INHALT

Innentitel

Vorwort des Herausgebers

Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte (1912)

Zum hundertsten Tausend
Vorrede zum fünfzigsten Tausend
Vorrede aus der »Weltbühne«
Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte

Der Zeitsparer. Grotesken von Ignaz Wrobel (1914)

Kleine Vorrede
Der Zeitsparer
Das Paradigma
Von dem Manne, der keine Zeitungen mehr las
Der Papagei

Ein Pyrenäenbuch (1927)

Der Beichtzettel
Stierkampf in Bayonne
Ausflug zu den reichen Leuten
Zwei Klöster
Saint-Jean-Pied-de-Port: Die Basken
Lieber Jakopp!
Pau
Eaux-Bonnes
Lourdes I.
Lourdes II.
Lourdes – III.
Lourdes – IV.
Cirque de Gavarnie
Cauterets
Pic du Midi
Figuren
Über Naturauffassung
Von Barèges bis Arreau
Die Täler
Drei Tage
Allein
Die Republik Andorra
Auf der Wiese
Das Fort
Französische Provinz
Abschied von den Pyrenäen
Einer aus Albi
Dank an Frankreich

Schloß Gripsholm (1931)

Eine Sommergeschichte
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel

Kleine Prosastücke (1913 - 1932)

Erotische Filme (1913)
Enthüllung (1927)
Der Andere (1927)
Heimat (1929)
Aus dem Vorwort von »Das Lächeln der Mona Lisa« (1929)
Jonathans Wörterbuch (1929)
Das Lottchen (1930)
Ein Glas klingt (1930)
Christoph Kolumbus (1932)

Ausgewählte Glossen, Kommentare und Rezensionen (1914 - 1932)

Das Reimlexikon (1914)
Macciavelli (1918)
Der Untertan (1919)
Was darf die Satire? (1919)
Interview mit sich selbst (1919)
Dantons Tod (1920)
Schriftsteller (1920)
Führer?(1920)
Reisende, meidet Bayern (1921)
Deutsche Richtergeneration 1940 (1921)
Herausgeber oder Verleger? (1921)
Notiz zu Rheinsberg
Meeting (1921)
Brief an den Staatsanwalt (1922)
Helden am Telefon (1922)
Rezept des Feuilletonisten (1922)
Prozess Harden (1922)
»'n Augenblick mal –!« (1923)
An Ernst Toller (1924)
Der neue Zeitungsstil (1924)
Horizontaler und vertikaler Journalismus (1925)
Der rasende Reporter (1925)
Das Sprachwunder (1925)
Psychoanalyse (1925)
Plädoyer gegen die Unsterblichkeit (1925)
Vormärz (1926)
Französische Frauen (1926)
Der Namensfimmel (1926)
Der Prozess (1926)
Deutsche Richter (1927)
Mädchenhandel in Buenos Aires (1927)
Gebet des Zeitungslesers (1927)
Zeugung (1927)
Die Phrasendrescher (1927)
Werbekunst (1927)
Journalistischer Nachwuchs (1928)
Zehn Gebote für den Geschäftsmann, der einen Künstler engagiert (1928)
Ist das deutsche Buch zu teuer –? (1928)
Mädchen aus Samoa (1928)
Gesang der englischen Chorknaben (1928)
Grimms Märchen (1928)
Kennen Sie das Entzücken an der erotischen Häßlichkeit? (1928)
Frauen sind eitel. Männer? Nie –! (1928)
Don't gish me –! (1928)
Die legitime Geliebte (1928)
§ 297 / Unzucht zwischen Männern (1929)
Was soll mit den Zehn Geboten geschehen? (1929)
Über die Nennung von Frauennamen (1929)
Die kleinen Freuden des Lebens (1929)
Das Buchhändler-Börsenblatt (1929)
Zeitungsdeutsch und Briefstil (1929)
Geheimnisse des Harems (1929)
Der Staatshaushalt (1929)
Narkose durch Bücher (1930)
Der Geschäftsmann in der Literatur (1930)
Die hochtrabenden Fremdwörter (1930)
Das dritte Reich (1930)
Die deutsche Pest (1930)
Wahre Liebe (1930)
Die ausgezogene Frau (1930)
Ratschläge für einen schlechten Redner (1930)
Die Ufa sucht Dichter (1930)
Ballade (1930)
Kleiner Vorschlag (1931)
Die Herren Autoren (1931)
Die Reportahsche (1931)
Verlagskataloge (1931)
Zur soziologischen Psychologie der Löcher (1931)
Der Mensch (1931)
Ich gehe mit einer langen Frau (1931)
Der bewachte Kriegsschauplatz (1931) (»Soldaten sind Mörder«)
Kurzer Abriss der Nationalökonomie (1931)
Ein Ehepaar erzählt einen Witz (1931)
Kritik als Berufsstörung (1931)
Europa (1932)
Auf dem Nachttisch (1932)
Avis an meinen Verleger (1932)
Hitler und Goethe (1932)
Redakteure (1) (1932)
Redakteure (2) (1932)
Heute zwischen Gestern und Morgen (1932)
Worauf man in Europa stolz ist (1932)

Eigenhändige Vita Kurt Tucholskys (1934)

Impressum


Vorwort des Herausgebers

Kurt Tucholsky (1890–1935) gehört zu den produktivsten deutschen Autoren aller Zeiten. Er schrieb Romane, Kurzgeschichten, Reiseberichte und rund dreitausend journalistische Artikel für Zeitschriften und Magazine. Sein Gesamtwerk umfasst, in der von Fritz J. Raddatz herausgegebenen Ausgabe (rororo, 1975) zehn Bände mit rund 5000 Seiten. – Ohne Zweifel gehört Tucholsky zu den großen Literaten deutscher Sprache. Und doch, so scheint es, sind er und Deutschland unversöhnt.

Deutschland hatte ihn enttäuscht – mehr, als er erwartet und befürchtet hatte.

Wie kein anderer hatte er die dunkle Gefahr des Nationalsozialismus heraufziehen sehen. Raddatz meint: »Tucholsky (...) hat den Nationalsozialismus schon geahnt, als es noch gar keinen Nationalsozialismus gab.« Ein Frühwarnsystem sei er gewesen, ein Seismograph.

»Wohin treiben wir? Wir lenken schon lange nicht mehr, führen nicht, bestimmen nicht. Ein Lügner, wers glaubt. Schemen und Gespenster wanken um uns herum – taste sie nicht an: sie geben nach, zerfallen, sinken um. Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.« (»Dämmerung«, in: »Die Weltbühne«, März 1920)

Ein Seismograph freilich, der nichts retten konnte. Er zeichnete auf, er registrierte, er brachte seine Schwingungen zu Papier. Am Ende aber wurde er von der grässlichen braunen Welle weggespült. Tucholskys Bücher gehörten zu den ersten, die die Nationalsozialisten auf den Scheiterhaufen warfen.

Als Tucholsky im Dezember 1935 in seinem Haus in Schweden starb, gehörte Deutschland schon der braunen Bande. Ob es Selbstmord war, oder eine versehentliche Überdosierung der Medikamente, die er wegen seines Magenleidens brauchte – das weiß man nicht. Sein Tod durfte von den gleichgeschalteten deutschen Medien nicht betrauert werden. Doch es scheint, als habe sich Deutschland auch später, nach der Naziherrschaft, nicht wirklich mit ihm versöhnt. So, als sei ein ganzes Land peinlich berührt davon, dass ein einzelner den fatalen Weg in die nationalsozialistische Katastrophe hatte vorherahnen können. Tatsächlich: Tucholsky wurde leider ein Stück weit Teil der kollektiven Verdrängung, die die Deutschen ab Beginn der Fünfziger Jahre umnachtete, so wie sie zuvor der braune Schleier umnachtet hatte.

