DANIEL ILLGER

DER PFAD DES
SCHWARZEN LICHTS

Klett-Cotta

Impressum

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Hobbit Presse

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© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag und Karten: wunderlandt.com

Illustration: © wunderlandt.com, Veronika Wunderer

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94642-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10768-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Hexen,
Hochlandrinder
und
kleine Tiere

Weiss. Die älteste Farbe. Sie brennt.

Erika Burkart

Inhalt

TEIL 1

Prolog

1 Ein Kind der Bösen Ernte

2 Mein Bruder Cay

3 Die Lichtung im Wald

4 Dreizehn Sommer, zwölf Winter

5 Das Königreich aus Wind und Dunkelheit

6 Sterne in der Erde

7 Die Wandlung

8 Die Magd und der Ritter

9 Schatten auf den Hügeln

10 Der Seelenruf

11 Das Verbrechen

12 Die fröhlichen Toten

13 Pläne

TEIL II

Prolog

1 Eier, Speck und Staub

2 Aufbruch

3 Fremde Pfade

4 Ein Schädel auf Reisen

5 Tausend Lichter

6 Die Perlen der Verdammnis

7 Väter, Söhne, Huren

8 Der Dorn und die Made

9 Regeln

10 Unter der Totenstadt

11 Die Strafe

12 Maßnahmen

13 In einer mondroten Nacht

14 Trennung

15 Blut ist dicker als Wasser

16 Der Auftrag

17 Das Opfer

18 Der Pfad des Schwarzen Lichts

19 Wiedergutmachung

20 Die Geisterreiter

21 Nach dem Kampf

22 Morgengrauen

TEIL III

Prolog

1 Ein anderes Land, eine andere Zeit

2 Erwachen

3 Nehmen und Geben

4 Alte Geschichten

5 Die Sache mit Glenna

6 Skargats Jäger

7 Wenn der Nebel kommt

8 Ein Fluss namens Rhaln

9 In der Feste

10 Warten

11 Letzte Worte

12 Entscheidungen

13 Der Stern und das Schwert

14 Verloren

15 Der schönste Tag

16 Der Palast der Toten

17 Fragen und Antworten

18 Der Ascheberg

19 Dunkle Dinge

20 Ein Spaziergang in der Sonne

21 Fieber

22 Reparaturen

23 Die andere Seite der Nacht

24 Die Versammlung

25 Der Prinzipal

26 Der Jäger und die Hexe

27 Der Gast

28 Ein kleiner Gefallen

29 Am Wegkreuz

30 Unverhofftes Wiedersehen

Epilog

Karten

Danksagung

TEIL I

Solange es wehtut, ist es Leben.

Tomen von Gethar, Medikus aus Donost

PROLOG

Ziehen wir aus, heut’ Nacht?«, fragte der Schwarze Jäger. Wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte.

Jubelrufe antworteten ihm. Sie klangen machtvoll und triumphierend, zugleich seltsam hohl, als kämen sie von sehr weit her.

Der Schwarze Jäger wartete einen Moment. Dann stimmte er in das Gebrüll ein. Er riss einen gewaltigen Spieß über seinen Kopf. Den Stab hielt er mit beiden Händen umfasst, in einer wilden, stolzen Geste. Die Klinge war aus schwarzem Metall geschmiedet; mächtige Zacken und Widerhaken stießen aus ihr hervor.

Als der Jubel verklungen war, stellte der Schwarze Jäger die zweite Frage: »Und für wen ziehen wir aus?« Er musste nicht lange auf seine Antworten warten.

»Für den Wanderer auf dunkler Straße«, sagte der erste Reiter.

»Für die Magd auf verlassener Heide«, sagte der zweite Reiter.

»Für den Hirten in einsamen Hügeln«, sagte der dritte Reiter.

»Für die Verirrten und Verlorenen«, grollte eine rauhe, harsche Stimme.

»Für die, die ihren Weg gefunden haben«, wisperte eine dürre Frauenstimme. Sie schien in den Wind einzugehen, der um die Ruine blies. Auf seinen zerzausten Flügeln drang sie bis in die hintersten Winkel des Gemäuers vor.

So erreichte sie auch die Ohren des Mannes, der sich im Schutz des Torbogens verborgen hielt. Da waren noch mehr Stimmen. Mehr Antworten. Doch der Mann war nun zu aufgeregt, um länger zuhören zu können. Er wusste, dass es so weit war. Der Augenblick, auf den er so lange gewartet, den er herbeigesehnt und gefürchtet hatte – er war endlich gekommen.

Noch als er seinen Weg durch den dunklen Wald gesucht hatte – nur mit einer verrußten Sturmlaterne ausgestattet, aus Sorge, man könnte ihn vor der Zeit bemerken –, hatte er sich gefragt, ob er seinen Entscheidungen würde standhalten können. Daran, dass die anderen dies nicht konnten, hatte er keine Sekunde gezweifelt. Deshalb war er allein gekommen. Und das war gut und richtig. Schließlich war alles, was in seinem Leben zählte, in Einsamkeit geschehen. Und so würde es auch in dieser Nacht sein.

Der Mann strich sich die Haare aus dem Gesicht. Dann trat er hinter dem Torbogen hervor. Er hatte Dinge getan, die Henker und Nekromanten erbleichen lassen würden. Dennoch musste er seinen Willen aufs äußerste anspannen, um diesen einen kleinen Schritt zu machen. Ein letztes Mal sah er sich um. Als könnte ihm das Wissen, wo er sich befand, einen Halt in der Wirklichkeit geben, die er nun verlassen würde. Dabei war die uralte Klosterruine ein Ort, den sogar die Räuberbanden, die im Mahrwald ihr Unwesen trieben, zu meiden suchten.

Während er langsam, ganz langsam, auf die Stimmen zuging, dachte der Mann an die Geschichte des Klosters. Für ihn war es eine alte, längst vertraute Geschichte, beruhigend und besänftigend in ihrer Schrecklichkeit: Vor hundert Jahren und mehr war hier ein Sitz der Bruderschaft des Zweiten Todes gewesen – jener Thaala geweihte Kriegerorden, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die unheilige Brut, deren Dasein das Gesetz der Vergänglichkeit verhöhnte, ohne Erbarmen zu verfolgen und bis zum Letzten auszurotten. Doch es schien, dass sich die Ordenskrieger zu tief in die Dunkelheit hineinbegeben hatten. Anstatt sie mit dem Licht ihres Glaubens zu bannen, wurden sie von ihr verschluckt. Bald schon strebten sie nur noch danach, hinter die Geheimnisse der Untoten, Wiedergänger und Werwesen zu kommen, die sie doch hätten vernichten sollen.

Wie so viele andere vor ihnen, wollten die Abtrünnigen den einen Sieg erringen, der jeden weiteren Kampf unnötig machen würde. Den Sieg über den Tod. Und wie so viele andere vor ihnen, wussten die Ordenskrieger keinen Weg, den Tod zu besiegen, als ihn auf seinem eigenen Gebiet herauszufordern.

Die Dörfer, die nah dem Waldrand lagen – an der längst überwucherten Straße, die damals zum Kloster geführt hatte –, zahlten den Blutzoll dieser Herausforderung. Die Abtrünnigen verschleppten Dutzende Männer, Frauen und Kinder. Sie wurden in unterirdische Verliese gesperrt, und nur die Götter wissen, was dort mit ihnen geschah. Es kam vor, dass Schreie vom Wald her hallten. Dann verrammelten die Bauern ihre Türen und Fenster.

