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Ingrid Hedström
Die toten Mädchen
von Villette

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von
Angelika Gundlach





Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel
Flickorna i Villette
im Alfabeta Bokförlag, Stockholm
Copyright © 2009 Ingrid Hedström

Umschlagfoto:
Shutterstock / © Michal Skowronski, © LHF Graphics





ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© der deutschsprachigen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Berlin 2010
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
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www.suhrkamp.de
Umschlag: HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich
eISBN978-3-518-73580-0

Für sich genommen, ist im allgemeinen jeder von ihnen ein guter Kerl, einer, der sagt, daß er niemandem Böses will, und das auch glaubt. Aber es gibt immer noch einen Rest von destruktiven Instinkten, von Raubtierinstinkten in ihm: Instinkte, auf die er nicht stolz ist und die er verbirgt, die ihn aber trotz allem reizen und die er immer gern befriedigt, wenn man ihm nur die Gelegenheit gibt ...



Roger Martin du Gard,

»Die Thibaults«

PROLOG

April 1943
Uccle

Er haßte Simone. Er fühlte den Haß wie ein schwarzes, ätzendes Gift im Blutkreislauf durch seinen Körper strömen, als er sie am offenen Fenster sitzen sah, wie gewöhnlich über ihr grünes Notizbuch gebeugt, so daß die blonden Haare das Gesicht wie eine seidenweiche Gardine verbargen. Nein, so sollte er nicht denken. Er sollte nicht daran denken, daß ihre Haare dufteten oder daß das zu klein gewordene Kleid über ihrer Brust spannte, oder daß sie immer Tintenflecke an ihren starken kleinen Händen hatte. Er sollte daran denken, wie sehr er sie haßte.

Sie blickte auf und sah ihn auf der Straße stehen. Zu seinem Erstaunen winkte sie ihm zu und lächelte, als wäre nichts passiert, lächelte dieses Lächeln, das das Lachgrübchen an ihrer linken Wange so deutlich hervorlockte, daß man Lust bekam, es mit dem kleinen Finger zu befühlen. Genauso, als wäre nichts passiert. Genauso, als begreife sie nicht, daß er sie jetzt haßte.

Sie wußte nicht, was sie weggeworfen hatte. Sie wäre seine Jenny geworden, aber jetzt dachte er statt dessen nur daran, daß er ihr schaden wollte und daß er das tun konnte, wenn er Lust hatte. Er wußte, was sie und Renée trieben. Einmal in der Straßenbahn hatte er gesehen, wie sich Renée neben einen deutschen Offizier setzte und heimlich seine Aktentasche austauschte. Und als er in Simones grünem Notizbuch blätterte, um zu sehen, ob sie etwas über ihn hineinschrieb, hatte er gesehen, daß sie notierte, wer ihren Vater besuchte. Mitten zwischen den mathematischen Problemen, mit denen sie sich aus einem unerfindlichen Grund ständig beschäftigte, hatte sie genau Namen, Daten und Zeiten notiert. Sie mußte jemandem darüber Bericht erstatten.

Wenn er sie anzeigte – er hatte sich noch nicht entschieden, es zu tun, es war nur eine denkbare Möglichkeit, die ihn durch ein angenehmes Machtgefühl von innen zum Glühen brachte –, würde sie sicher von der Gestapo verhört werden. Der Gedanke daran, was die Gestapo mit Simone anstellen würde, ließ es in seinen Leisten heiß werden, und er spürte, daß er da unten hart wurde, ein verbotenes Gefühl, das mit Strafe und Schmutz, mit dem Stock seines Vaters und dem Keller, in den er eingesperrt wurde, als er klein war, zusammenhing. Es war Simones Schuld, daß er so empfand, und sie mußte dafür bestraft werden. Wenn er erzählte, was er wußte, würden die Deutschen sie bestrafen, obwohl in Wirklichkeit er es tun würde. Vielleicht würde sie sterben.

Sein Vater verabscheute Simones ganze Familie und sah seine Freundschaft mit ihr als einen weiteren Beweis dafür, was für ein wertloser Taugenichts er war. Simones Vater war einer der Gerichtsbeamten, die sich im Vorjahr geweigert hatten, den Verkauf des jüdischen Eigentums durchzuführen, worüber sich sein eigener Vater mit seinen Gästen stundenlang verbreitet hatte. Sie kamen wie gewöhnlich zu dem Ergebnis, daß der Verfall von Ordnung und Moral angefangen hatte, als die Arbeiter nach dem vorigen Krieg das Wahlrecht bekamen. Er hatte es ziemlich satt, das zu hören, aber vielleicht hatten sie recht. Er wußte nicht mehr, was er davon hielt. In seinem Universum war der Vater bis jetzt der verhaßte Tyrann und Simone die erlösende Lichtgestalt gewesen, aber in dieser neuen Welt, die entstanden war, nachdem er sich entschieden hatte, Simone zu hassen, würde sein Vater vielleicht einen anderen Platz einnehmen. Er stellte sich vor, wie er dem Vater von Simone und Renée erzählen und wie der Vater ihn endlich mit Stolz und Anerkennung betrachten würde.

– Ich wußte es, mein Sohn, würde er sagen, ich wußte, daß du schließlich den richtigen Weg wählen würdest. Jetzt hast du gezeigt, daß du ein Mann und ein wahrer Patriot bist.

