Der Band bietet ein spektakuläres Stück aus Niklas Luhmanns Nachlaß: eine umfassende Darstellung seiner politischen Soziologie. Er zeigt, wie Luhmann zu der Zeit, als er Adorno in Frankfurt vertritt, eine Theorie der Politik formuliert, an deren Grundzügen er auch später festhalten wird. Zu den Themen zählen die Bedeutung des Publikums für Verwaltung und Politik sowie die politischen Systeme in den sozialistisch regierten Ländern. Er bietet somit thematisch Neues, ohne methodisch hinter dem Stand der späteren Schriften zu bleiben. Die beste verfügbare Einführung in Luhmanns politische Soziologie.

Niklas Luhmann (1927-1998) war Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Zuletzt erschienen: Liebe. Eine Übung (2008), Macht im System (2012) sowie Kontingenz und Recht. Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang (2013).

Niklas Luhmann

Politische Soziologie

Herausgegeben von
André Kieserling

Suhrkamp

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detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2010.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Veronika Luhmann-Schröder 2010

© André Kieserling 2010

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73107-9

www.suhrkamp.de

Inhalt

I. Teil: Der soziologische Aspekt der Politik

1. Kapitel: Fachliche Abgrenzung der soziologischen Perspektive

2. Kapitel: Theoretischer Bezugsrahmen: Systemtheorie

3. Kapitel: Soziale Komplexität

4. Kapitel: Die Funktion und Stellung des politischen Systems

5. Kapitel: Politik in der Gesellschaft und in anderen Sozialsystemen

II. Teil: Das politische System der Gesellschaft

6. Kapitel: Vertikale Ausdifferenzierung des politischen Systems: Herrschaft

7. Kapitel: Horizontale Ausdifferenzierung des politischen Systems: Funktionale Spezifizierung

8. Kapitel: Begleitende Interpretationen

9. Kapitel: Legitimität

10. Kapitel: Autonomie und interne Differenzierung

11. Kapitel: Politik und Verwaltung

12. Kapitel: Analytisches Modell des politischen Systems

III. Teil: Verwaltung

13. Kapitel: Funktion und Ausdifferenzierung des Verwaltungssystems

14. Kapitel: Umweltlage und Autonomie des Verwaltungssystems

15. Kapitel: Kommunikationspotential

16. Kapitel: Rationalität der Verwaltungsentscheidung

17. Kapitel: Programmatik und Opportunismus

IV. Teil: Politik

18. Kapitel: Funktion der Politik

19. Kapitel: Umweltlage, Sprache und Eigenständigkeit der Politik

20. Kapitel: Rationalität der Politik

21. Kapitel: Grenzen der Ausdifferenzierung

IV. Teil: Publikum

22. Kapitel: Ausdifferenzierung von Publikumsrollen

23. Kapitel: Innendifferenzierung der Publikumsrollen

24. Kapitel: Verwaltungspublikum

25. Kapitel: Politische Publikumsrollen

26. Kapitel: Rekrutierung

27. Kapitel: Öffentliche Meinung

Anhang

Editorische Notiz

Notizen zur Vorlesung Politische Soziologie

Register

I. Teil

Der soziologische Aspekt der Politik

1. Kapitel

Fachliche Abgrenzung der soziologischen Perspektive

Wer sich in der Fachperspektive der Soziologie dem Bereich des politischen Handelns nähert, stößt nicht auf ein unbeackertes Feld. Einerseits weiß der politisch Handelnde in gewissem Sinne immer schon selbst, was er will und unter welchen Umständen er handelt. Außerdem hat das politische Geschehen seit langem zu wissenschaftlicher Besinnung und Kritik angeregt. Es gibt politische Wissenschaft in vielerlei Gestalt. Die Bedeutung des Metiers bringt es zudem mit sich, daß politisches Wissen in hohen Graden bereits überlegtes, diskutiertes, verallgemeinertes Wissen ist und nicht nur auf der Kenntnis der konkreten Partner und Umstände beruht. Bevor der Soziologe dieses Feld betritt, wird er daher seine Forschungsausrüstung mustern und überlegen müssen, was ihn befähigt, mehr Wissen oder besonderes Wissen oder gar besseres Wissen zu ernten, vor allem aber: was ihn von der Politikwissenschaft unterscheidet. Welches ist der spezifisch soziologische Aspekt der Politik?