Über ein Jahr lang ging das so. Bis die Kunde von den Ereignissen schließlich Elaahs Hohen Tempel zu Mandris erreichte. Gemeinsam mit Ordensbrüdern der abtrünnigen Thaala-Streiter zogen die Sonnenrichter gegen das Kloster aus. Nicht einmal der Wintereinbruch konnte sie aufhalten. An einem vor Eiseskälte klirrenden Tag kam es zum Kampf. Die Frevler leisteten erbitterten Widerstand – was hätten sie auch sonst tun sollen? Namenlose Kreaturen, aus der jenseitigen Finsternis hervorgezerrt, stellten sich den Geweihten und Kriegern entgegen.

Es hieß, dass der Schnee nicht all das Blut hatte aufnehmen können, welches an diesem Tag vergossen wurde.

Es hieß, das vergossene Blut sei nicht nur rot gewesen.

Die Abtrünnigen, die nicht das Glück hatten, durch das Schwert zu fallen, starben auf dem Scheiterhaufen, oder sie wurden in ihre eigenen Verliese eingemauert, wo sie in lichtloser Fäulnis zugrunde gingen. Das Kloster selbst aber wurde in Brand gesteckt und zu einem verfluchten Ort erklärt. Einem Ort, der für Elaahs Gnade verloren war. Kein Rechtgläubiger sollte ihn betreten, so lange im Gedächtnis der Menschen das Wissen darum bewahrt wurde, was hier geschehen war.

Trotz seiner Anspannung musste der Mann lächeln, als er sich die frommen Priester und Ritter vorstellte, all die glaubensstrengen Eiferer, wie sie in heiligem Zorn die Abtrünnigen niederstreckten. Er fragte sich, was sie wohl gesagt hätten, hätten sie gewusst, wer in der heutigen Nacht hinter den geschwärzten Mauern des ehemaligen Klosters versammelt war.

Doch auch die Horde kannte nicht die wahre Bedeutung des Klosters. Für sie war es nur ein weiterer Unterschlupf. Einer der dunklen Plätze, die sie auf ihrer endlosen Reise durch die Nacht aufsuchte, um Rast zu halten, bis die Zeit für die nächste Jagd gekommen war. Der Mann aber wusste es besser. Er wusste, dass die abtrünnigen Ordenskrieger am Ende triumphiert hatten. In ihrem Untergang hatten sie den größten Sieg errungen: Ihre Todesschreie gellten über den Rand der Welt hinaus und fanden ein Echo in der namenlosen Kälte, die kein Segen je erreicht. Denn wenn so viele, die dem weißen Licht hätten dienen sollen, sich dem schwarzen Licht zuwandten, dann hatte das Folgen. Sinkt die linke Schale, steigt die rechte. Das war immer so gewesen, obgleich fast alle es vergessen zu haben schienen – Bettler wie Könige. Was aber geschah, wenn in der einen Schale fast kein Gewicht übrig blieb, wenn sie leicht geworden war, allzu leicht? War es dann nicht an der Zeit, die Waage umzustürzen und demjenigen ins Gesicht zu lachen, der sich angemaßt hatte, die Summe von Gewinn und Verlust zu bestimmen?

Vielleicht würde es schon bald so weit sein. Und vielleicht – wenn auch sein Bruder in Ahekris das Nötige tat; er, den der Mann nie gesehen und dessen Stimme er nie gehört hatte; er, sein Bruder und sein Herr –, vielleicht würde man irgendwann einmal sagen, dass in dieser Nacht alles begonnen hatte. Das war ein Gedanke, der ihm Mut gab. Er machte einen Schritt nach vorne. Dann noch einen.

Schon spiegelte sich das Feuer, um welches die geisterhaften Jäger versammelt waren, in den Augen des Mannes wider. Es war ein schwarzes Feuer, das grelle, zuckende Lichter gegen die halb verfallenen Wände der Klostergebäude warf. Obwohl es den Innenhof fast völlig erleuchtete, war es unmöglich, die Gestalten richtig zu erkennen, die am Rand des Flammenkreises standen. Es waren furchteinflößende Schatten. Sie schienen in Felle gehüllt und trugen Waffen, die an irdische Jagdwerkzeuge gemahnten, zugleich aber fremd waren in ihrer Grausamkeit.

Drei der Gestalten unterschieden sich von dem Rest: Da war ein riesiger Wolf, der in einem Winkel des Hofes kauerte; das war Garoy. Da war ein altes Weib, das sich auf einen knorrigen Stab stützte; das war die Luziera. Und da war er, den sie den Schwarzen Jäger nannten: der Anführer der Horde. Sein Umhang schien aus Dornenranken gewirkt, seine Haare waren wie Moos und Flechten und verfaultes Laub, und drei lange, gebogene Hörner ragten aus seinem Schädel hervor. Es wirkte, als wäre er größer als all die anderen. Vielleicht war er aber nur dunkler, oder strahlender in seiner Schwärze.

Erneut erklang seine Stimme. »Dann lasst die Jagd beginnen!«, schrie er und ballte die Rechte zur Faust.

Unter den Jubel, der nun ertönte, mischten sich das Schnauben der Rösser, auf denen die Nachtgeister reiten würden, und das wütende Gebell der Hunde, die ihre Beute hetzen würden. Die Augen der Pferde waren glutrot, ihr Fell schneeweiß. Auch die Hunde, welche die Größe von Kälbern erreichten, hatten weißes Fell. Weißes Fell und rote, gezackte Ohren.

So sehr der Mann sich auch anstrengte – viel mehr konnte er nicht erkennen. Es war verstörend, etwas zu sehen und zugleich nicht zu sehen. Doch er ahnte, was vor sich ging. Er hatte die Tür einen Spalt weit geöffnet: Es reichte, um auf die andere Seite zu blicken; aber es reichte nicht, um wirklich dort zu sein. Dass er zwischen ihnen und der Menschenwelt stand, war auch der einzige Grund, warum die gespenstischen Jäger ihn noch nicht bemerkt hatten. Das würde sich jedoch ändern.

Es musste sich ändern.

Denn bald schon würden sie in den dunklen Himmel hineingaloppieren.Dann wären seine Mühen vergeblich gewesen. Und all seine Opfer wären nichtig.

Der Mann machte zwei weitere Schritte in Richtung des schwarzen Feuers und des Schwarzen Jägers.

Da endlich witterte ihn einer der weißen Hunde, über die Kluft des Todes hinweg. Er riss den Kopf zur Seite, legte die Ohren an und fletschte die Zähne, die wie in Teer getauchte Dolchspitzen waren. Dabei stieß er ein böses Knurren aus. Der Mann wagte nicht, den Fuß aufzusetzen; er bekam das Gefühl, als würde sich etwas Schartiges in seine Eingeweide graben. Trotz der Kühle der Herbstnacht lief ihm der Schweiß über das Gesicht. Er wünschte, es wäre nicht gar so finster. Aber kein Mond schien, und keine Sterne blinkten.

