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Buchinfo

Klamotten aufpeppen, Selbermachen – das sind Emelys große Leidenschaften. Als sie in der Schule die Aufgabe bekommt, eine Website zu programmieren, hält sich ihre Begeisterung jedoch in Grenzen. Wozu soll das denn bitte gut sein? Schließlich hat sie gerade wirklich Wichtigeres zu tun. Eine kleine Katze wurde angefahren und Emely muss sich um sie kümmern. Doch da kommt ihr eine geniale Idee …

Autorenvita

Patricia Schröder

© privat

Patricia Schröder, 1960 geboren, lebt mit ihrem Mann und einer Handvoll Tieren auf einer Warft an der Nordsee. Ihr »richtiger« Beruf ist Textildesignerin, noch lieber aber als Muster für Blusen, T-Shirts oder Krawatten denkt sie sich Geschichten für junge Mädchen aus, und so hängte sie ihren ersten Beruf vor einigen Jahren kurzerhand an den Nagel. Inzwischen gehört sie zu den erfolgreichsten und beliebtesten deutschen Kinder-und Jugendbuchautorinnen.

www.patricia-schroeder.de

LESE GÖREN Patricia Schröder total vernetzt! emely– total vernetzt! PLANET GIRL

Trüb e Aussichten

»Es ist eine Katastrophe«, sage ich.

»Hm.« Anna nickt.

Sie lutscht auf einem vom Stiel abgebrochenen Riesenlolli herum, der ihren gesamten Mund ausfüllt, und ist daher gerade nicht in der Lage, etwas zu erwidern.

»Eigentlich sind es sogar zwei«, bekräftige ich.

Meine Freundin gibt ein schlürfendes Geräusch von sich und gleich danach etwas, das sich anhört wie »Mbwasch?«.

»Katastrophen«, sage ich. »Erstens dieses dusselige Website-Projekt und zweitens die Brille, die ich heute Nachmittag verpasst bekomme«, zähle ich auf.

Anna nickt, schüttelt dann aber sofort den Kopf.

Irritiert sehe ich sie an, woraufhin sie die Augen verdreht, auf den nächsten Schulhof-Mülleimer zusteuert und den Riesenlolli-Bonbon hineinspuckt.

»Na, hoffentlich hat Maylin das nicht gesehen«, sage ich.

Maylin geht in dieselbe Klasse wie Anna und ich. Sie ist total lieb, allerdings nicht immer die Schnellste im Kopf und sie hat eine wirklich schreckliche Angewohnheit. Sie kaut nämlich auf allem herum, was irgendwie zwischen ihre Lippen passt: Fingernägel, Haargummis, Lineale und natürlich Stifte. Dummerweise ist sie dabei jedes Mal so sehr in Gedanken, dass sie es nicht merkt, wenn sie ihren Füller verkehrt herum zwischen die Zähne gesteckt hat oder der Filzer bereits bis zu einem Drittel abgenagt ist. Das Ergebnis eines solchen Versehens ist meistens, dass Maylin hinterher eine schwarze, blaue oder grüne Zunge hat oder bunte Sprenkel auf den Lippen und um ihren Mund. Ganz schön peinlich jedenfalls!

Kein Wunder, dass sie die Zielscheibe für Hohn und Spott bei den Jungs und für nicht enden wollende Kicherattacken bei den Mädchen ist! Dabei bin ich, was meine Schusseligkeit betrifft, eigentlich auch kein Kind von Traurigkeit. Aber das fällt zum Glück nicht jedem immer so sehr auf. Bei den Jungs stehe ich vor allem wegen meines Tierspleens unter Beschuss – was mir allerdings ziemlich egal ist. Die haben sowieso keine Ahnung. Und kein Herz!

Trotzdem kann ich mir gut vorstellen, wie Maylin sich fühlt, wenn sie nahezu jeden Tag verspottet wird. Und letzte Woche kam Anna dann auf die Idee, ihr eine Tüte Mini-Lollis zu schenken, auf denen sie anstatt ihrer Stifte herumkauen könnte.

Natürlich hatten wir ein wenig Bedenken, dass sie dieses Angebot als Beleidigung auffassen und eingeschnappt reagieren würde. Doch – oh Wunder! – Maylin war total begeistert.

»Ihr seid echt süüüß!«, quietschte sie und fiel zuerst Anna und dann mir um den Hals. »Vielleicht gewöhne ich mir das mit den Stiften jetzt ja sogar ganz ab.«

Diese Hoffnung hatten wir insgeheim auch. Aber leider machten uns die Lehrer einen Strich durch die Rechnung. Die fanden Annas Idee nämlich alles andere als super.