Die gegenwärtige Diskussion dieser Frage bietet außer der faktischen Feststellung eines unklaren Ineinanderübergehens von Politikwissenschaft und politischer Soziologie wenig Belehrendes.[1] Die Grenzen beider Disziplinen scheinen zu verschwimmen. Weder die gegenständlichen Interessen noch die Methoden, noch die Ansätze zur Theoriebildung unterscheiden sich deutlich, wenngleich man der Politikwissenschaft die größere Breite der Interessenentfaltung zugestehen kann. Man könnte versucht sein, die »Schuld« dafür bei der politischen Wissenschaft zu suchen, deren unbestimmtes, kontroversenreiches Selbstverständnis keine klare Grenzziehung erlaubt. Daran ist jedenfalls eines richtig: daß es nicht der politischen Soziologie obliegt, die theoretische Position, den Gegenstand und die Grenzen der Politikwissenschaft zu definieren und damit die Abgrenzungsfrage allein zu entscheiden.[2] Andererseits sollte nicht verkannt werden, daß auch die Soziologie ihren Teil Verantwortung für die gegenwärtige Konfusion übernehmen und abarbeiten muß. Soziologie ist eine spätgekommene und daher expansive, in andere Disziplinen übergreifende Wissenschaft. Wo immer sie auf schon konstituierte Wissensbereiche stößt, die sich ebenfalls mit menschlichem Handeln befassen, ergeben sich Abgrenzungsschwierigkeiten. Die Rechtssoziologie hat ihre wichtigsten Beiträge gerade als soziologische Grundlagentheorie der Rechtswissenschaft erbracht.[3] Die Organisationssoziologie steht in einem recht problematischen Verhältnis zur klassischen Organisations- und Betriebswirtschaftslehre[4] – eine Begegnung, aus der sich eine interdisziplinäre Organisationswissenschaft zu entwickeln scheint.[5] Ähnliches gilt für die Verwaltungssoziologie und Verwaltungswissenschaft.[6] Die Sprachsoziologie weist zumindest mit der behavioristischen Sprachwissenschaft starke Überschneidungen auf.[7] Und die Grenzzone zwischen Soziologie und Psychologie ist so breit und so stark bevölkert, daß sie den Status eines autonomen Gebietes beansprucht: Sozialpsychologie. Es wird demnach nicht allein an der Undiszipliniertheit des Partners liegen, wenn die politische Soziologie nicht in der Lage ist, sich mit der Politikwissenschaft über ein Schema der Arbeitsteilung zu verständigen. Vielmehr sollte der Soziologe in erster Linie zu erkennen suchen, welche Intentionen, Engagements und Erkenntnismittel seines eigenen Fachs in den zahlreichen Grenzkonflikten ans Licht kommen; und besonders im Verhältnis zur Politikwissenschaft käme es dann nicht so sehr darauf an, die bestehende Konfusion durch den einen oder anderen Abgrenzungsvorschlag zu beheben, als vielmehr: aus ihr die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Die Grenzkonflikte sind nur Teil einer sehr viel allgemeineren Problematik, der sich die Soziologie gegenübersieht. Als eine Wissenschaft, die sich mit menschlichem Erleben und Handeln befaßt, muß sie alltäglich konstituierten Sinn, also Wissen, immer schon voraussetzen.[8] Auch wenn sie aus dem »Verstehen« keine zuverlässige Methodologie zu entwickeln vermag, muß sie ihren Gegenstand zunächst einmal durch Verstehen von intendiertem Sinn gewinnen. Insofern kann man sagen, daß Soziologie ihrem Wesen nach stets aufklärende Kritik von konstituiertem Wissen ist – freilich Aufklärung und Kritik in einem ganz bestimmten, neuartigen Stil. Dieser Stil soziologischer Aufklärung ist es, der die Eigenart soziologischer Forschung im Verhältnis zur Wirklichkeit, also auch zur politischen Wirklichkeit, und im Verhältnis zu anderen Wissenschaften auszeichnet.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Handlungswissenschaften, die unter dem Titel »praktische Philosophie« zusammengefaßt wurden und durchgehend ethisch bestimmt waren, sich als beratende Wissenschaften begriffen, deren Aufgabe es sei, dem Handelnden sein richtiges Handeln vorzustellen. Daher mußte ihr grundbegrifflicher Apparat dem pragmatischen Sinnhorizont des Handelns entsprechen, sich in ihn einfügen lassen. Die Handlungswissenschaften mußten sich an Zweckformeln und an verallgemeinerten Handlungsdispositionen (Tugenden) orientieren, von denen man zugleich Wahrheit und Gutheit behaupten konnte. Wie anders als durch Abbildung des Handelns selbst, durch Kongruenz des Erkennens mit dem Wesen des Handelns, durch Übernahme der vom Handelnden erlebten und gemeinten Zweckstruktur hätte denn die Wissenschaft ihrem Gegenstand gerecht werden, wie anders hätte sie dem Wesen des Handelns nahekommen können? Diese Auffassung war so natürlich, so selbstverständlich, daß es der Gegenposition, die sich im 19. Jahrhundert zu entwickeln beginnt, bis heute schwerfällt, sich ihr eigenes Prinzip bewußtzumachen. Denn sie sucht das Handeln nicht durch Annäherung, sondern durch Abstandnahme, nicht in kongruenter Einstellung, sondern durch Anlegung inkongruenter Perspektiven zu erkennen. Ein solches Programm ist augenscheinlich absurd – und gerade darum erfolgreich.

Diese neue umweghafte Erkenntnisweise brachte sich vor allem in der Soziologie und in der Psychologie zur Geltung, hatte aber namentlich in der Zeit der Umwälzung, der zweiten Hälfte des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts, auch zahlreiche andere Geistesströmungen erfaßt und verunsichert.[9] Ihr Erfolg beruht darauf, daß sie die Begrenztheit des Handlungshorizontes, der vom Handelnden gemeinten Welt sprengte und dadurch in der Lage war, mehr Komplexität zu erfassen und zu verarbeiten, als dem Handelnden selbst zugänglich sein kann.

Die traditionellen, ethisch bestimmten Handlungswissenschaften hatten nur Möglichkeiten in Betracht gezogen, die vom Handelnden als eigene Möglichkeiten ergriffen werden konnten. Die neuen, verfremdenden Erkenntnistechniken bemühen sich dagegen, das Handeln unter Aspekten zu begreifen, die dem Handelnden unbewußt sein und bleiben können, ja deren Aufhellung unter Umständen sogar seine Handlungsfähigkeit zerstören, die Motivkraft seiner Ziele beeinträchtigen könnte.[10]

In Reaktion auf den Wahrheitsverlust der Zwecke, auf den Zerfall der teleologischen Handlungsauslegung wurden jene inkongruenten Perspektiven zunächst in latenten, nicht motivfähigen Ursachen gesucht: Das Handeln sei in Wahrheit durch ökonomische Existenzbedingungen, durch biologische Auslesegesetzlichkeiten im Kampf ums Dasein, durch Urlibido, Angst, Nachahmungstrieb oder was immer bestimmt, und die Zielvorstellungen und Situationsauslegungen des Handelnden seien demgegenüber künstlich aufgebaute Scheinwelten, Ideologien, Rationalisierungen, Sublimierungen ohne eigenen Wahrheitswert. Auf diese Weise nahm die wissenschaftliche Aufklärung einen entlarvenden, diskreditierenden Zug an; sie maßte sich an, die Orientierungsbegriffe des Handelnden zu zerstören, ohne sie in ihrer Funktion zu erkennen und ohne sie ersetzen zu können.[11] Die Universalisierung dieser destruktiven Tendenz durch die sogenannte Wissenssoziologie vermochte dem Verfahren etwas Schärfe zu nehmen – geteiltes Leid ist halbes Leid –, hat aber im Grundsätzlichen nichts geändert. Im Grunde sind all diese »Faktortheorien« vorsoziologisches Gedankengut, weil sie durch ihr Bestreben, soziale Systeme aus einfachen, elementaren Ursachen zu erklären, die immer schon komplex konstituierte soziale Gegenständlichkeit aus dem Auge verlieren.