In den wenigen Augenblicken, die ihm blieben, bevor er sich der Horde stellen musste, fragte sich der Mann, wann er zuletzt eine solche Angst gehabt hatte. Vielleicht in jenen entsetzlichen Nächten, als er, fast ein Junge noch, zum ersten Mal die Wahrheit begriffen hatte: die Wahrheit über sich selbst und sein Schicksal; die Wahrheit über den Weg, den er zu gehen hatte. In grausamen, bluttriefenden Träumen war sie ihm offenbart worden, und schon damals hatte er gewusst, dass der Preis hoch sein würde – unerträglich hoch. Doch auch dies hatte er gewusst: dass der Weg für ihn nur in eine Richtung führte. Ein Schritt musste dem anderen folgen, bis zum Ende.

Plötzlich fiel ihm das schwarzhaarige Bauernmädchen ein. Sie war nicht die Erste gewesen, und längst nicht die Letzte. Aber an sie dachte er öfter als an alle anderen. Öfter sogar als an diejenige, deren Kind er genommen hatte. Sie war schön gewesen. Er hatte nicht gewusst, dass Bauernmädchen so schön sein können. Und sie hatte sich gewehrt. Das hatten sie alle getan. Doch nie war ihm eine derartige Verzweiflung begegnet. Dieses Mädchen hatte wirklich leben wollen; sie hatte leben und lieben wollen. Vor allem aber: Sie hätte leben und lieben können. Als das Licht in ihren Augen brach, hatte er zum ersten Mal gespürt, dass er das Richtige tat. Und als er das Zeichen in ihr Fleisch schnitt, hatte er sich ihr ganz nah gefühlt – jener Macht, der er all seinen Schmerz und alle seine Sehnsucht gegeben hatte.

Mit einer Handbewegung brachte der Schwarze Jäger das Wutgebrüll seiner Gefährten zum Schweigen. Ebenso wie das Schnauben der Pferde und das Geheul der Hunde.

Dutzende von Gespensteraugen starrten den Mann an.

Doch er, der so lange auf diesen Moment gewartet hatte, hielt den kalten, fremden Blicken stand.

»Wenn einer von euch aus freien Stücken zu uns kommt«, sagte der Schwarze Jäger schließlich, »dann gibt es etwas, das ihm wichtiger ist als das Leben.«

Dem Mann war, als hörte er die Stimme des Schwarzen Jägers zum ersten Mal. Sie klang weder hoch noch tief. Sie klang alt. Unsagbar alt.

»Oder er will einfach sterben«, hauchte die Luziera.

Einige Herzschläge lang wartete der Mann. Er brauchte den Moment, um sich sicher zu sein, dass seine Stimme nicht zittern würde. Wie beschämend wäre es gewesen, hätte er die schicksalsschwere Feierlichkeit des Augenblicks durch einen Kiekser oder Gestammel verdorben.

Der Mann holte tief Luft. »Es gibt etwas, das ich mehr ersehne als das Leben«, sagte er.

Seine Stimme war so klein in der kalten Weite der Klosterruine.

Vielleicht lag es daran, dass er die nächsten Worte fast schrie: »Ja – ja, das gibt es!«

Die Worte schienen wie Steine vor seine Füße zu fallen.

Schweigen antwortete ihm.

In diesem Moment wurde dem Mann klar, dass das schwarze Feuer völlig lautlos brannte.

»Du kennst den Preis?«, fragte der Schwarze Jäger, nachdem eine Sekunde oder eine Stunde vergangen war. Wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte.

Der Mann dachte an das Blut, das er vergossen hatte. An die Tränen, die er verlacht hatte. An die Träume, die er zerstört hatte. Aber hatte das nicht jeder getan? Blut vergossen, Tränen verlacht und Träume zerstört? Jeder einzelne Mensch, der jemals gelebt hatte?

Wenn das stimmte, hieß es, dass ihm das wahre Grauen noch nicht begegnet war.

Wie viel Trost lag in diesem Gedanken.

»Ja«, flüsterte er. »Ich kenne den Preis.«

1
EIN KIND DER BÖSEN ERNTE

Mykar

Mein letzter Sommer war sehr heiß.

Tage- und wochenlang brannte die Sonne vom Himmel herab. Kein einziges Wölkchen zeigte sich. Wohin man auch blickte, alles war dürr und ausgetrocknet. Kleine Kinder und Greise fielen tot um und begannen zu stinken, ehe man Abschied von ihnen nehmen konnte.

Doch wir waren Bauern, und die Ernte musste eingebracht werden. Also schleppten sich die Leute in die Felder. Sie schnitten und banden den Weizen, tagein, tagaus, und kehrten verklebt von Schweiß und Staub ins Dorf zurück. Ihre Gesichter waren starr, und an den Abenden hörte man weder Gesang noch Gelächter.

»Es ist eine schlimme Zeit, wenn das Gute nicht länger gut ist«, sagte Cays Vater, der Geweihte Elaahs.

Dabei sah er mich mitleidig an. Als wüsste ich ganz genau, wovon er sprach. Alles, was ich wusste, war, dass die Erde meine Fußsohlen versengte. Und dass die alten Frauen wieder begonnen hatten, Verwünschungen zu murmeln, wenn ich mich an ihnen vorbeidrückte.

Diejenigen, deren Kraft für müßige Unterhaltungen reichte, fragten sich manchmal, wann es zuletzt so schlimm gewesen war. Natürlich kannten sie die Antwort.

Dreizehn Sommer war es jetzt her, das Jahr der Bösen Ernte. Auf einen Winter, der so kalt war, dass die Steine vor Frost zerbarsten, folgte damals ein Frühling, in dem es über Wochen hinweg regnete, immer nur regnete. Dann kam eine Gluthitze, die selbst die Schatten verbrannte. In jenem Jahr wurden Kälber mit zwei Köpfen geboren. Die Kühe gaben keine Milch mehr. Das Korn verfaulte oder verdorrte. Es überraschte niemanden, dass in einem solchen Jahr ein böses Kind geboren wurde.

Das böse Kind war ich.

Die Hebamme erkannte es daran, dass ich mit den Füßen zuerst aus dem Leib meiner Mutter kam. Ich hatte schwarze Fingernägel, spitze Zähnchen und schwarzes, struppiges Haar, das einfach nicht ausfallen wollte.

Für meinen Vater stand fest, dass ich ein Wechselbalg war. Kobolde hatten mich mit seinem wahren Sohn vertauscht, der jetzt in unterirdischen Höhlen leben und brennend scharfe Milch aus den Zitzen eines Erdweibchens trinken musste.

Die Männer stritten noch darüber, ob ich im Bach ertränkt oder auf dem Dorfplatz verbrannt werden sollte, als Illiam, der Geweihte, in die Hütte stürmte. Er war zornig, er schrie. Alles Leben sei ein Geschenk von Elaah. Alles Leben sei heilig.

»Auch das eines Skargat-Kindes?«, fragte mein Vater.

»Es gibt keine Skargat-Kinder«, sagte Illiam.

Als ich älter wurde, erzählte mir meine Mutter diese Geschichte. Nicht einmal, immer wieder. Dabei flüsterte sie, als täte sie etwas Verbotenes. Manchmal weinte sie. Sie weinte und strich mir durchs Haar. Wenn jemand kam, schickte sie mich eilig fort.

