Informationen zum Buch

Eine Liebe in Peru

Eine alte Schuld, ein exotisches Land, das voller Rätsel steckt, und eine starke junge Frau auf der Suche nach ihren Wurzeln.

Die junge Studentin Blanca kann ihr Glück kaum fassen, als sie ein Stipendium für eine Foto-Akademie in Peru erhält, dem Land, aus dem ihre Urgroßmutter Guadalupe stammt. Kurz vor Blancas Abreise schenkt ihre Großmutter ihr das einzige Foto von Guadalupe, die in den Wirren des Zweiten Weltkrieges in Peru verschollen ist. Blanca soll herausfinden, was damals mit ihr geschah. In Peru angekommen, lernt Blanca Emilio kennen, mit dem sie der Spur des Bildes folgt. Gemeinsam tauchen sie ein in die bewegte Geschichte des Landes und in die Geheimnisse ihrer Familie.

Sabrina Železný

Das Geheimnis des Mahagonibaums

Roman

Aufbau

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Guadalupes Tagebuch

4. Kapitel

5. Kapitel

Guadalupes Tagebuch

6. Kapitel

Guadalupes Tagebuch

7. Kapitel

8. Kapitel

Guadalupes Tagebuch

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Guadalupes letzter Brief

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Epilog

Nachwort und Danksagung

Über Sabrina Železný

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Bajo el árbol solitario del silencio

¿cuántas veces nos ponemos a soñar?

Todos vuelven por la ruta del recuerdo

Pero el tiempo del amor no vuelve más.

César Miró, Todos Vuelven, peruanischer Walzer

Wie oft träumen wir wohl

Unter dem einsamen Baum der Stille?

Alle kommen zurück über den Weg der Erinnerung,

Aber die Zeit der Liebe kehrt nicht mehr wieder.

Prolog

Guadalupes Tagebuch

02. Juni 1928

Ich erwachte im Morgengrauen, und Constanzas Seele saß als nebelgrauer Vogel auf meiner Fensterbank und blickte mich an.

Zumindest will ich mir vorstellen, dass sie es gewesen ist. Dass sie zu mir kam, um Abschied zu nehmen, ehe sie davonflatterte in den blassen Himmel. Ich lief auf bloßen Füßen zur Zellentür, die Kälte des Steins biss in meine Sohlen; ich stieg hinauf zu der kleinen Plattform, von der man bis zu den Klostermauern sehen kann, bis zum Fluss und zu den Vulkanen. Constanza und ich waren manchmal hier gewesen. Zu selten.

Die ganze Stadt war in ein Dämmerlicht getaucht, das mir fremd vorkam. Der Misti hatte seinen schneebedeckten Gipfel verhüllt. Es ist ungewöhnlich für diese Jahreszeit, mit Wolken zu erwachen. Constanza, meine Schwester im Herzen, Arequipa hat heute Trauer für dich getragen. Ich wünschte, ich hätte es festhalten können, zeichnen vielleicht. Doch es wird wohl ein Bild meiner Erinnerung bleiben.

Trotz des frischen Windes, der an meinem Nachthemd zupfte, als wolle er mich daran erinnern, dass es Zeit war, in die Zelle zurückzukehren, meine Kutte anzulegen und mich für die Morgenandacht fertig zu machen, blieb ich noch auf der Plattform, rauen Stein unter den Füßen und Traurigkeit im Herzen. Zum ersten Mal, seit ich nach Santa Catalina gekommen war, fühlte ich mich allein. Constanza war vom ersten Tag an meiner Seite gewesen, hatte mich durch die verwinkelten Gassen aus Tuffgestein geführt, die aus dem Kloster eine ganz eigene Welt machten, über sonnengeflutete Innenhöfe, in denen ich mich allein verloren hätte. Sie war älter als ich und ganz bestimmt weiser. Ich wollte für sie beten, als ich dort auf der Plattform stand, aber in mir war Schweigen. Als trüge auch ich einen Wolkenschleier in der Seele. Mein Blick glitt über das Kloster, über die flachen Steindächer, die Gassen im Zwielicht. Mir war, als habe Constanza aus allen Farben das Leuchten mitgenommen, hier im Kloster und in der ganzen Stadt.

Aber ich irrte mich. Ich traue mich kaum, es zu schreiben, aber ich irrte mich.

Sie sagten uns bei der Morgenandacht, dass am Nachmittag der Fotograf kommen würde, um das letzte Bild von Constanza zu machen.

Es kommen nie Männer ins Kloster. Das ist Gesetz, ist es immer gewesen, seit Santa Catalina besteht, die Stadt in der Stadt, verborgen hinter hohen Mauern. Eine Ausnahme gibt es, und das ist der Tod. Wann immer eine Schwester stirbt, darf ein Mann eintreten. Einst war es ein Maler, heute ein Fotograf.

Ich stand im Innenhof, als dem Mann geöffnet wurde. Ich wartete nicht auf ihn, ich suchte nur meinen Mut, Constanza ein letztes Mal zu sehen, den leeren Körper auf der Bahre zu betrachten, der nichts mehr von der Schwester barg, die ich so geliebt hatte.

Ich hatte ihn noch nicht gefunden, meinen Mut, als der Fotograf kam. Er trat um die Ecke und blieb stehen, sah sich um, erforschte nur mit den Augen das Atrium, in das jetzt wieder heller Sonnenschein geflossen war. Und ich stand im Säulengang, war ganz Schatten und Stille. Ich sah dem Mann beim Sehen zu.

Er war fremd. Seine Haut war zu hell, nicht weiß, eher ein Schimmer, der mich an Rosenblüten erinnerte. Seine Stimme verirrte sich im Spanischen wie im Labyrinth der Klostergassen. Seine Kamera und das Stativ hielt er fest, als ob es ihn sonst fortreißen würde vor lauter Fremdheit hinter diesen Mauern.

Dann wandte er den Kopf und blickte zu mir in die Schatten, zögerte und sandte mir ein Lächeln zum Gruß – scheu und flüchtig, fast wie der Vogel von heute Morgen.

Ich kann nicht sagen, ob ich zurücklächelte. Ob ich überhaupt etwas tat. Ich weiß nur, dass ich seine Augen sah, blau wie der Mittagshimmel, zu blau für die Wirklichkeit, und in diesem Blau alles Leuchten, alle Wärme, die ich für immer verloren geglaubt hatte, wiederfand. Constanza war fort, sie hatte Abschied genommen. Aber die Farben, die hatte sie mir zurückgesandt.

1. Kapitel

Das Sonnenlicht stach Blanca schmerzhaft in den Augen, als sie den ersten Schritt auf die Gangway hinaustrat. Sie blieb ruckartig stehen, legte eine Hand auf das warme Geländer und war froh, dass sie als eine der Letzten das Flugzeug verlassen hatte und hinter ihr niemand mehr nachdrängte.

Dann blinzelte sie, fühlte die neue Luft, die hier, zweitausenddreihundert Meter über dem Meer, tatsächlich eine Spur dünner und frischer schmeckte.

Peru. Das war es also.

Als sie am Flughafen in Lima umgestiegen war, hatte sie durch die hohen Fenster nur einen flüchtigen Blick auf bewölktes Grau erhascht. Doch der Anschlussflug hatte sie nach Arequipa gebracht – tausend Kilometer südlich von Lima, eine Kolonialstadt aus weißem Vulkangestein, in der das trübe und feuchte Klima der Pazifikküste keine Macht besaß. Es war die Stadt, in der Blanca die nächsten Monate verbringen würde, dank des Stipendiums, das sie für einen Platz an der Fotografischen Akademie Arequipas ergattert hatte. Und letztlich war es noch mehr als das.

»Arequipa.« In ihren Gedanken hörte sie plötzlich ganz klar Oma Magdas Stimme, sah das versonnene Lächeln. »Du weißt, dass es eine besondere Stadt ist, nicht wahr?«

Nur ein kurzer Moment, dann gewann die Gegenwart wieder die Oberhand: Makellos blau leuchtete der Himmel, die Sonne brannte mit großer Kraft. Das Flughafengebäude lag, kleiner als erwartet, ein Stück entfernt – flach, rotbraun, nicht im Geringsten spektakulär oder exotisch. Aber als Blanca ihren Blick etwas weiter schweifen ließ, breitete sich mit einem Mal ein warmes Kribbeln in ihrer Magengrube aus, und sie musste lächeln. Langsam nahm sie Stufe um Stufe nach unten, das beruhigende Gewicht der Kameratasche immer an ihrer Seite, ohne den Blick von den Vulkanen am Horizont zu lassen.

Einer ragte als breites Massiv gut sichtbar in den Mittagshimmel, grau und schroff, die Gipfelpartie wie von einer Schicht Puderzucker bedeckt.

Der andere lag genau in Blancas Blickfeld. Ein vollkommener Vulkankegel. Er war auf fast allen Fotos zu sehen gewesen, die Blanca zur Einstimmung auf ihre Reise betrachtet hatte: der Misti. Allerdings war er auf den Bildern immer auch verschneit gewesen, das hatte Blanca fasziniert, diese Nähe von Feuer und Eis. Aber alles, was sie jetzt sah, waren nackte, staubige Flanken, die Konturen des Vulkans seltsam weich in der Hochlandluft.

Blanca überquerte das Rollfeld und trat ins Flughafengebäude. Nach dem grellen Sonnenlicht draußen kam es ihr hier nahezu dunkel vor. Sie fasste ihre Kameratasche fester und suchte sich einen Platz, von dem aus sie einen guten Blick auf das Gepäckband hatte.

Ihr Körper fühlte sich dumpf vor Müdigkeit an, obwohl die Aufregung diesem Empfinden denkbar wenig Raum ließ. Blanca mochte nicht nachrechnen, wie lange sie jetzt unterwegs war. Der Flug nach Lima war schon Abenteuer genug gewesen, dann hatte sie auf dem dortigen Flughafen ihr Gepäck abholen und neu einchecken müssen, um die letzte Etappe in den Süden zu überwinden. In den unbequemen Flugzeugsitzen hatte sie nur wenig und kaum erholsam geschlafen, und über alledem schwebte eine bange Unsicherheit.

In der letzten E-Mail hatte es geheißen, dass jemand von der Akademie Blanca am Flughafen erwarten würde. Aber was, wenn das nicht klappte? In ihrer Hosentasche knisterte ein Zettel, auf dem sie sich feinsäuberlich die Adresse des Gästehauses notiert hatte. Außerdem hatte Blanca sich aus dem Internet einen Plan des Stadtzentrums ausgedruckt. Und verdammt, sie war hier nicht auf dem Mond, und sie war keine unbeholfene Touristin. Die Nervosität blieb dennoch, egal wie sehr sie sich sagte, dass sie unbegründet war.

Blanca wuchtete ihren Rollkoffer vom Band, suchte sich ihren Weg nach draußen und hatte den Eindruck, mit jedem Schritt tiefer in diese fremde Welt einzutreten. Um sie herum zerflossen die Sprachfetzen der Touristen, die mit ihr am Kofferband gewartet hatten. Stattdessen schwoll das Spanische an wie das Sirren eines Bienenstocks, trug immer wieder einzelne Sätze an ihr Ohr, hieß sie wie in einem vergessenen Zuhause willkommen.

Sie folgte dem Strom der anderen Menschen nach draußen, wo sie einmal mehr der strahlend blaue Himmel empfing. Und ein Schild, das beinah triumphierend geschwenkt wurde. Blanca Freyenberg stand darauf, in dicken schwarzen Lettern, so dass sie es nicht übersehen konnte. Blanca atmete auf, suchte den Blick des Mannes, der das Schild hielt, und wurde auf der Stelle mit einem Lächeln und einem Winken belohnt. Wahrscheinlich hatte er ihr Foto auf den Bewerbungsunterlagen für das Stipendium gesehen und sie nun wiedererkannt.

»Herzlich willkommen in Arequipa!« Er strahlte sie an und hauchte ihr ein Luftküsschen auf die Wange, bevor er ihr das Schild wie einen verhinderten Blumenstrauß in die Hand drückte, um ihr stattdessen den Koffergriff zu entwinden. »Schön, dich hier zu haben. Ich bin Francisco, Leiter der Fotografischen Akademie Quiroz. Und für die nächsten Monate somit auch dein Lehrer. Hattest du einen guten Flug, Blanca?«

Seltsamerweise war es ihr, als spülte sein Redeschwall einen guten Teil ihrer Erschöpfung hinweg. Das peruanische Spanisch war weich und melodiös, sie mochte den Klang auf Anhieb, auch wenn sie insgeheim gehofft hatte, er würde so etwas wie vergessene Erinnerungen in ihr wecken. Aber das war natürlich Unsinn.

Sie mochte Francisco sofort. In jedem Wort schwang Wärme mit, das Lächeln strahlte aus seinen Augen. Ein wenig hager, sonnenverbrannt und leger in Karohemd und Jeans gekleidet, wirkte er nicht so, wie sie sich den Leiter einer Akademie vorgestellt hatte – vor allem nicht nach ihrem Mailwechsel, in dem er immer sehr korrekt und formal geklungen hatte. Das alles passte gar nicht zu dem charmanten und jugendlich aussehenden Mann um die vierzig im Schlabberlook.

»Es hat alles gut geklappt. Und danke fürs Abholen«, sagte sie und kam sich mit ihrem eigenen Spanisch auf einmal fehl am Platz vor – als präsentierte sie ein Kunstobjekt, das für die praktischen Dinge nicht geeignet war. Die Kameratasche hielt sie fest, und Francisco machte keinen Versuch, sie ihr abzunehmen. Stattdessen steuerte er bereits auf eines der zahllosen Taxis vor dem Flughafengebäude zu, verhandelte kurz mit dem Fahrer um den Preis und ließ den Mann dann Blancas Koffer einladen.

Blanca sank auf den Rücksitz und suchte vergeblich nach einem Gurt.

Francisco lächelte ihr zu, als er neben ihr einstieg und das Taxi sich in Bewegung setzte. »Wir fahren jetzt erst einmal zum Gästehaus, da kannst du dich frischmachen. Du bist sicher völlig erschöpft von der langen Reise.«

Sie gab die Suche nach dem Gurt auf. »Ja, ziemlich.«

»Dein Spanisch ist sehr gut. Viel besser, als ich dachte. Wie kommt’s?«

Sein Lob trieb Blanca eine leichte Wärme in die Wangen. »Ich war auf einer zweisprachigen Schule. Und meine Urgroßmutter stammte aus Arequipa.«

Zum ersten Mal überlegte sie sich, dass das Spanisch in ihrer Familie weitergereicht wurde wie ein Erbstück. Für Blanca hatte es stets außer Zweifel gestanden, dass sie diese Schule deshalb besuchte, weil sie eine peruanische Urgroßmutter hatte, aber wie so viele Dinge war auch diese Tatsache nie mehr als eine Floskel gewesen. Bis jetzt.

Francisco riss die Augen auf, dann strahlte er. »Nein, wirklich? Aber bist du dann früher schon einmal hier gewesen?«

»Noch nie«, sagte Blanca und spähte aus dem Taxifenster. Sie hatten den Flughafen hinter sich gelassen. Überwiegend flache, ein- bis zweistöckige Häuser säumten die Straßen, teilweise von mannshohen Zäunen umgeben, die Blanca an Zookäfige erinnerten. Auf einer langgestreckten Mauer prangten knallbunte Graffitibilder: ein grinsendes Lama und ein pink gekleideter Inka. Blanca musste grinsen.

Eine Merkwürdigkeit von unterwegs. Der Gedanke kam aus reiner Gewohnheit in ihr auf, erinnerte sie an ihr altes Spiel mit Laura. Irgendwann, das war noch zu Schulzeiten und mit uralten Kleinbildkameras gewesen, hatten sie damit angefangen, auf Reisen alle Arten von kuriosen Dingen zu fotografieren. Wenn sie sich nach den Ferien wiedergesehen hatten, waren das ihre Mitbringsel füreinander gewesen. Zu Hause unter Blancas Bett stand noch irgendwo die bunt beklebte Pappschachtel mit all den Bildern, die Laura über die Jahre für sie gemacht hatte: schräg gewachsene Bäume, schielende Gartenzwerge, Schilder seltsamer Ortsnamen.

Ob Laura ihre Schachtel auch noch hat?

Plötzlich fiel Blanca das Atmen schwerer. Es war seltsam genug, dass sie Laura vor der Abreise nicht mehr getroffen hatte. Es hatte sich nicht einmal die Gelegenheit für eines ihrer stundenlangen Telefonate geboten. Und jetzt musste sie sich an den Gedanken gewöhnen, dass es ihre erste Reise war, auf der sie keine Merkwürdigkeiten für Laura fotografieren würde. Der Gedanke tat weh, wie überhaupt die Erinnerungen an Laura und ihre Worte wehtaten.

Aber es war sinnlos, darüber nachzugrübeln. Sie hatte hier andere Aufgaben.

Blanca presste die Lippen aufeinander und tastete nach dem Brustbeutel, den sie sicherheitshalber unter dem T-Shirt trug. Sie spürte den Widerstand festen Papiers unter dem Stoff. Eine ganz besondere Fotografie.

»Ich weiß auch nur sehr wenig über meine Urgroßmutter. Aber mein Urgroßvater war ebenfalls Fotograf, und er hat sie kennengelernt, als er durch Peru reiste.«

Das waren spröde Worte für eine Geschichte, die Blanca von Kindesbeinen an geprägt hatte wie ein Märchen. Blanca hatte ihre Urgroßmutter nie kennengelernt – außer in Oma Magdas Erzählungen. Erzählungen, die Blanca liebte und denen ein wenig der gleiche Zauber innewohnte wie besonders alten Fotografien: Man mochte nicht glauben, dass sie die Wahrheit abbildeten. Durch diese Geschichten hatte das geheimnisvolle Paar Blancas bisheriges Leben begleitet: ihr Urgroßvater, der deutsche Fotograf. Und ihre Urgroßmutter, die Peruanerin, die ihm übers Meer gefolgt war. Max und Guadalupe. Nur von einer Handvoll sorgsam gehüteter Schwarzweißfotografien wusste Blanca, dass sie das schwarze Haar und die dunklen Augen ihrer Urgroßmutter geerbt hatte – und die Leidenschaft zur Fotografie von ihrem Urgroßvater.

Es hätte wesentlich mehr zu erzählen gegeben. Doch es fühlte sich falsch an, Francisco solche Details zwischen Tür und Angel preiszugeben.

Francisco lachte leise. »Dann ist Fotografieren in Arequipa für dich ja eine richtige Familienangelegenheit.« Wahrscheinlich ahnte er nicht, wie recht er damit hatte. »Das freut mich, dass deine Wurzeln dich hierhin gebracht haben. Du wirst Arequipa mögen. Für Fotografen ist diese Stadt ein Paradies. Das Licht, die Farben, all die Motive – glaub mir, es gibt keinen besseren Ort.«

Blanca nickte. Mit einem Mal drückte die Müdigkeit sie bleischwer auf den Rücksitz. Bei aller Vorfreude auf die Stadt und die Sommerschule wünschte Blanca sich schlagartig vor allem eines: einen Augenblick Stille.

*

Das Gästehaus der Akademie war ein gedrungenes Haus im Kolonialstil, mit leuchtend blau getünchten Wänden und weißen Stuckornamenten, schmalen Säulen und Rundbögen, die dem ganzen Gebäude mit seiner Veranda einen luftigen und filigranen Charakter verliehen. Alles in allem wirkte es wie ein Relikt vergangener Zeiten, und Blanca hätte hinter dieser eleganten Fassade eher ein Museum erwartet.

Das Haus lag ein wenig abseits der lebhaften Hauptstraße in einer schmalen Gasse. Nur wenige Schritte trennten die Häuserfront von der steinernen Brüstung, hinter der steil die Böschung zum Río Chili abfiel, so dass sich der Straßenlärm Stück für Stück im Rauschen der trüben Wassermassen verlor.

Francisco half Blanca, ihren Koffer über die Marmortreppe in den ersten Stock zu wuchten, und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf: schlicht, aber zweckmäßig eingerichtet, und es gab sogar ein eigenes Bad.

»Mach dich frisch und komm erst einmal an.« Er lächelte ihr zu. »Um vier treffen wir uns unten vor dem Gästehaus, dann zeige ich euch die Akademie, und wir besprechen das Kursprogramm. Ihr seid nur zu siebt, das wird ein schöner, überschaubarer Kurs. Aber alle Details besprechen wir dann. Brauchst du noch etwas?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich komm klar.«

Als er mit einem Nicken die Tür hinter sich zugezogen hatte, blieb Blanca für einen Moment stehen und blickte sich um. Zeit, das Zimmer ein wenig wohnlicher zu machen. Sie stellte die Kameratasche aufs Bett und tastete nach dem Samtbeutel im Innenfach. Sie lächelte, als ihre Finger den weichen Stoff zu fassen bekamen. Sacht zog sie die Kordel auf.

Die trübgewordene Fourierlinse musste einst zur Ausrüstung ihres Urgroßvaters gehört haben. Doch nach der Hochzeit mit Guadalupe hatte er sie in Silber fassen und mit einer Kette versehen lassen. Es war Guadalupes liebstes Schmuckstück gewesen, hatte ihr Magda erzählt.

Bis Guadalupe fortging.

Blanca streichelte über das kühle Glas der Linse. An dem Tag, als Blanca bei der Fachhochschule für Fotografie aufgenommen worden war, hatte ihre Großmutter ihr Linse und Silberkette geschenkt.

»Sie wären so stolz auf dich«, hatte sie gesagt. »Alle beide.« Ihre Stimme hallte voll Klarheit in Blancas Gedanken wider.

Unwillkürlich seufzte Blanca und ließ sich auf der Bettkante nieder, wobei die dünne Matratze quietschte. Blanca nestelte den Brustbeutel unter dem T-Shirt hervor, öffnete ihn und zog das Foto heraus, das sie darin aufbewahrte.

Es war alt – schwarzweiß, leicht verblasst, die Vorderseite noch immer glänzend, die Rückseite rau – und zeigte eine junge Frau in einem langen weißen Kleid. Der Blick ging verträumt ins Leere, vorbei an der Kamera, ein Lächeln deutete sich in den Mundwinkeln und vor allem in ihren dunklen Augen an. Die Frau hielt sich gerade, ihr Haar verborgen unter einer schwarzweißen, langen Haube: das Habit einer Nonne. Der Hintergrund der Aufnahme musste ein schlichter, leerer Raum gewesen sein, dessen verwaschene Grautöne hinter der klaren Gestalt nur noch nebelhafter wirkten. Es fühlte sich an, als spähte sie in eine vergangene Zeit.

Guadalupe.

Seit Blanca denken konnte, hatte dieses Foto schlicht gerahmt im Wohnzimmer ihrer Großmutter gestanden. Schon als Kind hatte Blanca es oft betrachtet und versucht, den Blick der jungen Frau zu finden, den sie nicht fassen konnte. Auch jetzt forschte sie nach Vertrautheit in dem schmalen Gesicht mit der Stupsnase, dessen Züge ihr verschmitzter erschienen, als es sich für eine Nonne gehört hätte. Es war wie ein Blick in einen Spiegel, der sie selbst in Schwarzweißtönen zeigte.

Wenn wir uns je begegnet wären, ich hätte sie gemocht.

Wieder drang die Erinnerung an die Worte ihrer Großmutter in ihre Gedanken. »Guadalupe Schwarzkopf. Ihr Mädchenname war Bustamante. Ich möchte dir dieses Bild schenken, Kind. Vater hat es sehr geliebt, es ist das erste, das er von ihr geschossen hat. Es ist mit Liebe gemacht, das kann man spüren, meinst du nicht auch?«

Vorsichtig strich Blanca mit einer Fingerkuppe über den leicht gezackten Rand der Fotografie. Sie stellte sich den jungen Mann hinter der Kamera vor, der dieses Mädchen betrachtete, der es in einem Bild einfangen wollte und vielleicht auf einen Blick, auf ein für ihn bestimmtes Lächeln gelauert hatte. Stattdessen blickte Guadalupe irgendwohin, tat so, als verberge sie ihr Lächeln, als gebe es keinen Fotografen. Blanca wusste, dass in jedem Foto auch ein Stück von demjenigen steckte, der es aufgenommen hatte, und als unsichtbarer Betrachter war ihr Urgroßvater auf dieser Aufnahme ebenso präsent wie ihre Urgroßmutter. Er hatte nicht nur Guadalupe fotografiert, sondern in dieses Bild auch all die Faszination und Liebe für dieses Mädchen gelegt, das ihm zu jenem Zeitpunkt noch beinah fremd gewesen sein musste. Hier, in diesem sonnendurchfluteten Zimmer des Gästehauses, empfand Blanca diese Gewissheit stärker als je zuvor. Sie starrte auf die Fotografie, und mit einem Mal schien sie zurück im Wohnzimmer ihrer Großmutter Magda zu sein, unwirklich im Abendlicht, als befinde es sich selbst in einem alten Sepia-Bild. Magda hatte sie zu sich gerufen, am Abend, bevor Blanca geflogen war, hatte das gerahmte Bild von Guadalupe in beide Hände genommen und jenen Satz gesagt, der sich Blanca eingebrannt hatte: »Arequipa … Du weißt, dass es eine besondere Stadt ist, nicht wahr?«

Blanca hatte vor ihr gesessen, auf jenem wackeligen Holzschemel, den sie seit Kindertagen liebte. Bei der bloßen Erinnerung musste sie lächeln.

»Weil deine Mutter von dort kam.«

Es fühlte sich seltsam an, deine Mutter zu sagen. Als sei diese Person jemand gewesen, mit dem Blanca nichts verband. Tatsächlich aber hätte sie es als noch merkwürdiger empfunden, meine Urgroßmutter zu sagen, denn das wiederum klang nach einer Nähe, die niemals bestanden hatte.

»Weil sie einander dort begegnet sind«, hatte Oma Magda mit einer Zärtlichkeit in der Stimme geantwortet, die Blanca erst verstehen ließ, wie nah sie diesen schattenhaften Personen tatsächlich gewesen war. Es waren Omas Eltern gewesen, wahrhaftig und greifbar in jener Vergangenheit, in der Magda Kind gewesen war. Diese Nähe war es, die Omas Augen zum Schimmern brachte – oder besser, die Erinnerung an eine Nähe, die schon so lange zu einer unüberwindbaren Distanz geworden war.

Und dann der Blick über den Bilderrahmen hinweg.

»Ich habe es nie verstanden, weißt du?«, murmelte ihre Großmutter, die Finger fest um das dunkle Holz geschlossen. »Vater hat Briefe geschrieben. Daran erinnere ich mich. Wenn es ein Bild meiner Kindheit gäbe, Blanca, ein einziges, das alles andere zusammenfasst, dann wäre es dieses: Vater am Schreibtisch, wie er die Feder über das Papier fliegen lässt. Er hat immer schnell geschrieben, als ob er die Worte nicht zurückhalten könnte. Ich war still, wenn er schrieb. Das Kratzen kann ich noch immer hören, weißt du? Das Geräusch der Feder auf dem Briefpapier … Manchmal ist es da, wenn ich in der Nacht aufwache. Und dann kommt die Stille. Wenn Vater fertig war, hat er gewartet. Nie den Brief noch einmal gelesen, das weiß ich, und nie einfach nur die Tinte trocknen lassen. Aber ich sehe Vater, wie er dasitzt, die Feder in der Hand, den Blick auf die Wand gerichtet, so müde und so alt geworden, ich hatte immer das Gefühl, in diesen Momenten geht er mir verloren, wie uns Mutter verloren gegangen ist. Ich dachte mir stets, sie muss es doch spüren, wie viel Schmerz in seinen Briefen steckt. Wie sehr wir sie vermissen. Jedes Mal dachte ich, sie muss doch zurückkommen, um uns zu retten, um uns nicht zerbrechen zu lassen. Aber sie hat niemals geantwortet.«

Blanca schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Großmutter hatte niemals auf diese Weise von der Vergangenheit erzählt. Anekdoten zum Schmunzeln, kleine Abenteuer des Alltags, bisweilen Bewunderung für Urgroßvaters Arbeit im Labor. Doch Schmerz oder Trauer – das hatte nie eine Rolle in Magdas Erzählungen gespielt.

»Noch heute frage ich mich, warum«, fuhr Oma leise fort. »Eine Familie, ein Kind, das ist doch das Kostbarste, was man auf der Welt haben kann? Vater sagte mir, dass wir damals gemeinsam auswandern wollten, als Deutschlands dunkle Zeit begann. Er und Mutter haben es kommen sehen und fürchteten um unsere Zukunft. Sie haben geahnt, dass Deutschland ein Land wird, in dem sie unter den politischen Umständen nicht mehr leben wollten. Er hat Guadalupe vorausgeschickt. Danach ist so viel schiefgegangen …« Sie zog hörbar die Luft ein, es klang, als kämpfte Magda gegen ein Schluchzen. Behutsam streckte sie die Hand aus und legte sie wortlos auf Magdas Arm, tat nichts weiter, als einfach da zu sein und zu hoffen, dass es genug war. Danach ist so viel schiefgegangen … Das war auch eine Geschichte, die sie kannte und deren Ausmaß ihr doch niemals ganz bewusst geworden war. Probleme mit den Behörden bei der Ausreise, Schwierigkeiten mit dem Reisepass, das waren Worte, die spröde schmeckten und kaum Leben in sich trugen. Aber erst in dem sanften Zittern in Magdas Stimme ahnte Blanca den wahren Abgrund, der hinter diesen Floskeln lauerte.

»Blanca, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie uns niemals verziehen hat. Sie muss doch gewusst haben, was in Deutschland geschehen ist. Und all die Briefe, all die Erklärungen … Ich begreife es nicht, Blanca.« Sie schluckte, sah auf ihre Finger und das Foto, dann direkt in Blancas Augen. »Willst du mir helfen, es zu verstehen?«

Ihr Blick brachte etwas in Blanca zum Schwingen, das sich fremd und vertraut zugleich anfühlte.

»Du gehst nach Arequipa. Vielleicht ist das ein großer Zufall, vielleicht auch nicht. Ich bin neugierig und gespannt, was du von dieser Stadt erzählst. Ich weiß davon nur wenig, es sind ja nicht einmal meine Erinnerungen, sondern die meiner Mutter. Aber viel wichtiger … Du wirst beschäftigt sein mit dem Studium und all den Eindrücken, das weiß ich, aber ich möchte dich dennoch darum bitten: Wenn es dir irgendwie möglich ist, kannst du nach ihr suchen? Kannst du herausfinden, was geschehen ist? Ich bin alt, Blanca, und ich habe nur noch wenige offene Fragen. Von ihnen allen ist sie die dringendste. Ich will es verstehen. Ich will wissen, was aus meiner Mutter geworden ist, wie es sein konnte, dass sie nie zu uns zurückkehrte. Ich werfe es ihr nicht vor, aber ich möchte es begreifen können.«

Von sehr weit her mischte sich ein anhaltendes Hupkonzert in Blancas Gedanken und brachte sie nachdrücklich in die Gegenwart zurück. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, betrachtete das Foto und hatte plötzlich das Gefühl, dass Guadalupe sie mit einer gewissen Neugier betrachtete.

Blanca war mit einer Mission hergekommen. Es gab Orte, an denen sie suchen konnte – das Kloster, das Stadtarchiv. Irgendwo, da waren Blanca und ihre Großmutter sich einig gewesen, musste es Hinweise auf Guadalupes Rückkehr in diese Stadt geben. Hinweise und vielleicht sogar Antworten.

Blancas Blick wanderte zu ihrem Koffer, dann zu der kahlen Wand über dem Schreibtisch. Eigentlich hatte sie vorgehabt, noch schnell die Fotos von daheim aufzuhängen – in den Wochen vor ihrem Abflug hatte sie extra für diesen Zweck Bilder von Freunden, Familie und ihren Lieblingsorten gemacht. Sie hatte sogar das alte Foto, das sie mit Laura zeigte, eingepackt, das bis zuletzt an ihrer Pinnwand gehangen hatte, weil sie sich einfach nicht hatte durchringen können, es abzuhängen.

Arm in Arm strahlten sie in die Kamera, glückliche, hoffnungsvolle Abiturientinnen – es fühlte sich an, als sei das ewig her. Da hatten sie noch beide geglaubt, dass nichts ihrer Freundschaft etwas anhaben konnte.

Warum habe ich es mitgebracht? Ich werde es nicht aufhängen.

Mit einem Mal fühlte sie sich so erschöpft, als habe sie einen Tag lang in einem Steinbruch gearbeitet. Die Fotos konnten warten, entschied sie und schob Guadalupes Bild zurück in den Brustbeutel. Sie brauchte eine Dusche und danach eine kurze Siesta, um gerüstet zu sein, die Geheimnisse von Arequipa zu entdecken.

Guadalupes Arequipa.

Berlin, am 24. Mai 1946

Meine geliebte Guadalupe,

ich hoffe so inständig, dass dieser Brief Dich erreicht und ich eine Antwort erhalten werde. Ich habe an Deine Familie geschrieben, an das Kloster, nun sende ich meinen Brief an Tacho; er wird Dich ausfindig machen, das weiß ich. Er ist ein guter Freund.

Das Schweigen und die Ungewissheit sind das Schlimmste. Jetzt meine ich zu wissen, wie es sich im Krieg angefühlt hat für alle, die daheim auf ihre Männer, Väter und Brüder warteten. Nun ist es umgekehrt, als würde ich, der alte Soldat, auf Post von einer fernen Front hoffen.

Magda ist sehr still geworden, das schreibe ich Dir nicht als Vorwurf, sondern weil ich denke, Du willst und musst es wissen. Manchmal steht sie stundenlang am Wohnzimmerfenster, hält die Puppe an sich gedrückt, die Du damals für sie genäht hast (ein zerlumptes, kleines Ding mittlerweile, aber Magda liebt sie so sehr) und sieht nach draußen. Anfangs habe ich versucht, sie abzulenken, aber sie scheint mich dann gar nicht zu hören. Es kann einem Angst machen, wie sie dort steht und ganz regungslos die Straße betrachtet. Sie erklärt es nie, aber ich bin mir sicher, dass sie auf Dich wartet. Und wenn ich könnte, mein Herz, ich würde nichts tun, als an ihrer Seite zu stehen und auf die Straße zu blicken, immer in der Hoffnung, dass Du um die Ecke biegen wirst, dass ich Deine vertraute Gestalt sehe, dass Du die Hand hebst und uns zuwinkst, weil Du uns hinter den Gardinen erahnst.

Ich habe Dir in meinem letzten Brief schon so viel von Trümmern und Staub geschrieben, dass ich es nicht wiederholen möchte. Wahrscheinlich möchtest Du es auch gar nicht noch einmal lesen. Schweigst Du, weil Dich der Gedanke an all die Zerstörung verstummen lässt? Bleibst Du fort, weil Du in dieses zerstörte Land nicht zurückkehren willst? Ich kann es verstehen. Wenn ich die Sonne und die Farben Arequipas hätte, ich würde sie nicht eintauschen gegen Deutschlands Grau und all das Blut. Guadalupe, Du musst nicht zurückkehren, wenn Du es nicht willst. Magda und ich, wir warten nur auf einen Wink, nur auf ein Wort. Wir werden einen Weg finden und zu Dir kommen. Diesmal wirklich. Aber ich wage es nicht, die Reise anzutreten, ohne dass ich weiß, ob Du wirklich auf uns wartest.

Ich denke so oft an Arequipa, weißt Du? An die Zeit, in der alles begonnen hat und alle Schatten so fern von uns waren. Als ich Santa Catalina betrat, habe ich den Tod erwartet. Der alte Agustín, der ansonsten Eure Toten fotografieren kam, hat mich an seiner Stelle zu Euch geschickt, damit ich die verbotene Welt hinter den Klostermauern sehen konnte. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber bestimmt nicht diese strahlenden Farben, diese Lebendigkeit inmitten der Stille. Und bestimmt nicht Dich, mein Leben, meine Liebe.

Ich weiß noch, wie ich Dich das erste Mal sah. Ich dachte, dass ich Dir Angst einjagte, so schüchtern war Dein Lächeln. Und doch strahlte aus Deinen Augen eine Lebenslust, die nicht zu Deinem Habit passen wollte. Ich erinnere mich, wie Du näher kamst und vorsichtig über meine Kamera gestrichen hast. Später habe ich immer gesagt, dass Du Dich zuerst in die Kamera und dann erst in mich verliebt hast, und ein Quäntchen Wahrheit mag darin sein, nicht wahr?

Die Fotografie hat Dich fasziniert. Einfangen, was die Seele sieht, hast Du einmal gesagt, das war noch ganz am Anfang, als wir auf dem Rand des kleinen Springbrunnens saßen und die Plätzchen mit der Milchcreme aßen. Du hast sofort verstanden, dass Fotografie mehr ist als der schnelle Blick durch den Sucher, der mechanische Druck auf den Auslöser. Das ist eines der Dinge, die ich sofort an Dir geliebt habe.

Ich weiß bis heute nicht, wie Du es wirklich angestellt hast, dass wir uns wiedersehen durften, wie Du Deine Mutter Oberin überzeugt hast, mich wieder ins Kloster zu lassen. Dein sprudelndes, quicklebendiges Spanisch habe ich damals noch nicht in allen Einzelheiten verstanden, auch wenn Du immer wieder gespürt hast, wenn Du mich unterwegs verloren hattest. Du hast gelächelt, mit großer Vertraulichkeit nach meiner Hand gegriffen und langsamer weitergesprochen, bis Du spürtest, dass ich mich entspannte im Fluss Deiner Worte.

Es hatte immer etwas von einem Abenteuer. Ich durfte kommen, um das Kloster zu fotografieren, aber es musste durch die Seitenpforte an der Westmauer sein, immer zur Nachmittagszeit, wenn die Straße dort in trägem Schlummer lag. Dann musste ich keine Entdeckung fürchten. Bis heute spüre ich mein Herzklopfen, wenn ich vor der Pforte auf Dich wartete. Immer wieder die bange Frage, ob Du kommen und mir öffnen würdest. Wenn ich das Geräusch des rostigen Schlüssels in dem vergessenen Schloss hörte, das mühselige Quietschen in den Angeln, dann wurden meine Hände feucht, weil ich dachte, dass mir heute vielleicht eine Fremde gegenüberstehen würde, eine zerknitterte alte Nonne ohne Glanz in den Augen. Aber du warst immer da, immer lächelnd, im Sonnenlicht.

Zwei Wochen, Guadalupe, in denen Du mir Santa Catalina in all seiner Schönheit geschenkt hast. Wir teilten das Wissen um all die kleinen Mysterien, die vergessenen Winkel, die stummen Zellen, die Erinnerung von Jahrhunderten, die in den gemauerten Gassen schläft. Du zeigtest mir Santa Catalina, und ich zeigte Dir die Fotografie. Mit jeder Berührung bist Du mehr ein Teil meiner Welt geworden. Mit jedem Tag habe ich weniger verstanden, wie ich ohne Dich gewesen war – und mehr noch, wie ich wieder ohne Dich sein sollte. Wie oft saßen wir auf der kleinen Dachterrasse, deinem Lieblingsplatz mit Blick über die Stadt. Seite an Seite, der Stein in unserem Rücken war kühl, und unsere Hände wollten einander nicht loslassen. Du hast gesagt, wir wären wie Papierschiffchen, die auf einem wilden Fluss tanzten, einander nah für den Augenblick und trotzdem hilflos gegen die Strömungen, die uns voneinander fortreißen würden. Ich liebe die Bilder, die Du mit Deinen Worten zeichnest, Guadalupe. Während ich dies schreibe, spüre ich wieder die Wärme Deines Körpers dicht neben mir. Das Gewicht Deines Kopfes, der vertrauensvoll an meiner Schulter lehnt. Den sanften Druck Deiner Finger um die meinen.

»Manchmal ist es gut, die verbotenen Dinge zu tun«, hast Du gesagt, »weil sie die richtigen sind. Können sie falsch sein, wenn sie uns so glücklich machen?«

Dass Du mir vorschlugst, mit mir zu kommen und alles hinter Dir zu lassen, nahm mir den Atem. Du hast für mich verbotene Dinge getan und die Farben Arequipas aufgegeben. Manchmal frage ich mich, ob Du jetzt überhaupt nach Arequipa zurückgegangen bist, ob meine Briefe Dich nicht verfehlen. Vielleicht sollte ich Papierschiffchen aus ihnen falten. Aber auf welchem Fluss sollten sie fahren, um Dich zu finden, Guadalupe?

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich Dich wiederfinde. Dass Du Dich ein weiteres Mal für mich entscheidest, für mich und unsere Tochter, die Dich so vermisst. Schreib uns, mein Herz. Und wenn es nur ein paar hingeworfene Worte sind. Aber schreib uns, ich flehe Dich an, lass uns nicht länger im Ungewissen.

Ich sende Dir Grüße und Küsse, auch von unserer Magda. Sie steht am Fenster, während ich dies schreibe. Sie ist so ein großes, ernstes Kind geworden.

In Liebe, Dein Max

2. Kapitel

Ein nachdrückliches Klopfen weckte Blanca, sie schreckte hoch und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war zwanzig nach vier. Verdammt! Sie hatte doch nur einmal kurz die Augen schließen wollen.

Hastig stand sie auf und griff nach ihrer Kameratasche. Wie üblich hatte sie das Gefühl, dass sie erst dann richtig angekommen sein würde, wenn sie die ersten Eindrücke auf ihren Film gebannt hatte.

Sie prüfte den Riemen der Tasche, zögerte und verstaute dann die Fourierlinse an der Silberkette im Seitenfach. Das war ein Talisman, auf den sie bei dieser Reise nicht verzichten wollte. Auch den Brustbeutel streifte sie sich wieder über.

Erst dann öffnete sie die Zimmertür.

»Hola!« Ein Mädchen in ihrem Alter strahlte sie an. Dunkle Augen, glattes kastanienbraunes Haar, Bluse und Bleistiftrock. Schon die zwei Silben Spanisch verrieten, dass sie keine Muttersprachlerin war – Blanca glaubte einen französischen Akzent zu erkennen. »Ich bin Claire. Ich dachte, ich komme dich mal holen.«

»Danke. Sorry, ich bin einfach eingeschlafen.« Im direkten Vergleich fand Blanca ihre spanische Aussprache gar nicht so übel, und das beruhigte sie irgendwie. Sie kramte nach dem altmodischen Schlüssel, um ihre Zimmertür abzuschließen, und fragte sich insgeheim, ob sie mit ihrem T-Shirt und ihrer Jeans zu leger für die Akademie angezogen war. Aber Francisco hatte schließlich auch nicht den Eindruck erweckt, viel Wert auf schicke Kleidung zu legen. Wahrscheinlich war das einfach Claires Geschmack.

»Ach, ist nicht schlimm. Du bist auch heute erst angekommen, nicht wahr? Dann ist klar, dass du müde bist.« Claire sprach flüssig, und der französische Akzent hatte etwas Charmantes. Außerdem wirkte ihr Lächeln ehrlich und warm. Es erinnerte Blanca an Laura, und sogleich erschien ihr Claire viel vertrauter.

Der Rest der Stipendiaten wartete draußen auf sie, auch Francisco war bereits da. Er lächelte nur, als Blanca zu einer Entschuldigung für ihre Verspätung ansetzte, winkte ab und begann die einzelnen Kursteilnehmer vorzustellen.

Tommy und Cole kamen von derselben Fotoschule in Boston, waren locker gekleidet und strahlten tiefe Entspanntheit aus. Jennifer studierte in London. Sie hatte kantige Gesichtszüge und wirkte mit ihrem verkniffenen Mund sehr streng. Aber vielleicht würde sie im täglichen Umgang freundlicher sein. Noemi kam aus Valencia, hatte einen milchkaffeefarbenen Teint, eine wallende dunkle Lockenmähne und ein schüchternes Lächeln, das sie Blanca auf Anhieb sympathisch machte. Pablo war der einzige Peruaner unter ihnen und studierte an einer anderen Privatakademie in Lima. Klein, zart und sehr blass wirkte er wie eine filigrane Marmorskulptur. Wegen seiner unbewegten Miene konnte Blanca sein Alter schwer einschätzen.

Das also waren die Leute, mit denen sie die nächsten Monate gemeinsam verbringen würde. Ihr fiel auf, dass sie die Einzige war, die für dieses Treffen ihre Kamera mitgebracht hatte, und seltsamerweise empfand sie so etwas wie leisen Stolz darüber. Als ob dieser kleine Unterschied sie zu einer besseren Fotografin machte als den Rest der Gruppe. Erschrocken verdrängte Blanca diesen Gedanken.

Die Gruppe setzte sich bereits in Bewegung. Mit jedem Schritt tauschten sie ein Stück des Flussrauschens gegen den Lärm der Hauptstraße ein.

Aufmerksam spähte Blanca um sich und lauschte. Kleine Busse, in denen sich die Passagiere stapelten, veranstalteten ein dissonantes Konzert hell quäkender Hupen; Taxis drängten sich in einem zähen Fluss über den Asphalt. Blanca war froh, dass sie selbst nur die wuchtige Steinbrücke über dem Río Chili überqueren musste. Neugierig ließ sie ihren Blick über die Häuser schweifen. Obwohl viele von ihnen ebenso alt wie das Gästehaus wirkten, reichte keines an die verspielte Eleganz der blauen Fassade heran. Stattdessen sah Blanca bröckelnden Putz und von Abgasen geschwärzte Wände.

»Manche Ecken hier sind sehr dreckig«, bemerkte Claire neben ihr, als habe sie Blancas Gedanken gelesen. »Und das, obwohl die Altstadt zum Weltkulturerbe gehört.«

Francisco lotste sie einige Schritte von der Hauptstraße fort und blieb nach einigen hundert Metern vor einem Haus stehen, dessen Fassade früher blendend weiß gewesen sein musste. Ein Schild hing über der wuchtigen Eingangstür: Academia Fotográfica de Arequipa.

»Dieses Haus hat nicht nur einen guten Ausblick, sondern auch Tradition«, erklärte Francisco und pochte wie zur Bestätigung mit den Fingerknöcheln auf das dunkle Holz der Tür. »Es ist Familienbesitz, und schon mein Großvater hatte hier sein Fotoatelier. Das war in den zwanziger Jahren, ein goldenes Zeitalter für die Fotografie in unserer Stadt. Ihr habt vielleicht von Max Vargas und Emilio Díaz gehört. Nun, die Fotografen der Familie Quiroz müssen sich hinter diesen Namen nicht verstecken …«

Die Tür wurde geöffnet, und Blanca verstand, dass das Pochen weitaus mehr als begleitende Untermalung von Franciscos Worten gewesen war, sondern ein Signal. Ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig, hatte ihnen die Tür geöffnet. Blanca sah verwuscheltes schwarzes Haar und dunkle Augen, deren Blick auf den Boden geheftet blieb. Ein Anflug von Trotz lag in seinem Gesicht. Fast, als wäre er nicht wirklich erfreut über die Ankunft der Gruppe. Blanca konnte nicht anders, als den Blick über seinen schlabberigen Pullover streifen zu lassen, der eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte. Wer das wohl war? Blanca nahm sich vor, Francisco später danach zu fragen.

Ohne ein Wort an den jungen Mann zu verlieren, führte Francisco die kleine Gruppe in einen gepflasterten Hof, in dessen Mitte ein kleiner Springbrunnen vor sich hin plätscherte. Von innen wirkte das Gebäude der Akademie weitaus gepflegter, als die heruntergekommene Außenfassade nahelegte. Ein schattiger Säulengang zog sich an drei Seiten um den Hof, und an den Wänden hingen großformatige Schwarzweißfotografien. Vor einem der Bilder blieb Francisco stehen.

»Ein weiteres Mal: herzlich willkommen in der Akademie Quiroz. Ich freue mich, eine Gruppe so sympathischer und talentierter junger Menschen hier versammelt zu wissen. Bevor ich einige Worte zu unserem Programm in den nächsten Wochen sage …« Francisco lächelte, verschränkte die Arme und blickte auf das Foto an der Wand. »Kennt jemand von euch diese Bilder?«

Blanca biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich war sie recht gut darin, die Aufnahmen bekannter Fotografen zuzuordnen und auseinanderzuhalten. In ihrer letzten Seminararbeit hatte sie sich sogar mit einer Reihe peruanischer Fotografen beschäftigt und wusste, wer Vargas und Díaz waren, die Francisco erwähnt hatte.

Darüber hinaus erschien ihr das Bild, vor dem sie jetzt standen, seltsam vertraut. Und gleichzeitig wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass sie es noch nie zuvor gesehen hatte.

Das Foto zeigte eine alte Frau, die direkt in die Kamera blickte. Ihr Gesicht war von kleinen Fältchen durchzogen, die sich besonders um die Augen und Mundwinkel tief eingegraben und ihrer Miene eine harte Bitterkeit verliehen hatten. Das Haar war zu einem strengen Zopf geflochten, einzelne Strähnen schienen jedoch im Wind zu flattern. Eine Faust hatte sie vor der Brust geballt, hielt eine Handvoll Körner darin, vielleicht Mais. Hinter der Frau verschwamm der lebhafte Trubel einer Marktszene, aber sie selbst war in atemberaubender Schärfe gezeichnet, alle Kontraste perfekt ausbalanciert. Selten zuvor hatte Blanca eine derart lebendige Schwarzweißaufnahme gesehen. Es war ein wundervolles Bild, und doch konnte Blanca einzig und allein sagen, dass es von keinem der Fotografen stammte, die sie kannte.

Jemand neben ihr hob die Hand. Es war Pablo, der Student aus Lima.

»Das sind die Alltagsbilder von Anastasio Quiroz, nicht wahr? Mosaike einer Schattenwelt?« Er formulierte es als Frage, aber die Sicherheit in seiner Stimme zeigte, dass er genau wusste, wovon er sprach.

Francisco nickte mit deutlicher Zufriedenheit. »Genau. Ich denke, ihr werdet genug Gelegenheit haben, euch diese Bilderreihe anzusehen. Sie bildet das Herzstück in der Arbeit meines Großvaters: Alltagsansichten aus der einfachen Bevölkerung. Meisterhafte Aufnahmen, die in handwerklicher Perfektion und Ausdrucksstärke ihresgleichen suchen. Und das sage ich nicht nur, weil er mein Großvater war. Diese Bilder haben ihn damals über die Grenzen Perus hinaus berühmt gemacht. Mein Großvater hat es schwer gehabt. Immer wieder wurden ihm Steine in den Weg gelegt, sein Talent verleugnet, seine Fähigkeiten herabgewürdigt. Aber er hat nie aufgegeben.« Er seufzte. »Am Beispiel dieses Porträts seht ihr, denke ich, was einen wirklich guten Fotografen ausmacht. Deswegen habe ich unseren Rundgang hier begonnen, um euch auf das einzustimmen, was euch erwartet. Wir sind sehr unterschiedlich. Aber uns verbindet die Liebe zur Fotografie, und dafür seid ihr an den richtigen Ort gekommen. In den kommenden Wochen werden wir intensiv miteinander arbeiten. Ich möchte eure Fähigkeiten in der Bildgestaltung perfektionieren, euch zeigen, was man mit den Lichtverhältnissen machen kann, wie man mit Perspektive und Kontrast spielt, kurz: wie man das Handwerkszeug des Fotografen einsetzt. Ich denke, an euren Hochschulen habt ihr einiges über Digitalfotografie und ihre Möglichkeiten gelernt. Ich schätze sie, aber in der Akademie Quiroz werden wir ganz altmodisch arbeiten. Meine Arbeiten sind analog, und das aus Überzeugung. Ihr sollt euch in den nächsten Wochen klarwerden, was eure persönliche Bildsprache, eure eigene Ausdrucksweise ist. Denn ich bin überzeugt, dass jeder Fotograf darin unverwechselbar ist.« Während seiner kurzen Rede hatte er von einem zum anderen geschaut und Blanca hatte das Gefühl, dass sein Blick an ihr einen Wimpernschlag länger hängen blieb als an den restlichen Stipendiaten.

»Deswegen«, fuhr Francisco fort, »werde ich euch fordern. Ihr seid hier, weil ihr von euren Hochschulen ein Stipendium erhalten habt. Ein Stipendium gibt es nur für besondere Leistungen. Das bedeutet, dass ihr alle Talent habt. Fotografie in ihrer höchsten Form ist mehr als Handwerk. Sie ist Kunst. Sie berührt die Menschen und zeigt Bilder, in denen sich Schicksale und Geschichten verbergen.«

Blancas Herz klopfte. Franciscos Worte hatten etwas in ihr ausgelöst, das sie sich selbst nicht erklären konnte. Es würde ein guter Sommer werden, soviel wusste sie mit Bestimmtheit.

»Und weil ich überzeugt bin, dass jeder von euch die Fähigkeit mitbringt, Großes zu leisten«, sagte Francisco, »habe ich einen besonderen Anreiz für euch.« Sein Lächeln erinnerte Blanca an einen stolzen Vater. »Ich arbeite seit Jahren mit dem Centro Artístico zusammen, einer Institution der städtischen Kulturszene. Es wurde 1890 gegründet, eine Zeitlang von Größen wie Max Vargas unterstützt und ist dann allerdings jahrzehntelang in Vergessenheit geraten. Im Gedenken an meinen Großvater Anastasio habe ich mich dafür eingesetzt, es wieder ins Leben zu rufen, und nun besitzt es wieder Renommee weit über die Stadtgrenzen hinaus. Am Ende der Sommerschule wird es in den Räumlichkeiten des Instituts eine Fotoausstellung geben.« Er schaute uns erwartungsvoll an. »Wir konnten das größte Fotofachgeschäft Arequipas als Sponsor gewinnen: Der Gewinner darf sich eine hochwertige Spiegelreflexkamera und einiges an Zubehör aus dem Sortiment aussuchen. Die Details gebe ich euch bald noch schriftlich. Die nächsten Monate werden für euch nicht nur eine Zeit des Lernens sein, es wird auch ein Wettbewerb sein. Jeder von euch hat die Chance, mich und die Herren vom Centro Artístico mit seinen Aufnahmen zu überzeugen. Ihr werdet im Laufe eures Aufenthalts eine Bewerbungsmappe erstellen. Und der mit den besten Arbeiten, mit dem hochwertigsten Portfolio, wird im Zentrum dieser Ausstellung stehen.«

Nur das Plätschern des Springbrunnens folgte seinen Worten, ansonsten war es still. Blanca betrachtete die anderen Stipendiaten aus den Augenwinkeln. Franciscos Worte hatten bei ihnen allen die gleiche Reaktion hervorgerufen. Eine eigene Fotoausstellung war in der Tat etwas, wovon sie alle träumten.

Blanca strich über ihre Kameratasche und erinnerte sich an die lobenden Worte ihrer Dozenten daheim. Sie war gut. Wenn sie sich anstrengte, wenn sie verinnerlichte, was Francisco ihnen beibringen würde, dann standen ihre Chancen nicht schlecht, ihre eigene Ausstellung zu bekommen. Jedenfalls hoffte sie das. Ob es ihr aber gelingen würde, Bilder zustande zu bringen, die auch nur ansatzweise an die Ausdruckskraft der Quiroz-Aufnahmen heranreichten?

Oder an die meines Urgroßvaters, an sein Porträt von Guadalupe? Blanca dachte an die Fotografie, die sie im Brustbeutel unter ihrem T-Shirt trug. In den nächsten Tagen würde sich bestimmt die Gelegenheit ergeben, im Kloster oder im Stadtarchiv mit der Suche zu beginnen.

»Über den genauen Ablauf des Wettbewerbs werden wir in den nächsten Tagen sprechen. Aber jetzt möchte ich euch die Arbeitsräume und das Labor unserer Akademie zeigen. Und das Studio meines Großvaters, das wir so belassen haben, wie es war. Ab und zu öffne ich es für interessierte Touristen.«

»Entschuldigung.« Noemi hob die Hand und warf einen unsicheren Blick über die Schulter. »Wer ist der Junge, der uns die Tür geöffnet hat?«

Blanca stellte fest, dass sie ihn über den Eindruck der Quiroz-Fotografie und den Reiz des Wettbewerbs vollkommen vergessen hatte.

»Oh.« Francisco lächelte. »Das ist Emilio, mein Assistent. Er ist sehr fähig und geht mir gut zur Hand. Kommt! Ich will euch die Dachterrasse zeigen, und zwar noch im Hellen!«

Er nickte der Gruppe zu und eilte den Säulengang entlang.