Die Faktortheorien scheitern letztlich daran, daß sie den gleichen Fehler begehen wie die Zwecktheorien: Sie verwenden ein gedankliches Schema von zu geringer Komplexität. Die Abwendung von Zwecktheorien war ausgelöst durch die frühneuzeitliche Präzisierung wissenschaftlicher Wahrheit auf intersubjektiv zwingend gewisse Feststellungen. Wahrheit in diesem Sinne konnte man allenfalls in bezug auf Ursachen, nicht aber in bezug auf Zwecke, allenfalls in mechanischer, nicht aber in teleologischer Kausalität zu erreichen hoffen. Mit dieser Umstellung wurde ein anderes Problem nicht gelöst, das sich nunmehr als das kritische erweist: Weder spezifische Zwecke noch spezifische Ursachen sind geeignet, komplexe soziale Systeme hinreichend zu erklären, weil sie als Grundvorstellungen dafür viel zu einfach sind. Deshalb läßt sich in der neueren soziologischen Theorieentwicklung ein deutlicher Übergang von Faktortheorien zu Systemtheorien beobachten, und erst in diesem Übergang konstituiert sich die Soziologie als eigenständige, auf genuin soziologischen Grundbegriffen beruhende Wissenschaft.[12]

In dem Maße, als die Soziologie sich durch eine Theorie des Sozialsystems konsolidiert, gewinnt sie ein allgemeines analytisches Instrumentarium, das für sehr komplexe Sachverhalte besonders geeignet ist. Die Steigerung des Potentials für Komplexität läßt sich sowohl an den neueren Entwicklungen der Systemtheorie selbst als auch an der sie fördernden funktionalen Methode ablesen.[13] Die allgemeine Systemtheorie[14] scheint sich von einer Theorie der Zusammenfügung von Teilen zu einem Ganzen, also eines rein internen Ordnungsproblems, zu einer System/Umwelt-Theorie zu entwickeln, welche die Bedingungen der Erhaltung von Systemen in einer äußerst komplexen, unvorhersehbar fluktuierenden Umwelt untersucht und dabei sowohl die Systeme selbst als auch ihre Umwelten als Variablen behandelt. Die funktionale Methode knüpft an diese durch doppelseitige Variabilität unbestimmt bleibende Bestandsproblematik an. Sie analysiert die systemerhaltenden Leistungen im Hinblick auf latente ebenso wie auf manifeste, auf negative ebenso wie auf positive Funktionen und sieht in jeder Funktion zudem nur ein vergleichendes Schema, das faktisch auf sehr verschiedenartige, funktional äquivalente Weisen verwirklicht werden kann. Alles in allem kommt in diesen verschiedenen Einzelaspekten der Umbildung klassischer kausalwissenschaftlicher Theorie- und Methodenkonzeptionen ein Interesse an der Erfassung sehr komplexer Tatbestände zur Geltung, für das ein zusammenfassender theoretischer Ausdruck noch gefunden werden muß.

Trifft diese Deutung zu, dann erhellt sie zugleich den inneren Grund, aus dem kongruente durch inkongruente wissenschaftliche Perspektiven ersetzt worden sind. Die Möglichkeiten, im Entwurf zweckmäßiger Handlungen ein komplexes Feld von Möglichkeiten zu erfassen und auf entscheidbare Sinnfragen zu reduzieren, sind begrenzt. Die dazu benutzten Darstellungsmittel, das Zweck/Mittel-Schema, das »ceteris paribus« geltende Kausalgesetz, invariant und prämissengleich benutzte Sinntypen und vor allem der unreflektierte Gebrauch von Sprache, erweisen sich als wissenschaftlich unzulänglich. Sie werden untergraben, weil sie schon reduzierte Komplexität voraussetzen, deren Verarbeitung vom Handelnden nicht geleistet und daher nicht verantwortet wird. Sie werden aber zugleich in ihrer Funktion bestätigt, weil sie den Druck übermäßiger Komplexität absorbieren und so überhaupt erst sinnvolles Handeln ermöglichen.

Mit diesen Überlegungen bahnt sich eine Möglichkeit an, die scharfe Diskrepanz von wahrheitsfähiger Theorie und handlungsfähiger Praxis zu mildern, ohne im geringsten zur traditionellen, kongruenten, teleologischen Handlungswissenschaft zurückzukehren.[15] Die Kluft zwischen inkongruent verstehender Wissenschaft und zielgebundenem Selbstverständnis des Handelnden läßt sich dadurch überbrücken, daß beide Sinnsphären auf den einheitlichen Nenner einer gemeinsamen Problemformel gebracht werden. Die Formel lautet: Erfassung und Reduktion von Komplexität.

Das Problem der Komplexität, die Notwendigkeit, eine Vielfalt des Möglichen in begrenzter Zeit auf aktualisierbaren Sinn zu bringen, läßt sich als letztes Bezugsproblem aller funktionalen Analysen verwenden, und zwar auf verschiedenen Ebenen der Komplexität: für Handlungssysteme, für Entscheidungsmodelle und für Situationen des konkreten Verhaltens. Systemtheorien, und unter ihnen namentlich die Theorie sozialer Systeme, können Handlungssysteme analysieren unter dem funktionalen Bezugsgesichtspunkt einer Reduktion der äußersten Komplexität der Welt durch einen »subjektiven« Weltentwurf und durch Stabilisierung einer diesen Entwurf tragenden Systemstruktur von geringerer Komplexität (und das heißt: höherer Ordnung). Entscheidungstheorien behandeln spezifische Problemlösungssprachen der Mathematik, des Rechts, der wirtschaftlichen Kalkulation oder der Maschinenprogrammierung und konstruieren mit Hilfe dieser Sprachen vielfältig verwendbare Entscheidungsmodelle. In diesen Modellen werden die Bedingungen festgelegt, unter denen Entscheidungsvorschläge bzw. einzelne Entscheidungsschritte als Problemlösungen akzeptiert werden können. Dabei muß vorausgesetzt werden, daß es Handlungssysteme gibt, die so strukturiert sind, daß sie ihre Probleme auf diese Weise lösen können. Situationsmäßige Handlungsplanungen setzen schließlich eine unter Zweckgesichtspunkten strukturierte konkrete Situation, also einen schon sehr stark vereinfachten Weltzustand, voraus, der sinnvolles Wählen zwischen wenigen übersehbaren Alternativen ohne allzu großen Zeitaufwand ermöglicht.

Alle drei Ansatzpunkte der Funktionalisierung können in eine Ordnung abnehmender Komplexität und in ein Verhältnis wechselseitiger Kooperation gebracht werden, indem die Systemtheorien den Entscheidungstheorien strukturierte Problemstellungen, diese dem konkreten Handeln Entscheidungsmodelle als Entscheidungsprogramme vorgeben. Die Fruchtbarkeit einer solchen Kooperation beruht dann darauf, daß die einzelnen Ansatzpunkte nicht verschmolzen, insbesondere nicht auf eine gemeinsame Axiomatik zurückgeführt werden, sondern in ihrer Unterschiedlichkeit erhalten bleiben, so daß von den Systemtheorien keine Handlungsvorschläge, von den Entscheidungstheorien und Handlungsplanungen dagegen nicht die Reduktion äußerster Komplexität, sondern nur das Abarbeiten vorkonstruierter Aufgaben erwartet werden kann.