Mein Vater weinte nie. Er betrachtete mich mit harten, bitteren Blicken. Er ließ nicht zu, dass ich mit ihm redete. Es kam vor, dass er sich betrank. Dann schlug er meine Mutter. Er schlug sie, bis sie am Boden lag. Er trat ihr in den Unterleib und nannte sie Dämonenhure. Keuchend stieß er das Wort hervor. Sie wehrte sich nie. Wenn er mit ihr fertig war, bat sie ihn um Verzeihung.

Mir hat mein Vater niemals ein Haar gekrümmt. Er hat mir auch nie verziehen.

Ich freute mich, als meine Mutter wieder schwanger wurde. Da war ich acht Jahre alt. Ich freute mich, denn sie lachte jetzt häufiger. Zwei Kinder auf einmal brachte sie zur Welt: Janne, benannt nach seinem Vater, und Ebra. Meine Brüder. Sie waren gesund. Sie schrien kräftig. Am Tag ihrer Elaah-Weihe wurde ein Fest begangen. Ein Mann spielte auf einer Fiedel, ein anderer schlug die Trommel. Meine Eltern tanzten miteinander. Ich sah, wie mein Vater meine Mutter küsste. Alle waren fröhlich.

Von da an durfte ich nicht mehr im Haus schlafen. In einer Ecke des Hofes lagen ein Strohsack und ein paar Decken für mich bereit. Wenn es kalt war oder stark regnete, ging ich in den Stall zu den Ziegen. Abends brachte mir meine Mutter eine Schüssel Grütze. Gemeinsam sprachen wir ein Dankgebet. Dann aß ich, und sie ging wieder.

Bald bemerkten die Kinder des Dorfes, dass sich etwas verändert hatte. Schon früher hatten die Mädchen das Gesicht verzogen, wenn sie mich sahen. Sie hatten gekichert und getuschelt – und noch mehr gekichert und getuschelt, wenn ich mit rotem Kopf davonschlich. Die Jungen hatten mir vor die Füße gespuckt oder mich ausgelacht.

Jetzt wurde es schlimmer.

Eines Nachts erwachte ich davon, dass mir jemand einen Eimer Jauche über den Kopf schüttete. Mehrmals lauerten mir andere Jungen auf. Sie griffen meine Arme und Beine und warfen mich in ein Brennnessel-Gebüsch.

Und es wurde noch schlimmer.

Am Elaah-Tag versammelte sich stets das ganze Dorf im Tempel. Man dankte dem Höchsten Gott und pries seinen Namen. Da Illiam mich nicht fortjagte, wagte auch sonst niemand, mir die Teilnahme am Gebet zu verweigern. Natürlich musste ich ganz hinten stehen, im Schatten. Aber das war mir nur recht. Denn so konnte ich unbeachtet den Gesängen lauschen, die Illiam anstimmte. Ich konnte mich an dem Anblick seines weißen Priestergewandes freuen, auf dem ein goldener Elaah-Kreis prangte, und an den großen, mit geheimnisvollen Zeichen versehenen Weihkerzen, die zu beiden Seiten des Altars brannten. Und wenn der Geweihte am Ende seinen Sonnenstab hob, um das Dorf unter Elaahs Segen zu stellen, dann konnte ich mich einen kurzen Moment lang so fühlen, als wäre ich wie alle anderen. Als würde ich dazugehören.

Es war ein trüber, kühler Frühlingstag; meine Brüder waren schon fast ein Jahr alt. Am Vorabend hatte es stundenlang geregnet. Nach dem Gebet gingen die Männer in die Dorfschenke, um ein paar Biere und Schnäpse zu trinken. Die Frauen und Mädchen stellten sich in Grüppchen zusammen und schwatzten miteinander. Die Jungen tobten durch die matschigen Dorfstraßen, oder sie liefen in den nahen Wald, wo sie mit Stöcken kämpften.

Um mich kümmerte sich niemand. Zunächst ging ich zurück zur Hütte. Ich setzte mich auf meinen Strohsack, den ich unter den Überhang des Stalldaches gezogen hatte. Eine Weile lang beobachtete ich, wie das Wasser entlang der Furchen im Schlamm rann. Dann begann ich, mich schrecklich zu langweilen. Ich durfte weder auf den Feldern arbeiten, noch im Dorf mit anpacken. Langweile war die größte Plage.

Schon früh hatte ich begonnen, mir Geschichten auszudenken: Ich war ein Held, der den Räuberbanden das Handwerk legte, von deren Verbrechen fahrende Händler berichteten. Oder ich brachte die Ungeheuer zur Strecke, die – wie man sich erzählte – in den ewig verdüsterten Schluchten und Klüften der Fokris-Berge hausten, deren Ausläufer bis in die Windmarken reichten. Früher oder später würde der Kaiser selbst auf meine Taten aufmerksam werden und mich nach Ahekris in seinen Palast holen. Und dann würde meine Ruhmesgeschichte erst richtig beginnen. Ich würde Schlachten schlagen, Kriege gewinnen, Prinzessinnen retten 

An diesem Tag aber war mir nicht nach Geschichten zumute. Ich konnte mich nicht dazu bringen, ihnen Glauben zu schenken. Also ging ich zurück zum Dorfplatz. Ich hockte mich auf eine Bank, die bei einer Gruppe Eichen stand und auf der gerade niemand sonst sitzen wollte. Es fing wieder an zu regnen, leicht nur, und die Straßen leerten sich. Ich war es gewohnt, bei Wind und Wetter draußen zu sein, und ließ mich durch den Regen nicht stören. Neben der Bank lag ein Ast, den der Wind von einem Baum gerissen hatte. Ich nahm den Ast und zupfte ein paar Zweige ab. Dann lief ich zwischen den Häusern herum und schlug in Pfützen, dass es nur so spritzte.

»He! Skargat-Kind!«

Die anderen Jungen nannten mich nie beim Namen. Meine Fingernägel waren nicht schwarz, meine Zähne waren einfach Zähne, und meine Haare waren hellbraun. Aber darum ging es nicht.

»Du hast mich dreckig gemacht!«

Ich hatte sie nicht gesehen. Berin, den Sohn von Emer, dem Müller, und seine Freunde, Garth und Ansel. Die drei trugen Stöcke; sie waren wohl gerade aus dem Wald zurückgekommen und überall mit Matsch bespritzt. Aber auch darum ging es nicht.

»Was fällt dir ein, du Wurm!?«

Plötzlich schlug mir das Herz bis zum Hals.

»I-i-ich … Ent-entschuldigung!«, stammelte ich.

Berin, Garth und Ansel traten auf mich zu. Sie waren einige Jahre älter als ich, und Berin schleppte täglich Mehl- und Getreidesäcke durch die Mühle.

»Was hast du gesagt? Was?«, fragte er, indem er sich vor mir aufbaute.

Ich senkte den Blick.

»E-es – t-t-tut mir leid«, brachte ich hervor.

Berin riss mir den Ast aus der Hand.

»Und du meinst, das reicht mir, du Wurm?«

Ich hörte, wie Garth und Ansel lachten. Vielleicht lachte Berin selbst auch.

»Nein! N-n-nein … ich – ich wollte …«

Weiter kam ich nicht. Berin stieß mir vor die Brust. Ich fiel zu Boden, landete auf dem Hintern. Ehe ich mich aufrappeln konnte, stand er über mir.

»Du hörst mir jetzt gut zu, verstanden?«

Er sprach in herrischem Tonfall. Dabei grinste er, ebenso wie seine Freunde. Ich sah das Funkeln in seinen Augen, und ich sah, wie sich Ansel über die Lippen leckte.

