Vorwort

Dieses Buch steht in enger Verbindung mit einem Projekt, das die Bundeskonferenz der Katholischen Seelsorge bei den Justizvollzugsanstalten im Jahr 2009 mit der damaligen Professur für Theologische Ethik der Goethe-Universität Frankfurt (Prof. Dr. Hille Haker und Dr. Michelle Becka als Mitarbeiterin bzw. Vertretung) begonnen hat. Das Projekt ist gekennzeichnet durch ein gemeinsames Lernen in dem Arbeitskreis „Ethik im Justizvollzug“ – diesbezüglich, was die Wirklichkeit Justizvollzug für die ethische Reflexion bedeutet und wie eine solche ethische Reflexion aussehen kann. Mittlerweile werden Formen ethischer Reflexion mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verschiedener Justizvollzugsanstalten eingeübt – allen voran in den Ethikkomitees in der JVA Bielefeld-Brackwede und JVA Meppen. Ohne das gemeinsame Lernen und die Erfahrungen in den Ethikkomitees wäre die Idee zu diesem Buch nicht entstanden.

Weil immer noch nicht hinreichend klar ist, was Ethik im Justizvollzug sein und wie sie aussehen könnte, sollen hier verschiedene Beiträge zusammengeführt werden, die das erörtern, begründen, bezweifeln, Fragen formulieren oder erste Antworten geben. Einige der Beiträge gehen auf ein Symposium zurück, das im November 2012 in Mainz stattfand, oder auf Vorträge bei Veranstaltungen der Gefängnisseelsorge. Doch die meistens sind eigens für dieses Buch verfasst. Für die Bereitschaft dazu und die Mühe, die das gekostet hat, danke ich den Autorinnen und Autoren recht herzlich.

Mein besonderer Dank gilt jedoch der Bundeskonferenz der Gefängnisseelsorge – für die gemeinsame Arbeit, für das Vertrauen und zu guter Letzt für die finanzielle Unterstützung dieser Publikation. Auch der Regionalkonferenz Baden-Württemberg danke ich für ihre Mitfinanzierung – und schließlich dem Verband Deutscher Diözesen, der die verschiedenen Aktivitäten des Arbeitskreises durch finanzielle Unterstützung ermöglicht.

Mainz, im Oktober 2014

Michelle Becka

Einleitung

Michelle Becka

„Ethik im Justizvollzug“ – vielen, die mit dem Justizvollzug oder mit Fragen der Ethik befasst sind, leuchtet die Verbindung der Begriffe ein. Und doch spielt eine ‚Justizvollzugsethik‘ oder ‚Strafvollzugsethik‘ weder in der Forschung noch in der Praxis bislang eine große Rolle. Dieser Sammelband möchte dazu beitragen, dass sich das ändert. Er versammelt interdisziplinäre und durchaus kontroverse Beiträge, die auf unterschiedliche Art Annäherungen an eine Ethik im und Ethik des Justizvollzugs unternehmen.

In diesem Sammelband ist von Justizvollzug und Strafvollzug gleichermaßen die Rede. Strafvollzug ist der umfassendere Begriff. Er bezeichnet die Vollziehung der freiheitsentziehenden Kriminalsanktion und umfasst neben der Freiheitsstrafe auch die Jugendstrafe, den militärischen Strafarrest und die sogenannte Maßregel der Besserung und Sicherung. Der Begriff Justizvollzug bezieht sich hingegen allein auf die Freiheitsstrafe. (Der Sonderfall der Sicherungsverwahrung sei an dieser Stelle ausgeblendet.) Da der Fokus des Interesses hier auf dem Vollzug der Freiheitsstrafe liegt, der sich zum Teil erheblich vom Maßregelvollzug aber auch vom Jugendvollzug unterscheidet, lautet der Titel dieses Buches ‚Justizvollzug‘. Dennoch wird in einigen Beiträgen der Begriff ‚Strafvollzug‘ verwendet, weil die Aussagen entweder allgemeiner Art sind und sich auf die verschiedenen Bereiche beziehen oder aber – v. a. im letzten Teil – gerade die Erfahrungen und Kenntnisse aus den Bereichen Jugendstrafe oder Maßregelvollzug für eine Ethik auch und gerade des Justizvollzugs geltend gemacht werden sollen.

Ethik wird hier verstanden als Reflexion des Handelns – von Einzelnen, in Beziehung mit anderen und in Institutionen auf der Grundlage von Werten und Normen. Es geht darum, gute Gründe angeben zu können, erklären zu können, warum eine Handlung als richtig oder angemessen gelten kann. Solche Überlegungen sind für den Justizvollzug relevant – auch wenn die Fragen innerhalb der Institution häufig nicht gestellt werden, weil das alltägliche Handeln nicht hinterfragt wird: Etwas wird getan, weil es immer so getan wurde, weil es sich bewährt hat oder weil es Vorschrift ist. Ohne diese etablierten Handlungsmuster könnte keine Organisation funktionieren; und die Einzelnen wären überfordert, müssten sie ständig überlegen, ob das, was sie tun, richtig ist.

Doch zuweilen brechen diese Fragen auf. Es gibt Situationen, in denen sie sich unweigerlich stellen: wenn ich mit Unbehagen und ‚Grummeln im Bauch‘ bestimmte Arbeiten verrichte, wenn es immer schwerer wird, aufgrund von externen oder internen Vorgaben das Vollzugsziel zu verwirklichen, wenn Zweifel aufkommen, ob das denn alles so richtig ist. Es ist Aufgabe einer Ethik im Justizvollzug, angemessene Antworten auf diese Fragen zu geben. Ethik klärt, welche Handlungen begründet werden können und als ethisch gut und verantwortlich gelten können. Dabei beansprucht sie nicht,

die ursprüngliche Quelle ethischer Erkenntnis und Handlungsorientierung zu sein. Sie erfindet nicht erst ethische Wertungen und Normen, sondern geht gerade davon aus, dass wir Menschen immer schon unser Handeln ethisch bewerten. Ihre Aufgabe besteht so darin, die tatsächlich bereits vorhandenen moralischen Überzeugungen und Handlungsnormen sowie ihre Begründungen systematisch zu erheben und die Begründungen systematisch auf ihre Stichhaltigkeit und Tragfähigkeit hin zu überprüfen.1

Normen und Prinzipien geben wichtige Anhaltspunkte, was richtiges Handeln ist. Und doch ‚weiß‘ Ethik nicht immer schon, was richtig ist, sondern sie sucht diese Antworten in genauer Kenntnis der konkreten Situation, d. h. im Dialog mit anderen Disziplinen, die dazu beitragen, die jeweiligen Hintergründe (rechtlich, soziologisch, medizinisch etc.) zu verstehen. Das gilt auch im Justizvollzug: Ethische Reflexion muss auch hier interdisziplinär und in genauer Kenntnis der Praxis stattfinden. ‚Rezepte‘ für richtiges Handeln gibt es hier ebenso wenig wie anderswo.