*

Doch auch dies ist nur eine Seite des großen Literaten. Er war nicht nur politischer Schriftsteller. Er war genauso Lebemann, Frauenheld, Abenteurer und Genießer. Er war brillanter Journalist und Kommentator des Zeitgeschehens. Kein Thema war vor ihm sicher, kein Buch eines Kollegen vor einer Rezension gefeit.

Tucholsky war im besten Sinne Kind seiner Zeit, dieser prickelnden, gefährlichen, lasziven Sequenz zwischen den beiden Weltkriegen. Unsichere politische Zeiten, alles im Umbruch. Unglaublich viele künstlerische Talente auf dem Weg zu sich selbst, oder irgendwohin. Der Tanz auf dem Vulkan, wie er im Film »Cabaret« mit Liza Minnelli zu sehen ist.

In gewisser Weise war er auch ein Bourgeois, der es sich gutgehen lassen wollte.

 
»Ja, das möchste: // Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, // vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; // […] eine süße Frau voller Rasse und Verve - // (und eine fürs Wochenend, zur Reserve).« – (»Das Ideal«, in: »Berliner Illustrirte Zeitung«, 1927)

 

Er verdiente zu seinen Glanzzeiten prächtig, gehörte zeitweise zu den am besten bezahlten Journalisten in Deutschland, und konnte sich den einen oder anderen Traum vom romantischen Idyll im Grünen durchaus erfüllen.

Tucholsky und Freundin Lisa Matthias. Urlaub im schwedischen Läggesta, 1929

Frauen waren sein Hobby. Er war – man muss es so sagen – ein notorischer Fremdgeher. Seine erste Frau Else Weil sagte: »Als ich über die Damen wegsteigen musste, um in mein Bett zu kommen, ließ ich mich scheiden.«

Tucho liebte die Frauen. Viele. Und, obwohl ihm ein leicht gestörtes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht nachgesagt wird, schätzte und brauchte er sie.

»Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen.«  (»Rote Signale«, in: »Die Weltbühne«, 1931)

Oft waren sie Inspiration für seine Werke – das begann schon mit »Rheinsberg«, seinem ersten großen Erfolg. – Doch er scheiterte auch oft an der Liebe, und es war ihm klar, dass er scheitern würde:

»Man denkt oft, die Liebe sei stärker als die Zeit. Aber immer ist die Zeit stärker als die Liebe.« (in: »Schloß Gripsholm«, 1932)

 

Ein kleiner Bourgeois mag er in einem »Bezirk seines Wesens«, wie er es genannt hätte, vielleicht gewesen sein. Viel mehr war er aber ein Demokrat, ein Aufklärer, ein Kämpfer für Gerechtigkeit und gegen Ausbeutung. Kommunist oder Bolschewist wollte er aber nicht genannt werden: »Ich bin kein Bolschewik!« Sagt lieber: »Anti-Antikommunist.« Er stellte sich entschieden gegen die Kommunisten-Hasser – nicht weil er Kommunist war, sondern, weil er für freie Meinungsäusserung und Demokratie eintrat.

Und er tat es mit vielen Stimmen. Um die linksdemokratische »Weltbühne«, sein Leib- und Magenblatt, nicht allzu »Tucholsky-lastig« erscheinen zu lassen, schrieb er unter wechselnden Pseudonymen: Ignaz Wrobel, Theobald Tiger und Peter Panter. Später kam noch Kaspar Hauser hinzu, und gelegentlich ein Paulus Bünzly und ein Theobald Körner.

Die Person, der Autor musste für ihn nicht im Vordergrund stehen, daher war es für Tucholsky kein Problem, hinter seinen Pseudonymen zurückzutreten. Ihm war nicht nach Ruhm und Ehre durch Schreiben zu Mute. Er schrieb aus drei Gründen: Erstens um Geld zu verdienen, zweitens um aufzuklären, und drittens, weil er gar nicht anders konnte. Schreiben war seine Heimat, sein wahres Lebenselixier. Ehrlich, echt und nicht korrumpierbar.

Heute, in politisch turbulenter Zeit, in der die Demokratie wieder gegen Macht und Finanzwelt kämpft, in der Korruption auf oberster Ebene zur Tagesordnung gehört, und der europäische Gedanke schamlos von Politikern und Superreichen missbraucht wird, wünscht man sich Journalisten vom Format eines Tucholsky. Leider sind sie in den stromlinienförmigen Medien nicht anzutreffen.

Jo Fischer, Redaktion eClassica, 2012

 

Diese Ausgabe erhebt nicht den Anspruch, eine Gesamtausgabe von Tucholskys Werk zu sein. Diese wäre, wie erwähnt, rund 5000 Seiten stark. Unsere rund 800 Buchseiten umfassende Auswahl bietet aber einen hervorragenden Querschnitt aus Tucholskys literarischem und journalistischem Schaffen.

 

Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte (1912)

Zum hundertsten Tausend

Natürlich kommt das nie mehr wieder.
Allein: es war einmal.
Ich war ein Star und pfiff die bunten Lieder;
ich war Johann, der muntre Seifensieder –
und Claire war real.
 
Das ist schon lange her.
Und heute –?
Jetzt sind die andern dran.
Nach unsrer Sprache plaudern Liebesleute,
Zahntechniker und ihre jungen Bräute . . .
Das hört sich also an:
 
»Du sock nisch imme nach die annern Mättschen blickn!
Isch eiffesüschtisch, olle Bums-Roué!
Du imme mit die kleinen Dickn!
Nu isch ins Bett bigehn bimickn,
weil müdischlisch biwé!«
 
So liebt euch denn (in allen Ehren)!
Die Liebe währet ewiglich.
Und folgt ihr dieses Büchleins Lehren
und küsst ihr euch, ihr Wölfchen und ihr Clairen –:
dann denkt an mich.
 
Kurt Tucholsky
1931

 

Vorrede zum fünfzigsten Tausend

»Ach, es war doch eine schöne Zeit, als der Himmel noch so übertrieben blau und die Erde so sehr grün war und jeglicher Farbentopf übervoll! – Beim Anubis, Gevattern, wir wollen uns bestreben, auf dem Wege zu einem würdigen, ehrenfesten und verständigen Alter weiter zu kommen; aber der Undankbarkeit gegen die guten, närrischen, lustigen und weinerlichen Tage der Jugend wollen wir uns doch auch nicht bezichtigen lassen. Im Gegenteil, es soll uns dereinst in unserm Sorgenstuhl eine Ehre und ein Vergnügen sein, dass auch wir einmal mitten im Grünen auf dem Kopfe standen und uns nicht schämeten!–«
Schluss der Vorrede Wilhelm Raabes zu »Ein Frühling«

»Und hat es denn keine Fortsetzung–?«

– »Nein – solche Dinge haben keine Fortsetzung. Oder glaubten Sie, wir wollten nun Reihenbändchen herausgeben: ›Rheinsberg – III./IV. Teil‹ oder ›Die Claire als Großmama‹? Lieber nicht, wie? Aber erinnern – eine Erinnerung muss wohl erlaubt sein.«

Es war doch das, dass damals trotz Dienstpflicht, Katasterkontrolle und Einwohnermeldepflicht immer noch genügend grüne Plätzchen übrig blieben, auf denen du dich – ungestört vom Staat – tummeln konntest. Die Eisenbahnen fuhren im Lande umher, auch Müßiggänger benutzten sie – und kaum einer sah sie scheel an. Keine bestimmte Ration Haferkleie, tierische Fette, Fleisch, Wohnungskubikmeter und Öfen standen dir zu – nicht einmal die Lebensfreude war rationiert, und du durftest für preußische Verhältnisse schon eine ganze Menge. Vielleicht war es das–?