Ich nickte hastig.

»Gut! Pass auf …« Er schlug mir mit dem Stock gegen den Arm, und ich zuckte zusammen. »Heute Abend kommst du zum See, wenn es dunkel wird, klar? Und du bringst – du bringst …« Berin sah zwischen Garth und Ansel hin und her. Er schien nachzudenken. »Und du bringst uns – du bringst uns einen Schatz!« Jetzt strahlte er übers ganze Gesicht. »Ist das klar?«

»Einen Schatz?!«, fragte ich entsetzt.

»Red ich Iskrisch, du Wurm?«, schrie Berin und schlug mir auf den anderen Arm, fester diesmal. Ich schrie auf.

»Nein! Nein! Einen Schatz … einen Schatz …«

»Gut. Also – komm mit einem Schatz, und ich verzeihe dir …« Er machte eine gewichtige Pause. »Vielleicht«, fügte er triumphal hinzu. Seine Freunde lohnten es ihm mit einem Lachen.

Nachdem Berin, Garth und Ansel gegangen waren, blieb ich einige Momente im Schlamm sitzen. Ich betrachtete den grauen Himmel, die schweren Wolken, die langsam vorüberzogen. Woher, bei Elaahs Gnade, sollte ich einen Schatz nehmen? Ich hatte gehört, dass Drachen und Waldgeister Schätze bewachten. Die Schätze waren in Höhlen oder unter den Wurzeln gewaltiger, uralter Bäume versteckt. Es waren Truhen, randvoll mit Gold und Juwelen. Erwartete Berin, dass ich ihm einen solchen Schatz brachte? Ich wusste nicht einmal, wie Juwelen aussahen.

2
MEIN BRUDER CAY

Mykar

Meine Mutter wirkte überrascht und erschrocken, als sie mir die Tür öffnete. Ich wollte etwas sagen, aber sie hob rasch die Hand.

»Nicht jetzt!«, zischte sie. »Der Vater schläft … und deine Brüder schlafen auch.«

Aus der dunklen Hütte drang Schnarchen. Meine Mutter stand kaum einen Schritt von mir entfernt. Man hätte sie berühren können. Man hätte sie umarmen können.

»Später«, sagte sie und ihre Züge wurden weicher. »Komm später wieder, ja?«

Ich drehte mich um und ging davon.

Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, ziellos durchs Dorf zu irren. Das Dorf bestand aus einigen Dutzend Häusern – manche aus Holz, manche aus Lehm –, einem Tempel, einer Schenke und einer Mühle, an der ein Bach vorbeifloss. Es kam mir sehr groß vor, doch ich durchquerte es an diesem Nachmittag bestimmt zehnmal. Von einem Ende zum anderen. Zwischendurch setzte ich mich auf die Bank bei den Eichen und starrte den Boden an, als wäre auch unter diesen Bäumen ein Schatz vergraben. Wenn ich jemandem begegnete, wich ich zur Seite aus. Den Männern und Frauen, die da ihrer Wege gingen, warf ich verstohlene und flehentliche Blicke zu. Die Blicke wurden nicht erwidert.

Am späten Nachmittag brach die Wolkendecke auf. Schräg fielen die Strahlen der Sonne zur Erde; sie ließen die Pfützen glitzern und hüllten das Dorf in einen golden-diesigen Glanz. Mir wurde klar, dass die Luft wieder nach Frühling roch. Zuvor war sie von der Schwere des Herbstes erfüllt gewesen.

Als ich zu der Hütte zurückkam, schlief mein Vater nicht mehr. Er hockte auf einem Schemel, den er nach draußen geholt hatte, und spielte mit Janne und Ebra. Gerade hatte er einen von ihnen – es war Ebra – unter den Armen gefasst. Nun hob er ihn schwungvoll in die Luft. Mein Bruder quiekte vor Vergnügen. Mein Vater lachte. Janne patschte im Matsch herum, während meine Mutter im Eingang stand, mit sanftem, leerem Gesicht.

Ich drehte mich um und ging davon.

Der See war am Waldrand gelegen, vielleicht eine halbe Meile vom Dorf entfernt. Es war ein ziemlich kleiner See, eher ein Teich. Ich mochte ihn. Hier standen zwei alte Weiden, die ihre Kätzchen ins Wasser hinabsenkten. Im Winter konnte man auf dem Eis herumrutschen, und im Sommer, wenn es warm war, schwirrten Mücken und Libellen über das Schilf. Jetzt, der Frühling war vielleicht zur Hälfte vorbei, sah man große grüne und winzige schwarzgelbe Frösche, die sich auf den Seerosenblättern sonnten oder zwischen den Schilfrohren schwammen.

Ich war als Erster beim See. Von Berin, Garth und Ansel war weit und breit nichts zu sehen.

Mir war schlecht, und ich musste ständig pinkeln. Schließlich – ich hatte gerade zum dritten oder vierten Mal meine Hose hochgezogen und festgebunden – war es so weit. Ich sah, wie Berin und seine Freunde über die Wiesen kamen. Ich stand da und wartete, bis sie bei mir waren.

»Skargat-Kind, wo ist mein Schatz?«, rief Berin. Er ließ seinen Stock auf einer Schulter ruhen. Auch Garth und Ansel trugen Stöcke.

Einige Sekunden lang dachte ich, ich würde in Ohnmacht fallen.

Ich hatte Angst.

Und ich war ganz allein.

»Ich habe keinen Schatz«, sagte ich leise.

»Hast du gehört, er hat keinen Schatz«, sagte Ansel.

»Ich hab kein Wort verstanden«, sagte Garth.

»Ich auch nicht«, sagte Berin.

Er baute sich wieder vor mir auf. »Was hast du gesagt, du Wurm?«, schrie er.

Ich konnte seinem Blick nicht standhalten.

»Ich habe keinen Schatz.« Ich starrte meine Hände an. Ich hatte sie vor dem Schoß gefaltet. Fast, als wollte ich beten. Die Finger waren ineinander verkrampft und so heftig zusammengepresst, dass sie vorne rot und hinten weiß waren.

»Er hat keinen Schatz«, wiederholte Garth.

»Da hat er aber Pech gehabt«, sagte Ansel.

»Und wie!«, sagte Berin. »Strafe muss sein. Das weißt du doch, du Wurm?«

Ich nickte.

»Gut.« Berin klang zufrieden. »Zieh dich aus.«

Ich wollte den Blick hochreißen und Berin anschreien, dass ich das nie und nimmer tun würde. Doch ich wagte es nicht. Ich wollte wild um mich schlagen. Doch ich wagte es nicht. Ich wollte davonlaufen. Doch nicht einmal das wagte ich.

»Bitte nicht«, wimmerte ich.

»Wird’s bald«, zischte Berin.

Gegen Abend waren die Wolken fast völlig verschwunden. Nur einige wenige hingen noch in der Luft, wie hauchfeines Tuch. Die untergehende Sonne tauchte alles in rötliches Licht: den Weiher, das Schilf, die Weiden und uns. Ich hörte ein paar Frösche quaken, während ich mich auszog. Es ging ganz schnell. Die Luft war angenehm, fast warm, aber ich fror. Gänsehaut überzog meinen nackten Körper. Ich begann zu weinen.

