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Über dieses Buch:

Das schlimmste Verbrechen, das man einer Frau antun kann: die Beschneidung. Auch das Nomadenmädchen Fadumo kann dem grausamen Brauch nicht entgehen. Mit acht Jahren wird sie im heißen Wüstensand beschnitten und erleidet unvorstellbare Qualen. Als sich die Wunde entzündet, schicken ihre Eltern sie zu ihrem Onkel in die Stadt. Doch die Folgen der Beschneidung und politische Unruhen zwingen Fadumo, ihr Heimatland zu verlassen und sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Und obwohl sich die schmerzlichen Erinnerungen an ihre Vergangenheit tief in ihr Gedächtnis eingebrannt haben, verliert Fadumo nie die Hoffnung und macht sich für die stark, die ein ähnliches Schicksal erleiden mussten.

Aufwühlend, ergreifend und sehr aktuell: Die Biografie der Menschenrechtsaktivistin Fadumo Korn.


Über die Autorinnen:

Fadumo Korn, geboren 1964 als Nomadenmädchen in Somalia, arbeitet für »Nala e. V.«, einen Verein, der sich gegen den Brauch der Genitalverstümmelung bei Frauen engagiert. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in München.


Die Autorin im Internet: www.faduma-korn.de

Fadumo Korns Buch entstand in Zusammenarbeit mit Sabine Eichhorst.
Sabine Eichhorst studierte Germanistik und Soziologie, arbeitete lange als Journalistin für verschiedene Radioprogramme der ARD und schreibt seit 1993 Bücher. Sie veröffentlichte u. a. den Bestseller »Ein Tagwerk Leben – Erinnerungen einer Magd«. 2002 erhielt sie den CIVIS-Medienpreis, 2011 wurde sie mit dem Herbert-Quandt-Medienpreis ausgezeichnet.


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Neuausgabe April 2015

Copyright © der Originalausgabe 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München unter Verwendung von Fotos von shutterstock © Galyna Andrushko und © Walter Korn

ISBN 978-3-95824-108-4

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Fadumo Korn

mit Sabine Eichhorst

Geboren im Großen Regen

Mein Leben zwischen Afrika und Deutschland

Mit einem Vorwort von Karlheinz Böhm

dotbooks.

Für Khadija Fous

VORWORT

In vielen afrikanischen und asiatischen Ländern wird noch heute eine Tradition aufrechterhalten, die als weibliche Beschneidung bezeichnet wird. So harmlos sich der Begriff anhört, so tragisch und grausam ist die Durchführung des Rituals in der Praxis. Viele Mädchen überleben das Beschneidungsritual nicht, und viele Frauen leiden ein Leben lang an Körper und Seele durch die Folgen der Beschneidung.

Unermüdliche Aufklärungsarbeit gegen diese Grausamkeit wird inzwischen von vielen Stellen betrieben, doch das ist keine leichte Aufgabe, denn vielerorts ist die Beschneidung der Frauen fest in der Kultur der Menschen verankert.

Aufklärung bedeutet auch, nicht zu verurteilen oder zu verbieten, vielmehr muss mit viel Einfühlungsvermögen und in ständiger Überzeugungsarbeit gegen falsches Traditionsbewusstsein, Missverständnis religiöser Schriften und männliches Besitzdenken, das die Unterdrückung der Frauen mit einschließt, vorgegangen werden. Deshalb ist es wichtig, dass sich nicht nur Frauen, sondern insbesondere auch Männer für die Abschaffung der weiblichen Genitalverstümmelung einsetzen. Gerade weil ich als Mann dieses schwierige Thema immer und immer wieder auch unter Männern thematisiere, ist es gelungen, viele Mädchen vor diesem schrecklichen Schicksal zu bewahren und ihnen ein glücklicheres Leben zu ermöglichen.

Fadumo Korn hat mit ihrem Buch, den darin enthaltenen Informationen und den eindrücklichen Schilderungen ihres Lebenswegs tiefe Einblicke in die Tragik der Situation vieler Mädchen und Frauen auf dieser Erde gegeben und damit auch einen wichtigen Beitrag zur Abschaffung der grausamen Tradition der Frauenbeschneidung geleistet, wofür ich ihr von Herzen Dank sage.

Fadumo Korn hat mit ihrem Buch, den darin enthaltenen Informationen und den eindrücklichen Schilderungen ihres Lebenswegs tiefe Einblicke in die Tragik der Situation vieler Mädchen und Frauen auf dieser Erde gegeben und damit auch einen wichtigen Beitrag zur Abschaffung der grausamen Tradition der Frauenbeschneidung geleistet, wofür ich ihr von Herzen Dank sage.

Grödig, im April 2004

Karlheinz Böhm,
Gründer der Stiftung »Menschen für Menschen«

NOMADENLEBEN

EINS

IN DER FERNE BRÜLLTE EIN LÖWE, ein tiefes, lang gezogenes Brüllen, das die Nacht verabschiedete. Die Luft roch nach Feuer und frischem Tee, und am Horizont zog das erste Licht des Tages auf. An meiner Schulter spürte ich die Wärme von Adans Atem, gleichmäßige Züge. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und setzte mich auf.

Nur wenige Schritte entfernt hockte meine Mutter und brach Zweige. Maryan, die zweite Frau von Onkel Yusuf, rollte Matten zusammen. Wo am Abend zuvor ihre Hütte gestanden hatte, lag ein metallener Koffer im Sand, zwei Schemel standen daneben, ein Eimer, Kochtöpfe. Wieder brüllte der Löwe, kurz diesmal. Bald würde er sich einen Schlafplatz suchen. Wir hatten die Nacht überstanden.