Die Grundannahme dieses Buches ist, dass es sinnvoll ist, Fragen nach dem richtigen Handeln im Justizvollzug zu reflektieren und dass in dieser Reflexion letztlich ein Beitrag zum Vollzugsziel liegt. Dieses besagt bekanntlich – in der Formulierung des StVollzG von 1977, die von den meisten Landesgesetzen übernommen wurde – dass Gefangene fähig werden sollen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (§ 2 StVollzG). Es geht um den Auftrag der Resozialisierung. Häufig stellt sich bei Bediensteten und Verantwortlichen im Justizvollzug gerade dann ein Unbehagen ein, wenn deutlich wird, dass bestimmte Maßnahmen eben nicht der Resozialisierung dienen. Eine Ethik des Justizvollzugs greift diese Unstimmigkeiten auf und reflektiert moralisch fragwürdige Situationen.

Die Beiträge, die das Buch versammelt, sind nicht als Systematik einer Ethik des Justizvollzugs gedacht, sondern sie fokussieren verschiedene Aspekte eines weiten Feldes, das dadurch überhaupt erst Konturen gewinnt. Sie sind interdisziplinär und folgen dementsprechend Vorgaben und Kulturen unterschiedlicher Disziplinen. Dabei berühren sie ähnliche Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven. Das Bild, das dadurch entsteht, ist nicht widerspruchsfrei: Schon die eigene Positionierung zur Frage nach Sinn und Notwendigkeit des Strafvollzugs wird von den Autorinnen und Autoren unterschiedlich beantwortet. Auch die Erwartungen an eine Ethik, die hier verortet ist, gehen teilweise auseinander, und die Nähe von ethischen Foren im Strafvollzug zu Instrumenten der Personal- oder Organisationsentwicklung wird durchaus unterschiedlich bestimmt. Diese Diversität ist gewünscht, sie ist ein wichtiges Ziel dieses Buches. Denn so wie der Strafvollzug selbst keine einheitliche oder einfache Praxis ist, kann auch eine Ethik als Reflexion derselben nicht einheitlich sein: Bevor systematische Antworten gegeben werden, muss zunächst eine Vielzahl an Fragen gestellt werden und es müssen Probleme angezeigt werden. Dazu trägt dieser Sammelband bei. Das heißt freilich nicht, dass nicht zahlreiche originelle und kluge Orientierungsmarken für die weitere ethische Reflexion gesetzt werden!

Der erste Teil des Buches thematisiert theologische, philosophische, anthropologische und die Institution betreffende Grundfragen, die für eine Ethik im Justizvollzug höchst relevant sind. Denn sie erläutern Hintergrundannahmen und zeigen Probleme und Fragestellungen auf, die eine Ethik im Justizvollzug notwendig machen.

Der erste Beitrag des Buches ist ein theologischer. Knut Wenzel erörtert die Bedeutung der Sicherheit als menschliches Grundbedürfnis, das aber auch pathologisch werden kann – nämlich dann, wenn Einzelne, Gruppen oder die gesamte Gesellschaft die unumschränkte Kontrolle über die Bedingungen von Sicherheit anstreben, beispielsweise durch (Informations-)Kontrolle. Gerade dadurch aber, so betont Wenzel, wird die Sicherheit auf eine instrumentell-technische Dimension verkürzt und die Pflege von Gesellschaftlichkeit, die doch am ehesten Sicherheit gewähren könnte, erschwert. Auch theologiegeschichtlich ist der Sicherheitsbegriff mit verschiedenen Ambivalenzen verbunden; problematisch wird er auch hier v. a. dann, wenn die Sicherheit um den Preis der Freiheit realisiert wird. Wenzel stärkt demgegenüber gerade die Freiheit des Subjekts – eine Freiheit freilich, die nicht als Autarkie zu verstehen ist, sondern im Bewusstsein um die Angewiesenheit auf die Anerkennung durch den/die Andere(n). Diese Anerkennung deutet er schöpfungstheologisch aus und gelangt so zu der abschließenden These, dass sich Sicherheit umso mehr realisieren kann, als wahrhaft subjekthaftes Menschsein möglich ist.

Der Beitrag von Martin W. Schnell befasst sich mit dem Bereich des Maßregelvollzugs und stellt die Frage nach fürsorglichem Zwang ins Zentrum: In einer klassischen Argumentation gilt Zwang dann als gerechtfertigt, wenn der/die Vernünftige Zwang ausübt über jemanden, der/die durch Krankheit oder aus anderen Gründen unvernünftig ist – und zwar zu dessen bzw. deren Wohl. Das setzt freilich voraus, dass klar unterschieden werden kann, was vernünftig und was unvernünftig ist und bringt zudem einen Wertunterschied mit sich: Der Unvernünftige ist ausgeschlossen von Würde und Achtung und wird zum bloßen Fürsorgeempfänger. In neueren Ansätzen kommt es daher zu einer Entdifferenzierung zwischen Vernunft und Unvernunft. Diese begrüßenswerte Entdifferenzierung führt jedoch zu einer Situation, in der einerseits unklar ist, ob fürsorglicher Zwang überhaupt legitim sein kann, er andererseits aber nach wie vor ausgeübt wird bzw. werden muss. Schnell stellt diese schwierige Situation dar und erörtert, wie fürsorglicher Zwang und ethische Inklusion nebeneinander bestehen können.

Der Beitrag von Michelle Becka fragt danach, wie angesichts weitreichender Objektivierungen im Justizvollzug noch von Handlungsfreiheit der Inhaftierten die Rede sein kann, die in einem Mindestmaß nötig ist, um das Vollzugsziel zu realisieren. Der geschlossene Vollzug wird gekennzeichnet durch die Aspekte der Abgeschlossenheit, der Kontrolle und der Sicherheit. Sie reduzieren die Handlungsspielräume des Inhaftierten auf ein Minimum. Jene Freiheitsmomente, die auch im Justizvollzug ausfindig gemacht und genutzt werden können, sind Momente der Widerständigkeit und erscheinen unter diesen Bedingungen häufig als fehlende Anpassung. Es wird angeregt, dass einerseits diese Momente der Freiheit entdeckt und konstruktiv weiterentwickelt werden müssen und dass andererseits Bedingungen geschaffen werden, die unnötige Einschränkungen der Handlungsfreiheit beseitigen und positiv die Entfaltung derselben ermöglichen.

Der zweite Teil des Buches fokussiert die Institution Justizvollzug mit ihren Widerständen und Schwierigkeiten und diskutiert darüber hinaus die normativen Quellen, die das Handeln dort bestimmen.