»Jetzt flennt er auch noch, der kleine Hosenscheißer!«, rief Berin empört.

Er packte mich im Nacken, drehte sich um, zog mich mit sich, stieß mich dann nach vorne. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel in die feuchte, kühle Ufererde am Rand des Schilfs. Bäuchlings lag ich da. Berin stellte seinen Fuß auf meinen Rücken, drückte mich tiefer in den Schlamm.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte er.

»Verpass ihm eine Abreibung«, sagte Ansel.

»Was für eine Abreibung?«, wollte Berin wissen.

Einige Augenblicke verstrichen. Niemand antwortete. Dann lachten die drei.

Ich schrie und zappelte. Berins Fuß lastete tonnenschwer auf mir.

»Na warte!«, sagte er.

Er ging in die Hocke, kniete sich auf mich, griff mir in die Haare und presste mein Gesicht in die Erde. Ich schluckte Schlammwasser. Jemand hielt meinen rechten Arm fest. Mit meiner linken Hand umklammerte ich ein Schilfrohr. Ich bekam keine Luft, schluckte immer mehr Wasser. Ich konnte mich kaum noch bewegen.

Plötzlich hörte ich eine andere Stimme. In meine Angst und in meinen Schmerz hinein klang sie.

»Es reicht. Lasst ihn in Ruhe.«

Berin ließ mich los.

Ich hob den Kopf aus dem Matsch, keuchte, hustete, würgte. Als ich es geschafft hatte, mir den Schmutz aus den Augen zu wischen und mich auf den Rücken zu drehen, sah ich, wer gekommen war.

Er stand da, eine Hand an die Hüfte gelegt. Die anderen waren zu dritt, und sie hatten Stöcke. Aber er stand einfach da.

»Das geht dich überhaupt nichts an!«, schrie Berin. »Verschwinde!«

»Nein«, sagte Cay.

Dann sagte er nichts mehr.

Berin, Garth und Ansel schwiegen ebenfalls.

Einige Herzschläge lang tat niemand etwas. Plötzlich riss Garth den Stock hoch, mit einer irgendwie unsicheren Bewegung.

»Lass das«, sagte Cay.

Seine Stimme war ruhig. Es lag weder Wut noch Furcht darin.

Garth ließ den Stock sinken. Berin klopfte ihm auf die Schulter, wie um ihn zu trösten.

»Kommt, wir verschwinden!«, rief er. »Sonst läuft der noch zu seinem Vater und flennt ihm die Ohren voll!«

Die drei machten sich auf den Weg zurück ins Dorf. Cay sah ihnen nicht einmal nach. Langsam ging er auf mich zu. Ich versuchte, mich hochzurappeln. Doch es war, als hätte ich vergessen, wie man sich bewegt. Cay war stehen geblieben und sah mich an.

Das Abendlicht sank ins Blaue hinab; die Schatten lösten sich in der Dämmerung auf. In Cays Augen schimmerte etwas. Ich blickte zur Seite.

»Ist alles in Ordnung, Mykar?«, fragte er.

Ich nickte.

Da ich Cay nicht ansah, brauchte ich einige Momente, bis ich begriff, dass er mir seine Hand hinstreckte. Zögernd ergriff ich sie. Er zog mich auf die Beine. Dann sammelte er meine Kleider auf. Er reichte sie mir und wartete, bis ich angezogen war. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Schließlich fragte Cay: »Willst du einen Tee?«

»Einen … Tee?«

»Meine Mutter könnte uns einen Kräutertee kochen. Mit Honig.«

»B-b-bei euch … zu Hause?«, fragte ich entsetzt.

»Sicher.«

»Bei euch zu Hause?«, wiederholte ich.

Cay zuckte die Schultern. Er lächelte.

Anfangs dachte ich, Cay würde sich aus Mitleid mit mir abgeben. Oder er würde Anweisungen seines Vaters befolgen. Doch wenn er abends mit seinen Freunden auf dem Dorfplatz stand, rief er mich stets zu sich. Die ersten paar Male bedachten mich die anderen Jungen mit Blicken, die dafür sorgten, dass ich im Boden versinken wollte. Ihn scherte das nicht. Und nach einer Weile gewöhnten sich seine Freunde an mich.

Im Sommer gingen Cay und ich häufig zum Bach. Wir hüpften von Stein zu Stein. Oder wir versuchten es. Ich fiel ständig ins Wasser, Cay fast nie. Doch wenn er über mich lachte, war das etwas anderes. Er lachte mich nicht aus. Es war schön, mit ihm zu lachen. Als der Winter kam, war es so weit, dass ich von den anderen Kindern fast völlig in Ruhe gelassen wurde und sogar bei den Schneeballschlachten mitmachen durfte.

Ich war immer noch das Skargat-Kind. Doch es schien, als wäre das nicht mehr so schlimm.

Natürlich schlief ich nach wie vor auf dem Hof.

Wenn Cay und ich alleine waren, sprachen wir nicht viel. Eine Weile lang fürchtete ich, es könnte ihm langweilig werden. Bald begriff ich jedoch, dass er das Schweigen mochte. Manchmal fragte mich Cay etwas. Das waren merkwürdige Fragen. Er erzählte mir von dem Gefühl, inmitten seiner Freunde allein zu sein, und wollte wissen, ob ich das auch kannte. Er hatte Angst, dass er eines Tages einen furchtbaren Fehler begehen würde – und dann würde er den Rest seines Lebens versuchen, diesen Fehler wieder gutzumachen. War es möglich, dass eine Sekunde alles entschied?

Es kam häufig vor, dass ich nachts auf meinem Strohsack lag und nicht schlafen konnte. Dann dachte ich über Cay nach. Ich wusste, dass ich ihn eigentlich gar nicht kannte. Das machte mich traurig.

Obwohl er nur drei Jahre älter war als ich, behandelten ihn die Männer des Dorfes wie ihresgleichen. Das lag nicht daran, dass der Elaah-Geweihte sein Vater war. Natürlich blickten alle ehrfurchtsvoll auf Illiam. Er konnte Krankheiten heilen. Er verstand, zu lesen und zu schreiben. Und manchmal ließ der Baron von Hagenow, dem unser Dorf lehenspflichtig war, ihn auf seine Burg kommen, um seinen Rat einzuholen. Aber daran lag es nicht.

Nein, Cay war – anders.

Er war groß, schön und stark, außerdem klug und mutig. Die Mädchen umschwärmten ihn, und diejenigen unter den Jungen, die ihm seinen Erfolg neideten, versuchten, ihre Missgunst zu verbergen.

Alle mochten Cay. Alles, was er sich vornahm, gelang ihm.

Und nichts davon schien ihm etwas zu bedeuten.

Als er elf war, schlug er einen Landstreicher in die Flucht, der eines Nachts eine Ziege vom Hof der Nachbarn stehlen wollte. Es war ein schöner Herbstabend und Cay streifte noch ums Dorf. Auf dem Heimweg hörte er ein verdächtiges Geräusch und entschloss sich, der Sache nachzugehen. Den Dieb ließ er einen Knüppel spüren, wie man ihn benutzt, um wilde Hunde zu vertreiben.