Oder war es die Unbeschwertheit des Alltags, das kleine billige Glück und die Möglichkeit, überall mit wenig Geld durchzukommen? So eingeengt es auch alles war, so klein im Ausmaß – an russisches Essen, an französische Flusslandschaften, an englische Rasenfelder durfte man gar nicht denken–: es hatte doch eine gewisse sorglose Atmosphäre.

Erlebnis und Schreiben waren ja – wie immer – zweierlei, und was in den drei Tagen leicht und grün vorübergeglitten war, wurde an der See in ebensoviel Wochen würgend langsam in kleine Notizbücher geschrieben. Es wollte gar nicht vom Fleck – es wäre viel lustiger gewesen, zur Claire ins Nebenzimmer zu gehen, ihr ein paar alte Socken um den Hals zu binden und ein bisschen »Arzt und krankes Kind« zu spielen, anstatt an dem Salat da herumzuschreiben… Aber es wurde doch durchgebissen, und in einem September kam ich mit den Bücherchen müde zu Hause an. Ich weiß noch, wie ich den Kram zuerst dem Szafranski vorlas – er sprang alle Nase lang auf, feixte fürchterlich und erklärte schließlich, das Ganze sei ja ganz nett, aber er müsse es leider völlig umarbeiten… (Aber dass einer nicht zeichnen kann, ist doch kein Grund, sich das Schreiben zuzutrauen.) Und dann tranken wir viele Schnäpse und einigten uns auf die Hälfte.

War es die Zeit, dass es in jeder Beziehung so klappte–? Heute sind die Worte schwer geworden, und wenn einer »Blut« oder »Tod« sagt, dann ist das alles nahegerückt und verdammt real. Und wir sind doch abgestumpft dagegen und hören kaum noch hin, wenn eine neue große Umwälzung herankommt. Von uns aus–! Eine fette Überschrift in der Zeitung mehr.

Da hat es denn die Erotik nicht leicht. Sie muss sich verkrampfen, wenn sie von diesen Menschen etwas will, oder verkitschen oder verkriechen. Man unterschätzt sie, wenn man sie so überschätzt…

Und damals–? Vielleicht war es nur einfach das, dass wir jung waren. –

*

So soll denn das fünfzigste Tausend des kleinen Abenteuers hinausgehen und den Leuten ein bisschen Spass machen.

Ich habe den Wortlaut des ersten Manuskripts wiederhergestellt.

Die Privatsprache, die da in dem Buch geredet wird, hat sich allerdings längst gewandelt. Das sind ihre Uranfänge, und den fertig ausgebildeten Dialekt würdet ihr gar nicht verstehen. »Nuh deh alleliebsse Pumbusch es bikenke, weil sölm bifundsteint« – Ja, da staunst du! Ich staune auch, wie sich erwachsene Menschen mit solchem Klimbim die Zeit vertreiben können. Ich bitte Sie, der Ernst des Lehms…!

Was der Satz da oben heißt–? Das ist beinahe so problematisch wie der Inhalt jenes Pakets im Hotel, der mich schon so viele Briefe gekostet hat. Was war in dem Paket–?

Möchte ein gerecht und ernsthaft wägender Philologe des einundzwanzigsten Jahrhunderts diese Kernfrage der unsterblichen Claire zum Thema einer Doktorarbeit machen. Ich weiß es nicht.

Aber was in dem Buch da ist: das weiß ich schon.

Eine bessere Zeit, und meine ganze Jugend.

Berlin, den 25. Dezember 1920

 

Vorrede aus der »Weltbühne«

Im »Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel« finde ich eine Anzeige: »Rheinsberg, ein Bilderbuch für Verliebte« erscheine zu seinem fünfzigsten Tausend in einer feierlichen und vom Verfasser abgezogenen Luxusausgabe. Die Vorrede, steht da, schrieb Kurt Tucholsky. Aber das ist nicht das richtige. Wo werde ich in einen signierten Büttenband etwas Gescheites hineinschreiben! Die richtige Vorrede soll hier stehen.

Rheinsberg… Et hoc meminisse iuvabit… Die Sache war damals so, dass ich das Buch, nach dem später generationsweise vom Blatt geliebt wurde, an der See schrieb, auf die Postille gebückt, zur Seite die wärmende Claire, und es, nach Berlin zurückgekehrt, Herrn Kunstmaler Szafranski vorlas. Das war eine Freude–! Der Dicke sagte, einen solchen Bockmist hätte er wohl alle seine Lebtage noch nicht vernommen, aber wenn ich es ein bisschen umarbeitete, und wenn er es illustrierte, dann würde es schon gehen. Ich arbeitete um, ließ die hübschen Stellen weg, walzte die mäßigen etwas aus, und inzwischen illustrierte jener, denn was ein richtiger Plagiatmaler ist, der ist fleißig. Während er abzeichnete, ging ich zu Herrn Verlegermeister Axel Juncker.

Verleger sind keine Menschen. Sie tun nur so. Dieser warf mich mit Buch hinaus.

Nun ist das weiter keine Schande. R. Tagore ist, wie Hans Reimann berichtet, auch erst bei Kurt Wolff abgewiesen worden, und nur der plötzlich bekommene Nobelpreis rettete ihn davor, bei Ullstein verlegt zu werden. Ich erhielt den Nobelpreis nicht – Rosegger stand damals in der engeren Wahl–; aber nachdem mir Verlegermeister Juncker noch rasch mitgeteilt hatte, dass Liebespaare niemals so miteinander redeten, nahm er es doch. Das war ihm ganz recht.

Inzwischen war Szafranski nicht müßig gewesen. Unter Zugrundelegung der Lipperheidischen Kostümbibliothek, seines reich ausgestatteten photographischen Archivs und einiger anderer Vorlagen entspross seinen dicken Händen langsam ein Werk, das man ruhig unter die besten Arbeiten Paul Scheurichs einreihen darf. Aber er wurde und wurde nicht fertig. Wir telephonierten damals recht lange und recht unfreundlich miteinander – schließlich bestellte er mich in die selige Queen-Bar und zeigte mir, was er angerichtet hatte. Ich trank vier Whiskys hintereinander. Dann sagte ich schüchtern, es sei sehr schön. Szafranski, leichtgläubig wie er nun einmal ist, glaubte das. Das Werk ging unter die Presse.

Es wurde ein Bombengeschäft. Über meine Verdienste will ich gar nicht erst reden; Szafranski kaufte sich jedenfalls von den seinen etwas, das er in befreundeten Kreisen als Häuschen ausgibt, und gehört heute zu den geachtetsten Mitbürgern Zehlendorfs. Der Verleger tat das, was Verleger immer tun: er setzte zu.