»Während des Unterrichts wird nicht gegessen!«, stellte unsere Klassenlehrerin, Frau Schnacke, gleich nach dem Morgengruß klar. Maylin musste den Lolli »bis zur Pause beiseitelegen« und nagte sich während des Deutschunterrichts ein hübsches gelb-grünes Tupfentattoo auf die Lippen, das im weiteren Verlauf des Vormittags noch ein paar violette Sprenkel und dünne schwarze Krakelstriche bekam.

Die Jungs höhnten lustig weiter.

»Du sollst während des Unterrichts doch nichts essen«, feixte Julius gleich zu Beginn der zweiten großen Pause. »Der Blackliner hat bestimmt nach Spinnenbeinen geschmeckt, oder?«

Die Mädchen tuschelten und kicherten und Herr Kornelius, bei dem wir zuvor Erkunde hatten und der noch dabei war, seinen Kram zusammenzupacken, tat so, als würde er von nix was mitkriegen.

Maylin lief knallrot an und schnappte sich den Lolli, den sie auf ihrem Federmäppchen abgelegt hatte. Der pappte mittlerweile allerdings daran fest, und blöderweise hatte Maylin das Mäppchen nicht zugemacht, sodass jetzt all ihre Stifte klackernd auf dem Boden landeten.

Eine Lachsalve allererster Schadenfreudensgüte ging auf sie nieder und plötzlich ist in meinem Kopf eine Sicherung durchgebrannt.

»Mann, ihr seid so gemein!«, habe ich meine Mitschüler angebrüllt. »Maylin kann doch nichts dafür!«

»Ach nee«, erwiderte Julius und tippte sich an die Schläfe. »Dann ist sie wohl von einem Dämon besessen, der sie dazu zwingt, ihre Stifte zu essen und …«

»Das meine ich doch gar nicht«, habe ich ihn unterbrochen, »sondern die Sache mit dem Lolli und dem Federmäppchen. Wenn Frau Schnacke und Herr Kornelius ihr nicht verboten hätten …«

»Ach, hör doch auf, Emely Weltverbesserin!«, fuhr Julius diesmal mir dazwischen. »Du kannst eben keinen Spaß verstehen.«

»Allerdings«, habe ich ihn angeknurrt. »Jedenfalls nicht, wenn er auf Kosten von anderen geht!«

Ich war gerade dabei, mich so richtig aufzuplustern, da spürte ich, wie Anna an meinem T-Shirt zupfte. Sie kennt mich seit dem Kindergarten und blickte sofort, dass ich einen Tobsuchtsanfall bekommen würde, womit natürlich niemandem gedient gewesen wäre. Maylin wahrscheinlich sogar am wenigsten.

»Erst sind sie sauer auf dich und vergessen Maylin für eine Weile«, spekulierte Anna, als wir später auf dem Heimweg waren. »Aber irgendwann gehen sie richtig auf sie los.«

Und genau so war es dann auch. In den darauffolgenden Tagen lagen morgens früh und nach jeder Pause neue Stifte und massenweise Lollis auf Maylins Tisch.

Bangen Herzens warteten Anna und ich darauf, dass sie anfangen würde zu heulen und sich bei der Schulleiterin beschwerte, dass ihre Eltern antanzten oder noch fiesere Streiche passierten und alles immer schlimmer werden würde.

Doch das Gegenteil war der Fall.

Maylin heulte nicht und sie beschwerte sich auch nicht. Doppelstunde für Doppelstunde raffte sie die Lolli- und Stift-Geschenke zusammen und lieferte sie beim jeweiligen Lehrer ab, mit dem Hinweis, sie hätte die Sachen auf ihrem Tisch gefunden, würde die Besitzer nicht kennen, die Sachen aber nicht behalten wollen.

Nach einer Woche riss Frau Schnacke die Hutschnur.

»Wenn das nicht aufhört, bekommt die ganze Klasse Nachsitzen«, drohte sie. »Nächsten Samstag von acht bis vierzehn Uhr. Und zwar alle … außer Maylin.«

Das wirkte. Ab sofort versiegte der Lolli- und Stiftesegen. Ein paar Tage lang gab es sogar weder Hohn noch Gekicher. Und dafür hat Maylin sich dann heute bei Anna mit einem Riesen-Lolli bedankt.

