die Vergangenheit, nicht für die imaginäre Ebene des Künstlerischen, aber auch nicht für die Zukunft. Es ist sinnlos, eine Utopie zu entwickeln, die das Böse ausklammert – die davon ausgeht, was wäre, wenn alle Menschen gut wären. Erstens wird das niemals der Fall sein, und zweitens kann man das Gute gar nicht verallgemeinern, ohne dass es sofort aufhört, gut zu sein. Jede Verallgemeinerung führt zur Unmoral. Was das jeweils Gute ist, das muss von jedem einzelnen Menschen und in jedem einzelnen Fall neu gefunden werden. Es ist ein schöpferischer Akt. Dazu braucht man moralische Phantasie. Als Mensch in meinem wirklichen Leben muss ich meinen Part spielen und moralische Entscheidungen treffen. Für die paar Stunden im Theater bin ich aber davon befreit, kann sogar hinter meine eigene Bedingtheit zurücktreten. Da bin ich frei und amoralisch wie ein griechischer Gott. Deshalb bin ich ein Gegner all dieser Tendenzen im heutigen Theater, die Grenze zwischen dem Spiel und der Realität zu verwischen, die Ebenen durcheinander zu werfen, etwa indem man den Zuschauer direkt einbezieht, um ihn stärker zu packen und so weiter. Das sind alles demagogische, indoktrinäre Methoden und absolut unkünstlerisch. Dadurch entsteht nur ein höchst unangenehmer Verwirrungseffekt – ich nenne ihn den »Panoptikumseffekt«. Denn der Schockeffekt des Wachsfigurenkabinetts beruht ja gerade auf dem Verwischen der Grenze zwischen dem Imaginären, Fiktiven und der Realität. Das ist immer unkünstlerisch. Es ist Lüge, denn Lüge ist ja nichts anderes als Fiktion, die sich nicht als solche zu erkennen gibt. Ich weiß, Hanne, das trifft auf das kontaktteater nicht zu. Aber ich muss jetzt grundsätzlich werden, denn ich halte diesen »Panoptikumseffekt« für gefährlich. Das ästhetische Spiel muss – um sich selbst wahr zu sein – seine besondere Beschaffenheit genau ausweisen; deshalb bin ich für die Rampe, den Rahmen, den Sockel und so weiter.

Mir liegt sehr viel an diesem Spielcharakter, aber darüber wird bei den heutigen Kunst- und Theatertheoretikern wenig nachgedacht. Ein Spiel ist etwas, das einen Anfang und einen Schluss hat und das nach gewissen Regeln abläuft. Deswegen bin ich der Meinung, wir müssen wieder eine verbindliche Dramaturgie entwickeln, denn Dramaturgie ist ja die Summe der Spielregeln, nach denen dieses Spiel vor sich geht. Diese Stücke, die keinen richtigen Anfang und keinen richtigen Schluss haben … na gut, ich kann schon verstehen, wie sie zustande kommen. Man sagt, in Wirklichkeit gäbe es ja auch keinen Anfang und Schluss, alles sei nach allen Seiten offen. Dahinter steckt diese blödsinnige Meinung der Naturalisten, Kunst sei dazu da, Abbildungen von der Wirklichkeit zu machen. Aber einmal davon abgesehen, dass das sowieso unmöglich ist – wozu überhaupt? Die Wirklichkeit gibt’s ja schon und hundertmal wirklicher als jede Abbildung. Jede Kunst schafft ihre ganz eigene, autonome Wirklichkeit. Das richtige Theater ist immer ein Ritual, und ein Ritual hat einen deutlich erkennbaren Anfang und Schluss und verläuft nach angesagten Spielregeln.

Hoffmann: Brecht spricht ja allerdings auch von der Notwendigkeit, Abbildungen von der Wirklichkeit zu machen. Allerdings in einem anderen Sinn. Er stilisiert ja sehr stark in seinem »epischen Theater«. Durch den »Verfremdungseffekt« will er ja auf das aufmerksam machen, was an dieser Wirklichkeit veränderbar ist. Er macht eben Lehrtheater.

Ende: Ja, der Brecht war halt nicht nur ein genialer Poet, sondern gleichzeitig auch ein bornierter Schulmeister.

Hoffmann: Die sogenannte »Verfremdung« ist ja übrigens überhaupt nichts Neues. Es gibt sie in der Comedia dell’ Arte, im asiatischen und auch im antiken Theater. Diese Funktion übernahm ja im Grunde der Chor. Er unterbricht die Handlung durch reflektierende Betrachtungen. Aber vielleicht könntest du das, was du mit den beiden Ebenen meinst, der imaginären und der realen, noch etwas deutlicher erklären, Michael?