Nun hatten wir damals auf dem Kurfürstendamm die »Bücherbar« aufgemacht, einen richtigen Studikerunfug, über den sich die Leute halb krank ärgerten, weil wir ein polyglottes Schild am Laden hatten, darauf in allen lebenden und toten Sprachen – auch auf gemauschelt – zu lesen war, dass es darinnen billige Bücher zu kaufen gäbe. (Wir haben noch unser Goldenes Buch, in das sich die illüstren Gäste eintragen mussten: Carl Meinhard war da und Hardekopf und Ludmilla Hell und Schriftsteller, die überhaupt nicht schreiben konnten und sich doch eintrugen… Die feinern Herrschaften kriegten einen Schnaps.) Die Presse brachte sich um. Die »Breslauer Zeitung« war dagegen, die »Vossische« dafür, Prag und Riga verhielten sich neutral – die Ausschnitte sind noch da – und der »Sankt Petersburger Herold« vom achtzehnten Dezember 1912 schrieb, wer einen Wilde erstehe, der bekäme Whisky Soda, und wer Ibsen kaufte, einen nordischen Korn. Das stimmte aber nicht – wir tranken selber. Und verkauften schrecklich viele Rheinsbergs.

Also gut, wir gaben die Bücherbar wieder auf, weil ein guter Ulk immer ephemer ist, und die Zeiten gingen dahin. Was Axel Juncker inzwischen mit dem Buche machte, ist nie ruchbar geworden. Er schien es nicht gern herzugeben – denn man bekam es nirgends zu kaufen. Szafranski behauptete, das würde wie folgt gehandhabt: Trete jemand in den Buchladen und verlange das Werk, dann lächle Juncker süffisant und frage bekümmert: »Muss es denn sein?« Und nur, wenn der sonderbare Käufer auf seinem Verlangen bestand, kroch der Verleger in den Keller und holte aus einer wohlbehüteten Ecke den kleinen Band, nicht, ohne ihn vorher sorgfältig abgestaubt zu haben. Aber schon aus dieser letzten Einzelheit geht ja klar hervor, dass die Geschichte nicht wahr sein kann.

Was Wilhelm den Zweiten anging, so ließ es selben nicht ruhn, und er entrierte ein Unternehmen, das später unter dem Namen »Große Zeit« so berühmt geworden ist. Ich immer mit.

Und in Radsiwilischki – wir ließen gerade am deutschen Wesen die Welt genesen – in Radsiwilischki lief ein Schreiben des Verlegers ein, die erste Auflage sei vergriffen, und – was muss der gelitten haben, der Arme! – nun wolle er eine zweite drucken. Ich erwartete, vor die Front gerufen und belobigt zu werden. Das geschah nicht. Unser Hauptmann, der gegen die zivilische Heimat eine ähnliche Antipathie hatte wie mein Nebenmann, den sie zu Hause suchten, unser Hauptmann wurde auf einer Art Pferd angebracht, ein kurzes Kommando, und die kräftigen Tritte der wackern Feldgrauen erdröhnten auf dem welschen Pflaster. Das Nähere siehe unter Lissauer.

Als ich, von hinten erdolcht, wieder nach Hause kam, waren viele tausend Stück »Rheinsberg« verkauft. Der Verlag hatte sein mögliches getan: ganze halbe Jahre war das schädliche Buch, geeignet, die Stimmung der Heimat zu untergraben, vergriffen gewesen, weil ja auch alles Papier für die 1001 Heeresberichte gebraucht wurde – aber zum größten Bedauern Junckers hatte sich der Verschleiß doch nicht ganz vermeiden lassen. Wir wussten uns vor Honoraren gar nicht zu lassen. Ich zeigte damals meinen Vertrag, den ersten, den ich in meinem Leben gemacht hatte, dem damaligen Vorsitzenden des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Der weinte eine halbe Stunde vor Freude und streichelte mir dann leise den Kopf. Ich weiß bis heute nicht, was er damit hat sagen wollen. Und Juncker setzte inzwischen immerzu zu…

Natürlich ist die Geschichte von »Rheinsberg« wahr. Auch die Claire existiert noch. Sie lebt als eine wacklige, etwas tropfnasige Alte in Ducherow, unweit Pasewalk, wo sie neugierigen Fremden vom Rathauskastellan gegen ein Entgelt von fünfundzwanzig Pfennigen gezeigt wird; vormittags von elf bis eins und nachmittags von drei bis fünf. Sonntags ist sie zu. Ihr Lebensunterhalt wird in freundlicher Weise von unserm Verleger bestritten, sie ist also völlig verarmt.

Dieses da ist auch nicht die erste Luxusausgabe. Wir haben schon einmal eine gemacht, ganz privat, damals, als das Buch herauskam. Es waren dreißig Exemplare – und weil wir es unseren Damen schenken mussten, die im Verhältnis 29:1 unter uns aufgeteilt waren, malten wir in alle Exemplare, damit es keinen Ärger gäbe, eine schöne 1.

Bei den Rezensenten fand das Buch eine recht freundliche Aufnahme. Die netteste beim Dr. Owlglass, dem alten Mitarbeiter des »Simplicissimus«, auf dessen Lob ich am meisten stolz gewesen bin.

Nun sind wir alt geworden und nur wenig schöner. Szafranski ist verheiratet, ich habe auch viel Unglück im Leben gehabt, und nur der Verleger setzt noch zu. Aber eines Tages werden auch wir dahin müssen, – denn das Schöne stirbt –, Szafranski wird zu Grabe getragen werden, seine Chefs, bei denen er arbeitet, werden ihm was blasen, sein Bruder wird ihm eine Rede halten und im Zylinder geradezu nett aussehen, ich werde auf sein Grab etwas Sellerie und kleine Erdbeeren pflanzen, die hat der Verstorbene immer so gern gegessen; und dann gehe auch ich und folge ihm nach. Und der Verleger wird in den Himmel kommen – doch, das kommt vor, man muss da nicht so rigoros sein, das Fegefeuer ist überfüllt – und die noch vorhandenen Exemplare von »Rheinsberg« werden versickern, das Papier wird zerbröckeln, und dann gibt es gar keine mehr.

Wenn aber im Jahre 1985 ein neugieriger und verliebter junger Herr den Bücherschrank seiner Großmama durchstöbert, wird er von ganz hinten einen »auf Bütten abgezogenen und in rotes Bockleder gebundenen« Band herausklauben – Nummer 18, vom Verfasser signiert. »Was ist das?« wird der junge Herr fragen.

Und die Großmama wird sich den Band geben lassen, ihn ganz nahe an die Augen halten und dann leise lächeln. »Das«, wird sie sagen, »hat mir mal dein Großvater selig geschenkt, als wir uns verlobten. Aber du darfst es behalten und für deine Lydia mitnehmen.« Das tut der junge Herr. Er packt den Bocklederband mit einigen Dingen, die zu schenken in dieser Zeit schick sein wird, zusammen und sendet alles an Lydia. Und Lydia wird die schicken Dinge sehr bewundern, sich an ihnen und am zukünftigen Neid ihrer Freundinnen erfreuen und schließlich einen Blick in das Buch hineintun. Und ein bisschen darin blättern.

Weil aber die Zeit läuft und sich das, was zwischen den Zeilen eines Buches ausgedrückt ist, niemals länger als fünfzig Jahre hält und mit den Menschen, von denen es und für die es geschrieben ist, dahingeht – deshalb wird die Dame Lydia mit den Achseln zucken und sagen: »Reizend« Und dann wird die Geschichte mit ihr und dem jungen Herrn ihren Fortgang nehmen.