Dirk Fabricius eröffnet das Kapitel mit einem sehr kritischen Blick auf den Justizvollzug und wirft die Frage auf, was Ethik unter diesen problematischen Bedingungen erreichen kann. Er verortet das Gefängnis im konfliktiven Verhältnis von Gesetz, Recht und Ethik: Richtiges Handeln ist hier oft allein das angepasste Verhalten. Das Gefängnis ist als ‚Kriegsschauplatz‘ zu verstehen, weil es durch Gegensatzpaare wie ‚drinnen und draußen‘, ‚oben und unten‘, Subjekt und Objekt bestimmt ist, die eine Zusammenarbeit beinahe unmöglich machen – und wenn, dann wird sie als Kollaboration verwirklicht. Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, die Fähigkeit zu erlangen, ein Leben ohne Straftaten zu führen! Mehr noch: Fabricius diagnostiziert eine faktische Unmöglichkeit, dem Gesetz treu zu bleiben und den Vollzug rechtlich zu gestalten! Darüber hinaus ist der Vollzug geprägt durch zahlreiche moralische Dilemmata, die gewöhnlich neutralisiert werden. Ethik-Komitees im Justizvollzug, so die vorsichtige These, könnten sinnvoll sein, wenn es ihnen gelingt, diese Dilemmata zu erkennen, zu beschreiben und anzuerkennen. Sie würden dann zu einer besseren Verständigung beitragen und so letztlich den schädlichen Folgen des Justizvollzugs ein Stück weit entgegenwirken.

Der Beitrag von Rita Haverkamp erörtert verschiedene normative Orientierungspunkte für den Justizvollzug, insbesondere für den Frauenvollzug. So gibt es einerseits die Europäische Menschenrechtskonvention, der übergesetzlicher Rang zukommt und die Menschenrechtsgarantien zu wesentlichen Aspekten des Freiheitsentzugs bereit hält. Andererseits gibt es eine Reihe von internationalen Regelwerken (Resolutionen) ohne Bindungswirkung, die aber wichtige Empfehlungen im Sinne einer Gesamtregelung abgeben. Von diesen sind v. a. die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze, die Standards des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) und für den Frauenvollzug die sogenannten Bangkok-Rules hervorzuheben. Haverkamp macht deutlich, dass dieses sogenannte ‚soft law‘ keinesfalls wirkungslos ist. Es setzt Impulse, trägt zu einer Sensibilisierung bei und liefert Orientierungspunkte sowohl für die ethische Reflexion als auch für eine Weiterentwicklung nationalen Rechts. Sie sind wichtige Orientierungsrichtlinien in der Realisierung eines humanen Strafvollzugs.

Auch Jochen Bung und Markus Abraham beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit normativen Quellen und beziehen neben der rechtlichen auch die moralische Normativität ein. Sie entwerfen einen Freiheitsbegriff in Anlehnung an den Capability-Ansatz von Sen und Nussbaum, wonach es gut ist, jeden Menschen in die Lage der selbstbestimmten Wahlmöglichkeit eines nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechenden Lebens zu versetzen, und sie entdecken einen solchen Begriff ‚realer Freiheit‘ auch in der Verfassungstradition der Bundesrepublik: Freiheit ist danach nur für diejenigen real, die die Bedingungen vorfinden, sie zu verwirklichen. Der Capability-Ansatz wird im Folgenden mit rechtlich normativen Quellen vermittelt, die ihn einerseits konkretisieren, die andererseits durch diesen Ansatz aber auch vertiefend begründet werden. Dabei gehen die Autoren neben dem Sozialpakt der Menschenrechte v. a. auf die European Prison Rules ein, und bieten durch die Ergänzung von Capability-Approach und menschenrechtlichen Regelwerken eine Orientierung für die Gestaltung des Justizvollzugs und für die Reflexion dort aufkommender ethischer Fragen.

Im dritten Teil des Buches geht es dezidiert um eine Ethik des Justizvollzugs und um die Fragen, wie eine solche aussehen könnte und welche Themen und Aspekte von besonderer Bedeutung sind.

Im ersten Beitrag erläutert Dietmar Mieth einschlägige Aspekte einer solchen Ethik. Die fundamentale Basis ist die Menschenwürde. Auch der Strafvollzug steht unter (und nicht über) dem Kriterium der Menschenwürde – obwohl der Inhaftierte zahlreichen Einschränkungen seiner Selbstentfaltung unterworfen ist. Mieth unterscheidet zwischen notwendigen bzw. legitimen Einschränkungen – sie schränken Rechte ein, wahren aber dennoch die Würde – und illegitimen Einschränkungen, welche die Würde verletzen. Er lotet aus, welche Rechte beschränkt werden können und welche mit der Würde so eng verbunden sind, dass ihre Einschränkung zugleich eine Würdeverletzung wäre, und entwickelt dazu einige Faustregeln. Mieth erläutert weiterhin, dass die Realisierung der Menschenwürde unter Bedingungen des Strafvollzugs auch und v. a. eine institutionen- und sozialethische Aufgabe ist. In Anlehnung an Martha Nussbaum erläutert er, wie die Organisation durch entsprechende Rahmenbedingungen und unterstützende Fürsorge eine Verwirklichung der Entfaltungsmöglichkeiten ermöglichen soll, bevor er abschließend die Überlegungen zur Menschenwürde in einem christlichen Menschenbild verankert.

Hille Hakers Beitrag vereint eine pointierte Skizze der neueren US-amerikanischen Geschichte der Gefängnisstrafe mit der ethischen Reflexion diesbezüglich relevanter Fragen. Sie zeigt die enorme Bedeutung des Strafkomplexes in den USA als Ergebnis einer Politik der Sicherheit auf, die nach Garland umso stärker wurde wie das staatliche Wohlfahrtsmodell schwächer. Neben der mit dem Strafsystem verbundenen sozialen Ungerechtigkeit deckt Haker im Anschluss an Alexander Rassismus als – immer noch gültiges – Kennzeichen des Systems auf.

Folgen dieser Entwicklung und einer fehlgeleiteten Kriminalpolitik sind Masseninhaftierungen, die als Ausdruck einer neuen Segregation verstanden werden können und zu schlechten Bedingungen in den Gefängnissen führen. In dieser Situation stellt Haker die Frage nach den normativen Hintergrundannahmen dieser Entwicklung und kommt zu dem Ergebnis, dass das (amerikanische) Strafrecht derzeit keiner rechtstheoretischen Gerechtigkeitskonzeption folgt, sondern die Bestrafung des Täters zur Abschreckung anderer in den Mittelpunkt stellt. Nach einer Auseinandersetzung mit einem Papier der US-amerikanischen Bischofskonferenz, die demgegenüber eine Stärkung des Gedankens restaurativer Gerechtigkeit fordert, unterstützt sie diese Forderung, verbindet sie aber mit der Warnung vor einer Individualisierung der Gerechtigkeitsfrage. So zeigt sie abschließend auf, wie nur durch eine Verzahnung individual- und sozialethischer Reflexion Referenzpunkte einer Ethik des Justizvollzugs entwickelt werden können, die zudem besonders kritisch zu sein hat gegenüber den Entwicklungen einer Kultur der Sicherheit.

Andreas Lob-Hüdepohl erörtert in professionsethischer Perspektive, wie an dem zwangbesetzten und sicherheitsorientierten Ort Gefängnis Wiederbefähigung möglich sein kann. Er fasst alle Berufsgruppen im Justizvollzug als ‚Soziale Professionen‘ zusammen und skizziert die menschenrechtliche Fundierung sozialer Professionen, die durch die Weiterentwicklung des Doppelmandats ‚Hilfe und Kontrolle‘ hin zu Schutz und Verwirklichung von Menschenrechtsansprüchen gekennzeichnet ist. Es bleibt ein Doppelmandat fortbestehen, weil es um die Ansprüche aller Beteiligten geht, so dass Resozialisierung und Sicherheit als legitime Ansprüche formuliert werden. Allerdings kehrt Lob-Hüdepohl die Begründungslast des Handelns dahingehend um, dass nicht entgrenzendes, sondern eingrenzendes Handeln zu rechtfertigen ist. Der Autor erläutert weiterhin, dass der Schutz von Menschenrechten einer Verfügung über materielle Ressourcen ebenso bedarf wie subjektiver Kompetenzen zur Verbesserung der Lebenslage. Dazu ist immer das Selbstengagement des Hilfeempfängers nötig, damit dieser die nötige Selbstachtung entwickeln kann. Um die Hindernisse in der Mitwirkungsbereitschaft bei Häftlingen auszuräumen ist v. a. eine Unterbrechung der tiefsitzenden Hermeneutik des Verdachts nötig – durch eine Professionsethik, die aufbaut auf Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Assistenz und Advokatorik. Die Überlegungen zur Professionsethik münden schließlich in der Betonung der Notwendigkeit ethischer Deliberation, für deren Durchführung ein Modell sozialprofessioneller Ethikberatung vorgestellt wird.

Helen Kohlens Beitrag ergänzt die professionsethische durch eine organisationsethische Perspektive. Kohlen erläutert einerseits, dass sich eine Organisation, wenn sie ihre Ziele realisieren will, auch mit ethischen Fragen auseinandersetzen muss. Andererseits ist es nötig, dass Ethik organisiert wird, damit sie nicht ins Leere läuft. Dabei macht Kohlen deutlich, dass auch wenn ethische Prozesse parallel zu Ökonomisierungs- und Rationalisierungsprozessen laufen können, sie nicht mit diesen identisch sind, weil es der Ethik um die inhaltliche Auseinandersetzung und nicht um das effiziente Verfahren geht. Sie konkretisiert Elemente einer Organisationsethik für die managerielle Ebene, bevor sie Ethikkomitees als einen intermediären Raum ethischer Reflexion skizziert, der organisationsethisch relevant ist. Abschließend hebt sie die Bedeutung von besonders engagierten Akteuren hervor, die zu einer Organisation gehören, aber doch über bestimmte Freiräume verfügen und diese auch nutzen. Sie sind es, die innerhalb einer Organisation wichtige Veränderungsprozesse einleiten.

Der vierte und letzte Teil des Buches widmet sich schließlich dezidiert der Praxis. Er stellt Modelle vor – eines der Ethik im Maßregelvollzug und eines der Ethik im Justizvollzug – und formuliert abschließend bleibende Herausforderungen.

Harald Joachim Kolbe erläutert in seinem Beitrag die Erfahrung mit Programmen ethischer Bildung und Reflexion im Maßregelvollzug. Kolbe verdeutlicht, dass sich ethische Fragen im Maßregelvollzug auf unterschiedliche Weisen stellen und entsprechend auf verschiedenen Ebenen bearbeitet werden müssen. So eruiert etwa ein Projekt aus sehr konkreten Arbeitssituationen den Qualifizierungsbedarf des Personals, der auch ethische Fragestellungen umfasst, und leitet daraus Konsequenzen für Personal- und Organisationsentwicklung ab. Auch in anderen Projekten ist es ein zentrales Anliegen – etwa durch Befragungen – die Bedürfnisse der Bediensteten zu erheben, um das Bildungsangebot darauf abzustimmen und so zu einer verbesserten Praxisentwicklung beizutragen. Es soll eine Basisqualifikation erreicht werden, die auch eine Kompetenz im Umgang mit (ethischen) Fragen und Problemen beinhaltet und auf diese Weise zu einer Verbesserung der Arbeitsabläufe beiträgt.

Der Beitrag von Lothar Dzialdowski und Michelle Becka vereint einen Bericht über die Arbeit des Ethik-Komitees in Bielefeld-Brackwede mit grundsätzlichen Überlegungen zu Chancen und Grenzen von Ethikkomitees im Justizvollzug. So erläutert Dzialdowski die Entstehung des Pilotprojekts in der JVA Bielefeld-Brackwede und zeigt dabei die nötigen Schritte in der Installation eines solchen Komitees auf: Sie reichen von den Vorgesprächen und der Feststellung der Rahmenbedingungen, die gegeben sein müssen, zu der Schaffung inhaltlicher und organisatorischer Grundlagen für die gemeinsame Arbeiten. Dzialdowski erläutert darüber hinaus das Selbstverständnis des Bielefelder Ethikkomitees, Aufgaben und Ziele seiner Arbeit sowie die Einschätzungen über die Wirkung dieser Arbeit. Ausgehend von diesen Erfahrungen skizziert Becka ein mögliches Profil von Ethik-Komitees und grenzt sie von anderen Formen der Besprechung und der organisationsinternen Deliberation ab. Dabei werden auch Grenzen des Ethik-Komitees deutlich.

Das Buch endet mit einem Beitrag von Philipp Walkenhorst, der viele der berührten Fragen noch einmal aufnimmt und von der Praxis des Jugendvollzugs her überlegt, inwieweit eine Professionsethik zu einer besseren Realisierung des Vollzugsziels beiträgt. Ausgangspunkt ist die grundsätzliche Spannung des Strafvollzugs zwischen Resozialisierungsauftrag und Punitivität der Institution. In dieser Spannung verortet er die Vollzugsbediensteten. Damit die Bediensteten unter diesen Umständen zur Realisierung des Vollzugsziels beitragen können, benötigen sie grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten, aber auch ein Berufsethos, das sie befähigt, den ‚Geist des Gesetzes‘ zu erkennen und danach zu handeln. Weil es aber kein übergreifendes Berufsethos gibt, das die gemeinsame Arbeit prägt und trägt, und darüber hinaus grundlegende Fragen meist ungeklärt bleiben, braucht es eine multiprofessionelle ethische Reflexion, die sich dieser Fragen annimmt, und eine ‚Berufs(feld)ethik‘ – im Sinne einer vollzugsübergreifenden ‚Professionsethik‘, die auch institutionelle Aspekte berücksichtigt. Walkenhorst erläutert eine solche Berufs(feld)ethik und endet mit der Warnung vor der Verkürzung ethischen Nachdenkens auf eine Funktionalisierung für einen reibungslosen Ablauf oder eine Form der Supervision.

Mit diesen Beiträgen bietet dieser Sammelband eine Diskussionsgrundlage zu Sinn und Unsinn, Chancen und Grenzen, Themen und Formen einer Ethik des Justizvollzugs. Dass sich kontroverse Diskussionen und Weiterentwicklungen anknüpfen, ist ausdrücklich gewünscht.

1 Ernst, Stephan, Grundfragen theologischer Ethik, München 2009, S. 12.

Teil 1
Der Mensch im Strafvollzug –
Grundlagen und Grundfragen

Sicherheit als Zeichen der Zeit

Zeitdiagnostische und theologische Anmerkungen

Knut Wenzel

Es ist das Vorrecht mündiger Christinnen und Christen, ihrem Glauben in dessen inhaltlicher Bestimmung und der Theologie als dem Reflexions- und Begründungsdiskurs dieser Inhaltsbestimmung Fragen zuzumuten, die nicht schon auf die Gleise längst vorgespurter Antwortbahnen gesetzt sind, Fragen, die das Leben aufgibt. Wenn die systematische Theologie zum Thema Sicherheit als „Zeichen der Zeit“ befragt wird, handelt es sich um eine solche sozusagen quer zu den theologischen Gleisen verlaufende Frage. Wie sich in den folgenden Überlegungen hoffentlich zeigen wird, zwingt die Frage dazu, einfache Oppositionen zu vermeiden; und sie verhilft dazu, neue Verbindungen zwischen theologischen Einzelthemen wahrzunehmen.

1. Einleitung: Begriffliche Klärungen

„Zeichen der Zeit“: Alltagssprachlich bezeichnen wir damit ein Phänomen, das die gesellschaftliche, kulturelle, politische, das Zeitbewusstsein betreffende Situation prägt und/oder kennzeichnet. Die Rede von den „Zeichen der Zeit“ hat demnach eine zeitdiagnostische Sinnspitze. In der Regel verbindet sich mit dieser Rede heute eine mehr oder weniger negative Konnotation: „Zeichen der Zeit“ stehen für eine ambivalente, problematische, negative Zeiterscheinung. In diesem Sinn sind sie wohl auch in der mir aufgetragenen Themenstellung gemeint; in diesem Sinn tauchen sie auch zunehmend in kirchlichen Dokumenten auf.

Zugleich weiß man sich beim Gebrauch dieser Formulierung im kirchlichen Kontext irgendwie mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbunden; hat doch dort die katholische Kirche auf die „Zeichen der Zeit“ reagiert. Es lohnt sich, das ‚irgendwie‘ dieser Rückbindung kurz zu bestimmen: Die Rede von den Zeichen der Zeit erhält im kirchlichen Kontext ihre erste Bedeutungsbestimmung durch Papst Johannes XXIII., der sie mehrfach gebraucht. Auch seine Verwendung hat eine zeitdiagnostische Komponente. Jedoch meint er stets positive Aufbrüche in einem gesellschaftlichen Kontext der Ungerechtigkeit oder des Unheils; positive Aufbrüche, durch welche die Realisation dessen, was in der Botschaft Jesu und in der Verkündigung der Kirche ‚Herrschaft Gottes‘ heißt, gewissermaßen realsymbolisch beginnt. Papst Johannes XXIII. nennt ausdrücklich die Arbeiterbewegung und die Emanzipation der Frauen. Weil in ihnen die Aufrichtung der basileia tou theou zwar anfanghaft und prekär, aber real und konkret greifbar ist, muss die Kirche auf die Zeichen der Zeit achten.2

Diese positive Konnotation der Rede von den „Zeichen der Zeit“ ist heute außer Gebrauch geraten. Auch das mag man (im problematischen Sinn) für ein Zeichen der Zeit halten. Wenn nun im Folgenden von der negativ eingefärbten Bedeutungsvariante der Formulierung Gebrauch gemacht wird, so hoffentlich dennoch eingedenk der Warnung Papst Johannes’, kein Unglücksprophet zu sein.

2. Ambivalenzen der Sicherheit

Das Thema der Sicherheit kann in einer theologisch-zeitdiagnostischen Analyse keine eindeutige Beurteilung erfahren. Einfache Oppositionen, etwa nach dem Schema „Sicherheit hier – Freiheit dort“, stehen einer präzisen Analyse nicht zur Verfügung. Nicht nur Ambivalenzen, sondern „Sicherheitsparadoxien und Risikodilemmata“ sind einer Diagnose Hartmut Böhmes zufolge Signet einer Moderne, deren „Standardposition […], nämlich Fortschritt durch Erhöhung von Sicherheit zu stabilisieren“, durch die reale Krisengeschichte der Moderne infrage gestellt ist.3 Vor langem schon hatte Hans Blumenberg in der Ent-Sicherung der Welt ein wesentliches Merkmal des Säkularisierungsprozesses erkannt: „Wenn die Welt nicht mehr zugunsten des Menschen vorversichert ist, ist auch die Wahrheit über sie nicht mehr selbstverständlich für ihn disponibel.“4

2.1 Sicherheitsbedürfnisse

Völlig unbestreitbar dürfte sein, dass es legitime Sicherheitsbedürfnisse gibt. Sie artikulieren sich sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen Bereich, wobei auch gesellschaftlich geltend gemachte Sicherheitsbedürfnisse letztlich wohl auf eine personale Bedeutungsebene zurückzuführen sind, wenn man anders nicht die Gesellschaft als ein personales Handlungssubjekt anschauen will, was jedoch eine Mystifikation darstellen würde, vergleichbar etwa Thomas Hobbes’ Staatsfigur des Leviathan.

Menschen haben legitime Sicherheitsbedürfnisse. Im Bestreben, diese zu bestimmen, zeigt sich sofort ein bedeutungstheoretisches Problem: Um bestimmen und beurteilen zu können, was ‚Sicherheit‘ jeweils meint, muss sie übersetzt oder in andere Bedeutungskontexte eingeordnet werden. So lässt sich beispielsweise ein zentraler Aspekt von ‚Sicherheit‘ mit ‚Verlässlichkeit‘ übersetzen. Gemeint ist damit zunächst noch etwas Sachhaftes: Wir haben das legitime Bedürfnis, dass die Dinge, Verfahren und Strukturen, die uns bei der Bewältigung des Alltags auf der basalen Ebene der tagtäglich sich wiederholenden einfachen Abläufe begegnen, verlässlich funktionieren. Wir erwarten, dass der Wecker seinen programmierten Dienst tut, Wasser aus dem Duschhahn in der eingestellten Temperatur kommt, die Heizung seit 5:30 Uhr arbeitet, die Kaffeemaschine gewohnte Qualität liefert, die Straße vor der Haustür noch existiert, die U-Bahn wie immer fährt, der Kindergarten wie jeden Tag unser Kind entsprechend unserer Buchung aufnimmt, unser Arbeitsplatz wie am Vortag vertragsgemäß noch existiert, die elektronischen Kommunikationssysteme einigermaßen stabil arbeiten, etc. Wir bewegen uns alltäglich in einem dynamischen Zeit-Raum vielfältiger Prozesse, deren Existenz und Funktionstüchtigkeit wir selbstverständlich voraussetzen.