Ende: Im Grund ist es die einfachste Sache der Welt. Das ist wie das Sandkuchenbacken bei Kindern. Wenn du mit einem kleinen Kind in einem Sandkasten spielst, und aus Sand kleine Küchlein bäckst, und das Kind dann aufforderst, eines davon zu probieren, dann wird es tun »als ob«. Es wird vielleicht am Geschmack etwas auszusetzen haben, und du musst so tun, als ob du noch ein bisschen Salz oder Zucker drauf tust oder noch ein paar Rosinen in den Teig vermengst. Auf diese Weise bist du mit im Spiel. Das Kind kann es völlig ernst spielen, aber in dem Moment, in dem du den Sandkuchen in den Mund stecken würdest, würde es dich auslachen und sagen: »Das kann man doch nicht essen. Das ist doch Sand!« Und genauso ist es im Theater. Das Kind unterscheidet völlig mühelos diese zwei Ebenen. Aber der heutige Erwachsene, der völlig verlernt hat zu spielen und das Spiel deshalb nicht ernst nimmt, neigt dazu, die Ebenen zu verwechseln. Mit der imaginären Ebene hat der phantasielose Erwachsene die größten Probleme, die es für das Kind aber absolut nicht gibt. Das Kind kann mit einer solchen Totalität auf die imaginäre Ebene einsteigen, dass es die äußere Realität zeitweilig vergisst, aber es verwechselt die beiden Ebenen nie. Nur der Erwachsene meint, man müsse das Kind davor bewahren, die Ebenen zu verwechseln, weil er selbst die andere Wirklichkeit der Phantasie gar nicht mehr versteht.

Hoffmann: Mit dieser Unfähigkeit steht natürlich auch diese ganze Verschlimmbesserung der Märchen in einem engen Zusammenhang, die eine Zeit lang Mode war.

Ende: Ja, im Märchen vom Machandelbaum etwa heißt es: Als das Brüderchen sich in die Apfelkiste hineinbückte, schmiss die böse Stiefmutter den Deckel zu, und der Kopf des Buben rollte unter die roten Äpfel. Der Erwachsene, der total naturalistisch verbildet ist, denkt natürlich gleich an die durchschnittene Halsschlagader, die große Schweinerei, das Blutbad – eine grauenvolle Szene. Ein Kind denkt an so was überhaupt nicht: Es sieht genau das, was das Bild sagt, nämlich, dass der Kopf vom Rumpf wie bei einer Puppe abgetrennt wird. Nicht mehr und nicht weniger meint das Bild. Es wird überhaupt nicht naturalistisch gedacht, sondern der Kopf wird auf der Vorstellungsebene vom Rumpf des Menschen getrennt. Erst, wenn der Erwachsene mit seinen Erklärungen kommt, verwirrt man dem Kind das Bild. Das Kind aber nimmt von Natur aus das Bild so auf, wie es im Märchen gemeint ist. Nehmen wir als weiteres Beispiel das Märchen vom Froschkönig. Es gab eine Zeit, in der viele »wohlmeinende« Pädagogen sich bemühten, die Volksmärchen keimfrei zu machen. Da gab es auch immer so Leute, die die Grausamkeiten eliminieren wollten. Ich erinnere mich an eine solche Bearbeitung, die hat aus dem Froschkönig durch eine winzige Änderung genau das Gegenteil gemacht. Der Frosch kommt doch immer hinter der Prinzessin her und sagt, sie hätte versprochen, ihn zu heiraten. Zum Schluss kommt er ihr bis ins Bett hinein nach, und da packt die Prinzessin ihn, schmeißt ihn gegen die Wand, und plötzlich steht der schöne Prinz da. Der Bearbeiter war wohl der Meinung, Kinder könnten dadurch auf die Idee kommen, Frösche an die Wand zu schmeißen, um mal zu sehen, ob da etwa ein Prinz herauskommt. Ein typischer Erwachsenengedanke! Kein Kind wird einen wirklichen Frosch mit diesem merkwürdigen Krone tragenden Riesenfrosch verwechseln, der reden kann und einem den goldenen Ball aus einem tiefen Brunnen heraufholt. Das Kind, das hier die Ebenen verwechselt, wäre ein völlig von Erwachsenen versautes Kind. Der Schluss des Märchens wurde also geändert, um zu verhindern, dass Kinder Tierquälerei betreiben. Das neue Ende des Märchens sah so aus, dass der Frosch der Prinzessin ins Bett nachkommt, sie wendet sich erschrocken ab zur Wand und weint, und als sie sich wieder zurückdreht, steht der schöne Prinz vor ihr da. Damit ist natürlich das ganze Märchen im Eimer, denn das Entscheidende an dem Vorgang ist ja gerade, dass die Prinzessin die ganze Zeit vor dem Frosch weggelaufen ist; erst in dem Moment, wo sie zornig wird, ihn packt und gegen die Wand wirft, erlöst sie den Frosch. Der Frosch ist ja gerade jenes Unheimliche, Abstoßende, was aus dem Stoffwechselsystem, aus der Tiefe der Eingeweide ins Bewusstsein drängt. Die Prinzessin nimmt das Tier erst nach langem Sich-weigern in die Hand, wenn auch im Akt der Aggression, aber damit erlöst sie den Prinzen. Man zerstört den Sinn des Märchens, wenn man für solche Bilder kein Verständnis hat und mit einem platten, äußerlichen Bewusstsein daran herumverbessert. Das ist das Furchtbare in unserem Jahrhundert, dass die Leute so total »verkopft« sind und die Ebenen nicht mehr auseinanderhalten können. Die menschliche Wirklichkeit besteht aus vielen Ebenen. Die Plattköpfe wollen das nicht wahrhaben, weil sie sich zur Not auf der untersten ein bisschen zurechtfinden.