Oben im Himmel aber, in einer besonders bevorzugten Ecke, gleich neben Cotta und Rowohlt, sitzt der Verleger und setzt zu.

Diese Vorrede erschien am 8. 12. 1921 in der »Weltbühne« unter dem Namen Kurt Tucholsky.

 

Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte

Seinen eigentlichen Anfang nahm das Abenteuer erst, als sie in Löwenberg ausstiegen. Der D-Zug ruhte lang und dunkel in der Halle unter dem Holzdach – sie durchschritten einen Tunnel, oben, in hellem Sonnenlicht, stand die Kleinbahn, wie aus Holz gefügt, steif und verspielt.

Sie stiegen ein.

»Claire?«

»Wolfgang?«

»Diese Bahn scheint noch lange hier zu stehen… machen wir einen kleinen Spaziergang?«

»Setz dich und falte die Hände! Sie geht gleich ab.«

Der Zug ruckte und ruckelte sich gemächlich durch Salatgärten, Hofmauern. Der Horizont flimmerte blendend weiß… War es eine Schönheit, diese Landschaft? – Nein: da standen Baumgruppen, durch nichts ausgezeichnet, das Land wurde wellig in der Ferne, versteckte ein Wäldchen und zeigte ein anderes – man freute sich im Grunde, dass alles da war… Das Maschinchen schnob und klingelte zornig, durch den staubigen Rauch hindurch klingelte es melodisch, wie eine läutende Kirchturmsglocke bei Sturm.

»Wolf, den Reiseführer!«

Sie hatten ihn im D-Zug liegen lassen – er hatte ihn im D-Zug liegen lassen. Sie hielten, mitten im Walde, auf der Strecke. Die Köpfe heraus; die Beamten waren zurückgelaufen, hatten Schaufeln mitgenommen: die Lokomotive musste Funken ausgeworfen haben, ein kleiner Brand war entstanden…

»Ich will mitlöschen«

Er kugelte den sandigen Abhang herunter; die Reisenden lachten. Oben stand Claire und verdrehte die Augen.

»Du musst ja…!«

Er kam zurück, ganz bestaubt, lächelnd, glücklich. Er hatte sich wieder einmal betätigt. Die Beamten kamen, stiegen auf, der Zug ruckte an…

»Eigentlich…«

»Na?«

»Ich finde es heiter. Denk mal, mein Papa und mein’ Mama sitzen jetzt im Kontor, fahren in der Stadt herum und glauben ihr Töchterchen wohlgeborgen im Schoße der treusorgenden Freundin. Hingegen…«

»Hingegen…

»Na, ja, treusorgen sorgst du ja für mich…«

Der Jäger von nebenan hatte schon lange in sich hineingelacht. Er saß da, grün, bepackt, schwer und braungebrannt. Man hatte, wenn man ihn sah, die Empfindung von ganz frühen, feuchten Morgen, ein Mann tappt durch den halbdunklen Wald, es riecht kräftig und gut… Das kleine, runde Loch der Büchse guckte unheilverkündend, schwarz und dunkel in die Luft: kleine Kugeln werden herausfliegen, das Reh, auf das es morgen gerichtet wird, lief vielleicht jetzt gerade mit seinen Gefährten zur Quelle, trank und war zierlich im Walde verschwunden… Der Jäger stand auf, stopfte sich eine Pfeife und sagte beim Herausgehen: »Schonzeit, junger Mann, Schonzeit« – und trampfte lachend davon.

Das Coupé war erfüllt von ihrem Schreien, das die rumpelnden und klirrenden Geräusche übertönen sollte.

Man verständigte sich nur schwer:

…Sonne weit über das Land…«

…wie? Sonne reit’ über das Land?…«

»…nein…Sonne weeiit…Land…Seh mal: ’ne Akazie! ’ne blühende Akazie, lauter blühende Akazien«

»Is gar keine, is ’ne Magnolie!«

»Hach! Also wer weiß denn von uns beiden in der Botanik Bescheid? Ich oder ich?«

»’ne Magnolie is es.«

»Meine Liebe, ich müsste bedauern, es mit einem kräftig geführten Schlag gegen Sie nicht bewenden lassen zu können. Alle Wesensmerkmale der Akazie deuten auch bei diesen Bäumen auf eine solche hin.«

»Is aber ’ne Magnolie!«

»Herr Gott, Claire! Siehst du denn nicht diese typisch ovalen Blätter, die weißen, kleinen, traubenförmigen Blütenstiele! – Mädchen!«

»Aber… Wölfchen… wo es doch ’ne Magnolie is…«

Sie erstickte in Küssen.

Dann galt es noch eine Bauersfrau nachzuahmen, die auf der letzten Station hochgeschürzt und breitbeinig stehengeblieben war, um sich vermittels ihres zweiten Unterrocks zu schneuzen. Claire erwies sich hierbei als geschickt und brauchbar.

Endlich kamen sie aber doch an.

Es zeigte sich, dass das Hotel, das sich schon durch einen Anschlag im Zuge als altbekannt und mit einer gepflegten Küche versehen angepriesen hatte, durch einen Wagen, zwei Pferde und einen Bediensteten vertreten war. Dieser Mann musste die Gepäckstücke holen, die man in Berlin sorgfältig aufgegeben hatte: zwei winzig kleine Köfferchen. Sie wurden verladen; die Reisenden stiegen ein. Sie rutschten auf den schwarzen, hier und da ein wenig aufgeplatzten Wachstuchkissen der Sitze herum; die Fenster klirrten, die beiden machten sich durch weitausladende Handbewegungen verständlich. Der Wagen war leer, die Chaussee staubig und öde. Einige hundert Meter saßen sie manierlich, aber schon an der Ecke, die das Anwesen des Gütlers Johannes Lauterbach und das der Post bilden, lagen sie in lautem Hader, wessen Koffer durch seine Kleinheit am meisten Verdacht erregen werde. Sie nannten diese Reisegegenstände »Segelschweine«, und die Claire rang die Hände, Wolf sei ein Schandfleck. Sie, ihrerseits, wahre das Dekorum. Sie schwatzten fortwährend, die Claire am heftigsten. Ihr Deutsch war ein wenig aus der Art geschlagen. Sie hatte sich da eine Sprache zurechtgemacht, die im Prinzip an das Idiom erinnerte, in dem kleine Kinder ihre ersten lautlichen Verbindungen mit der Außenwelt herzustellen suchen; sie wirbelte die Worte so lange herum, bis sie halb unkenntlich geworden waren, ließ hier ein »T« aus, fügte da ein »S« ein, vertauschte alle Artikel, und man wusste nie, ob es ihr beliebte, sich über die Unzulänglichkeit einer Phrase oder über die andern lustig zu machen. Dass sie Medizinerin war, wie sie zu sein vorgab, war kaum glaubhaft, jedoch mit der Wahrheit übereinstimmend. Sie spielte immer, gab stets irgendeiner lebenden oder erdachten Gestalt für einige Augenblicke Wirklichkeit.

Der Wagen hielt. Während sie ausstiegen:

»Pass auf, Frauchen, wo ist der Koffer mit dem falschen Geld? – Ah da.

Der Hausknecht ließ den Mund weit offen stehen, sperrte die Augen auf…

Freundlich geleitete sie der alte Wirt in ein Zimmer des ersten Stockwerks. Es war kahl, einfach, blumig tapeziert. Holzbetten standen darin, ein großer Waschtisch, eine Vase mit einem künstlichen Blumenstrauß – an der Wand hingen zwei Pendants: »Eroberung Englands durch die Normannen«, und in gleichartigem Rahmen und symmetrisch aufgehängt »Großpapachens 70. Geburtstag«. Die Tür schloss sich, sie waren allein.

»Claire?«

»Wolfgang?«

»Jetzt weiß ich nicht, sollte ich den Kofferschlüssel zu Hause vergessen haben…

»My honey-suckle«, und sie drückte ihm einen heftigen Kuss auf den Mund, während ihr Gesicht rachsüchtig und boshaft erglänzte, und stieß ihn von sich:

»Och, der kleine Jungchen muss ja alles vergess’ – psch, psch, psch…« Und man wusste nicht, ob diese Töne eine wiegende Mutter nachahmten oder ganz etwas anderes.

»Pack aus, mein Hulle-Pulle« –

Schwer seufzend packten sie aus, räumten ein.

»Ja, ich bin nu so weit. Jetzt frisiere ich mich, un dann gehe ich spaziers. Un du?«

»Das überlasse du nur mir; es wird dir dann seinerzeit das Nötige mitgeteilt werden.«

Der Stil war im großen und ganzen einheitlich verzerrt. Sie sagten sich häufig Dinge, die nicht recht zueinander passten, nur um diese oder jene Redewendung anbringen zu können, den andern zu irritieren, sein Gleichgewicht zu erschüttern.

Sie gingen herunter…

*

Da war der Marktplatz, der mit alten, sehr niedrigen Bäumen bepflanzt war, schattig und still lag er da. Sie schritten durch ein schmiedeeisernes Tor in den Park. Hier war es ruhig. In dem einfachen weißen Bau des Schlosses klopfte ein Handwerker. Sie gingen durch den Hof wieder in den Park, wieder in die Stille…

Noch brausten und dröhnten in ihnen die Geräusche der großen Stadt, der Straßenbahnen, Gespräche waren noch nicht verhallt, der Lärm der Herfahrt… der Lärm ihres täglichen Lebens, den sie nicht mehr hörten, den die Nerven aber doch zu überwinden hatten, der eine bestimmte Menge Lebensenergie wegnahm, ohne dass man es merkte… Aber hier war es nun still, die Ruhe wirkte lähmend, wie wenn ein regelmäßiges, langgewohntes Geräusch plötzlich abgestellt wird. Lange sprachen sie nicht, ließen sich beruhigen von den schattigen Wegen der stillen Fläche des Sees, den Bäumen… Wie alle Großstädter bewunderten sie maßlos einen einfachen Strauch, überschätzten seine Schönheit und ohne das Praktische aller sie umgebenden ländlichen Verhältnisse zu ahnen, sahen sie die Dinge vielleicht ebenso einseitig an wie der Bauer – nur von der andern Seite. Nun, hier in Rheinsberg erforderten die Gegenstände nicht allzuviel praktische Kenntnis, man war ja nicht auf einem Gut, das bewirtschaftet werden sollte. – Sie kamen an den Rand eines zweiten Sees, an eine Bank. Stille.

»Wolfgang?«

»Claire?«

»Glaubssu, dass es hier Bärens gibs? Eine alte Tante von mir is beinah mal von einem…«

… von einem Bären zerrissen worden?«

»Nein.« Sie war ganz empört. »Habe ich das gesagt? – Ich meine nur… Aber, du – beschützs mich doch, ja?«

»Ich schwöre dir…«

»Hm.«

Wieder war es sehr still. Die Claire saß da und sah sehr bestimmt in das schmutzig-grüne Wasser.

»Also pass mal auf. Warum ist hier nicht überall der zweite Friedrich? So wie er in Sanssouci überall ist. Auf jedem geharkten Weg, an jedem Boskett, hinter jeder Statue? – Hier hat er gelebt. Gut. Wüsstest du es nicht, würdest du es merken?«

»Nein. Vielleicht muss man älter, machtvoller sein, um die Welt sich zu formen nach seinem Ebenbilde… Wer ist heute so wie der Alte war? – Sehen unsere Wohnungen aus, wie wenn sie nur und ausschließlich dem Besitzer gehören könnten?… – Ein Specht, siehst du ein Specht!«

»Wölfchen, es ist kein Specht. Es ist eine Schleiereule.«

Er stand auf. Mit Betonung:

»Ich habe ein außerordentlich feines Empfinden dafür, ich vermute, du bist gewillt, dich über mich lustig zu machen. Wird diese Vermutung zur Gewissheit, so schlage ich dich nieder.«

Ihr Gelächter klang weit durch die Fichten.

*

Das Schloß! – Das Schloß musste besichtigt werden. Man schritt hallend in den Hof und zog an einer Messingstange mit weißem Porzellangriff. Eine kleine Glocke schepperte. Ein Fenster klappte: »Gleich!« – Eine Tür oberhalb der kleinen Stiege öffnete sich, und es kam nichts, und dann tappte es, und dann schob sich der massige Kastellan in den Hof. Als er der Herrschaften ansichtig wurde, tat er etwas Überraschendes. Er stellte sich vor. »Mein Name ist Herr Adler. Ich bin hier der Kastellan.« Man dankte geehrt und präsentierte sich als Ehepaar Gambetta aus Lindenau. Historische Erinnerungen schienen den dicken Mann zu bewegen, seine Lippen zuckten, aber er schwieg. Dann:

»Nu kommen Sie man hier hinten rum, – da ist es am nächsten.« – Und schloss eine bohlene Tür auf, die in einen dunklen Steinaufgang hineinführte. Sie kletterten eine steile Treppe mühsam herauf. Oben, in einem ehemaligen Vorzimmer, lagen braune Filzschuhe auf dem Boden, verstreut, in allen Größen für Groß und Klein, zwanzig, dreißig – man mochte an irgendein Märchen denken, vielleicht hatte sie eine Fee hierher verschüttet, oder ein Wunschtopf hatte wieder einmal versagt und war übergelaufen…

Die Claire behauptete: So kleine gäbe es gar nicht. –

»Ih«, sagte Herr Adler, »immer da rein; wenn sie auch ein bisschen kippeln, das tut nichts.«

Er aber war nicht genötigt, solche Schuhe anzuziehen, weil er von Natur Filzpantoffeln trug.

Die Zimmer, durch die er sie führte, waren karg und enthaltsam eingerichtet. Steif und ausgerichtet standen Stühle an den Wänden aufgebaut. Es fehlte jene leise Unregelmäßigkeit, die einen Raum erst wohnlich erscheinen lässt, hier stand alles in rechtem Winkel zueinander… Herr Adler erklärte:

»… und düs hier sei das sogenannte Prinzenzimmer, und in diesem Korbe habe das Windspiel geschlafen. Das Windspiel – man wisse doch hoffentlich…

»Zu denken, Claire, dass auch durch deine Räume einst Liebende der Führer mit beredtem Munde leitet«.

»Gott sei Dank! Konnt er ja! Bei uns war es pikfein.«

Und dann sagte Herr Adler, dies seien chinesische Vasen, und dieselben hätte der junge Graf Schleuben von seiner Asienreise mitgebracht.

Aber hier – man trat in ein anderes höheres Zimmer – hier sei der Gemäldesaal. Die Bilder habe der berühmte Kunstmaler Pesne gemalen, und die Bilder seien so vorzüglich gemalen, dass sie den geehrten Besucher überall hin mit den Augen folgten. Man solle nur einmal die Probe machen! Herr Adler gab diese Fakten stückweis, wie ein Geheimnis, preis. Es war, als wundere er sich immer, dass seine Worte auf die Besucher keine größere Wirkung machten. – Herrgott, die Claire! – Sie begann den Kastellan zu fragen. Wolfgang wollte sie hindern, aber es war schon zu spät. –

»Sagen Sie mal, Herr Adler, woher wissen Sie denn das alles, das mit dem Schloß und so?«

Herr Adler leitete sein Wissen von seinem Vorgänger, dem Herrn Breitriese, her, der es seinerseits wieder von dem damaligen Archivar Brackrock habe. –

»Und dann, was ich noch fragen wollte, Herr Adler, hat es hier wohl früher ein Badezimmer gegeben?«

»Nein, aber wir haben eins unten, wenn es Sie interessiert…«

Sie dankten. Herr Adler, der noch zum Schluss auf eine Miniatur, ein Geschenk der Großfürstin Sofie von Rußland, hingewiesen hatte, verfiel plötzlich in abruptes Schweigen. Und erst nachdem das Trinkgeld in seiner Hand klingelte, blickte er zum Fenster hinaus und sagte, ein wenig geistesabwesend: »Dies ist ein ehrwürdiges Schloß. Sie werden die Erinnerung daran Ihr ganzes Leben bewahren. Im Garten ist auch noch die Sonnenuhr sehenswert.«

Claire unterließ es nicht, Wolf ein wenig zu kneifen, und an der blumenkohlduftenden Kastellanswohnung vorbei schritten sie hinaus, ins Freie.

*

Am Nachmittag fuhren sie auf dem See herum. Er ruderte, und sie saß am Steuer, während sie dann und wann drohte, sie werde ihre graue, alte Familie unglücklich machen, sie habe es nunmehr satt und stürze sich ins Wasser. Er werde sowieso bald umwerfen. Nein – sie landeten an einer kleinen Insel. Ein paar Bäume standen darauf. Sie lagerten sich ins Gras… Ein kühler Wind strich vom See herüber. Die Uferlinien waren unendlich fein geschwungen, die hellblaue Fläche glänzte matt…

»Sehssu, mein Affgen, das is nu deine Heimat. Sag mal: würdest du für dieselbe in den Tod gehen?«

»Du hast es schriftlich, liebes Weib, dass ich nur für dich in den Tod gehe. Verwirre die Begriffe nicht. Amor patriae ist nicht gleichzusetzen mit der ›amor‹ als solcher. Die Gefühle sind andere.«

»Nun, ich bescheide mich.«

Und, nach einem langen Träumen in den hellen Himmel–, er war so hell, so hell, dass die blitzenden Funken vor den Augen tanzten, sah man lange hinein–:

»Wölfchen, du hast doch niemalen eine andere geliebt, vor mir?«

»Nie!«

Es prickelte, so über die Sehnsucht der Bürger zu spotten, über das, was sie Liebe nannten, über ihre Gier, stets der erste zu sein… Sie waren beide nicht unerfahren.

Stimmen kamen, Ruderboote, Familien, die hier zu einem Picknick landen wollten. Riesige, blecherne Vorratskörbe bedrohten wie Geschütze das Lager der Friedlichen… Auf und davon!–

Mitten im See: »Söh mal, du muss mir auch ma rudern gelass gehabt haben–! Mich möcht diß auch mal – buh.«

»Bitte, rudere«

Sie wechselten, das Boot schwankte.

Die Claire ruderte. Es war eine Freude. Einmal verlor sie beide Ruder. Er musste mit dem Stock rudern. Endlich fingen sie die Hölzer wieder, die weitab auf dem Wasser getrieben hatten.

»Ich kann es sehr schön. Ich konnt ja auch mal ohne Ruder – ja, konnt ich! Lach nich, du Limmel! Hab ich fürleichs nicht recht, na!«

Und ruderte, dass sie prusten und keuchen musste, wie eine kleine asthmatische Dampfmaschine. Die Sonne ging schon unter, als sie anlegten. Er bezahlte. Die Claire schwätzte mit der Bootsverleiherin. Er hörte gerade:

»So – also ein kräftiger Menschenschlag ist hier, wie?«

»Tje Fröln, wir vertobaken uns Jungen ja nich schlecht!«

Sie lachten noch, als sie am Hotel waren.

Wie friedlich dieser Abend war; sie saßen unter den niedrigen dunklen Bäumen und warteten auf das Essen.

»Claire?«

»Wolfgang?«

»Mir ist so…«

»Gut so, mein Junge.«

»Nein! Spass beiseite, mir ist mit dem Magen nicht recht.«

»Das ist Cholera. Wart, bis du was zu essen bekommst.«

»Nein, hör doch, ich hab so ein Gefühl, so leer, so…«

»Typisch. Das ist geradezu – bezeichnend ist das. Du stirbs, Wölfchen.«

»Die richtige Liebe deinerseits ist das auch nicht! Erst lasse ich dich auf Medizin studieren, und jetzt willst du nich mal durch dein Hörrohr kucken.«

»Ach Gott, nicht wahr, was heißt denn hier überhaupt! – Nicht wahr? – Wer denn schließlich…«

Aber sie ging doch mit zur Apotheke, die hellbraun und ganz modern sachlich eingerichtet war; weiße Büchsen und Töpfe aus Porzellan reihten sich auf Borden, ein leichter Baldriangeruch durchzog die Räumlichkeiten. Hier händigte man dem Kranken nach eingehender Rücksprache und leutseligem Reden an den Provisor eine kleine Flasche mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit ein. Sie half. Gott sei Dank.

Dann aßen sie, und nach Tisch rauchte die Claire. Drüben am Haus saßen die Herren, die jeder Zugereiste als Honoratioren zu bezeichnen pflegt. Juristen, Beamte, der Apotheker, der durch Bruch des Berufsgeheimnisses mit Hinweis auf die beiden der kleinen Runde fettes Gelächter entlockte.

»Prost, Wolf, auf die Alten!«

»Auf die Alten!«

Die Gläser klangen, und drüben die Gäste, die in langer Tischreihe am beleuchteten Haus speisten, blickten herüber. Die Claire blies Ringe.

»Es ist eine maßlose Frechheit«, entschied sie.

»Hm?«

»Hierher zu fahren. Wenn das niemand merkt! Aber es merks niemands – pass mal auf, es merks niemand.«

»Ne quis animadvertat! Prost.«

»Weißt du, lieber reise ich mit einem Flohzirkus wie mit dir.«

»Als, Claire, als mit dir.«

»Ach Gott, konnste auch besser mir nicht zu bekorrigieren zu gebrauchs gehabs habs! Ich spreche dir das schiere Hochdeutsch!«

»Hm. – Eingeweihte wissen davon Kantaten zu singen. Trinkst du noch was?«

»Ob ich noch wen trinke? – Nö.«

»Ich finde, wir gehen noch ein bisschen, hä?«

Sie schlenderten durch den dunklen Ort. Nach langen, schwarzen Häuserstrecken kam eine Bogenlampe, umschwirrt von surrenden braunen Flecken. Insekten, die durchaus in das Licht gelangen wollten.