»Du hättest ihn nicht annehmen sollen«, sage ich jetzt. »Oder zu Hause lutschen.«

»Ich wollte Maylin eben eine Freude machen«, verteidigt sich Anna. »Du hast doch selber gesehen, wie sie gestrahlt hat.«

»Ja, und Julius auch«, brumme ich. »Ich wette, die nächste Zeit hast du ihn am Hacken. Und nicht Maylin.«

Anna schüttelt den Kopf. »Quatsch. Das hat den doch gar nicht interessiert.«

»Dann hast du offenbar nicht richtig hingeguckt. Oder Tomaten auf den Augen.«

»Womit wir wieder beim Thema wären«, erwidert Anna und reckt triumphierend ihren Arm in die Luft. »Die unvermeidbare Brillenkatastrophe der einzigartigen Emely Berlin.«

»Sehr witzig.« Ich stoße einen langen, tiefen Seufzer aus. »Und deshalb werde ab morgen wahrscheinlich ich Julius am Hacken haben. Und doch nicht du.«

Anna zwinkert mir aus ihren haselnussbraunen Augen zu. »Vielleicht steht er ja auf Brillenschlangen.«

»Hör mir bloß auf!«, stöhne ich.

Jungs sind nun echt kein Thema für mich. Schon gar nicht, was das angeht. Ich finde sie einfach nur nervig und werde wohl nie verstehen, was Annas vierzehnjährige Schwester Sarah an ihnen findet. Aber was soll ich machen? Sie sind nun einmal da. Bevölkern knapp die Hälfte unseres Klassenraums, beanspruchen auf Achterbahnen die vordersten und im Bus die hintersten Plätze, drängen sich immer und überall vor, beschmieren Klotüren, brüllen einem Löcher ins Trommelfell und riechen noch nicht einmal besonders gut. Für mich gibt es nur eine einzige Ausnahme. Die heißt Jonathan und die treffe ich heute Nachmittag auf dem Skateplatz.

Inzwischen haben Anna und ich den Fahrradunterstand erreicht. Meine Freundin kramt ihren Schlüsselbund mit dem zitronengelben Glitzeranhänger aus dem Seitenfach ihres Rucksacks und öffnet das Kettenschloss, mit dem sie mein Skateboard an der Sattelstange ihres Fahrrads befestigt hat.

»Die Brille wird keine Katastrophe werden«, orakelt sie. »Das Projekt, das die Schnacke uns aufgebrummt hat, allerdings schon.«

»Frau Schnacke ist eben …«

»Kacke!«, vollenden wir im Chor, heben die Hände und geben uns fünf.

Anna wickelt die Kette ab, ich schnappe mir mein Skateboard und lasse das Schloss anschließend in meine schwarze Umhängetasche gleiten.

»Und die Brille wird doch eine Katastrophe«, sage ich, setze meinen Fuß auf das Board, stoße mich ab und sause los. Ich beschreibe eine enge Kurve um den Fahrradunterstand und winke meiner Freundin zum Abschied zu.

»Ich schick dir ein Foto! Und dann darfst du entscheiden, ob ich morgen zur Schule kommen kann oder besser zu Hause bleibe.«

»Warum nimmst du mich nicht mit?«, brüllt Anna mir hinterher.

»Das weißt du ganz genau«, murmele ich, während ich lächelnd dabei zusehe, wie sie ihr schickes neues Citybike erklimmt. »Weil ich keine Lust habe, eines dieser angeblich so stylischen quietschbunten Monsterteile auf der Nase zu haben.«

Dann wende ich mich nach vorn – und erleide fast einen Herzstillstand.

»Emeeelyyy! Pass auf!«, höre ich Anna noch schreien, dann befinde ich mich bereits im Freiflug in Richtung Weißdornhecke. Ohne mein Skateboard natürlich, denn das wurde ziemlich abrupt von der Bordsteinkante abgebremst.

Ich schreie auf, paddele wie wild mit den Armen und schaffe es in letzter Sekunde, irgendwie auf den Füßen und nur mit einem Bein und einem Arm in der Hecke zu landen.

Nur wenige Augenblicke später ertönt neben mir das Quietschen einer Fahrradbremse. Anna lässt ihr Bike scheppernd zu Boden fallen und springt auf mich zu.

»Alles okay?«, fragt sie atemlos. »Hast du dir wehgetan?«

»Nein«, stöhne ich.

»Aber du blutest! Und dein Ärmel ist zerrissen!«

»Wo?«

»Da!« Anna umfasst mein rechtes Handgelenk und deutet auf meinen Unterarm.

»Mist!« Das T-Shirt hatte ich gerade erst meinem Bruder Teo abgeschwatzt.

»Egal«, meint Anna. Nachdem sie den Riss etwas genauer unter die Lupe genommen hat, lächelt sie mir aufmunternd zu. »Was kaputt ist, kann nur schöner werden. Und die Schramme darunter ist halb so wild.« Sie lässt meinen Arm los, schlägt die Klappe meiner Umhängetasche zurück und versenkt ihre Hand darin. »Hast du Tempos dabei?«

»Keine Ahnung«, sage ich, während ich mich verstohlen umgucke.

Wie viele meiner Klassenkameraden mein kleines Missgeschick wohl mitbekommen haben?

Ach, verdammt, Emely, und wenn schon!, denke ich mir. So etwas passiert doch jedem einmal. Und mir eben ein bisschen öfter. – Na und?

»Es wird wirklich allerhöchste Eisenbahn, dass du diese Brille bekommst«, brummt Anna. »Sonst fällst du eines schönen Tages noch in eine Gletscherspalte und schwuppdiwupp bist du futsch.«

Sie zieht ein Papiertaschentuch aus meiner Umhängetasche, schlägt es auseinander und tupft damit auf dem Kratzer herum, den ich mir an einer der langen, spitzen Weißdornstacheln zugezogen habe – und der ganz nebenbei auch dieses dusselige Loch in den Ärmel meines T-Shirts gerissen hat.

»Wir leben in Mitteldeutschland«, betone ich. »Hier gibt es nirgendwo Gletscherspalten.«

»Aber in den Alpen oder im Himalaya«, wendet Anna ein.

»Hallo!« Kopfschüttelnd sehe ich die beste und allseits besorgteste aller besten und besorgtesten Freundinnen unter der Sonne an. »Das ist kilometerweit weg von uns!«

»Schon … Aber es könnte doch sein, dass es dich irgendwann mal dorthin verschlägt«, gibt Anna zurück. »Zum Beispiel, wenn du Archäologin wirst.«

»Bestimmt nicht.«

»Oder Gletscherforscherin.«

»Anna!«

»Ja, ich weiß, du wirst Hunderetterin oder Delfinjägerjägerin oder …«

»Tierärztin«, beende ich ihre Aufzählung. »So wie deine Mutter.«

»Dazu brauchst du auch eine Brille«, entgegnet sie. »Sonst verpasst du die Betäubungsspritze nicht dem Hund, sondern womöglich noch deiner Assistentin. Oder du verwechselst die Halstropfen für Kleinvögel mit dem Hustensaft für Huftiere.«

»Sobald ich achtzehn bin, besorge ich mir Kontaktlinsen«, stelle ich klar, nehme Anna das Taschentuch aus der Hand und stopfe es in meine Hosentasche. »Dann kann meine Mutter mir die nämlich nicht mehr verbieten. Zufrieden?«

»Mhm.« Anna grunzt. »Und bis dahin trägst du eine coole Brille.«

»Ja, ja«, sage ich. »Mach ich.«

Den Kommentar, dass ich keinesfalls wegen mangelnder Sehfähigkeit gegen die Bordsteinkante gedonnert bin, sondern weil ich zu lange in die falsche Richtung geguckt habe, verkneife ich mir. Über manche Dinge kann man mit Anna nämlich einfach nicht vernünftig diskutieren.

Dienstags, donnerstags und freitags bleibt Moms immer bis zum bitteren Ende im Dress ’n Veggies. Und das heißt für uns – also meinen dreizehnjährigen Bruder Teo und mich –, dass wir nach der Schule entweder

– zu Oma und Opa Berlin fahren, das sind Pops’ Eltern, und uns den Bauch mit Pfannekuchen vollschlagen,

– mit Pops irgendwo etwas essen gehen, das nicht zwangsläufig nur aus Pflanzen besteht,

– oder uns irgendwie selbst versorgen.

Um es gleich vorwegzusagen: Ich bevorzuge die Variante mit der Selbstversorgung. Keine Frage, ich liebe Pfannekuchen und ich liebe Oma und Opa Berlin, aber ich halte es unter gar keinen Umständen länger als eine halbe Stunde – höchstens! – mit meinem Bruder zusammen im selben Raum aus. Es ist schwer zu erklären, und wahrscheinlich verstehen es auch nur die, die wissen, wie es ist, einen Bruder zu haben. Egal! Teo ist einfach rrruaaarrr! Das muss an dieser Stelle reichen. Ohnehin werde ich nicht drum herumkommen, ihn hin und wieder zu erwähnen. Und dann werden mich auch die verstehen, die sich immer einen Bruder gewünscht haben. – Versprochen!

Heute ist Donnerstag. Morgen schreibt Teo eine Mathearbeit, und das bedeutet, dass er nach Unterrichtsschluss mit zu seinem Kumpel Hannes nach Hause fährt. Es besteht also keine Gefahr, dass meine Großeltern uns zu zwei Stunden Stadt-Land-Fluss, Mensch ärgere dich nicht oder Monopoly verdonnern.

Jaaa, richtig! Selbst das bringt mit meinem Bruder keinen Spaß. Bei Stadt-Land-Fluss gewinnt er immer und Mensch ärgere dich nicht hat er schlicht nicht verstanden. Er denkt nämlich, Ziel dieses Spiels sei es, die anderen vom Brett zu fegen. Tja, und bei Monopoly gibt es jedes Mal das größte Theater, weil Teo darauf besteht, dass er grundsätzlich die vier Bahnhöfe bekommt. Und zwar gleich zu Spielbeginn. Wer sich einigermaßen auskennt, kann sich ungefähr vorstellen, was das bedeutet: Noch ehe einer der anderen Spieler eine Straße komplett hat und anfangen kann, Häuser oder gar Hotels daraufzusetzen, ist er bereits pleite.

»Wieso lasst ihr euch überhaupt auf so etwas ein?«, hat Anna mich schon gefühlte tausend Mal gefragt, worauf ich ihr immer dasselbe geantwortet habe:

»Monopoly ist Opa Berlins absolutes Lieblingsspiel. Und er ist geradezu besessen von der Idee, innerhalb von zwei Runden sowohl das beliebte Doppel Badstraße/Turmstraße und Schlossallee/Parkstraße zu ergattern, ohne zwischendurch ins Gefängnis zu wandern und Einkommensteuer abdrücken zu müssen.«

»Das ist doch utopisch«, gab Anna jedes Mal zurück.

Mittlerweile habe ich es aufgegeben, ihr zu erklären, dass es dieses Wort für Opa Berlin nicht gibt. Na ja, jedenfalls nicht, wenn es ums Monopoly-Spielen geht. Eigentlich ist das Ganze eine Art Kampf zwischen ihm und meinem Bruder. Oma Berlin und ich müssten eigentlich gar nicht mitmachen. Das jedoch findet mein Opa ungemütlich. Tja, und so sitzen wir beiden Damen eben dabei, wie Oma Berlin immer so schön sagt, kaufen brav unsere Straßen und drücken Opa Berlin die Daumen, während Teo sich aufs Gemeinste ins Fäustchen lacht. Manchmal leiht er Opa Berlin sogar noch Geld, damit dieser sich sowohl die Turm- und Badstraße als auch die Schlossallee und die Parkstraße kaufen kann. Doch spätestens, nachdem er das erste Haus gebaut hat, verlangt Teo alles auf einen Schlag wieder zurück, sodass unserem Großvater nichts anderes übrig bleibt als aufzugeben und eine Revanche zu verlangen.

»Heute nicht«, murmele ich.

Heute esse ich Pfannekuchen, bis ich platze, und danach lasse ich mir von Oma Berlin ein neues Häkelmuster zeigen, während Opa Berlin in aller Seelenruhe in seinem Schrebergarten werkeln kann.

Außerdem befindet sich der Skateplatz ganz in der Nähe der Luisenstraße, in der meine Großeltern wohnen. Und von dort ist es auch nicht weit bis zum Optiker. Praktischer geht es ja nun wirklich nicht!

Ich habe noch nicht einmal die Hälfte der Strecke bis zur U-Bahn-Station Am Pommernplatz hinter mich gebracht, als mein Smartphone losdudelt. I see fire von Ed Sheeran – Annas aktueller Lieblingssong. Eigentlich steh ich nicht so auf diese Art Musik, aber Anna hat mir das Lied letztens einfach als Klingelton runtergeladen, als ich auf dem Klo war und mein Handy unbeaufsichtigt auf meinem Bett lag. Am liebsten hätte ich es sofort wieder gelöscht, aber dann wäre Anna wahrscheinlich tagelang beleidigt gewesen. Und das wiederum wäre mir echt zu anstrengend geworden.

Ich verlagere das Gewicht abrupt nach hinten, mache eine Vollbremsung, indem ich den hinteren Fuß über den Boden schleifen lasse, springe vom Skateboard und fange es mit der rechten Hand auf. Oder besser gesagt, ich versuche es – und beinahe hätte es auch geklappt. Leider erwische ich das Brett nur mit den Fingerspitzen, sodass es mir sofort wieder entgleitet und auf den Radweg hinunterpoltert.

»Pass doch auf, dumme Kuh!«, brüllt eine Stimme, im nächsten Moment braust ein Typ mit schulterlangen blonden Locken und einer BVB-Baseballkappe auf einem schwarzen Rennrad haarscharf an mir und meinem Skateboard vorbei.