Tächl: Ja, das ist eine Zeitkrankheit, dass Dinge, die einfach zum Menschen gehören, eliminiert, tabuisiert, verbannt werden – zum Beispiel die Aggression. Dabei gehört diese Regung zu den Dingen, mit denen wir leben müssen, sonst schaffen wir uns eine Scheinwirklichkeit, die letztlich Angst erzeugt, Erstickungsangst, weil wir spüren, da wird etwas verdrängt, das es aber trotzdem gibt.

Dass wir den Tod aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeklammert haben, sagtest du, Ingeborg, vorhin schon. Aber durch Verdrängung lassen sich Dinge wie Tod und Geburt nicht aus der Welt schaffen – und auch Aggressionen nicht. Also gibt es nur die Möglichkeit, sie ins Leben einzubeziehen – und siehe da: Es kommt oft etwas dabei heraus, was gar nicht so böse ist, wie wir es befürchtet haben.

Ende: Die Erlösung des Prinzen erfolgt durch den aggressiven Akt – und nicht um Aggression loszuwerden. Es gibt da eine Menge Missverständnisse. Selbst bei Leuten wie Konrad Lorenz, wenn er in seinem Buch Das sogenannte Böse[15] das Böse einfach mit Aggressivität gleichsetzt. Viele Leute meinen ja, wenn in der Welt keine Aggressivität bestünde, dann wäre sie ein Paradies und alles wäre in Ordnung. Im Gegenteil, es wäre eine völlig lethargische Welt! Aggressivität ist eine Seelenfähigkeit und hat zunächst gar nichts mit gut und böse zu tun. Es kommt völlig darauf an, in welchem Zusammenhang sie auftritt. Es gibt ja auch so etwas wie den »heiligen Zorn«, nicht wahr?

Tächl: Ich möchte gern noch mal auf Brecht zurückkommen. Warum bist du eigentlich so gegen das Lehrtheater? Ist es denn nicht auch eine mögliche Form?

Ende: Es ist eben Agit-Prop-Theater. Das will es ja auch erklärtermaßen sein. Aber Agitation, Propaganda, jede Form von Indoktrination hat mit der eigentlichen künstlerischen Frage überhaupt nichts zu tun. In unserem »verkopften« Jahrhundert dressiert man ja schon die Schulkinder im Umgang mit Literatur zu der Frage: Was wollte der Dichter uns sagen? Man sucht immerfort nach einer »Aussage«, nach einer »Botschaft«, nach einer »Lehre«, die der Autor dem Leser oder dem Zuschauer erteilt. Wenn man die herausdestilliert hat, dann – meint man – habe man die Sache verstanden. Damit wird alle Poesie zu einer Verpackungsfrage degradiert. Der Dichter verpackt seine »Botschaft« in poetische Formen wie in ein hübsches Einwickelpapier, und der Leser oder Zuschauer muss es bloß wieder auswickeln. Diese ganze Unterscheidung in Form und Inhalt kommt aus einer ganz und gar unkünstlerischen, spießbürgerlichen Einstellung. In der Kunst und in der Poesie geht es um Schönheit. Um nichts anderes! Da gibt es keine Form, die vom Inhalt getrennt werden könnte und umgekehrt. Da gibt es auch gar nichts zu »verstehen«, da gibt es etwas zu erleben im totalsten Sinne. Wir haben ja den Schönheitsbegriff seit Langem aus der Kunstdebatte verbannt. Gerade dadurch haben wir eigentlich den ganzen Kunstbegriff verloren. Ein Kunstwerk ist immer eine Ganzheit aus Kopf, Herz und Sinnen und wendet sich auch an diese Ganzheit beim Zuschauer, beim Leser, beim Betrachter. Schönheit ist Ganzheit, und die ist uns total verloren gegangen! Unsere heutige Kunst wendet sich entweder an die Sinne, dann wendet sie sich nicht ans Herz oder an den Kopf, oder sie wendet sich an den Kopf, dann wendet sie sich schon gar nicht ans Herz oder an die Sinne. Die Ganzheitsvorstellung fehlt überhaupt in unserer Zivilisation – ich mag gar nicht von Kultur sprechen.

Hoffmann: