Mami -1762-


Sophies ganz große Liebe


Susanne Svanberg


»Kann ich mit?« piepste es hinter Inge, als sie gerade in ihre besten Jeans schlüpfte.

Kopfschüttelnd drehte sie sich um und lächelte den kleinen Bruder tröstend an. »Paul, das ist eine Abi-Feier, zu der nur Leute aus unserer Stufe kommen.«

»Abi-Feier«, maulte der Elfjährige und zog einen Schmollmund. »Abi habt ihr doch schon gestern gefeiert, und da hast du mich mitgenommen.« Trotzig sah Paul zu der älteren Schwester auf. Sie war ein unkompliziertes junges Mädchen mit natürlichem Charme. Für den noch kindlichen Jungen war sie die schönste Frau der Welt. Er hatte seiner Mami versprochen, auf sie aufzupassen, und er nahm dieses Versprechen sehr ernst.

»Gestern war die offizielle Feier mit Lehrern und Eltern, heute sind wir unter uns. Du würdest dich deshalb gar nicht wohl fühlen.« Inga zog sich ein T-Shirt über den Kopf und fuhr sich danach mit gespreizten Fingern durch das stets verwuschelte dunkelblonde Haar. Die gepflegte Kurzhaarfrisur gab ihr etwas Lausbubenhaftes, was durch die kesse Stupsnase und die oft lustig blitzenden hellbraunen Augen noch unterstrichen wurde.

»Warum müßt ihr denn zweimal feiern?« bohrte Paul, daran gewöhnt, daß ihn die ältere Schwester wie einen vollwertigen Partner behandelte.

»Weil man nach dreizehn Jahren Penne unheimlich froh ist, die Schule endlich hinter sich zu haben. Das wirst du auch noch erleben. Ist doch klar, daß man das fröhlich feiern will.« Inga schlüpfte in die Sportschuhe. Sie war ein bescheidenes Mädchen, das nicht viel Geld für Kleidung ausgab. Bei den geringen Einnahmen, die sie hatten, wäre das auch nicht möglich gewesen.

Seit ihre Mutter vor fünf Monaten an einem Herzleiden starb, arbeitete Inga an schulfreien Nachmittagen als Kassiererin in einem Supermarkt. Was sie dort verdiente, reichte für ein sparsames Leben. Sparen mußten sie schon zuvor, denn Bernhard von Schönberg, ihr Vater, verspielte das Vermögen der Familie an der Börse und erschoß sich, als er keinen Ausweg mehr sah. Für seine Frau war das eine schwere Zeit, doch sie hatte nie gezeigt, wie sehr sie litt. Ihren Kindern war sie eine zärtliche, liebevolle Mutter, die nie über ihre Krankheit sprach. So kam ihr Tod für Inga und Paul völlig überraschend. Der Schock brachte die Geschwister noch enger zusammen und ließ sie eine unzerstörbare Gemeinschaft werden.

»Ist dieser Mario, der dich immer so bescheuert anschaut, auch dabei?« erkundigte sich Paul mit Sorgenfalten auf der Kinderstirn.

»Klar doch«, antwortete Inga lachend. Die Bedenken des kleinen Bruders amüsierten sie. Sie war eines der wenigen Mädchen ihrer Jahrgangsstufe, die keinen Freund hatten, und sie dachte auch nicht daran, an diesem Zustand etwas zu ändern. Ihr fehlte nicht nur die Zeit, um eine Beziehung einzugehen, sie wollte auch einen klaren Kopf behalten, denn das brauchte sie für die angestrebte Ausbildung.

»Der Typ will doch was von dir«, behauptete Paul altklug. »Wo du auch bist, taucht er auf und macht dich an.«

»Keine Angst, Paulchen, der Mario ist nicht mein Typ.« Mit einer raschen Bewegung zerzauste Inga den dichten braunen Schopf des Bruders.

Er versuchte auszuweichen, denn er war nicht in der Stimmung für eine geschwisterliche Neckerei. Dagegen mochte er es sehr gern, wenn Inga ›Paulchen‹ zu ihm sagte. Es klang so lieb und vertraulich und erinnerte den Jungen an die Mutter, die er sehr gern gehabt hatte. All diese Liebe übertrug er nun auf Inga. Sie war der Mittelpunkt seiner kleinen Welt.

»Ich möchte trotzdem mitkommen.« Paul sah seine Schwester aus großen grauen Augen bittend an. Es war jener Blick, mit dem der kleine Bruder sonst alles bei ihr durchsetzte.

Doch diesmal blieb Inga hart. »Du würdest dich langweilen. Außerdem machen sich die anderen schon über mich lustig, weil ich nie alleine weggehe, sondern immer nur mit dir.«

»Laß sie doch. Du hättest ohnehin keine Zeit, um in die Disco zu gehen oder zu den blöden Video-Abenden, die sie machen.«

Inga nickte. »Hast ja recht«, murmelte sie, obwohl sie eigentlich anderer Ansicht war. Manchmal wäre sie auch gerne so unbeschwert fröhlich gewesen wie die Klassenkameraden, die von einem Vergnügen zum anderen eilten. Nur Inga mußte ständig absagen. Daß sie trotzdem nicht zur Außenseiterin wurde, lag an ihrer unkomplizierten, gewinnenden Art.

»Geh früh schlafen, Paulchen, du hast morgen Schule«, riet Inga wie eine besorgte Mutter. Sie hatte die Verantwortung für den jüngeren Bruder gern übernommen, doch jetzt, da sie die Schule abgeschlossen hatte, dachte sie immer häufiger daran, wie alles werden sollte, wenn sie ihr Studium begann. Tierärztin wollte sie werden, denn sie liebte Tiere, konnte gut mit ihnen umgehen. Aber Veterinärmedizin konnte sie nicht am Ort studieren. Sie mußten sich also trennen, Paul und sie. Noch hatte sie mit dem Jungen nicht darüber gesprochen.

»Ich kann nur schlafen, wenn du bald zurückkommst«, jammerte er mißmutig.

»Das stimmt doch gar nicht«, widersprach Inga betont munter. »Du wachst nicht einmal auf, wenn du aus dem Bett fällst. Außerdem ist die Fete nicht hier. Ich muß also warten, bis mich jemand im Auto mitnimmt.« Viele von Ingas Schulkameraden besaßen bereits einen eigenen Wagen. Andere durften das Fahrzeug der Eltern benutzen. Diesen Vorteil hatte Inga nicht.

Paul zog die Unterlippe zwischen die Zähne und biß beunruhigt darauf, wie immer, wenn er keinen Ausweg sah. »Du darfst aber nicht mit Mario fahren und auch nicht mit Daniel, dem blöden Angeber.« Paul sah in jedem jungen Mann, der sich Inga näherte, eine Gefahr. »Versprichst du mir…«, quengelte Paul ungeduldig.

Inga unterbrach ihn. »Ich verspreche dir, mir keinen Lover anzulachen. Zufrieden ? Nur ein kleines bißchen amüsieren darf ich mich doch, oder? Überhaupt muß ich los.«

»Warte, ich hab noch was für dich.« Paul steckte die Hand in die Hosentasche und beförderte allerlei Krimskrams ans Licht. Zwischen einigen rostigen Nägeln, einem Taschenmesser, einem Stück Schnur und einem Radiergummi zog er ein kleines Päckchen hervor, etwas unbeholfen, aber um so liebevoller in buntes Papier gepackt. »Das hab ich von meinem Taschengeld gekauft«, sagte der Junge stolz. Er wußte, daß die Schulkameraden seiner Schwester zum bestandenen Abitur zum Teil reich beschenkt worden waren. Manche hatten sogar ein Auto bekommen oder eine Urlaubsreise in die USA.

»Für mich?« staunte Inga überrascht und seltsam gerührt. Befangen öffnete sie das kleine Päckchen. Es enthielt ein silbernes Kettchen mit einem glänzenden Anhänger. »Schön ist das«, meinte die junge Frau überwältigt. »Danke, vielen Dank.« Sie schloß den kleinen Bruder innig in die Arme und küßte ihn freundschaftlich auf die Stirn. »Ich werde es immer tragen.«

»Echt? Es gefällt dir wirklich?« Paul strahlte vor Glück. Seine schmalen Wangen röteten sich, und sein zierlicher Körper schmiegte sich an den der Schwester. Paul war klein und schlank und ließ

sich deshalb nie auf eine Keilerei mit den überwiegend kräftigeren Spielkameraden ein. Um so mehr brauchte er Fürsorge und Geborgenheit.

»Genau das hätte ich mir auch ausgesucht.« Inga betrachtete das Geschenk mit Rührung. Sie wußte, daß Paul lange dafür hatte sparen müssen, denn er bekam nur ein paar Mark Taschengeld. »Dieser Schmuck wird mich immer an dich erinnern.«

»Das ist gut«, japste Paul zufrieden.


*


Hastig riß Inga den Briefumschlag auf. Ihr Herz schlug rascher, während sie das vorgedruckte Schreiben aus dem Kuvert zerrte und ängstlich überflog.

Vor Freude machte sie einen kleinen Luftsprung. Ihre Hoffnung, ihr größter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Die Zukunft, die bisher unklar für sie war, hatte plötzlich Gesicht und Gestalt. Doch dann dachte sie an ihren kleinen Bruder, und ihr Herz wurde schwer. Was sie als Glück empfand, würde für ihn Kummer und Sorge bedeuten. Wie gerne hätte sie das vermieden.

Inga nahm den vollbepackten Einkaufskorb, den sie vor den Briefkästen abgestellt hatte, wieder auf und stieg langsam, fast schwerfällig die vier Stufen zu ihrer kleinen Wohnung hoch. Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie die Tür öffnete.

Noch bevor sie im Flur war, kam ihr Paul entgegengelaufen, stieß einen Freudenschrei aus und flog Inga um den Hals. »Du mußt raten, was ich in Englisch geschrieben habe«, drängte er.

»Zwei«, japste Inga ein wenig außer Atem. Erneut stellte sie den Korb ab. Noch schwerer als diese Last empfand sie den Brief, den sie in die Jeansjacke gesteckt hatte.

»Eins!« kreischte Paul voller Stolz und Begeisterung.

»Klasse. Ich freue mich.« Inga bemühte sich um ein strahlendes Lächeln. So ganz gelang es ihr nicht, denn sie mußte ständig daran denken, daß sie gleich eine sehr unangenehme Unterredung haben würden.

»Oh, du hast Süßigkeiten mitgebracht. War das nicht zu teuer?« Paul untersuchte bereits den Korb auf seinen Inhalt.

»Lauter aussortierte Waren, deren Verfalldatum in den nächsten Tagen abläuft. Ich habe sie fast umsonst bekommen.«

»Mann, Inga, geht’s uns gut.« Paul hielt einige Schokoriegel in der Hand und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ist schon spitze, daß du im Supermarkt arbeitest.«

Inga ging in die winzige Küche, wo Paul schon den Abendbrottisch gedeckt hatte. Neben jeden Teller hatte er einen roten, blankpolierten Apfel gelegt. Unwillkürlich mußte Inga über den Eifer des kleinen Bruders lächeln.

»Hab ich von Max bekommen, aus dem Garten seiner Eltern«, erklärte der Kleine, der Ingas Blick bemerkte. »Weißt du, was in der Schule heute noch los war?« plapperte er voll Mitteilungsdrang. »Der Schnauzer hat das Klassenbuch verlegt und nicht mehr gefunden. Dabei haben wir alle gewußt, daß es auf der Fensterbank lag, nur er hat es nicht gesehen. Deshalb konnte er dem Max auch keinen Eintrag machen. Er hat ihm nämlich einen Kaugummi auf den Stuhl geklebt. Ist aber gar nichts passiert.«

»Wer ist Schnauzer?« erkundigte sich Inga ohne Interesse. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit einem ganz anderen Thema.

»Der Losertyp mit dem Bart, der bei uns Mathe gibt. Heißt eigentlich Reinboldt. Bei der letzten Arbeit hat er seine Brille vergessen und gar nicht gemerkt, daß alle abgeschrieben haben. Hab ich dir ja schon erzählt.«

Inga brühte Tee auf, stellte Brot, Käse und Tomaten auf den Tisch und dachte ständig an den Brief in ihrer Tasche.

Während Paul kleine Begebenheiten aus der Schule erzählte, knabberte Inga lustlos an ihrem Brot. »Ich habe übrigens eine Zusage der Uni in München«, erwähnte sie, als Paul mit vollen Backen kaute.

Er schaute sie groß an, verschluckte sich und hustete. »Du denkst, meinst…, daß du dort studieren kannst?«

»Genau. Das Semester beginnt Mitte Oktober.«

»Dann ziehen wir nach München?« erkundigte sich Paul arglos. »Das wird dem Max aber leid tun. Er hat gesagt, daß ich sein bester Freund bin.«

Inga sah ihren kleinen Bruder ernst an. »Es tut mir ja so leid, Paul, aber ich werde dich nicht mitnehmen können. Ich werde dort im Studentenheim wohnen, in einem sehr kleinen Raum, in dem nur Platz für ein einziges Bett ist.«

»Dann schlafe ich auf der Luma«, erklärte der Kleine spontan.

»Das mit der Luftmatratze ist keine Lösung. Ich hätte auch keine Zeit für dich. Morgens habe ich Vorlesung, manchmal auch am Nachmittag, abends werde ich irgendeinen Job machen, um nebenbei noch etwas Geld zu verdienen. Außerdem werde ich viel zu lernen haben, denn schließlich will ich das Studium in kürzester Zeit durchziehen.«

»Und ich?« fragte der Junge weinerlich. Er hatte das Brot aus den Händen gelegt und den Teller weggeschoben.

»Du wirst im Margaretenheim wohnen, wo wir dich doch schon vor einem Vierteljahr angemeldet haben. Dort wirst du gut betreut und versorgt. Du brauchst die Schule nicht zu wechseln und kannst weiterhin mit Max in eine Klasse gehen.«

Paul hatte den Besuch im Margaretenheim verdrängt, weil er geglaubt hatte, daß er nie dorthin mußte. Jetzt fiel ihm alles wieder ein: die blankpolierten Flure mit dem kalten Neonlicht, der große Speisesaal mit den vielen braunen Stühlen und die Vierbettzimmer, in denen es außer weißbezogenen Betten nur noch zwei Wandschränke für Kleider gab.

»Ich will aber lieber mit dir…«, schnupfte Paul beleidigt.

»Du darfst mir glauben, Paulchen, mir fällt die Trennung auch nicht leicht. Aber es ist die beste Lösung. In den Semesterferien sehen wir uns, so oft es geht. Ich werde mich anstrengen und so bald wie möglich mein Examen machen, und dann sind wir wieder zusammen, das verspreche ich dir.«

Paul atmete schwer. »Das dauert so lange«, klagte er und ließ den Kopf hängen. Zwei dicke Tränen kullerten über seine bleichen Wangen.

Inga hätte am liebsten mitgeheult. Doch sie beherrschte sich, denn als große Schwester mußte sie stark und zuversichtlich sein. »Wenn ich es geschafft habe, wenn ich dann eine Anstellung habe, brauchen wir nicht mehr so sehr zu sparen, können uns vielleicht sogar ein Auto leisten und damit in Ferien fahren. Wenn du so alt bist wie ich, kannst du studieren…«

Die rosigen Zukunftsaussichten konnten Paul nicht trösten. »Ich möchte viel lieber mit dir nach München«, schnupfte er und kam sich sehr verlassen vor.

Das war der Augenblick, vor dem sich Inga gefürchtet hatte. Sie stand auf, ging um den Tisch herum und trat hinter Pauls Stuhl. Sie beugte sich über den Bruder, umarmte ihn liebevoll. »Nicht traurig sein, Paulchen. Du findest im Heim bestimmt gute Freunde, hast Spaß mit ihnen und wirst dich wundern, wie schnell die Zeit vergeht.«

Der Jüngere schniefte unglücklich. »Aber, aber… wir haben der Mutti versprochen, daß wir uns nie trennen. Hast du das vergessen?«

»Natürlich nicht. Es ist ja auch nur vorübergehend. Bitte, Paulchen, mach es mir nicht so schwer.« Inga streichelte das Kind sanft und liebevoll wie eine Mutter.

Jetzt nickte Paul tapfer. Nein, er wollte Inga keinen Kummer bereiten. Sie hatte es schwer genug. Wenn ihre Freundinnen zum Schwimmen oder ins Kino gingen, mußte Inga zur Arbeit in den Supermarkt.

»Ich werde dich ganz arg vermissen, aber ich gehe in dieses blöde Heim«, versprach er mutig.


*


Zu dieser Zeit war der Schlafraum leer, und das war Paul gerade recht. Er öffnete den Teil des Schrankes, der ihm zur Verfügung stand, und griff unter die Wäsche, um ein Foto hervorzuziehen. Ganz fest preßte er es an seine schmale Brust und lief damit zum Fenster, wo er es so eingehend betrachtete, daß er gar nicht merkte, wie leise die Tür geöffnet wurde und Benny auf Zehenspitzen heranschlich.

»Hast du mich verpfiffen?« fragte er und musterte Paul angriffslustig. Der Neue war eindeutig schwächer als er.

Paul schüttelte erschrocken den Kopf. »Die Oberin sagt, das zahlt alles die Versicherung. Sie hat überhaupt nicht geschimpft, die Oberin.« Paul steckte schnell das Foto unter den Pulli.

»Dich mag sie eben, die Olle. Was glaubst du, was los gewesen wäre, wenn sie mich erwischt hätte.« Benny blies die Backen auf und verdrehte die Augen. Sein rostroter Schopf leuchtete in der Abendsonne wie ein frischgedecktes Hausdach.

Paul sah den zwei Jahre älteren Benny mit heimlicher Bewunderung an. Der Zimmerkamerad war nicht nur größer und wesentlich stärker, er wußte sich auch immer zu helfen. Um keine Ausrede war er verlegen, er kannte jedes Schlupfloch.