Wenn man die Soziologie als Theorie sozialer Systeme identifiziert, werden demnach ihre eigentlichen Abgrenzungsprobleme, von der geschichtlichen Frontstellung gegen die Ethik einmal abgesehen, im Verhältnis zu den Entscheidungstheorien zu erwarten sein. Das gilt denn auch für die politische Soziologie. Ob deren Partnerin, die Politikwissenschaft, ihr Selbstverständnis im Rahmen einer Entscheidungstheorie konsolidieren und sich damit begnügen kann, die spezifische Rationalität des politischen Kalküls auszuarbeiten, bleibt abzuwarten. Eine wichtige Lücke wäre hier zu füllen, da wir zwar die bürokratieinternen Entscheidungsprozesse in ihren Programmen juristisch und wirtschaftlich durchkonstruiert haben, über die eigentümliche Rationalität des politischen Verhaltens aber noch sehr wenig wissen. Sollte diese begrenzte Rolle der Politikwissenschaft nicht zusagen, könnte sie sich auch als offenes Meer immer neuer Einfälle und Theorieversuche Verdienste erwerben, da sie, anders als die politische Soziologie, nicht auf die Konsistenz ihrer Theorien mit denen einer umfassenden Mutterwissenschaft Rücksicht zu nehmen braucht und dadurch freier gestellt ist.

2. Kapitel

Theoretischer Bezugsrahmen: Systemtheorie

Der Umweg, auf dem wir eine fachliche Abgrenzung der soziologischen Perspektive erarbeitet haben, zahlt sich aus, wenn es nunmehr gilt, die theoretischen Prämissen der nachfolgenden Untersuchungen zu skizzieren. Die Zugehörigkeit der politischen Soziologie zum allgemeinen Fachverband der Soziologie legt es nahe, als Grundbegriff den Begriff des »politischen Systems« zu verwenden.[1]

Dabei muß vor allem geklärt werden, in welchem Sinne wir von System sprechen und in welchem Sinne das politische Handeln als ein System besonderer Art angesehen werden kann. Eine allgemein anerkannte Systemtheorie fehlt in der Soziologie, ebenso wie in anderen Disziplinen. Wir können also nicht eine schon vorhandene Theorie des Sozialsystems auf den Sonderfall des politischen Systems übertragen. Außerdem sind gerade in der Soziologie drei für die Systemtheorie zentrale Kontroversen offen. Deshalb können wir unsere Ausgangspunkte nur durch Erörterung und Entscheidung dieser Kontroversen treffen.

Einmal geht es um die Frage, aus welchen »Einheiten« Sozialsysteme bestehen: aus Menschen oder aus Handlungen. Mit dieser Frage ist eine Weiche gestellt, deren Schaltung gerade im Bereich der politischen Soziologie von weittragender Bedeutung ist. Die Antwort muß daher sorgfältig überlegt werden.

Das traditionelle deutsche Staatsdenken definiert den Staat als einen »Verband«, der aus Menschen besteht.[2] Die Menschen gelten als Glieder des Staates, der Staat ist letztlich das politisch geformte Volk selbst, ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter »Rechtsgesetzen«.[3] Ernst genommen, würde das heißen, daß der Mensch mit seinem gesamten Dasein den Staat aktualisiert, was für Zeitunglesen und Schützenfeste noch angehen mag, beim Blumenbegießen oder beim Verdauen aber problematisch wird. Wenn man, um solche Verbiederung des Staates zu vermeiden, seine Sphäre auf den Menschen als sittliche Person einschränkt, stellt sich aber bereits die Frage, welche faktischen Erlebnisse und Handlungen damit gemeint sind im Unterschied zu anderen Aspekten menschlichen Daseins.

Demgegenüber ist es heute vorherrschende soziologische Auffassung, daß soziale Systeme aus Handlungen bzw. letztlich auf Handlungen zurückführbaren Teilsystemen, zum Beispiel Rollen, bestehen.[4] Der Grund für diese Theorieentscheidungen ist weniger die Tatsache, daß konkrete Menschen vielen Sozialsystemen zugleich angehören können. Das gilt auch für konkrete Handlungen. Überhaupt können Sozialsysteme normalerweise nicht gegeneinander exklusiv verstanden werden. Auch der Umstand, daß Sozialsysteme den Wechsel ihrer Mitglieder überdauern können, ist nicht ausschlaggebend; denn auch in bezug auf bestimmte Handlungen ist eine gewisse strukturelle Indifferenz sozialer Systeme erreichbar, ja bestandswesentlich. Zur Auffassung des Sozialsystems als eines Handlungssystems zwingt vielmehr die Einsicht, daß die Bildung und Erhaltung von Sozialsystemen ganz spezifische Probleme stellt, die nicht auf dem Wege über eine Integration von Handlungen zu Persönlichkeitssystemen gelöst werden können, im Gegenteil sogar sehr oft eine Entpersönlichung des Handelns erfordern. Die individuelle Persönlichkeit ist ein Integrationsprinzip neben dem des Sozialsystems und deshalb kein Untersystem, kein Baustein des Sozialsystems. Diese Umorientierung vom Menschenkollektiv auf soziale Handlungssysteme gibt der Soziologie die Möglichkeit, die besondere Problemstruktur sozialer Systeme als Anknüpfungspunkt für funktionale Analysen auszuarbeiten und in diesem theoretischen Bezugsrahmen ihre fachliche Selbständigkeit zu finden. Davon profitiert auch die politische Soziologie. Sie braucht ihren Gegenstand nicht länger als konkrete Menschengruppe besonderer Art darzustellen mit all den kompakten Interessenverschmelzungen, die das bedeutet; sondern sie vermag nun das politische System als ein funktional-spezifisch orientiertes Handlungssystem zu analysieren, das der Lösung bestimmter sozialer Probleme dient und den Menschen nicht in der vollen Konkretheit seines faktischen Daseins, sondern nur in bestimmten Handlungen oder einzelnen Rollen in Anspruch nimmt, soweit dies zur Lösung jener Probleme erforderlich ist. Auf diese Weise läßt sich eine scharfe Abgrenzung des politischen Systems nicht nur gegenüber der individuellen Persönlichkeit, sondern auch gegenüber anderen, auf andersartige Funktionen ausgerichteten Sozialsystemen gewinnen – etwa gegenüber solchen der Wirtschaft, des Bildungswesens, der Religion, der Krankenfürsorge usw.