Bei einer anderen Gelegenheit hatte Cay im Wald eine Frau gefunden, die von einer verrückten Schlange gebissen worden war. Sie hatte Pilze gesammelt; nun lag sie um Atem ringend am Fuß einer Böschung. Er kam gerade von dem Hirten Harun, der mit seinen Schafen oft wochenlang dem Dorf fernblieb und dem er Vorräte gebracht hatte. Obwohl er den ganzen Tag in den Hügeln gewesen war, lief er zum Dorf zurück, ohne ein einziges Mal innezuhalten. Noch vor Einbruch der Dunkelheit führte er seinen Vater zu der Stelle, an der die Unglückliche auf Hilfe wartete, schon ganz ausgezehrt von dem Gift in ihrem Blut.

Geschichten wie diese weckten in manch einem die Überzeugung, dass die Götter Großes mit Cay vorhatten.

Aber auch das schien ihm nichts zu bedeuten.

Einmal – da waren wir schon ein ganzes Jahr befreundet – wagte ich es, ihn zu fragen, wie das denn sei.

»Wie ist was?«, gab er zurück.

»Nun«, murmelte ich. »Wenn man … wenn man so ist … wie du.«

Meine Stimme war mit jedem Wort leiser und verdruckster geworden. Nachdem ich zu Ende gesprochen hatte, starrte ich angestrengt auf meine Fingernägel. Cay sagte nichts, und ich spürte, wie meine Ohren rot wurden. Plötzlich brach er in Gelächter aus. Es war ein helles, warmes Lachen. Ich wurde noch röter. Cay legte einen Arm um meine Schulter und hörte gar nicht mehr auf zu lachen.

Was ihm wirklich etwas bedeutete, war Alva.

Die beiden waren schon immer ineinander verliebt gewesen. Sie wollten heiraten, wenn Cay, wie der Brauch es verlangte, sein fünfzehntes Lebensjahr vollendet hatte. Alva stammte aus einer guten Familie. Ihr Vater, Brogar, besaß Kühe, Ochsen, Ziegen, Schweine und Schafe, und sogar das Land, das er bestellte, gehörte ihm. Vor allem aber war Alva schön, so schön. Ihre Locken hatten den Glanz von Rabenfedern. Und in jenem letzten Sommer träumte ich oft davon, sie zu berühren: Alvas schwarze Haare und ihre Haut, die etwas dunkler war als die der anderen Mädchen im Dorf.

Eines Abends, es war Erntezeit, saß ich am Rand des Dorfplatzes und zeichnete mit einem Zweig Figuren in den Sand. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes half Cay seinem zukünftigen Schwiegervater dabei, ein Wagenrad zu wechseln. Nicht weit entfernt stand Illiam vor dem Eingang des Tempels. Er sprach mit Flanna, deren jüngster Sohn an den Pocken erkrankt war und sich in der Obhut des Geweihten befand. Alva kam gerade mit ein paar Freundinnen vom Feld. Sie verabschiedete sich von den anderen Mädchen, winkte Cay zu und setzte ihren Weg in meine Richtung fort.

Plötzlich verspürte ich den Drang, aufzuspringen und davonzulaufen.

Ich rührte mich nicht vom Fleck.

Dann stand Alva vor mir. Unter dem Kopftuch, das sie sich umgebunden hatte, lugten ein paar schwarze Strähnen hervor. Ihre Halsgrube glitzerte vom Schweiß, und durch den Stoff ihres Hemdes konnte ich die Umrisse ihrer Brustwarzen erkennen. Ich stellte mir Alvas Brustwarzen groß und dunkel vor – dunkel wie ihre Haut und ihre Augen und ihre Haare.

Sie betrachtete mich einen Moment lang. »Na, Mykar, was machst du da?«, fragte sie lächelnd.

Ich dachte, dass Alva fast die Einzige war, der die Hitze nichts anzuhaben schien. Ich dachte an ihren Mund und ihre Augen und ihre Brüste. Ich dachte an Cay und die Hände, mit denen er das Wagenrad umfasst hielt.

Und ich schämte mich.

Der Abend ging über in eine klare Nacht. Die Luft war noch immer schwül und drückend. Wieder einmal konnte ich nicht einschlafen. Ich lag da und betrachtete die Sterne, die an dem schwarzen Himmel funkelten. Es gab so viele von ihnen. Manchmal dachte ich, dass man nur aus Gewohnheit am Boden klebte. Man musste aufpassen, sonst würde man in die Leere zwischen den Sternen stürzen. Warum konnte Cay nicht mein Bruder sein? Warum konnte ich nicht Cay sein? Ich schluchzte und weinte. Ich schwor, dass ich bis ans Ende der Welt ziehen würde – ich, der ich nie auch nur unser Dorf verlassen hatte –, um ihn wiedergutzumachen: jenen einen Fehler, den Cay niemals begehen würde. In der Stille der Nacht schwor ich es, mit einer wilden Verzweiflung, schwor es zu allen Göttern und allen Dämonen.

Dann bat ich Cay, mir zu verzeihen.

Ich sprach die Worte nicht aus. Aber ich wusste, dass er sie eines Tages hören würde.

3
DIE LICHTUNG IM WALD

Mykar

So verging die Zeit. Auf den Sommer folgten Herbst und Winter. Irgendwann kehrte der Frühling zurück. Jetzt war es schon zwei Jahre her, dass mich Cay vor Berin und seinen Freunden gerettet hatte.

In meinem Leben änderte sich nichts. Manchmal dachte ich, dass sich niemals etwas ändern würde. Manchmal dachte ich, dass es gut so wäre.

Doch dann begann Cays Vater, ihn auf die Fahrten mitzunehmen, die ihn als Diener Elaahs übers Land führten. Zwischen unserem Dorf und der Perle – der Stadt unseres Herrschers, des Dorn, die einige Tagesreisen entfernt im Südwesten lag – gab es kaum eine Handvoll Geweihte der höchsten Gottheit. Darum musste Illiam viel unterwegs sein, um den Menschen in ihren Nöten beizustehen. Und wenn sein Sohn, so wie Illiam es wünschte, sein Nachfolger werden sollte, gab es mehr als genug für ihn zu lernen.

»Geburten, Beerdigungen, Hochzeiten, Segnungen sowie der Kampf gegen Krankheiten, Plagegeister, friedlose Tote und Missernten«, zählte Cay auf. »Es ist erstaunlich, dass Vater überhaupt Zeit zum Schlafen hat.«

Er konnte in gleichgültigem Tonfall von den bedeutsamsten Dingen sprechen. Manchmal erschreckte mich das.

Aber ich sehnte mich noch nach diesem Unbehagen, wenn Cay nicht da war. Alles im Dorf schien mir dann öder und hässlicher. Und die anderen Kinder vergaßen langsam, warum sie sich je mit mir abgegeben hatten. Ich spürte wieder feindselige Blicke. Es gab seltener freundliche Worte.

Ich wollte mein Glück nicht auf die Probe stellen. Also versuchte ich, mich im Dorf so wenig wie möglich sehen zu lassen, wenn Cay mit seinem Vater unterwegs war. Manchmal dachte ich, es wäre fast, als ob ich ihn auf seinen Fahrten begleiten würde. Das war ein schönes Gefühl.