Tante Maryan begann, die bunten, geflochtenen Lederbänder zu lösen, die die Wände unserer Hütte schmückten. Meine Cousine Nadifo band Weidenstangen zu Bündeln, und in der Ferne hörte ich den hölzernen Ton einer Kamelglocke. Mein Bruder Adan erwachte. Ich griff nach seiner Hand. In wenigen Stunden, wenn die Sonne höher stünde, würde der Sand leuchten wie Kupfer. Jetzt, im Halbdunkel des Morgens, glichen die Silhouetten der Büsche struppigen Kugeln. Von Allah durch die weite Wüste getrieben, waren einige hierhin gerollt, andere dorthin, als habe Gott mit ihnen gespielt und dann die Lust am Spiel verloren.

Ab und zu erhob sich schwarz eine Schirmakazie.

Meine Mutter fachte die Glut an. Dann trug sie eine Kanne zu einem der Wasserbehälter und füllte sie mit Wasser. Adan streckte sich und zog das Tuch fest, das um seine Hüfte geschlungen war. Ich rollte unsere Schlafmatte zusammen. Meine Mutter goss Wasser in die Mulde, die Adan mit beiden Händen formte, und mein Bruder wusch sein Gesicht. Dann wandte sie sich mir zu; ich liebte die kühle Frische, die das Wasser jeden Morgen für einen Moment auf meiner Haut hinterließ.

Unser Lagerplatz war von einem Zaun aus dornigen Zweigen umgeben, hinter dem ich die Umrisse unserer Kamele erkannte. Ich hörte die Stimme meines älteren Bruders Jama, sein Schnalzen. Auch der Klang der Kamelglocke war nun deutlich zu hören, und mit jedem durchdringenden Ruf eines Tieres vibrierte die Luft. Ich legte die zusammengerollte Schlafmatte zu denen der anderen.

Ich wollte nicht umziehen. Ich wollte bei Mahad bleiben, meinem Freund.

Ein Schaf blökte, und Nadifo goss Tee in eine Schale. Mein Vater betrat den Platz vor dem Halbkreis unserer Hütten, er rief Adan etwas zu, und mein Bruder rannte zur Hütte von Timiro, Onkel Yusufs erster Frau. Kurz darauf kehrte er in Begleitung ihrer Söhne zurück. Jama trieb mehrere Lastkamele vor sich her, er schnalzte, und sein dünner Stock traf ihre Flanken. Zwei Kamelstuten bissen, geschickt wich Jama ihnen aus, die Tiere stießen lange kehlige Laute aus, dröhnende, fast drohende Bekundungen ihrer Empörung. »Ju«, rief mein Vater und zog an ihrem Zaumzeug, damit sie sich niederließen, und die Jungen schlugen mit ihren Ruten nach den Tieren. »Ju«, rief auch mein Cousin Said. Widerstrebend knickte das erste Tier mit den Vorderbeinen ein, sank mit der Last seines Gewichts zu Boden, den Hals lang gestreckt, den Kopf hoch erhoben. Auch die anderen Kamele bissen und spuckten und brüllten, doch mein Vater, Said und Jama kümmerten sich nicht darum. Schließlich saßen alle Tiere im Sand vor den Hütten. Die ledrige Haut ihrer Beine war staubig braun.

Die Männer begannen, die Herde zu untersuchen. Beinahe zärtlich fuhren sie mit den Händen durch das kurze Fell am Hals der Kamele, strichen über Bäuche und Rücken, tasteten nach Kletten und Zecken, kontrollierten die Hufe auf Dornen und Steine. Sie breiteten Decken und Matten über die Rücken der Tiere, strichen sie glatt, sorgsam darauf bedacht, dass nirgendwo etwas drückte oder scheuerte. Nach und nach beluden sie dann die Kamele mit unserem Hab und Gut. Ein Nomade besitzt nie mehr, als er auf den Rücken eines Kamels laden kann.

Eine Hand griff nach meinem Arm. »Geh und melk die Ziegen«, sagte meine Mutter. Ich nahm den hölzernen Krug und schlängelte mich zwischen den Kamelen hindurch zu den Gehegen. Vorsichtig, um mich nicht an den Dornen zu stechen, öffnete ich ein Gatter. Es roch nach Dung; lautes Meckern füllte die Luft. Die Ziegen stießen ihre Nasen gegen meine Beine, manche auch ihre Hörner. Durch mein Tuch hindurch spürte ich ihren Atem. Ich zählte nach, ob auch keines der Tiere über Nacht verschwunden war, dann hockte ich mich hin und griff nach einer Ziege. Sie meckerte jämmerlich. Rasch klemmte ich eines ihrer Beine zwischen meine Knie und begann, über das Euter zu streichen, an den Zitzen zu ziehen. Doch das Tier wollte keine Milch geben. Es spürte, dass ein Umzug bevorstand.

Als ich mit der nur halb gefüllten Kanne zurückkehrte, waren schon alle Hütten verschwunden. Jama hatte die Vorderbeine der beladenen Kamele mit Stricken zusammengebunden, damit sie nicht fortlaufen konnten. Meine Mutter füllte einen Becher und reichte ihn meinem Vater, ließ meine Brüder trinken, dann mich und trank schließlich den Rest der noch warmen Milch.

Mahad. Wo war bloß Mahad?

Die Sonne hing über den Sandhügeln, als die Karawane sich in Bewegung setzte. Hufe scharrten im Sand, und Lämmer blökten. Die Kamele schnaubten, gurgelten, röhrten; einer Stute hatte mein Vater den Unterkiefer festgebunden, sodass sie nicht mehr beißen konnte. In einer langen Reihe zogen die Tiere an dem Dornenzaun entlang; dahinter lag verlassen, was unser Zuhause gewesen war.

Jama führte das Leittier. Hinter ihnen trieben Said und die Söhne von Onkel Yusuf den Zug an, ließen ihre Ruten knallen, schnalzten und zogen an den Sisalseilen, die am Halfter der Tiere festgeknüpft waren; ab und zu ahmte einer der Jungen Jamas Schnalzen nach. Nadifo und die anderen Mädchen versuchten, die Ziegen und Schafe beisammenzuhalten.

Ich saß im Sand, neben dem Platz, der uns als Feuerstelle gedient hatte, und sah der Karawane zu.

»Was ist los?«, fragte mein Vater, als er mich dort sitzen sah.

»Ich bleibe hier.«

Mein Vater beugte sich vor und sah zu mir herunter. »Meine Tochter bleibt hier?«

»Ich ziehe nicht mit um! Ich will bei Mahad bleiben.«

Mahad und ich gehörten zum selben Clan, waren entfernt verwandt. Mahad war so alt wie ich und nicht sehr beliebt, denn er konnte weder hören noch sprechen. Mich schreckte das nicht. Wir hatten eine Sprache gefunden, verständigten uns mit Zeichen und Gesten. Ich mochte Mahad und wollte ihn nicht zurücklassen. Er war doch mein Freund!

Mein Vater schüttelte den Kopf.

Das Leittier lief voraus, behäbig folgten ihm die Lastkamele. Baumhoch bepackt überragten sie ihre Antreiber, die nicht einmal halb so groß waren. Frauen und kleine Kinder marschierten hinterher, barfuß durch die Steppe, eingehüllt in Tücher, die sie vor der Sonne schützten. Ich starrte auf die Staubwolke, die immer kleiner wurde und noch zu sehen war, als von Menschen und Tieren längst kein Laut mehr zu hören war. Ich zog mein Tuch fester. Eine Fliege krabbelte über die Innenseite meines Unterarms.

Die Sonne stieg höher, ich schwitzte.

Die Staubwolke verschwand am Horizont.

Allmählich bekam ich Angst.

Ich fing an zu weinen. Vor Angst, aber auch vor Zorn riss ich mein Tuch los und warf es in die Glut der Feuerstelle. In Sekunden brannte es lichterloh. Ich war zu stolz, um hinter der Karawane herzulaufen; doch es kam auch niemand, um mich zu holen. Meine Familie zog fort und ließ mich einfach zurück!

Ich sah mich um. Im Schatten einer Schirmakazie, nur einen kurzen Fußmarsch entfernt, lagen die Hütten von Mahads Familie. Es war still. Um diese Zeit hüteten Mahads Schwestern und Cousinen die Ziegen, er selbst und seine Brüder führten die Kamele zur Wasserstelle. Sie würden erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehren.

Ich setzte mich in den heißen Sand, weinte, wartete.

Es mussten Stunden vergangen sein, als ich erneut eine Staubwolke entdeckte, eine kleinere diesmal, und sie bewegte sich geradewegs auf mich zu. Als sie nahe genug war, erkannte ich meinen Vater.

»Wie kann ein Kind nur so dickköpfig sein?«, schimpfte er. »Du kannst nicht hier bleiben. Wir müssen weiterziehen, denn hier gibt es kein Wasser mehr.«

Später gab mein Vater zu, dass er mich im Durcheinander des Aufbruchs vergessen hatte; er war sicher gewesen, dass ich nach kurzer Zeit von allein folgen würde.

Als er mich auf seine Schultern hob, grollte ich und war doch heilfroh. In der Hitze des Mittags zogen wir unserer Karawane hinterher.

Am späten Nachmittag schickte mein Vater einen Späher voraus. Es dämmerte schon, als er zurückkehrte und erklärte, er habe einen Platz für die Nacht gefunden, nur etwa eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt.

Jama und Said trieben die Kamele an, und der Späher lief wieder voraus. Bald war er nicht mehr zu erkennen, verschlungen von der roten Erde. »Er wird den Platz von bösen Geistern reinigen«, sagte mein Vater. »Und Holz sammeln, bevor es dunkel wird.« Ich stapfte hinter meinem Vater her. Mein Rock wickelte sich um meine Beine, und ich hatte Mühe, den eiligen Schritten der Erwachsenen zu folgen.

Der Platz, den wir mit Einbruch der Dunkelheit erreichten, sah genauso aus wie der, den wir am Morgen verlassen hatten. Mitten in der Steppe hatten andere Nomaden bereits einen Zaun aus Dornenzweigen errichtet, Pferche für ihre Ziegen und Schafe, umgeben von Dornengestrüpp, sodass die Tiere geschützt waren vor den Schakalen, den Hyänen und den Wildhunden, die sich in der Nacht anpirschten. Sie hatten Hütten aus Weidengestängen und geflochtenen Matten errichtet, hatten Wasserbehälter installiert und eine Feuerstelle in der Mitte des Platzes gebaut. Sie hatten das Lager erst vor kurzem verlassen; ihre Spuren waren noch nicht vom Wind verweht, der Tierkot frisch, der Zaun intakt. Die Männer luden das Gepäck ab. Da wir im Morgengrauen weiterziehen würden, richteten die Frauen ein Nachtlager unter freiem Himmel her. Dann begannen sie, Hirse für das Abendessen zuzubereiten.

Nach dem Essen saßen alle um das Feuer herum. Die Erwachsenen unterhielten sich; wir Kinder kuschelten uns auf unseren Schlafmatten aneinander. Ich hörte, wie mein Bruder sagte, ich müsse am Rand schlafen, und wenn ein Löwe käme, würde er mich zuerst fressen, doch ich war zu müde, um ihn deswegen zu verhauen.

Mein Name ist Fadumo Abdi Hersi Farah Husen. Ich bin die zweite Tochter und das fünfte Kind von Mayran Mohamed Elmi und Abdi Hersi Farah Husen. Ich wurde geboren im Großen Regen, 1964. Es war ein gutes Jahr; länger als sonst war die trockene Steppe im Ogaden in Somalia, nicht weit von der Grenze zu Äthiopien, grün und gab den Tieren und damit den Menschen Nahrung. Wer immer später über meine Geburt sprach, erinnerte sich an den Großen Regen.

Mein ältester Bruder Ahmed war damals schon erwachsen, er lebte als Soldat in der Stadt. Mein Bruder Jama war achtzehn. Er galt als der Schönste in der Familie, mit seinem muskulösen Körper und den ebenmäßigen weißen Zähnen. Khadija, meine Schwester, war neun Jahre alt und ein stures, ausgesprochen temperamentvolles Kind. Sie lebte die meiste Zeit in der Stadt, bei meinem Onkel Mohamed. Von Zeit zu Zeit besuchte sie uns. Mein Bruder Adan war vier Jahre älter als ich, und uns verband eine Hassliebe, denn ich hatte ihm seinen Platz als Nesthäkchen streitig gemacht. So, wie ein paar Jahre später Mohamed mich aus Mutters Armen vertreiben sollte.

Meine Haut war heller als die meiner Geschwister, und meine Haare schimmerten rötlich, wenn die Sonne darauf fiel. Beides gilt in Somalia als besonders schön und machte meine Mutter sehr stolz. Sie selbst war von kleiner, eher rundlicher Statur und sehr dunkel. Sie steckte voller Energie, versorgte die Familie, kochte, hütete das Vieh und bestellte die Felder, selbst wenn sie schwanger war. Sie mahlte Mehl, flocht Seile, stellte Matten oder Leder her und sprang im nächsten Moment schon wieder auf, um einem ihrer Kinder die Ohren lang zu ziehen, denn sie war sehr streng. Mein Vater war ein Riese mit leuchtend rotem Haar und einem hennagefärbten Bart; ein sanfter Mann, der nie schimpfte und sich selten aufregte.

Mein Vater hatte sich in Mulaho Mohamed Elmi verliebt, die Schwester meiner Mutter, die jedoch mit seinem Onkel verheiratet war. Der Onkel war alt, und als er starb, warb mein Vater um Mulaho. Sie war sehr schön, man sang Lieder über ihren hoch gewachsenen Körper und ihr langes Haar. Doch die Tradition sah vor, dass der Bruder des Toten dessen Witwe heiratete. So verhinderte man, dass Fremde einheirateten, und die Kinder blieben in der Familie.

Mein Vater entführte Mulaho.

Sie flohen, heirateten heimlich und kehrten erst zurück, als Mulaho schwanger war. Nach der Geburt meiner Halbschwester Halima wurde die Ehe annulliert und Mulaho mit dem Bruder ihres verstorbenen Mannes verheiratet. Mein Vater war sehr unglücklich darüber. Schließlich heiratete er Mulahos Schwester, meine Mutter. Deren Brüder, bei denen sie aufgewachsen war, denn die Eltern waren früh verstorben, hatten es so bestimmt. Als meine Mutter ihr erstes Kind zur Welt brachte, war sie gerade fünfzehn Jahre alt. Trotzdem führten meine Eltern offenbar eine glückliche Ehe; immerhin war mein Vater ein angesehener Mann aus guter Familie, und meine Mutter hatte den stolzen Charakter geerbt, den mein Vater schon an Mulaho so geliebt hatte.

In Somalia gibt es vier große Stämme, die Daarood, die Isaaq, die Hawiye und die Dir. Sie gliedern sich wiederum in zahlreiche Clans, die untereinander oft zerstritten sind. Die Stammeszugehörigkeit spielte schon immer eine wichtige Rolle für uns. Alle Nomadenkinder lernen früh die Lieder, die von der Geschichte ihres Stammes erzählen, sodass bereits die Kleinsten ihre Abstammungslinien auswendig kennen. Dabei können die Namen der Großväter bis zu sechzig Generationen zurückreichen! Ich gehöre zum Stamm der Daarood, zum Clan der Marehan, zur Familie der Reer Kooshin. Ich habe mehr als ein Dutzend Onkel und Tanten, rund vierzig Cousinen und Cousins sowie sechs Halbgeschwister; mit einigen lebten wir als Nomaden zusammen. Mein Vater besaß über fünfzig Kamele, mehr als fünfhundert Schafe und Ziegen und ein Dutzend Kühe.

Wir waren eine angesehene Familie.

Der Mond versank, die Frauen rollten die Matten zusammen, die Mädchen trieben die Ziegen aus den Gehegen, die Jungen holten die Kamele, und die Männer beluden sie.

Noch vor Sonnenaufgang zog die Karawane weiter.

Die Schafe rannten durcheinander, und die Ziegen liefen fort, sobald sie irgendwo einen Strauch entdeckten, an dem vielleicht ein paar Blätter zu finden waren. Ich folgte ihnen über die harte heiße Erde, trat in Stachel und schnitt mir an scharfen Wurzeln die Fußsohlen auf, Dornenbüsche zerkratzten meine Beine. Ich zog meine Schuhe aus und trug sie in der Hand, damit sie nicht kaputtgingen. Onkel Yusufs zweite Frau Maryan schimpfte, ständig machte eines der Kinder einen Fehler, eine Ziege ging verloren, oder jemand trödelte. Tagelang marschierten wir von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, legten endlose Entfernungen zurück.

Am fünften Tag blieb Tante Asha im Schatten einer Schirmakazie zurück. Ihr riesiger Bauch schmerzte, sie konnte kaum gehen. Ich verstand nicht, warum man sie nicht auf einem der Kamele reiten ließ; Kranke und Alte mussten doch auch nicht zu Fuß marschieren. Onkel Yusuf erklärte, die Kamele trügen bereits unsere Hütten und Vorräte und mehrere Lämmer, es sei kein Platz. Meine Mutter richtete Tante Asha ein Lager her und blieb bei ihr. Am Abend tauchten die beiden Frauen plötzlich aus der Dunkelheit auf. Im Schein des Lagerfeuers stand Tante Asha, das Gesicht durch die Flammen erleuchtet, und hielt ein Baby im Arm. Es war klein und runzelig und schnarchte. Alle Mädchen sprangen auf und wollten es streicheln.

Am nächsten Morgen lief Tante Asha mit dem Neugeborenen auf dem Rücken mit unserer Karawane weiter. Der Himmel war klar, und die Landschaft wechselte ihre Farbe mit dem Stand der Sonne. Sie hatte in der Frühe die Farbe eines Löwenfells und leuchtete gegen Abend rot wie wilde Tomaten. Wir kamen an meterhohen Termitenhügeln vorbei, in denen es surrte und summte, und manchmal fragte ich mich, ob es wirklich nur Tiere waren, die diese Geräusche verursachten. Vielleicht waren es Hexen und Geister? Ich bewunderte die Schönheit unserer Tiere, die schwarzweißen Muster der Ziegen, den majestätischen Gang der Kamele, ihre langen Wimpern, unter denen sie träge hervorblickten. Einmal während eines Umzugs, ich war krank gewesen, hatte mein Vater mich auf ein Kamel gehoben. Umgeben von Matten, hatte ich im Sattel gelegen, das gleichmäßige Schaukeln gespürt und war, überwältigt von der Monotonie und vom Fieber, eingeschlafen. Ich erwachte, als das Kamel einen Sprung zur Seite machte. Mein großer Bruder Jama stieß einen lauten Ruf aus, eine Peitsche knallte, und das Kamel ging mit mir durch. Es galoppierte davon, die Männer rannten hinterher, das Kamel lief schneller, es jagte, es flog. Und blieb dann abrupt stehen. Mitsamt Sattel und allem Gepäck schoss ich durch die Luft und landete in einem Dornenbusch. Seither ging ich lieber zu Fuß.

Am Nachmittag des neunten Tages erreichten wir unser Ziel. Es regnete, und die Erde dampfte. Wohin man auch sah, war es grün. Die Bäume schienen von innen her zu leuchten, die Büsche waren prall und üppig, wie trächtige Schafe. Aus dem Boden schossen Pflanzen, die es zuvor nicht gegeben hatte. Die Luft duftete, und die Herde war satt und zufrieden. Tante Maryan und meine Cousine Nadifo bogen Weidenstangen zu hohen Bogen und befestigten sie mit Sisalseilen. Meine Mutter rollte Bündel von Matten auseinander und begann, die Gestänge mit ihnen zu verkleiden. Bevor die Dunkelheit hereinbrach, standen unsere Hütten in einem Halbkreis, an beiden Außenseiten erstreckten sich die Gehege der Ziegen und Schafe, alles umgeben von einem Zaun aus Dornenzweigen. Onkel Yusuf baute aus Steinen eine Feuerstelle. Mein Vater spritzte geweihtes Wasser in die vier Ecken des Hofes und lud die guten Geister ein, bei uns zu verweilen.

Ob Mahad wohlauf war? Ob er neue Freunde gefunden hatte?

Schreie gellten durch die Nacht, und bevor ich richtig wach war, stürzte mein Vater aus unserer Hütte. Im nächsten Augenblick drehte er um, riss meinen Bruder hoch in seine Arme, rannte wieder hinaus, meine Mutter hinterher, mich an der Hand. Onkel Yusuf stand schreckensbleich vor seiner Hütte, neben ihm seine Frauen, die Kinder pressten sich an ihre Mütter. »Fort«, rief mein Vater. »Schnell fort!«

Ohne zu begreifen, was geschah, stolperte ich hinter meiner Mutter her. Sie hob mich hoch, hielt mir mit einer Hand den Mund zu und rannte in die Dunkelheit. Vor mir stolperte Nadifo. Ihr großer Bruder Said riss sie hoch. Alk liefen, als seien Löwen hinter uns her. Als wir eine Baumgruppe erreichten, knebelten die Erwachsenen uns und banden uns die Hände zusammen. Jemand steckte mich in einen ledernen Sack und schnürte ihn zu, sodass nur mein Kopf heraussah. Die Männer stiegen auf die Bäume. Jemand knüpfte mich hoch oben an einem Ast fest. Auch die Frauen kletterten auf die Bäume, hockten sich auf Äste, dicht an den Stamm gepresst. Mein Herz klopfte wild, mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in die Nacht.

Irgendwo hörte ich Stimmen, wütende, tobende Stimmen.

Die Männer liefen wieder davon. Ich wollte nach meinem Vater rufen, wollte wissen, wohin er lief, wollte schreien, er solle bei uns bleiben. Doch aus meinem Mund drang nur ein Gurgeln. »Still, Fadumo«, flüsterte meine Mutter. »Sei still, bei Allah!«

Vor Angst pinkelte ich in meinen ledernen Sack.

Das Geschrei kam näher. Ich sah Feuer und lodernde Fackeln. Niemand gab einen Laut von sich. Starr vor Schreck hockte meine Familie in den Bäumen. Mein Rücken schmerzte vor Angst, ein kalter, eiserner Schmerz. Ich hörte auf zu atmen.

Im Morgengrauen kehrten mein Vater und die anderen Männer zurück, sie hatten die Angreifer vertrieben. Mein Vater löste den Knebel in meinem Mund, und endlich begann ich zu weinen. Auch die anderen Kinder hatte man in Säcke gesteckt und an Ästen festgebunden, damit sie uns nicht verrieten, wenn sie vor Schreck in die Hosen machten. Mit zitternden Beinen standen wir vor den Bäumen, und ich starrte hinauf zu meiner Mutter, die versuchte, den Gurt des Sackes, in dem mein Bruder steckte, zu lösen.

Die Angreifer hatten keine Tiere geraubt, und die Frauen und Mädchen unserer Familie waren unversehrt. Aber Onkel Yusufs zweitältester Sohn war getötet worden. Die anderen Männer hatten sich retten können. Es geschah immer wieder, dass ein Stamm einen anderen angriff, und oft kamen die Angreifer im Schutz der Nacht. Einer meiner Cousins – er war seit Jahren tot – hatte, so erzählte man sich, an die vierhundert Männer des verfeindeten Hawiye-Stammes ermordet. Aus Rache überfielen uns die Hawiye-Krieger immer wieder. Es war ein endloses Gemetzel zwischen den Hawiye und den Daarood.

Am nächsten Tag verließen wir unseren Lagerplatz und zogen weiter. Den Tieren wurden Tücher um die Hufe gebunden, um ihre Spuren zu verwischen. Es dauerte viele Nächte, bis ich wieder ruhig schlafen konnte.

Am Morgen hatte unser Hirte die Kamele zu einem Fluss geführt, einen halben Tagesmarsch entfernt. Nun stand er meinem Vater gegenüber, schmächtig, mit schmutzigen Füßen, zerknirscht und angsterfüllt. Mein Vater schäumte. Seine Lieblingsstute hatte sich von der Herde entfernt und war seither verschwunden; obendrein war das Tier trächtig. Mein Vater schickte den Hirten fort und machte sich selbst auf die Suche. Mehrere Tage marschierte er zu Fuß durch die Steppe, las Spuren, befragte andere Nomaden, immer auf der Suche nach seinem Kamel. Schließlich kehrte er zurück.

Nie hatte ich meinen Vater so verzweifelt gesehen.

Die Wochen vergingen. Dann berichtete ein Nachbar, zwei Tagesmärsche von unserem Lagerplatz entfernt habe man die Spuren einer trächtigen Kamelstute gefunden. Aber ein Löwe sei ihr auf der Spur. Mein Vater nahm seinen Dolch und füllte eine Blechflasche mit Wasser. »Ich komme bald wieder«, sagte er und machte sich auf den Weg.

Lange hörten wir nichts von ihm.

Bis zu jenem Nachmittag, als ich mit einsetzender Dämmerung vom Ziegenhüten zurückkehrte und einem Nachbarsjungen begegnete. Bile war so alt wie ich, doch ich war größer und hatte ihn schon mehrmals verhauen. Er lief in einigem Abstand neben mir her, und ich beachtete ihn nicht. Da rief er plötzlich: »Deinen Vater haben die Löwen gefressen.«

Wütend drehte ich mich um: »Mein Vater ist groß und stark. Kein Löwe würde es wagen, ihn anzugreifen. Aber dein Vater – der ist klein und hässlich, den werden bald die Löwen fressen!« Dann jagte ich hinter Bile her, um ihn zu verhauen.

Während des Heimwegs hatte ich Bauchweh. Als ich im Lager ankam, bot sich mir ein schrecklicher Anblick: Im Hof war der Sand vor den Hütten ganz rot. Reglos lag mein Vater auf einer Matte, sein rechter Arm stand in einem bizarren Winkel vom Körper ab, gehalten nur von ein paar Sehnen. Aus seinem Bauch quollen Blut und Innereien. Meine Mutter kniete am Boden, auch ihr Wickeltuch war voller Blut. Überall war Blut, Blut, Blut, dickes, rotes Blut.

Ein Heiler kam und verband die Wunden. Später zitierte ein heiliger Mann Verse aus dem Koran. Mein Vater sollte ohne Schmerzen von diesem Leben in ein anderes gelangen.

Doch mein Vater starb nicht.

Über Wochen lag er in unserer Hütte, starr und von den Schmerzen fast gelähmt. Seine Wunden faulten in der Hitze. Manchmal ließ das Fieber ihn bewusstlos werden. Meine Mutter schickte nach seinem ältesten Bruder, Onkel Yusuf, der mit seiner Herde unterwegs war; es dauerte drei Wochen, bis er uns erreichte. Gemeinsam mit meinem Bruder Jama hievte Onkel Yusuf meinen Vater auf ein Kamel, und sie machten sich auf den Weg in die nächste Stadt.

Monate vergingen, in denen wir ohne Nachricht blieben, nicht wussten, ob mein Vater lebte, ob man ihm in der Stadt hatte helfen können. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis einer meiner Brüder oder ein anderer Verwandter Neuigkeiten brachte. Wir hofften, es sei eine gute Nachricht, dass wir keine Nachrichten bekamen. Wäre mein Vater tot, wäre Onkel Yusuf sicher längst erschienen, um meine Mutter zu heiraten. Inzwischen zogen wir auf der Suche nach frischen Weiden weiter.

Nach über einem halben Jahr stieß mein Vater endlich wieder zu uns. In der Stadt, in die mein Bruder ihn gebracht hatte, waren sie auf chinesische Gastarbeiter gestoßen. Sie bauten dort Straßen und hatten mehrere Ärzte dabei, die sie in Notfällen versorgten. Einer von ihnen, ein Chirurg, hatte meinem Vater, ohne Betäubung, Gummibänder in den Ellenbogen eingesetzt, sodass sein Arm nach der Operation wieder Halt hatte und, wenn auch bedingt, zu bewegen war. Jeden Tag brachte meine Mutter meinem Vater Kamelmilch und Heilkräuter, damit er wieder zu Kräften kam. Ich massierte seine Füße. Mein Vater hatte wunderschöne Füße. »Niemand in der Familie hat so zarte Hände wie du«, lobte er.

Später erzählte mein Vater uns, was geschehen war: Er war den Spuren des Kamels gefolgt und hatte es am Morgen des übernächsten Tages in der Nähe eines Eukalyptusbaumes entdeckt, doch es stellte sich heraus, dass es nicht seine Stute war. Das Tier hatte gekalbt. Ein Löwe und eine Löwin umkreisten die Mutter und ihr Junges. Der Löwe zog sich schließlich zurück, doch die Löwin blieb angriffslustig. Mein Vater beschloss, sie zu töten und beide Kamele zu unserem Lagerplatz zu treiben. Er löste den Schal, den er zu einem Turban um seinen Kopf geschlungen hatte, um sich vor der Sonne zu schützen, und wickelte ihn fest um seinen Unterarm, vom Handgelenk bis hinauf zum Ellenbogen. Dann zog er seinen Dolch.

Die Löwin griff meinen Vater an, bevor er zustechen konnte. Mit ihren Pranken umklammerte sie ihn und riss ihm mit einer einzigen Bewegung an beiden Seiten den Leib auf. Sie grub ihre Zähne in seinen rechten Arm, zerfetzte das Fleisch und zertrümmerte die Knochen bis zum Ellenbogen.

Mich schauderte, als ich ihm zuhörte.

»Ich war so verzweifelt, dass ich der Löwin mit aller Kraft in die Nase biss. Da ließ sie von mir ab.« Schwer verletzt hatte mein Vater sich mit den Kamelen auf den Heimweg gemacht. Sie waren die Nacht hindurch gelaufen und den ganzen nächsten Tag, bis er unsere Hütte erreichte und zusammenbrach. Ich bewunderte ihn maßlos. Er lachte. »Diese Löwin hatte einen widerwärtigen Mundgeruch.«

Trotz seiner Scherze begann sich mein Vater zu verändern. Sein Arm ließ sich kaum noch bewegen, das Gelenk war fast steif, er konnte keine Kamele mehr beladen, keine Wasserbehälter herstellen, keine Bäume fällen. Er konnte nicht mehr kämpfen. Er war kein Mann mehr. Man nannte ihn nun »den einarmigen Abdi«, so wie man vom vieräugigen Onkel sprach, weil der eine Brille trug, also zwei eigene und zwei fremde Augen hatte. Jeder Makel führte bei uns unweigerlich zu einem Spitznamen.

Mein Vater zog sich zurück, wurde still.

Ein Nomade liebt seine Kamele. Ohne sie kann er in der Steppe nicht überleben. Der Verlust eines Kamels wiegt schwerer als der Verlust einer Tochter.

Die Kamelstuten geben uns Milch. Kamelmilch ist vitaminreich, nahrhaft und köstlich, und oft, wenn die Wasservorräte zur Neige gehen und die nächste Quelle noch Tagesmärsche entfernt ist, ist die Milch unserer Kamele unsere einzige Nahrung. Sie löscht den Durst, und sie macht satt. Männliche Kamele werden als Lasttiere gehalten, sie tragen unsere Hütten und unseren Besitz von einem Lagerplatz zum nächsten. Sie sind belastbar und leichter zu zähmen; Kamelstuten dagegen haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis und sind sehr nachtragend und rachsüchtig, wenn man sie schlecht behandelt.

Die Männer kümmern sich um die Kamele; die Frauen um die Ziegen und Schafe. Mein Vater, meine Brüder und mein Cousin Said kannten jedes einzelne Tier unserer Herde, seinen Charakter, seinen Körper, seine Eigenheiten. Kamele brauchen, selbst bei größter Hitze, nur alle paar Tage getränkt zu werden; sie können sogar einen ganzen Monat ohne Wasser auskommen. Doch die Wasserstellen sind oft weit voneinander entfernt, und während einer Dürreperiode muss man das Wasser an den wenigen Quellen, die es dann noch gibt, kaufen. Der Hirte steht Stunden an, und es kann passieren, dass es kein Wasser mehr gibt, wenn er endlich an der Reihe ist. Dann zieht er weiter, wochenlang. Er steigt auf Bäume und pflückt Leckereien für seine Tiere: die Hülsenfrüchte der Schirmakazien oder die Blätter der hohen Eukalyptusbäume. Ein Hirte tut alles, damit es seinen Kamelen gut geht.

Auch ich liebte unsere Kamele. Mein Vater besaß ein einäugiges Kamel, es war das älteste von allen, und er trennte sich niemals von ihm. Man musste sich dem Tier von vorne nähern, nie von der Seite, damit es nicht erschrak. Dann streckte es seinen Hals, ließ uns Kinder hinauflaufen, richtete sich auf und ließ uns auf seinen Rücken rutschen. Geduldig erlaubte es, dass wir uns zwischen seinen Hinterbeinen versteckten. Das Fell war verklebt vom herablaufenden Urin, doch der Geruch störte uns nicht. Das war eben die Natur. Wurde es dem halb blinden Tier doch zu unruhig, drückte es die Beine zusammen, einen Moment bekamen wir keine Luft mehr, dann ließ es uns los, und wir wussten, das Spiel war zu Ende. Ich lernte, Kamelspuren zu lesen. An den Spuren einer Herde sieht ein Nomade, ob die Kamele, die vorübergezogen sind, beladen waren, er erkennt, zu welchem Stamm, zu welchem Clan sie gehören, er kann anhand der Fußabdrücke einzelne Tiere benennen, er weiß, wie lange es her ist, dass die Herde vorbeizog, ob die Tiere müde waren. Nomaden sind mit Kamelen so vertraut wie mit ihren nächsten Verwandten.