»’tschuldigung«, murmele ich. »Mein Name ist Schussel. Tut mir echt leid, dass ich dem verehrten Herrn Rollt-den-Teppich-aus-hier-komme-ich im Weg war.«

In Wahrheit tut mir natürlich gar nichts leid. Der Typ war nämlich garantiert nicht älter als Teo und gehört außerdem unter den Oberbegriff »Junge« und damit zum unterbelichteten Teil der Erdbevölkerung.

Ich schnappe mir das Board, flüchte mich in den nächsten Hauseingang und krame mein Smartphone hervor. Im selben Augenblick versiegt Ed Sheeran und ich stelle fest, dass ich einen Anruf von meinem Vater verpasst habe.

Na ja, wird schon nicht so wichtig gewesen sein. Bestimmt wollte er nur wissen, ob ich heute bei Oma und Opa Berlin zu Mittag esse.

Weil ich keine Lust habe, von der Straße aus mit ihm zu telefonieren, schreibe ich ihm eine kurze Nachricht über WhatsApp.

Ich habe sie kaum abgeschickt, da ploppt auch schon seine Antwort rein.

Em, du kannst heute nicht zu O+O.

Hä? Wieso denn das nicht?

Noch während ich überlege, ob ich Pops – peinlich hin oder her – vielleicht doch besser anrufe, trällert Ed Sheeran bereits ein zweites Mal los. Ich drücke mich möglichst tief in den Hauseingang und stelle dann die Verbindung her.

»Popsi, warum …?

Weiter komme ich nicht.

»Kannst du in einer Viertelstunde am Tierpark sein?«, will mein Vater wissen.

Nein. »Wieso?«

»Ich hol dich an der U-Bahn-Station ab. Wir gehen ins Di Angelo und reden«, erwidert er.

»Das klappt nicht«, sage ich. »Ich krieg heute meine Brille. Außerdem bin ich nachher noch mit Jonathan verabredet.«

»Sag ihm ab.«

Was? »Aber …?«

»Bisher bist du ohne Brille zurechtgekommen, da wird es wohl auf einen Tag mehr nicht ankommen.«

»Das erklär mal Moms«, falle diesmal ich meinem Vater ins Wort.

»Mach ich«, verspricht er.

Okaaay … »Was ist denn überhaupt los?«, frage ich.

»Bis gleich«, erwidert Pops ausweichend. »Macht nichts, wenn es etwas länger dauert. Ich warte vor dem Eingang auf dich.«

Und weg ist er!

Kopfschüttelnd stecke ich das Handy in meine Umhängetasche zurück. Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie hat mein Vater sich ziemlich seltsam angehört.

Auweia! Wenn da mal nicht bereits Katastrophe Nummer drei lauert.

Unliebsame Überraschungen

Als ich am Pommernplatz ankomme, fährt mir die U-Bahn in Richtung Tierpark direkt vor der Nase weg. – Mist!

Seufzend lasse ich mich neben einem älteren Herrn in eine der grauen Plastiksitzschalen fallen, stelle das Skateboard auf den Hinterrollen ab und lehne es gegen meine Knie. Anschließend krame ich mein Smartphone hervor und schicke Jonathan eine WhatsApp.

Der optiker fällt flach. Hättest du morgen auch zeit?

Es dauert eine Weile, bis er mir zurückschreibt. Wahrscheinlich brütet er gerade über den Hausaufgaben.

Was ist los?, erkundigt er sich.

Mein vater will iwas mit mir bequatschen, tippe ich. Ist bestimmt nicht so wichtig. Weißt ja selbst, wie eltern manchmal sind. Hast du denn nun zeit oder nicht?

Für dich doch immer, baby ;), kommt es prompt von Jonathan zurück.

Inzwischen rollt die nächste U-Bahn ein. Es ist eine Linie, die nicht am Tierpark hält. Ich beschließe, sie trotzdem zu nehmen. Dann muss ich eben am Hauptbahnhof umsteigen.

Plötzlich sprintet jemand auf mich zu, ergreift mein Skateboard und rennt weiter.

»He!«, brülle ich los. »Was soll denn das?«

»Frechheit!«, wettert der Opi neben mir und hebt drohend seinen Spazierstock.

Ich springe auf und flitze dem Typen hinterher, registriere schwarze Sneaker, die über das Pflaster des Bahnsteigs fliegen, dazu helle Jeans, Skaterjacke und eine schwarz-gelbe Basketballkappe, unter der blonde Locken hervorlugen. Verdammt, und ich dachte, der Blödmann ist weitergefahren! Stattdessen hat dieser Mistkerl mir irgendwo aufgelauert und mich verfolgt, um mir mein Brett zu klauen!