Ich entdeckte meine Zuflucht bereits wenige Monate, nachdem Illiam entschieden hatte, dass ihn sein Sohn von nun an bei seinem Götterdienst unterstützen sollte. Es war ein Tag im Spätsommer. Der Himmel war blau, und die Sonne schien. Seit dem Morgen hatte ich mich im Wald herumgetrieben. Ich freute mich an dem Wechsel zwischen der Schattenkühle unter dichtem Blattwerk und den offenen Stellen, wo mich leuchtende Wärme umfing. Die Vögel sangen, und ich spürte die Blätter unter meinen bloßen Füßen.

Als ich auf die Lichtung kam, wunderte ich mich. Ich hatte diesen Ort noch nie betreten, obwohl er gar nicht weit vom Dorf entfernt war. Auf der Lichtung standen eine Hütte und ein kleiner Stall. Die beiden Gebäude waren verfallen. Die Dächer waren eingestürzt. Türen und Fensterläden hingen schief in den Angeln. Die Innenräume waren völlig mit Unkraut überwuchert. Es war sehr still. Als würden die Tiere des Waldes Abstand halten. Oder als wollten sie jemandem die Ehre erweisen mit ihrem Schweigen. Doch nicht allein die Stille verzauberte den Ort. Da war auch das Licht. Es war irgendwie anders; es schien das alte Holz und das Unkraut zu streicheln, es legte sich wie eine tröstende Hand auf das Gras und auf die Erde.

Einige Schritte vom Eingang der Hütte entfernt gab es einen Steinkreis. Vielleicht war hier einmal eine Feuerstelle gewesen. Ich setzte mich auf einen großen, runden, weißen Stein und tat – überhaupt nichts. Es war nicht nötig, etwas zu tun. Ein Gefühl, das ich niemals gekannt hatte, erfüllte mich.

Ich blieb bis zur Dämmerung auf der Lichtung und kam von da an fast täglich wieder. Es wurde mir nie langweilig, dort zu sitzen und die Nähe des Ortes zu spüren. Abends huschte gelegentlich ein Fuchs zwischen den Baumstämmen entlang, oder ein Marder raschelte im Gebüsch. Aber eigentlich war ich immer allein. Zumindest dachte ich das.

Wochen später – wieder einmal hockte ich auf dem weißen Stein bei der verfallenen Hütte und wärmte mich in der Nachmittagssonne – fiel mir ein, dass ich diesen Ort kannte. Das heißt, ich kannte Geschichten über ihn. Im Jahr der Bösen Ernte, oder nicht lange danach, war hier etwas Furchtbares geschehen 

Der Jäger Jarl war klein und drahtig und hatte eine sehr tiefe Stimme, die seine Zuhörer sofort in den Bann schlug. Wenn er an langen Winterabenden zu erzählen begann, verstummten die Gespräche in der Dorfschenke. Als junger Mann hatte Jarl viele Abenteuer erlebt, von denen er stundenlang berichten konnte. Keine Geschichte aber erzählte er so oft wie die jener Nacht:

Es war, sagte er, eine helle Nacht gewesen; eine Nacht mit einem roten Mond, in der ein geisterhaftes Licht über den Wäldern und Bachläufen lag. Jarl hielt Ausschau nach äsenden Rehen, als er plötzlich einen entsetzlichen Lärm hörte. Zuerst dachte er, ein Sturm würde aufziehen, derart jaulte der Wind. Und ein Grollen ging durch die Nacht, wie von heftigen Donnerschlägen. Doch keine Wolke stand am Himmel. Kein Lüftchen regte sich. Jarl bekam Angst. Das bekannte er freimütig, wann immer er in der Dorfschenke von diesen unseligen Stunden berichtete. Aber er vergaß auch nicht zu betonen, dass er keineswegs davongelaufen war. O nein, nicht er, Jarl, der schon in den dunkelsten Ecken des Mahrwalds auf der Pirsch gelegen hatte und mit den Truppen von Kaiser Winand gegen Iskrien gezogen war! Vielmehr hatte er den Elaah-Kreis geschlagen, einen Pfeil auf die Sehne gelegt und war vorsichtig in Richtung des Lärms geschlichen. Doch als er auf die Lichtung kam, war bereits alles vorbei. An dieser Stelle pflegte Jarl die Stimme zu senken. Er beugte sich vor, sodass ein flackernder Widerschein vom Kaminfeuer über sein Gesicht huschte, und ließ seinen Blick langsam von einem Lauschenden zum nächsten schweifen. Flüsternd erzählte er, dass er einen Mann, eine Frau und ein Mädchen gefunden habe. Alle drei waren tot; zerfetzt und zerbrochen lagen sie im Gras. Ihre Leiber waren grauenhaft entstellt. Und um die Hütte herum war die Erde zerwühlt, als wäre ein Rudel Wildschweine über die Lichtung geprescht. Nachdem er seinen Zuhörern Gelegenheit gegeben hatte, sich mit einem Schluck Bier oder Obstbrand zu stärken, fügte Jarl hinzu, die Luft habe nach der Süße von Verwestem geschmeckt; sie sei zugleich eisig kalt und glühend heiß gewesen. Manchmal, wenn er selbst ein paar Schnäpse gehabt hatte, sprach er auch von dem Schmerz und dem Entsetzen, welche die Gesichter der Toten gezeichnet hatten, und von dem furchtbaren Kampf, den sie vor ihrem Ende gefochten haben mussten, gegen einen übermächtigen, unheiligen Gegner. Doch so gerne Jarl auch erzählte – wenn er anhob, von dem Mädchen zu sprechen, versagte ihm die Stimme.

Das war die Geschichte des Jägers. Nicht allen gefiel sie.

Der Elaah-Geweihte Gerold, Illiams Vorgänger, erklärte immer wieder, dass diejenigen, die auf der Lichtung gelebt hatten, kein Mitleid verdienten; ja, sie verdienten nicht einmal, erinnert zu werden. Sie seien Hexen gewesen. Sie hätten böse Geister angebetet. Und jetzt wären sie von Skargat und seiner Brut geholt worden.

Aber es gab manche im Dorf, die Gerold in dieser Sache nicht folgen wollten. Hinter vorgehaltener Hand erzählten sie davon, dass die Hexen stets geholfen hätten, wenn jemand im Fieber daniederlag oder sich ein Holzfäller mit seiner Axt ins Bein schlug. Und noch etwas stimmte nicht. Denn diejenigen, die die Familie auf der Lichtung besucht hatten, waren überzeugt davon, dort stets zwei Mädchen gesehen zu haben. Was war aus der anderen Tochter geworden?

Niemand fand es je heraus. Aber noch ein Jahrzehnt nach dem schrecklichen Ereignis erzählte man sich im Dorf die Geschichten. Selbst ich hatte sie gehört, an den seltenen Abenden, die ich in der Schenke verbracht hatte.

Die Lichtung jedenfalls galt als verwunschen. Es war kein guter Ort. Niemand ging je hierhin.

Außer mir 

Erst jetzt, als mir Jarls Geschichte einfiel, bemerkte ich die mächtige Linde. Sie wuchs am Waldrand, etwas abgesetzt von den anderen Bäumen. Ihr Stamm war mehr als doppelt so breit wie ich und hatte die Farbe von altem Blut. Durch ihr hellgrünes, prachtvolles Blätterkleid ging immer ein leises Rauschen. Selbst, wenn es windstill war. Und obwohl bereits der Herbst nahte, schmückten unzählige sternförmige Blüten die Zweige. Ich war mir sicher, dass die Linde schon viele hundert Jahre hier gestanden hatte.