Geht man mit der Abstraktion so weit, dann liegt es nahe, noch einen weiteren Schritt zu tun und das soziale System bzw. in unserem Falle das politische System als ein nur »analytisches« System zu charakterisieren, das nicht eigentlich aus konkreten Handlungen, sondern nur aus ausgewählten Sinnaspekten bestimmter Handlungen besteht. Diese Auffassung wird aus allgemeinen methodologischen Gründen namentlich von Talcott Parsons,[5] im Bereich der Politikwissenschaft sehr betont von David Easton[6] vertreten. Das ist das zweite Grundproblem der Systemtheorie, das wir vorab erörtern müssen.

In einer gewissen Weise ist das Problem ein Scheinproblem, denn jede menschliche Wirklichkeitsauffassung, nicht nur die wissenschaftliche, geht selektiv vor. Konkrete Dinge oder Ereignisse können nie in ihrer vollen Konkretheit aktuell erlebt werden.[7] Die Frage kann daher nur sein, wer die Selektionsentscheidung trifft und nach welchen Kriterien. Hier neigt die Theorie analytischer Systeme zu einer gefährlichen Konfusion, nämlich das selektive Relevanzschema des Handelnden selbst mit dem der analytisch vorgehenden Wissenschaft zu identifizieren oder sich doch jenes durch dieses zu verdecken. Gerade das darf aber in einer Handlungswissenschaft, welche die Vorteile einer inkongruenten Erkenntnistechnik ernten will, nicht geschehen.

In der allgemeinen Systemtheorie findet man den gleichen analytischen Systembegriff vor allem in Form der These, daß es vom Standpunkt des Betrachters und seinem Forschungszweck abhänge, wo er die Grenzen des Systems ziehe.[8] Diese Auffassung widerstreitet jedoch, wenn man sie nicht erheblich abschwächt, der Tendenz, gerade die System/Umwelt-Beziehungen, also grenzstabilisierende Leistungen und grenzüberschreitende Prozesse, zu erforschen. Wäre sie richtig, dann wäre nicht einzusehen, wie Systemgrenzen überhaupt zum Forschungsgegenstand gemacht werden können, da sie bereits durch Prämissen der Analyse definiert sind. Sie könnten dann allenfalls noch der Ausgrenzung dessen dienen, was man in einem bestimmten Forschungszusammenhang thematisch nicht berücksichtigen will.

Bei Handlungssystemen kommt noch hinzu, daß Handlungen intentionale Akte sind, die sich Systemzusammenhänge und Systemgrenzen bewußtmachen können. Diese bewußte Grenzziehung im sozialen Leben selbst ist der wichtigste Mechanismus der Bildung und Konsolidierung sozialer Systeme. Die Handelnden selbst unterscheiden: wir und die anderen. Dem Wissenschaftler steht zwar frei, sein Thema zu wählen, dieses oder jenes System zu erforschen, zum Beispiel nicht die gesamte Staatsverwaltung, sondern eine bestimmte Fachbehörde; aber er kann diese Entscheidung nur treffen im Anschluß an die Strukturen, die sich im Erleben der Handelnden selbst abzeichnen. Er würde sein Thema verfälschen, wollte er zum Beispiel in bezug auf sehr einfache, archaische, auf dem Familienverband beruhende Sozialordnungen »das politische System«, »das wirtschaftliche System«, »das religiöse System« usw. unterscheiden, obwohl jene Ordnungen gerade dadurch gekennzeichnet waren, daß es solche Systembildungen im Bewußtsein der Beteiligten noch gar nicht gab, die Ordnung vielmehr funktional undifferenziert erlebt und verwirklicht wurde.

Der dritte Diskussionspunkt betrifft die Frage, ob und in welchem Sinne die funktionale Analyse sozialer Systeme konstante Systemstrukturen voraussetzen muß. Die sogenannte strukturell-funktionale Theorie hatte sich zunächst genötigt gefühlt, gewisse Systemstrukturen als theoretische Prämissen hinzunehmen,[9] und ist deswegen vielfach als statisch-konservativ und allzu harmonisch voreingenommen kritisiert worden.[10] Inzwischen scheint Parsons selbst im Zuge der inhaltlichen Ausarbeitung seiner Theorie des Aktionssystems von dieser Annahme einer notwendigen strukturellen Begrenzung jeder funktionalen Analyse langsam abzurücken.[11] Auch hier scheint die Ausgangsfrage, zumindest von den Kritikern, zu einfach gestellt zu sein.

Richtig ist, daß jedes komplexe Handlungssystem strukturiert sein muß, weil es andernfalls keine anderen Möglichkeiten ausschließen könnte und ins Chaos zerfiele. Systemstrukturen ermöglichen überhaupt erst die Bildung relativ verläßlicher Verhaltenserwartungen und damit Interaktionen in Systemen. Aber sie sind als Objektstrukturen nur Thema und nicht zugleich auch Prämisse der wissenschaftlichen Forschung. Auch hier muß man sich vor einer Verschmelzung beider Perspektiven hüten: Was für den Handelnden invariante Struktur ist, braucht deswegen nicht auch in der wissenschaftlichen Analyse als für sie invariante Struktur verwendet werden.

Richtig ist ferner, daß jeder wissenschaftlichen Analyse eine eigene Struktur in Form konstant bleibender theoretischer Prämissen zugrunde liegen muß, aber die funktionale Analyse findet ihre Konstanten in Funktionen, nicht in Strukturen. Allerdings können manche Funktionen von Strukturen abhängig sein. Solche sekundären Funktionen lassen sich nur unter der Voraussetzung bestimmter Systemstrukturen explizieren. Man kann die Funktionen einer korrupten »Parteimaschine«[12] oder des taktischen Verhaltens von Bürokraten, die sich das Vertrauen der Abgeordneten ihres Parlamentsausschusses zu erhalten suchen,[13] nur unter der Voraussetzung einer bestimmten parlamentarischen Struktur des politischen Systems erkennen. Prinzipiell muß aber die Soziologie sich die Möglichkeiten offenhalten, auch diese Strukturen als Lösungen grundlegender Probleme zu analysieren, also Strukturen jeder Art zu reproblematisieren. Und sie muß letztlich in der Lage sein, nach der Funktion der Systembildung überhaupt und nach der Funktion von Strukturen schlechthin zu fragen. Die strukturell-funktionale Theorie muß mithin zu einer funktional-strukturellen Theorie ausgebaut werden.