All diese den Alltag tragenden Selbstverständlichkeiten sind schon Ergebnis und Ausdruck eines langwierigen und hochkomplexen Prozesses kultureller und gesellschaftlicher Differenzierungen. In all diesen Alltagsbedingungen begegnet bereits unsere Zivilisationsgeschichte. Sie setzt uns frei zu Tätigkeiten und Genüssen, die, wenn wir all diese Alltagsprozesse Tag für Tag zuallererst neu konstituieren müssten, unmöglich wären. Dass wir in dieser Hinsicht Alltagssicherheit brauchen, zeigt sich daran, dass wir eine ernsthafte Störung dieser Prozesse als Bedrohung wahrnehmen würden. ‚Panikfrei‘ sind solche Störungen oder Unterbrechungen dieser Alltagsprozesse, die erstens sowohl zeitlich wie auch systemisch partikular und zweitens ihrerseits gesellschaftlich integriert sind: Streiks im öffentlichen Dienst, autofreie Wochenenden, Sonn- und Feiertage, Stadtmarathons, Karneval, Papstbesuche, etc. Sie fordern in der Regel die Alltagssicherheit nicht heraus. Strukturelle, dauerhafte Dysfunktionen dieser Abläufe hingegen bedrohen uns; sie offenbaren unser Sicherheitsbedürfnis ex negativo.

Werden solche Dysfunktionen selbst gesellschaftlich, ist unmittelbar eine sehr viel anspruchsvollere Dimension unserer legitimen Sicherheitsbedürfnisse betroffen: Der Kindergarten ist eine öffentliche Einrichtung. Wie haben wir einen Platz für unser Kind bekommen? Waren die Kriterien egalitär, die Entscheidungsverfahren transparent? Oder gaben exkludierende ‚Argumente‘ den Ausschlag: Beziehungen, Bestechungen? Wenn behördliche Abläufe korrupt werden, wenn das Gewaltmonopol des Staats durch mafiöse Schutzgeldstrukturen perhorresziert wird, wenn die Justiz manipulierbar wird, ist unser legitimes Bedürfnis nach Rechtssicherheit betroffen. Einer nicht ohne weiteres von der Hand zu weisenden Einschätzung zufolge zielt das vorrangige Bedürfnis von Menschen, die in einer dysfunktionalen oder agonalen Gesellschaft leben müssen, wie gegenwärtig in Syrien, aber auch im Irak, nicht auf politische Freiheit und Demokratie, sondern auf Rechtssicherheit. Die außenpolitische Doktrin der Bush-Administration musste dieser Einschätzung zufolge auch deswegen scheitern: Nicht der Export von Demokratie und Freiheit, sondern das, was man ‚society building‘ nennt, hätte eine wirksame Strategie gegen den Terror sein können.

Seit der Antike verbindet sich ein politisch-rechtlicher Begriff von Sicherheit mit dem öffentlichen und privaten Wohl. Die Securitas als Allegorie dieses Wohls ist auf Münzen aus der Kaiserzeit überliefert.5 Bis in die Neuzeit radikalisiert sich die Staatszuständigkeit für das Gemeinwohl im absolutistischen Staat zu einem polizeistaatlichen Regiment. Erst im Umbruch zur Moderne wird dem Staat diese Zuständigkeit abgesprochen. Immanuel Kant stellt einer ‚väterlichen Regierung‘ die ‚vaterländische Regierung‘ der Freiheit gegenüber, bei welcher nicht von „Glückssicherheit“, sondern „allererst bloß vom Recht, das dadurch einem jeden gesichert werden soll,“6 die Rede ist. Der Staat wird konzeptionell zu einer „Sicherheits-Anstalt unter Gesetzen“7: Der Rechtsstaat entsteht; er ist nicht mehr für die Sicherung des Glücks seiner Bürger zuständig, sondern für die Rechtssicherheit, welche Bedingung dafür ist, dass die Bürger frei und selbstbestimmt nach ihrem Glück streben können.

Die staatliche Zuständigkeit für die Sicherung des Glücks der Bürger kehrt freilich unter anderen ökonomischen und politischen Bedingungen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der sozialen Frage zurück auf die Bühne auch der Staats- und Gesellschaftstheorie und wird das 20. Jahrhundert über bestimmend bleiben: nun unter dem Titel der ‚sozialen Sicherheit‘, zu verstehen als staatliche Fürsorge für unschuldig in Not Geratene.8 Die Vereinten Nationen kodifizieren 1948 das Recht auf soziale Sicherheit9 und anerkennen damit die Legitimität dieses Sicherheitsbedürfnisses, indem sie ihm eine normative Dignität verleihen.

Diese Karriere der sozialen Sicherheit ist auch ein deutlicher Reflex auf die fundamentalen ökonomisch-politischen Erschütterungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts, vom Ersten Weltkrieg über die Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg und die Shoah, über den Stalinismus, den vierzigjährigen Kalten Krieg mit seiner eine ganze Generation beherrschenden atomaren Bedrohung, über das Zeitalter der Entkolonialisierung, den Vietnam-Krieg, den Untergang des Zwei-Block-Systems 1989 mit der Diffusion gewaltförmiger Konflikte bis hin zum weltweiten Terrorismus als eine der Folgen, bis hin schließlich zur noch anhaltenden Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise. Dieses lange 20. Jahrhundert der Katastrophen hat – diesseits aller Ideologie und auch aller apokalyptischer Untergangsprophetie – einen global wirksamen Erinnerungsspeicher der realen und fundamentalen Existenzbedrohung angelegt. Wie in der Spätantike sehen sich auch die Menschen unserer Tage in einer umfassend prekär gewordenen Zeit in die Frage ihres höchstpersönlichen (Fort-)Bestands gestellt. Die epikureisch-stoische Frage nach dem Bestandsglück des eigenen Selbst angesichts unsicher, gar bedrohlich gewordener Weltverläufe kehrt in Zeiten der globalisierten Risikogesellschaft zurück als Frage nach dem gelingenden individuellen Leben,10 als, freilich trivialisierbare, Frage nach der Selbst-Sicherheit.