»Claire?«

»Wölfchen?«

»Die Tiere da oben, siehst du?«

»Ja.«

»So auch der Mensch.«

Sie blieb stehen.

»Wieso… bitte?«

»Wie jene Lebewes…«

»Bitte – was hier zu symbolisieren is, symbolisier ich mir alleine. Überhaupt musst du schlafen gehen. Du sprichst ja schon ganz… anders. Soll ich dir aufs Aam nehmen?«

»Buhle!«

An dunklen Fensterläden kamen sie vorbei und an langen Mauern; hinter rötlich beleuchteten Gardinen saßen Familien und spielten Karten… Einmal traten sie in einen Hof, stolperten über Pflastersteine und blickten durch ein Fenster in einen Saal.

Drinnen spielten sie Theater.

Von der Bühne sah man nur einen kleinen, gelben, hellen Winkel; aber man hörte alles. »Hoho«, sagte eine überlaute Frauenstimme im Alt, »da werden wir meinen Schwager fragen müssen. Ah, da kommt er ja…«

Das Publikum schnaufte und zuckte wie eine vielköpfige Bestie im Dunkel. Man sah Schultern sich bewegen, Köpfe sich hin- und herwenden…

»Himmel, der Fritz«, kreischte jemand auf der Bühne, und die Menge der Theaterbesucher lachte, ihre Körper tauchten auf und nieder, man murmelte…

»Wie merkwürdig«, sagte Wolfgang, »draußen ist es totenstill, der Mond scheint, und hier drinnen spielen sie ein Scheinleben. Und wir kommen hinzu, wissen nichts von den Voraussetzungen des ersten Akts und bleiben ernst.«

Es war still, der hell erleuchtete Winkel der Bühne blieb leer; einer musste wohl eine zum Lachen reizende Geste gemacht haben, denn jetzt lachten die Frauen hell kreischend, während die Männer beifällig grunzten. Sie beugten sich weiter vor, man konnte undeutlich und durch das Fensterglas verschoben den übrigen Teil der Bühne erkennen, der eine Zimmereinrichtung mit gelber Tapete und gemalten Einrichtungsgegenständen darstellte; ein Mann in grüner Schürze hielt dort oben Zwiesprache mit einer robusten Weibsperson in den Vierzigern. Als Souffleurkasten diente ein alter Strandkorb. Sie hörten die beiden sagen:

»So. Er soll hier reinemachen (in der Tat hielt der Mann einen Besen in der Hand), und statt dessen scharwenzt Er mit den Mädels! Pass Er nur auf, Er Liederjahn.« – Hier kicherte das Publikum. – »Ich werde Ihm die Suppe schon versalzen. Hier und hier und da und da!«

Das Publikum lachte: »Hoho!« und oben bekam der Mann, der bis dahin mit gutgespielter Teppenhaftigkeit den Kopf beflissen-horchend geneigt hielt, einige patschende Schläge ins Gesicht… In diesem Augenblick trat ein junges Mädchen auf die Bühne, und hier nahm die Heiterkeit des Publikums einen so beängstigenden Grad an, dass die beiden unwillkürlich vom Fenster zurückfuhren.

»Der erste Akt!« seufzte er. »Uns fehlt der erste Akt!«

»So ein kleiner Junge, will sich das Theater besehens! Marsch zu Bett!«

Und sie gingen.

Als sie die Treppe hinaufkletterten, hörten sie noch das lachende Lärmen der angeregten Honoratioren.

»Claire, belustigen sich die ackerbautreibenden Bürger über uns? – Ich bin fürchterlich in meiner Wut.«

»Ja, mein Jungchen. Nu geh man zu Bett.«

Ihre großen, breitschultrigen Schatten tanzten an der Wand, weil die Kerzenflamme tanzte… Die Claire stand vor dem Spiegel und löste ihre Haare auf.

»Wölfchen, pass ma auf; da war ich noch ’n kleiner Mädchen, un da bin ich bei meine Freundin, die Alice, gegangen – heb mir doch mal die Nadel auf! – und da war ein Herr, wie er hieß, weiß ich nicht mehr, und der hat gesagt, mein Haar ist wie aus Seide gesponnen. Ja.«

»Na – und–?«

»Nüchs.«

Die Claire liebte es, Geschichten zu erzählen, die, ohne Pointe, kleine, anspruchslose Begebenheiten ihrer Kindheit enthielten. Sie verlangte, dass man sie sich oft anhöre, und wurde zornig erregt bei dem Einwand, man kenne dies.

»Du bist gar nicht freundlich zu mir. Du liebst mich nicht mehr.«

Einem seelischen Chamäleon gleich, bot sie nun den Anblick einer Liebeskranken. Der Mund war schmerzlich verschoben, der Oberkörper leicht geneigt, die Hände krampften sich.

»Ich meinerseits liege im Bett«, sagte er. Die Kerzenflamme verlosch…

Unten schwatzte das Wirtshauspublikum. Man hörte, wie der Wirt seinen Rundgang bei den Tischen veranstaltete:

»Nun, auch die Frau Schwester wieder gesund? – Ja, ja, so geht’s. Hat es den Herrschaften geschmeckt? Ja…«

Oben aber sagte Claire gedankenvoll, langsam:

»Ich möcht dir nu nehmen und einem in sein Gulasch werfen. Seh mal, er wundert sich bestimmt, Wie–?«

Aber dann schwieg sie.

*

In der Nacht wachte er auf. Vorsichtig bauschte er den Vorhang, der weiß und fältig am Fenster leise vom Nachtwind bewegt war. Der Mond gespensterte in den Bäumen, ein Obelisk stand seitwärts drohend da und warf einen scharfen Schatten. Das Laub rauschte auf. Warum reagieren wir darauf wie auf etwas Schönes, fühlte er. Es ist doch nur ein durch Schallwellen fortgepflanztes Geräusch… Und überließ sich gleich darauf willenlos diesem ruhigen Rauschen, das ein wenig traurig war, aber Hohes ahnen ließ und die Brust weiter machte… Er fuhr herum. Eine ganz verschlafene Kinderstimme sagte unter einem Wasserfall von Haaren:

»Is niemand in mein klein Bettchen, und soll aber jemand da sein, und Klein-Clärchen is ganz allein…«

Er trug sie zurück.

*

Als er früh am Morgen vom Friseur zurückkam, war die Claire am Aufstehen. Es war das so eine Sache: die erste Viertelstunde pflegte sie mit feiner Stimme ein entzückend klingendes Gemurmel zu stammeln, unzusammenhängende Silben hervorzubringen und in den verschiedensten Nachahmungen von Tierstimmen zu paradieren. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugezogen, so begrüßte ihn das Winseln und Mauen einer neugeborenen Katze.

»Aufstehen! Claire! Aufstehen! Alle Leute sind schon nach Tisch.«

Man musste ein wenig übertreiben – es half sonst nichts.

»Buh!«

»Ja, ich weiß. Komm!«

Und zog ihr die Bettdecke fort.

Später:

»Wölfchen, zieh ich nu das Grüne oder das Weiße an?«

»Hm, welches möchtest du denn gerne anziehen?«

»Das… das weiß ich nicht. C’est pourquoi ich dich frage.«

»So zieh denn das Weiße an.«

»Schön. Was dieser Junge mich tyrannisiert, das ist nicht zu sagen. Haach!«

Pause.

»Wolfgang?«

»Claire?«