Besonders für die politische Soziologie wäre es verhängnisvoll, ihre Forschungen grundsätzlich an vorgegebene Systemstrukturen zu binden, sich zum Beispiel auf den Systemtypus der westlich-parlamentarischen Demokratie festzulegen und daneben allenfalls zusammenhanglos andere Theorien für andere Systemtypen zuzulassen.[14] Eine solche Konzeption würde die Möglichkeiten eines Vergleichs verschiedenartiger politischer Systeme unterbinden oder auf »ähnliche« Systeme einschränken. Gerade in der vergleichenden Analyse sehr heterogener, verschieden strukturierter politischer Systeme von Zivilisationsländern und Entwicklungsländern, von autoritär oder demokratisch, liberal oder sozialistisch verfaßten Staaten liegen jedoch die zukunftsträchtigen Chancen nicht nur der politischen Wissenschaft, sondern auch der politischen Soziologie.[15] Ein Vergleich ist nicht als struktureller Vergleich, zum Beispiel von Ministerpräsidenten mit Ministerpräsidenten – der eine hat eine Staatskanzlei, der andere nicht! –, fruchtbar, sondern nur im Hinblick auf eine Funktion als Vergleich verschiedenartiger, aber funktional äquivalenter Problemlösungen.[16] Will man die funktional-vergleichende Methode grundsätzlich und universell verwenden, will man keinen Gegenstand im Forschungsbereich der Wissenschaft dem Vergleich entziehen, sondern alles im Lichte anderer Möglichkeiten erfassen, dann zwingt auch das zum Übergang von strukturell-funktionalen zu funktional-strukturellen Theorien. Die Methodologie hat hier ihre Konsequenzen für die Theoriebildung.

Folgt man diesem Gedankengang, dann benötigt die Systemtheorie ein Grundproblem als funktionalen Gesichtspunkt, der alle spezifischen Systembildungen transzendiert und die Funktion der Systembildung überhaupt angibt; einen Bezugsgesichtspunkt, in dessen Perspektive alle Systeme welcher Art auch immer vergleichbar sind. Es liegt nahe, für diese Aufgabe jene Problemformel zu verwenden, um derentwillen die Soziologie den traditionellen kongruenten Handlungslehren entwachsen, zu inkongruenten Kausalperspektiven und schließlich zu Systemtheorien fortgeschritten ist: das Problem übermäßiger Komplexität. Systeme jeder Art verbreitern die Grundlagen des Erlebens und Handelns durch Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität. Sie erstrecken den Sinnbezug des Handelns über das hinaus, was der Handelnde selbst in seiner aktuellen Gegenwart erfassen und durchüberlegen kann. Sie geben ihm Anknüpfungspunkte, auf deren Sinnhaftigkeit (deren wahres »Sein«, deren »Geltung«) er sich abstützen kann, ohne den Sinn selbst geleistet zu haben. Und dies geschieht dadurch, daß Systeme sich in einer äußerst komplexen, unübersehbare Möglichkeiten in Aussicht stellenden Welt mit einer stärker verdichteten, höheren Ordnung, also mit geringerer Komplexität, stabilisieren. Man kann die Funktion der Systembildung daher auch als Absorption von Komplexität bezeichnen.

Wir werden mithin politische Soziologie als Theorie des politischen Systems abhandeln. Unter politischem System ist dabei weder das Kollektiv des Staatsvolkes noch die bloße Regierungs- und Verwaltungsorganisation zu verstehen. Weder der deutsche Staatsbegriff noch die angelsächsische Konzeption des »government« trifft das, was man heute als »politisches System« zu erforschen beginnt. Gemeint ist jenes soziale Handlungssystem, das dem primären Sinn seiner Handlungen nach auf die politische Funktion spezialisiert ist, im übrigen aber, wie jedes Sozialsystem, ein strukturiertes Handlungssystem ist, das gegenüber seiner Umwelt eine höhere, stabilisierungsbedürftige Ordnung aufweist und dadurch in der Lage ist, die Komplexität seiner Umwelt nach eigenen selektiven Gesichtspunkten zu erfassen und zu reduzieren.

3. Kapitel

Soziale Komplexität

Dem Problem der Weltkomplexität und der Funktion von Systembildungen schlechthin weiter nachzusinnen würde vom Thema der politischen Soziologie weit abführen. Wir müssen das Blickfeld einschränken auf die soziale Komplexität, in der wir das Bezugsproblem der Politik vermuten dürfen. Unter sozialer Komplexität ist eine Eigenschaft der Welt zu verstehen, nämlich die, daß aller Sinn in der Welt durch eine Mehrheit von Subjekten getragen wird, die gleichermaßen originäre Quellen ihres Erlebens und Handelns, also gleichermaßen je ein Ich, sind, so daß alle Übereinstimmung in Erleben und Handeln als kontingent begriffen werden muß. Jeder andere Mensch könnte als ein anderes Ich anders erleben und handeln als ich selbst. Nichts versteht sich von selbst. Damit ist nicht gesagt, daß jede Gemeinsamkeit Zufall ist, wohl aber, daß sie als Problem gesehen werden muß. Soziale Kontingenz, absolute Unzuverlässigkeit des Alter ego wird nicht als ein Faktum behauptet, wohl aber als ein Bezugsproblem unterstellt, mit dessen Hilfe sich sämtliche Mechanismen erkennen und vergleichen lassen, welche dazu beitragen, daß dieses Problem der Kontingenz gelöst und die Sozialordnung faktisch konstituiert wird.

In dieser Schärfe und Radikalität wird das Problem der sozialen Komplexität freilich erst im 20. Jahrhundert gestellt. Erst das 20. Jahrhundert radikalisiert die Annahme sozialer Bedingungen des Erlebens bis hin zu der These, daß identische Gegenständlichkeit schlechthin und damit Welt schlechthin aufgrund sozialer Kommunikation konstituiert werden.[1] Damit sind die Denkvoraussetzungen der klassischen politischen Theorie in entscheidender Weise verändert worden, ohne daß man in der politischen Wissenschaft oder in der politischen Soziologie diesen Wandel bisher registriert und auf seine Konsequenzen für das eigene Fach hin überlegt hätte.