Politisch-ökonomische Zusammenbrüche im Weltmaßstab geben also Anlass zur Frage nach letzten, unerschütterlichen Fundamenten des eigenen Selbst. Mit dieser existentiellen Frage schließlich ist ein Bedürfnis angesprochen, das unsere Lebens- und Selbstvollzüge in einem sehr weiten Fächer bestimmt, der von Status- und Imagefragen über das Streben nach beruflichem Erfolg und nach interpersonaler Wertschätzung bis hin zu Beschäftigungen mit der unser Leben letztlich bestimmenden und damit tragenden Bedeutung reicht. Der angedeutete Fächer der Realisationen dieses Bedürfnisses zeigt es: Hier sind triviale und Leid produzierende Selbstmissverständnisse genauso möglich wie die tiefsten, philosophisch-mystisch-religiösen Ergründungen. Ich möchte dieses Bedürfnis ‚Bedeutungssicherheit‘ nennen, das Bedürfnis nach Sicherheit hinsichtlich der Bedeutung des eigenen Lebens, wobei die Formulierung ‚eigenes Leben‘ nicht alteritäts- und weltoffen genug gedacht werden kann.

Alltagssicherheit, Rechtssicherheit, soziale Sicherheit, Selbst-Sicherheit, Bedeutungssicherheit: ein reiches Spektrum der Sicherheit, mit dem sich prima vista unmittelbar legitime Bedürfnisse verbinden. Zugleich spricht ein solcher Diskurs der Sicherheitsbedürfnisse auch von einer fundamental prekären Verfassung unserer Existenz – und jener der Welt insgesamt.

Seine philosophische Gestalt hat dieser Diskurs in der epikureischen und stoischen Philosophie gefunden: Führt die etymologische Bedeutung von ‚securitas‘ (sine cura, ohne Sorge) das Versprechen von Sicherheit als Sorglosigkeit mit sich, nimmt Cicero eben dies in seine Bestimmung der Bedeutung von Sicherheit auf: „Sicherheit nenne ich die Abwesenheit von Kummer, worin das glückliche Leben besteht.“11 Mit der epikureischen ‚ataraxia‘, in welcher die Abwesenheit der Sorge als Unerschütterlichkeit habituell (oder als Habitus behauptet) wird, trifft sich die stoische ‚securitas‘ in der Bestimmung eines „Seelenzustand[s], der als Freiheit von Schmerz und Unwohlsein die Voraussetzung eines glücklichen Lebens“ ist.12 Dieser Diskurs ist beides: Ausdruck eines fundamentalen Sicherheitsbedürfnisses und Reflex auf die als prekär erfahrenen Bedingungen der Existenz.

2.2 Pathologien der Sicherheit

Wir sprechen hier von Sicherheit in der Perspektive des (persönlichen und gesellschaftlichen) Bedürfnisses nach ihr.

Wie können Sicherheitsbedürfnisse pathologisch werden? Wir wollen nicht davon ausgehen, dass solche Pathologien endogen induziert wären – wenn anders sie nicht in einer pathogenen Grundstruktur der conditio humana verankert sein sollen, was anzunehmen allerdings einem unaufhebbaren Urteil der Unrettbarkeit des Menschen gleichkäme. Die Existenz des Menschen als prekär zu bezeichnen, ist etwas ganz anderes als ihn als unrettbar pathologisch anzusehen. Wenn der Mensch also nicht von Haus aus pathologisch ist – und folglich auch nicht in Fragen der Sicherheit –, so müssen solche Pathologisierungen von Sicherheitsbedürfnissen in deren Realisationen geschehen, mithin im individuellen und gesellschaftlichen Handeln des Menschen.

Die These ist nun, dass es zu Pathologisierungen kommt, wenn Menschen, Institutionen, ganze Gesellschaften die unumschränkte Kontrolle über die Bedingungen von Sicherheit – in welchem der vorhin skizzierten Bereiche auch immer – anstreben. Dabei erscheint es aufschlussreich, dass wenigstens einige dieser Pathologien der Sicherheit durch eine instrumentelle Konvergenz miteinander koordiniert sind: Sie suchen Sicherheit durch die möglichst umfassende Kontrolle der betreffenden Informationen herzustellen.

So sind ausgerechnet die offenen westlichen Gesellschaften, allen voran das Mutterland des politischen Liberalismus, Großbritannien, von dem Wahn befallen, alle öffentlichen Räume mit einem möglichst lückenlosen Netz der Überwachungskameras zu überziehen. Ein total überwachter Raum ist aber gar kein öffentlicher Raum mehr; er ist zu einem privaten Raum mutiert, in dem alle gefilmten und überwachten Personen sich wie Eindringlinge bewegen.13 Die englische Bezeichnung dieses Überwachungssystems – Closed Circuit Television (CCTV) – konterkariert ausdrücklich die Offenheit des öffentlichen Raums. Es ist deswegen auch symptomatisch, dass die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum real verwischt wird – und zwar zuungunsten des öffentlichen Raums: Was früher der Marktplatz war, ist seit einiger Zeit die Shopping-Mall. Der geschlossene Kreislauf der TV-Überwachung integriert beides unterschiedslos, genauso wie Fußgängerzonen, Parkhäuser, Unterführungen, Bahnhöfe, Züge, Straßenbahnen, Fahrstühle, etc. Der Überwachungskreislauf ebnet die Schwellen zwischen öffentlich und privat ein – und zwar in diesem Fall so, dass das Öffentliche privat wird. CCTV ist die moderne, aber keineswegs entmythologisierte Wiederkehr des Argus, jenes hundertäugigen Wesens, das die begründet eifersüchtige Hera zur Bewachung der Nymphe Io abgestellt hat, um den Seitensprüngen des Zeus einen Riegel vorzuschieben. Die Weisheit des Mythos jedoch schickt diesem Giganten der Überwachung den Hermes, dem es gelingt, ihn Aug’ um Aug’ zu ermüden und einzuschläfern, so dass Zeus’ Seitensprung unverhinderbar, weil unüberwacht geschehen konnte.

Neuere Erhebungen zum Effekt von CCTV besagen, dass es womöglich eine Erhöhung der Aufklärungsquote von Straftaten in diesen öffentlich-privaten Räumen gibt, nicht aber deren verbesserte Verhinderung. Die CCTV-geleitete Kontrolle über die Informationen hinsichtlich der Bewegungen von Menschen in den überwachten Räumen ist bildproduktiv; die tendenziell einschränkungslose Kontrolle dieser Räume produziert eine tendenziell unendliche Zahl an Bildern: Wer soll diese synchron zu ihrer Entstehung beobachten und auswerten? Oder soll CCTV gar nicht der Prävention von Straftaten dienen, sondern deren Archivierung? Sollte hierin die tiefere, womöglich von niemandem ausdrücklich gewollte und am Ende sich doch durchsetzende Intention von CCTV liegen, dann stünde dieses Überwachungssystem für eine Kultur des Tods und nicht des Lebens. Der Tod – nicht sogleich der des Verbrechensopfers, sondern der Tod im Sinn des ‚perfectum‘ der vollbrachten Tat – als die nicht mehr belebte und bewegte Materie, lässt sich besser kontrollieren als das Leben, ist am Ende die Idealverwirklichung von Sicherheit.14