Unbändiger Zorn kocht in mir hoch, aber der reicht nicht, um aus mir Superwoman zu machen. Der Typ legt ein irres Tempo vor, es ist völlig unmöglich für mich, ihn einzuholen, und ehe ich michs versehe, taucht er auch schon hinter einer Gruppe in dunkle Anzüge gekleidete Japaner ab und ist verschwunden.

»Sch…!«, fluche ich, bleibe abrupt stehen und überlege.

Was würde Anna an meiner Stelle tun? Was Jonathan?

Vergiss es, höre ich die Stimme meiner Freundin.

Hinterher!, brüllt Jonathan.

Klar, er hätte vielleicht sogar eine reelle Chance, den Typen noch zu fassen zu kriegen – aber ich? Nein! Kurz entschlossen entscheide ich mich für Annas Rat und flutsche gerade eben noch rechtzeitig in die U-Bahn, bevor die Türen sich schließen.

Die Bahn fährt an und ich laufe langsam weiter nach vorne durch, damit ich am Hauptbahnhof möglichst in der Nähe der Rolltreppen aussteigen kann. Um weiter in Richtung Tierpark zu fahren, muss ich dort nämlich den Bahnsteig wechseln.

Kurz bevor der Zug die nächste Station erreicht, finde ich einen leeren Einzelplatz. Ich lasse mich daraufplumpsen und versuche zu überschlagen, wie viel Geld sich inzwischen wohl auf meinem Sparkonto befindet und ob eventuell ein neues Skateboard drin wäre.

Von Pops kriege ich fünfundzwanzig Euro Taschengeld im Monat und damit bin ich bisher immer ausgekommen. Kino- und Schwimmbadgeld gibt es extra, und hin und wieder, wenn ich mir mal ein teures Buch oder ein Paar neue Dr. Martens wünsche, steckt Moms mir noch was zu. Viel brauche ich sowieso nicht. Meine Klamotten trage ich, bis sie mir nicht mehr passen oder auseinanderfallen. Hin und wieder erbe ich ein schwarzes T-Shirt von Teo, was allerdings immer mindestens dreimal gewaschen werden muss, bevor ich es an meine Haut lasse.

Anna ist da ganz anders. Sie stylt sich unheimlich gerne auf. Ihr Kleiderschrank platzt aus allen Nähten und trotzdem freut sie sich jedes Mal wie Bolle, wenn sie eine Bluse oder ein Kleid von Sarah abstauben kann. Ein gemeinsames Klamotten-Hobby haben wir lustigerweise dennoch. Anna und ich tragen unheimlich gerne Mützen, Käppis oder Tücher, und die sind allesamt selbstgemacht. Zwei- bis dreimal in der Woche hocken wir bei uns im Bastelzimmer zusammen und häkeln, stricken, sticken und nähen, was das Zeug hält. Jeden ersten Samstag im Monat grasen wir unseren Lieblingsflohmarkt nach alten Knöpfen, Perlen, Troddeln und Borten ab, mit denen wir dann die Mützen oder auch unsere Klamotten aufpeppen. Der größte Teil meines Taschengelds geht dafür drauf.

Das Sparbuch besitze ich seit meiner Geburt. In unregelmäßigen Abständen zahlen meine Eltern, Oma und Opa Berlin oder meine Großeltern aus London etwas darauf ein. Ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung, welche Summe über die Jahre dabei zusammengekommen ist.

Ein brauchbares neues Skateboard kostet mindestens hundert bis hundertfünfzig Euro, ein Profi-Longboard sogar noch mehr. Die Frage ist allerdings, ob ich ein solches Teil überhaupt brauche. Wenn man sich damit auf die Nase legt, ist es nämlich gleich doppelt peinlich.

Außerdem liebe ich mein altes Board über alles. Auf ihm habe ich vor drei Jahren das Skaten gelernt. Ohne es wäre ich nie auf dem Skateplatz gelandet und dann hätte ich wahrscheinlich auch Jonathan niemals kennengelernt. Ach, herrje, ich hätte diesen blöden sch… Dieb doch verfolgen sollen! Wenn ich mich nur ein bisschen mehr angestrengt und wirklich alles gegeben hätte, hätte ich ihn bestimmt geschnappt.

Woah, Emely! Was bist du bloß für ein blödes Huhn!, beschimpfe ich mich selber. Wieso kämpfst du nicht für das, was dir wichtig ist?