Die aus der Antike stammende klassische Theorie der Politik war zugleich Theorie der Gesellschaft gewesen. Die Gesellschaft wurde von Platon bis Kant durchgehend als politisch verfaßte Gesellschaft, als polis, civitas, societas civilis gesehen.[2] Für die Beurteilung dieser Tradition, die bis heute in dem umfassenden Ordnungsanspruch des deutschen Staatsbegriffs fortwirkt, ist es entscheidend, den Grund zu erkennen, der diese Verschmelzung von politischer Theorie und Gesellschaftstheorie sinnvoll, notwendig, ja selbstverständlich machte. Er liegt in einem unzureichenden Begriff der sozialen Komplexität.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde soziale Komplexität nicht als Kontingenz der Welt begriffen, sondern auf menschliche Bedürfnisse bezogen. Der Mensch wurde in seinem Wesen als animal rationale definiert, das mit anderen, aber für sich, in einer schon vorhandenen Welt existiert und (nur) durch die Bedürfnisse seiner Lebensführung von anderen abhängig ist. Von anderen bedroht und auf andere angewiesen, muß der Mensch sich in eine soziale Ordnung fügen, die zugleich politische Ordnung ist, indem sie für die Lösung dieses Doppelproblems Bedrohtheit und Angewiesenheit – metus et indigentia – sorgt, dadurch daß sie Frieden und Gerechtigkeit – pax et iustitia – garantiert.[3]

Schon an diesen Doppelformen läßt sich ablesen, daß es diesem Denken im Grunde um die Abwendung von Nachteilen und die Sicherung von Vorteilen für die einzelnen Menschen geht, die als handelnde Wesen ihr Leben zu erhalten suchen in einer Welt, in der Güter knapp und Bedürfnisse dringlich sind. Die Konkurrenz um knappe Güter ist das Bezugsproblem, das die Bildung einer politischen Gesellschaft notwendig macht. Daher definiert denn auch die Teleologie des Handelns (und nicht etwa eine Systemtheorie) den Problemhorizont, in dem die traditionelle Politikwissenschaft sich als Theorie der Gesellschaft entfaltet.[4]

Bei aller drastischen Lebensnähe drückt der Gedanke der sozialen Bedrohtheit und Angewiesenheit des Menschen bereits hohe Komplexität aus, setzt er doch den anderen Menschen als jemanden voraus, der im Prinzip über Freundschaft und Feindschaft frei entscheiden kann und insofern unzuverlässig ist; der sich als hilfsbereit, tauschend und zuteilend erweisen, aber auch wegnehmen und töten kann. Diese Möglichkeiten faszinieren die Theorie der politischen Gesellschaft bis in die Neuzeit. Die Lehre von den Staatszwecken und den Staatsformen bezieht sich auf diese Grundproblematik. Der Gedanke des Staatsvertrages ist ein weiteres Mittel, diese Art Komplexität vor und nach ihrer Reduktion zu unterscheiden und zugleich die Reduktion selbst als zweckmäßige (ethische) Handlung rational zu konstruieren. Aber nirgends zeichnet sich ein Versuch ab, vom politischen Denken her die Möglichkeit von Wahrheit, Sinn und Sein in Frage zu stellen oder die Gesellschaft als ein politisches System auf diese Fragen hin zu entwerfen.

In dem Maße, als die Einsichten in die sozialen Bedingungen sinnbezogenen menschlichen Erlebens sich vertiefen, werden jedoch die Positionen des natürlich-naiven Welterlebens und zugleich die Positionen der ontologischen Metaphysik, welche die Lehre von der politischen Gesellschaft trugen, unterhöhlt und zum Einsturz gebracht. Die politische Theorie kann nicht länger voraussetzen, daß Mensch und Welt in naturhaft vorgegebener, wenn auch unvollkommener Ordnung einfach da sind und daß insoweit die unendliche Komplexität anderer möglicher Weltzustände schon reduziert ist. In einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, vor allem in der Soziologie und in der Theorie rationalen Handelns, wird das Problem der sozialen Kontingenz neu entdeckt und als ein Problem der Abstimmung von Verhaltenserwartungen gedeutet, das jede Interaktion und jedes rationale Handeln in sozialen Situationen zu lösen hat.[5] Damit ist das Problem der Abstimmung wechselseitiger Erwartungen in einer Weise gestellt, daß es kaum noch von der politischen Theorie allein bearbeitet werden kann. Neben den spezifisch politischen Mitteln der Abstimmung des Erwartens lassen sich andere entdecken, denen man nicht eigentlich politischen Charakter zusprechen kann, die vielmehr ihrerseits im politischen Handeln vorausgesetzt werden müssen: Sozialisierung und Anpassungsfähigkeit der Persönlichkeiten, Geldmechanismus, gemeinsam durchlebte und erinnerte Geschichte, Sachzwänge einer technisch komplizierten Dingwelt usw.

Wenn dem so ist, dann müssen Gesellschaft und politisches System getrennt begriffen werden,[6] denn die spezifisch politischen Einrichtungen und Entscheidungsmechanismen erschöpfen nicht das, was in der Gesellschaft geschehen muß, um soziale Komplexität zu reduzieren. Das politische System kann, vom Bezugsproblem der sozialen Komplexität her gesehen, nur ein Teilsystem der Gesellschaft sein.

Die gleiche Folgerung drängt verstärkt sich auf, wenn man zurückgeht auf die Theorie der intersubjektiven Konstitution allen Sinnes in der Welt und des Sinnes der Welt selbst. Diese Theorie setzt die Welt als absolut kontingent[7] oder, was auf dasselbe hinausläuft, als auch in sozialer Hinsicht äußerst komplex voraus. In dieser Konsequenz liegt es, allen Sinn auf sinnbildende Leistungen zurückzuführen und so zu funktionalisieren. Sie postuliert eine transzendentale Theorie der intersubjektiven Konstitution von Sinn – auch dies ein Problementwurf, der viel zu weit ist, als daß er durch eine Theorie der Politik ausgefüllt werden könnte. Schon der Übergang von einer Theorie der intersubjektiven Konstitution zu einer Theorie der Gesellschaft als System, den Husserl selbst sich ganz einfach vorstellte, ist schwierig genug.[8]

Die ältere Theorie der politischen Gesellschaft beruhte auf einer »natürlichen« Weltsicht, auf einem Anonymbleiben der konstituierenden Leistungen des Bewußtseins. Deshalb konnte sie politische Theorie und Gesellschaftstheorie verschmelzen und die Bildung und Erhaltung der Gesellschaft als politisches Problem sehen. Die Radikalisierung des Problemranges der Sozialdimension menschlichen Erlebens zwingt dazu, Gesellschaft und Politik als verschiedene Sozialsysteme zu begreifen und einander zuzuordnen. Damit gewinnt die Frage nach der spezifischen Funktion und den spezifischen Strukturmerkmalen eines politischen Systems – im Unterschied zur Gesellschaft im ganzen – kritische Bedeutung.