An seinen Kamelen und an der Größe seiner Herde wird ein Nomade gemessen. Viele Kamele bedeuten Ansehen und Prestige. Verschenkt ein Somali ein Kamel, ist dies das größte Geschenk, das er machen kann.

Meine Cousine Nadifo trieb ihre Herde voraus. Sie war groß und schon beschnitten und durfte allein Vieh hüten gehen. Ich musste rennen, um mit ihr und den Ziegen Schritt zu halten. Meine Lieblingsziege hieß Langohr. Ich hatte sie als Zicklein unter einem Weihrauchstrauch gefunden, winzig und fast verhungert. »Lass mich das Tier erlösen«, hatte meine Mutter gesagt, »es ist schwach und wird sterben.« Doch ich hatte darauf bestanden, es aufzupäppeln. Mit einem Löffel hatte ich ihm Milch eingeflößt, die ich einem Muttertier abgemolken hatte. Inzwischen lief Langohr fröhlich umher, folgte mir, als sei ich seine Mutter, leckte mein Gesicht und schnappte nach meinen Fingern, um daran zu saugen.

Wir liefen, bis wir eine Lichtung erreichten. In der Nähe war ein Brunnen, und im Sand hatte sich ein Teich gebildet. Wir ließen die Tiere in Ruhe saufen; es konnte Tage dauern, bis wir wieder Wasser fänden. Die Sonne stand schon hoch und warf keine Schatten mehr. »Setzen wir uns in den Schatten«, sagte Nadifo.

Wir krochen unter eine Schirmakazie und legten uns dicht nebeneinander in den Sand. Ich spielte gern die Frau; Nadifo war lieber der Mann. Sie kicherte, dann verstellte sie ihre Stimme und tat, als würde sie schnarchen. »Ich bin schwanger«, rief ich plötzlich und sprang auf. Beide Hände in den Rücken gestützt, streckte ich meinen Bauch vor. »Es macht keinen Spaß, Familie zu spielen, wenn wir nur zu zweit sind«, schmollte Nadifo. »Wir müssen mindestens fünf Mädchen sein.« Sie hatte Recht, doch ich wollte unser Spiel nicht beenden; ich spielte gern Mutter.

»Lass uns etwas schnitzen«, schlug Nadifo vor und riss ein Stück Rinde vom Stamm der Akazie. Wehmütig rieb ich mir den Bauch; dann zog ich ihn wieder ein und gab nach. Nadifo stimmte ein Lied an. Sie konnte sehr schön singen. Wir sangen oft Lieder, für uns, aber auch für unsere Tiere. Lieder über den Regen, der bald kommen und die Dürre in blühende Wiesen verwandeln sollte. Lieder, die die Schönheit der Kamele priesen und die Frauen unseres Stammes mit ihnen verglichen. Ein größeres Kompliment konnte man einer Frau nicht machen: Der Hals einer Frau sollte lang sein wie der einer Kamelstute, ihr Haar voll wie sein Schweif, ihre Bewegungen grazil und elegant, ihr Gang wiegend, ihre Augen dunkel, geheimnisvoll. Wir sangen Lieder, die von der Liebe erzählten und von dem Leben, das wir eines Tages führen würden.

Ein Vogel kreischte. Einige Ziegen begannen, unruhig umherzulaufen. Nadifo sprang auf, ich griff nach meiner Weidenrute. Wir rannten in entgegengesetzte Richtungen, trieben die Tiere zusammen und zählten sie hastig. Ich sah mich um – hinter jedem Busch konnte ein Schakal lauern. Sie schlichen sich lautlos an und rissen ein Lamm, ohne eine Spur zu hinterlassen. Lief man ihnen schreiend entgegen, rannten sie davon, denn sie waren feige.

In der Ferne sah ich Nadifo winken.

Ich lief zu ihr und fand im Staub eine Ziege liegen, neben sich ein winziges Zicklein, das Fell ganz nass und verklebt. Nadifo kniete nieder. Die Ziege bäumte sich auf, Nadifo streichelte ihren Hals, die Ziege stieß einen Schrei aus. Aus ihrem Hinterteil ragte das Bein eines weiteren Zickleins. »Halt fest«, rief Nadifo, rutschte am Bauch der Ziege entlang und schob das Bein in den Leib zurück. Ihre Hand verschwand darin, dann ihr Unterarm. Die Ziege meckerte. Die Herde zog sich zurück. Hastig wanderte mein Blick über Tiere, Büsche, Sträucher. Gleichzeitig drückte ich mit aller Kraft die Ziege zu Boden. Schon mehrmals, meist morgens beim Melken, hatte ich bei einer Geburt geholfen; immer wieder wollten die Jungen mit angewinkelten Beinen zuerst auf die Welt kommen, sodass man sie drehen und ihnen auf die Welt helfen musste.

Als endlich vier feuchte Zicklein neben ihrer Mutter lagen, rieb ich sie mit Blättern trocken und gab ihnen Namen. Dann biss ich jedem, blitzschnell, die Spitze des linken Ohres ab. Später würde ich links und rechts davon kleine Schlitze mit dem Messer machen. Das war das Zeichen; sie gehörten zu uns. Sie sollten so schön und zäh werden wie Nadifo oder so schlau und so stur wie ich!