Abermals steigt glühender Zorn in mir auf. Meine Muskeln spannen sich und meine Hände ballen sich ganz automatisch zu Fäusten. Ich presse meine Stirn gegen die Scheibe und blicke grimmig in die hell erleuchtete U-Bahn-Station, in die wir just vor einem Augenblick eingefahren sind.

Die Türen öffnen sich schnaufend. Unzählige Menschen strömen auf den Bahnsteig hinaus oder in den Zug hinein. Und als die Reihen sich lichten, sehe ich ihn: Den verfluchten Mistkerl von einem Dieb.

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht steuert er direkt auf mein Fenster zu, klopft gegen die Scheibe und streckt mir die Zunge heraus.

Scheibenkleister noch mal, der muss ebenfalls in dieser Bahn gewesen sein. Vielleicht sogar im selben Wagen. Und ich Döspaddel habe ihn nicht bemerkt!

Im Nullkommanix bin ich aufgesprungen. Mit langen Sätzen hechte ich zur Tür und remple dabei versehentlich eine Frau an.

»’tschuldigung!«, rufe ich und renne weiter.

»Eine Unverschämtheit ist das!«, brüllt sie mir hinterher. »Tobt euch doch im Schwimmbad oder im Sportverein aus!«

Nichts lieber als das, denke ich und renne weiter. Nur noch zwei Schritte und – die Tür schließt sich vor meiner Nase.

»Nein!«, stoße ich aus, drücke wie bekloppt auf dem Öffnerknopf herum und versuche die Finger meiner anderen Hand zwischen die Türgummis zu schieben.

Plötzlich packt mich jemand von hinten am Hosenbund und zerrt mich zurück.

»Bist du verrückt geworden?«

Jonathan!

Ich wirbele herum. »Was machst du denn hier?«

»Von der Schule nach Hause fahren«, erwidert er trocken. »Zufälligerweise ist das meine Linie. Etwa schon vergessen?«

»Klar … ähm, nee, äh …«, stammele ich. Völlig von der Rolle starre ich ihn an. »Der Typ da draußen hat mein Skateboard geklaut.«

»Was?« Jonathans Blick verfinstert sich. »Welcher Typ?«

»Na, der!«

Ich deute über meine Schulter zurück. Im selben Moment geht ein Ruck durch die Bahn. Ich verliere das Gleichgewicht und lande in Jonathans Armen.

»Du bist aber stürmisch heute«, sagt er, woraufhin ich mich hastig wieder von ihm löse und ihm einen freundschaftlichen Klaps gegen die Schulter verpasse. »Blödi.«

»Vielen Dank, die Dame«, brummt Jona und seine hellgrauen Augen blitzen übermütig. »Und jetzt mal Klartext: Welcher Typ hat dein Brett geklaut? Wo ist er und wann kann ich ihm eins auf die Nase hauen?«

»Gar nicht«, gebe ich zurück und deute zum Fenster hinaus.

Der Typ mit der BVB-Kappe läuft neben der anfahrenden U-Bahn her und hält mein Skateboard dabei triumphierend hoch.

»Verdammt, den kenne ich!«, knurrt Jonathan.

»Ach ja? Und woher?«

Mein bester Freund und Superkumpel kneift grübelnd die Augen zusammen und schüttelt schließlich den Kopf. »Weiß nicht.«

»Na, hör mal«, sage ich. »Du hast doch keine Löcher im Gehirn.«

»Offensichtlich schon«, murmelt er und reibt sich über die Stirn. »Ich komm einfach nicht drauf.«

Ich winke ab. »Macht nix. Der ist sowieso über alle Berge.«

»Schon … aber wenn ich drauf käme, wer er ist, dann …«

»Vielleicht fällt es dir ja noch ein«, äußere ich wenig hoffnungsvoll.

Bestimmt hat er ihn einfach mal irgendwann in der Stadt gesehen und bildet sich jetzt bloß ein, ihn zu kennen. Aber das sage ich lieber nicht. Ohnehin bleibt keine Zeit zum Diskutieren. Der nächste Stopp ist Hauptbahnhof. Dort steige ich aus, während der gute alte Jona noch fünf Stationen vor sich hat.

»Wo ist denn eigentlich dein Rad?«, frage ich, nachdem ich sein knallblaues BMX-Cycle nirgends entdecke.

Jonathan kratzt sich im Nacken und weicht meinem Blick aus. »Zu Hause.«

»Aber du bist noch nie ohne dein Rad vor die Tür gegangen«, sage ich halb verwundert, halb alarmiert.

»Irgendwann ist eben immer das erste Mal«, entgegnet Jona schulterzuckend.