Sicherheit durch Informationskontrolle: In gewissem Sinn als Pendant zu CCTV kann die Online-Ausforschung gesehen werden. Hier wird nicht der öffentliche Raum privatisiert, sondern die Integrität des genuin privaten Raums, den das Grundgesetz durch das Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) schützt, verletzt. Ich werde nicht die rechtlichen Bedingungen und schon gar nicht die ermittlungstechnische Notwendigkeit oder Effektivität der Online-Durchsuchung bewerten. Meine Frage zielt vielmehr auf das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die es ihren exekutiven Staatsinstitutionen gestattet, etwas, das sie als Gesellschaft betrifft, auf eine instrumentell-technische Dimension zu reduzieren. Die Hervorbringung und kontinuierliche Pflege von Gesellschaftlichkeit – also die Hervorbringung und kontinuierliche Pflege der Bedingungen selbstbestimmten Lebens, mit den Anderen, in gerechten Institutionen15 – dies scheint mir eine gehaltvolle Bestimmung dessen zu sein, was man „Sicherheit (in) der Gesellschaft“ nennen könnte. Und diese Sicherheit muss Gegenstand eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses sein, der sich wohl verschiedener Instrumente bedient, jedoch nicht auf diese instrumentelle Dimension reduziert werden darf. Vielmehr unterstehen diese Instrumente Kriterien, die aus dem gesamtgesellschaftlichen Interesse an jener Sicherheit, wie sie soeben skizziert worden ist, zu gewinnen sind.

Eine dritte Ausprägung jenes Bestrebens, auf der Basis einer intentional umfassenden Kontrolle über ein Register von Informationen eine Art von Sicherheit zu gewinnen oder herzustellen, scheint auf den ersten Blick ganz anders gelagert, weil hier nicht gesellschaftlich-staatliche Institutionen handeln sondern Einzelpersonen im Rahmen von vermeintlichen Einzelinteressen, die gleichwohl unmittelbare gesellschaftliche Bedeutung haben. Ich meine die sich durch die Entzifferung des Genoms (Stichwort Information) eröffnende bzw. die auf dieser Basis verheißene Möglichkeit, durch Präimplantationsdiagnostik und Eugenik über die genetisch bedingte Ausstattung und Entwicklung eines noch Ungeborenen bestimmen zu können. Die damit verbundenen gravierenden ethischen, gesellschaftlichen und anthropologischen Fragen sind Gegenstand einer anhaltenden Debatte.16 Das Genom ist nicht nur ein biochemisches Faktum; es hat eine unübersehbare gesellschaftliche und anthropologische Relevanz erhalten. Pointiert formuliert: „Das Genom wird zum säkularen Äquivalent der Seele.“17 Im Rahmen der hier gewählten Perspektive ‚Ambivalenzen der Sicherheit‘ ist nun das Folgende von Bedeutung: Versprochen und gewünscht wird die Kontrolle (im Sinn der Vorherbestimmung) über das Geschlecht, die Krankheitsdisposition, gewisse Talente, etc. eines noch ungeborenen Menschen. Angestrebt wird eine Perfektionssicherheit in Bezug auf die Nachkommen. Die technische Voraussetzung solcher Sicherheit ist die nicht nur theoretische, sondern praktische Kontrolle über die genetischen Informationen. Maßstab solcher Perfektionssicherheit ist letztlich der Grad, in dem das später geborene Kind in seiner Ausstattung und in seiner Entwicklung den Wünschen der Eltern entspricht.

Die mit PID und Eugenik verbundenen Versprechungen und die hierdurch möglicherweise erst geweckten Bedürfnisse der Eltern zielen darauf, die Zukunft eines noch nicht geborenen Menschen im Vorhinein zu dessen faktisch gelebtem Leben bereits in die Entscheidungsverfügung der Eltern zu bringen. Die Beanspruchung einer solchen Perspektive setzt die vollständige Determinierbarkeit von Disposition und Entwicklung eines Menschen voraus. Mit einer Eigenentwicklung des Kindes wird gar nicht erst gerechnet. Dass die gewünschte Sicherheit der verlässlichen Entsprechung zwischen Kinderwunsch und Wunschkind gar nicht gewährleistet werden kann und mit ziemlicher Sicherheit auch nicht eintreten wird, kommt nicht in den Blick. Denn es wird etwas Entscheidendes übersehen, eine prinzipielle Wirklichkeitsdimension, die auch das Kriterium zur Unterscheidung legitimer von deformierten oder pathologisierten Sicherheitsbedürfnissen bereithält. Dieses Prinzip soll aber erst im Durchgang durch eine theologische Befassung mit den Ambivalenzen der Sicherheit formuliert werden.

3. Von der Macht zur Anerkennung: Theologische Ambivalenzen der Sicherheit

Auch die biblisch-christliche Glaubens- und Theologiegeschichte hat ihre Zweideutigkeiten hinsichtlich der Sicherheit. So kennt die alttestamentliche Prophetie eine Tradition scharfer Kritik an jenem Vertrauen, das auf falsche Sicherheiten setzt: etwa auf politische Bündnisse in Zeiten der tödlichen Bedrohung durch die Weltmächte jener Epoche und Region Assur und Babel; oder auf falsche Sicherheiten, die ‚Fleisch‘ (bazar) sind: schwach, wankelmütig, nicht vertrauenswürdig18 oder auf falsche Sicherheitsorientierungen die von einer Hinordnung Israels auf JHWH als der wahren Sicherheit ablenken.19 Ein ganzes Volk gerät in diese Drift der Ablenkung von wahrer Sicherheit, hin zu falschen Versprechungen: der König, das politisch-religiöse Establishment20, die gesamte Gesellschaftsordnung. Denn dieselbe Drift, die von JHWH ablenken lässt, deformiert die Ordnung der Gesellschaft, insbesondere die Ordnung der Ökonomie und des Rechts hin zur Ungerechtigkeit.21

Auf falsche Sicherheiten setzen, das heißt hier, eine falsche, alle Bereiche des Lebens berührende Fehlorientierung zulassen. In einem kühnen Bogen könnte man sogar diese theologische Kritik des Vertrauens auf falsche, ‚fleischliche‘ Sicherheiten als Kritik des Setzens auf (weltliche) Macht überhaupt apostrophieren und diesen Bogen weiter spannen bis hin zur Passion Jesu, der sich in seinem Leiden und Sterben auf keine auftrumpfende Macht beruft. Sie muss nach den Maßstäben der Menschen hoffnungslos ohnmächtig erscheinen,22 und für den dennoch die christliche Überlieferung, angefangen mit den Erstzeugen, reklamiert, dass in ihm und durch ihn, gerade auch in seinem Tod und durch seinen Tod hindurch, Gott sich in den realen Verhältnissen der Menschen selbst vergegenwärtigt, und zwar als das Heil der Menschen.