4. Kapitel

Die Funktion und Stellung des politischen Systems

Die Frage, worin das Wesen des Politischen zu finden sei, ist in der politischen Theorie ein alter Diskussionspunkt und anscheinend nicht abschließend zu klären. Sehr häufig wird Macht als Kern des Politischen genannt.[1] Andere Autoren bestimmen das Politische auf sehr alten Grundlagen durch Zweckformeln wie Gerechtigkeit, Frieden, Gemeinwohl oder gar als Erfüllung der Zwecksysteme[2] schlechthin. Einige Berühmtheit hat die Definition der Politik durch das Freund/Feind-Schema erlangt, die Carl Schmitt vorschlug.[3] Zuweilen wird auch das Risiko des Handelns im Unvorhersehbaren, also die Übernahme von Verantwortung durch mehr oder weniger irrationales Handeln, hervorgehoben.[4] All diese Auffassungen haben ihr eigenes Recht – und ihre eigene Fragwürdigkeit, wenn sie den Anspruch auf eine Aussage über das Wesen der Sache Politik erheben. Es dürfte daher ratsam sein, auf eine Wesensaussage zu verzichten und sich statt dessen um eine Klärung der spezifischen Funktion der Politik zu bemühen.

Dafür können die Wesensaussagen mindestens als Leitfaden dienen. Es fällt nämlich auf, daß sie alle mehr oder weniger deutlich eine Reduktion von Komplexität im Auge haben. Macht ist ein grandioses Mittel der Vereinfachung von Situationen auf das, was man selbst will. Zweckformeln setzen solche Vereinfachungen als Natur der Sache voraus. Freund/Feind-Schematisierungen ersetzen ganz offensichtlich komplexe Situationen durch eine grob vereinfachende Dichotomie, und irrationales Handeln reduziert Komplexität, weil es angeblich nicht anders geht, durch die Faktizität des Vollzugs von was immer es sei. Zumindest das Grundproblem der Politik ist in all diesen Theorien also deutlich greifbar. Es ist das Problem der sozialen Komplexität, das jede von ihnen vor sich hat, keine aber als solches erfaßt. Als Wesenstheorien der Politik werden sie ad infinitum miteinander konkurrieren, weil sie funktional äquivalente, also gleichberechtigte Möglichkeiten der Lösung des Problems der Politik als Wesen der Sache selbst proklamieren. Nur unter dem Gesichtspunkt ihres Bezugsproblems, also als problemlösende funktionale Leistung begriffen, können sie in eine einheitliche Theorie gefaßt werden. Dieses Bezugsproblem ist jedoch, wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, zu weit gefaßt. Erfassung und Reduktion sozialer Komplexität ist die Funktion der Gesellschaft schlechthin, und die Verschmelzung von Gesellschaft und politischem System läßt sich nicht halten. Das politische System kann nur ein Teilsystem der Gesellschaft sein. Die Theorie des politischen Systems setzt demnach eine Theorie struktureller Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme voraus, die an je spezifischen Funktionen orientiert sind – und genau in dieser Richtung scheint sich die neuere politische Soziologie zu entwickeln.[5]

Die spezifische Funktion dieses Teilsystems Politik bezieht sich nicht auf die volle soziale Komplexität, sondern nur auf jene Probleme der Gesellschaft, die nicht schon »von selbst« durch mehr oder weniger latent wirkende Mechanismen absorbiert noch durch individuellen Kampf gelöst werden. Komplexität, die weder durch Sprache oder durch Wahrheiten, durch das, was als »Natur« gilt, durch Institutionen, Kongruenz von Interessen, gemeinsame Geschichte, Konsens schon bewältigt ist noch der drastischen Reduktion durch Definition einer Freund/Feind-Situation überlassen werden kann, ohne daß Bestand und Zusammenhalt der Gesellschaft in Gefahr gerieten, bedarf einer besonderen Behandlung, die zwischen diesen Alternativen der Institutionalisierung und des offenen Konfliktes liegt – eben der politischen. Das politische System wird mit den »offenen« Problemen der Gesellschaft konfrontiert, und es löst diese Probleme durch bindende Entscheidung. Dabei bezieht sich die Bindung nicht nur auf das politische System selbst, sondern in erster Linie auf das umfassende Sozialsystem der Gesamtgesellschaft, in dem das politische System seine Funktion erfüllt. Das politische System reduziert Komplexität mithin nicht nur wie ein Organismus für sich selbst, als Bedingung seines eigenen Fortbestehens in einer übermäßig komplexen Welt, sondern in erster Linie für seine Umwelt, die selbst den Charakter eines umfassenden Systems hat.[6]

Die Charakterisierung des politischen Systems kann mithin nicht allein aus seiner Funktion abgeleitet werden; es muß eine strukturelle Bestimmung hinzutreten (und dies gilt schlechthin als eine allgemeine, wenn auch oft verkannte Regel der funktionalen Methode, da eine Funktion normalerweise auf verschiedene, funktional äquivalente Weise erfüllt werden kann, also Strukturen nicht festlegt). Die Funktion ergibt sich aus dem Bezug auf das Problem der sozialen Komplexität. Die Art, wie diese Funktion erfüllt wird, kann im groben durch den Begriff bindende Entscheidung wiedergegeben werden. Formal ähnlich verfährt Parsons, wenn er als spezifische Funktion des politischen Systems »goal attainment« annimmt und darüber hinaus zur weiteren Kennzeichnung des politischen Systems den Kommunikationsmechanismus der Macht verwendet und im Machtbegriff das Moment der bindenden Entscheidung unterbringt.

Daß diese Reduktion durch »bindende Entscheidung« erfolgt, heißt, daß im politischen System Prozesse selektiver Informationsverarbeitung ablaufen, deren Ergebnis von der gesellschaftlichen Umwelt des Systems akzeptiert wird – aus welchen Gründen immer. Die Gründe dieser Hinnahme gehören nicht zum Begriff des politischen Systems. Zwar gibt es sicher Gehorsamsgründe, die kein dauerhaftes politisches System entbehren kann, zum Beispiel den Besitz beträchtlicher Zwangsmittel, weitreichenden Rollenkonsens, Legitimität (im unten zu erörternden Sinne). Aber schon weil es dabei um eine Mehrheit völlig heterogener Gründe geht, andere hinzukommen mögen und die Gewichtsverteilung zwischen ihnen variabel ist, empfiehlt es sich nicht, den Begriff des politischen Systems durch Einbeziehung dieser Gesichtspunkte zu verunklären. Wir werden auf diese Frage ausführlich zurückkommen müssen. Zunächst sei nur festgehalten, daß ein politisches System nur besteht, wenn und soweit es einer Gesellschaft gelingt, den in bestimmten Rollen und Rollenzusammenhängen ablaufenden selektiven Prozessen Verbindlichkeit für andere Rollen zu verschaffen. Diese Funktionsbestimmung läßt vielerlei offen und eignet sich gerade dadurch als grundbegriffliche Konzeption einer vergleichenden politischen Soziologie.

[7][8]