Dann würden sie zusammen losgehen und Simone und ihren Anhang anzeigen. Er würde ab und zu eine herbe männliche Trauer über ihr Schicksal empfinden bei dem Gedanken, was sie ihm früher einmal bedeutet hatte, aber er würde es als ein notwendiges Opfer sehen, ein Opfer, wie man es manchmal bringen muß. Die Hitze in seinen Leisten und die Steifheit da unten versuchte er wegzudrängen, sie störten die edlen Bilder, die er in seinem Inneren hervorzurufen versuchte. Aber die verbotenen Gefühle waren zu aufdringlich geworden, um verdrängt zu werden. Wenn sein Vater nicht zu Hause war, würde er sich vielleicht trauen, in den Keller zu gehen und zu tun, was man mit sich selbst nicht tun durfte. Dabei würde er an Simone bei der Gestapo denken.

Er sah zum Fenster hinauf. Jetzt stand auch Renée da, die dunklen Haare wie eine Wolke um das Gesicht. Renée bedeutete ihm überhaupt nichts. Sie war nur ein Anhängsel von Simone, und in seiner neuen Simone-losen Welt existierte sie nicht einmal als ein Staubkorn. Aber sie lächelten ihm beide zu, und Simone winkte ihm, er solle hereinkommen. Er öffnete die Gittertür, ging die wohlbekannten Schritte den Gartenweg hinauf.

Er hatte sich noch nicht entschieden. Noch nicht.

KAPITEL 1

Samstag, 11. Juni 1994
Brüssel

Denise van Espen ging mit schnellen Schritten die Rue des Minimes entlang. Sie war wütend, so wütend, daß sie wie eine Furie vorwärtsmarschierte, ohne sich von ihrem engen Rock und ihren hohen Absätzen aufhalten zu lassen. Sie mußte sich beruhigen, dachte sie. Eric Janssens war einer ihrer besten Kunden. Sie konnte nicht zu einem ihrer besten Kunden nach Hause kommen und ihn beschimpfen. Aber warum mußte er sie ausgerechnet heute im Stich lassen? Max, ihr Mann, hätte schon zur heutigen Auktion in Gent unterwegs sein müssen, um Geschäfte mit dem Geld zu machen, das Eric Janssens für das Fernand-Toussain-Gemälde, zu dessen Kauf er sich nach langem Zögern entschlossen hatte, bezahlen sollte. Um zehn Uhr hätte er zu Max’ und Denise’ Antiquitätenhandel kommen sollen, um das Geschäft abzuschließen. Und dann tauchte er nicht auf!

Die Morgensonne stand schon über den Hausdächern. Es schien ein schöner Junitag zu werden. Sie hatte die Viertel mit niedrigen Häusern und kleinen Läden hinter sich gelassen, und die Straße begann anzusteigen. Links von ihr erhob sich der schwere Klotz des Justizpalastes mit seinen Säulen und Steinlöwen, düster unheilverkündend wie eine Spukburg in einem Horrorfilm. Eine Schar Tauben flog so nahe bei Denise auf, daß sie beinah ihre Haare berührten.

Sie war sehr oft bei Eric Janssens zu Hause gewesen. Er wohnte allein ganz oben in einem Haus in der Rue Jean Jacob in der Nähe des Justizpalastes mit einer hinreißenden Aussicht über Brüssel von der Dachterrasse aus und einer noch hinreißenderen Sammlung Kunst und Antiquitäten in der Wohnung.

Am Haus angekommen, tippte sie den Türcode ein und nahm den Lift in den fünften Stock. Sie strich sich über die Haare und zählte bis hundert, während sie versuchte, ruhiger zu atmen, bevor sie an der Tür klingelte.

Sie hörte das Signal in der Wohnung, aber niemand kam, um aufzumachen. Sie klingelte wieder und schielte zum Guckloch in der Tür. Nichts passierte.

Wenn Eric Janssens nun einen Herzanfall gehabt hatte und hilflos da drinnen lag! Der Gedanke kam ihr zum ersten Mal. Es hatte ihm ja tatsächlich viel an diesem Gemälde gelegen, als er sich erst einmal entschlossen hatte.

Nicht daß Eric Janssens wie ein potentieller Herzpatient ausgesehen hätte. Er war neunundfünfzig, schlank und durchtrainiert. Aber, dachte Denise, er war in der letzten Zeit etwas verändert gewesen, etwas … seltsam? Sie hatte es erst vor zwei Wochen bemerkt, nachdem er angerufen und sie gebeten hatte, sich um ein paar Koffer mit alter Kleidung zu kümmern, die er aus seinen Beständen aussortieren wollte. Er hatte eifrig gewirkt, nahezu exaltiert.

Sie nahm den Lift zurück ins Erdgeschoß und klingelte bei Maria Cunhal, eine Rentnerin, die in der alten Conciergewohnung des Hauses wohnte und ihre Rente aufbesserte, indem sie bei einigen der Mieter putzte. Sie half gewöhnlich bei Eric Janssens mit, wenn er Einladungen hatte, und da hatte Denise sie kennengelernt.

Maria Cunhal öffnete sofort. Sie erkannte Denise und bat sie in die Küche, wo die Morgenzeitung aufgeschlagen neben einer Tasse Kaffee und einem Korb mit Brot lag. Denise erklärte, daß Rechtsanwalt Janssens zu einem verabredeten Treffen nicht gekommen sei und daß sie anfange, sich seinetwegen Sorgen zu machen.

Maria Cunhal sah sie, durch ihre goldgefaßte Lesebrille blinzelnd, bekümmert an.

– Das klingt nicht gut, sagte sie, gestern hat der Herr Rechtsanwalt auch ein Treffen verpaßt, das er verabredet hatte. Da kam auch gestern jemand her und klingelte, ein fescher junger Mann …

Sie bekam einen verträumten Blick. Denise lächelte innerlich. Sie fragte sich, ob sich die Portugiesin bewußt war, warum so viele schöne junge Männer Eric Janssens Wohnung aufsuchten.

– Nein, keiner von denen, sagte Maria Cunhal und sah Denise streng an, als habe sie ihre Gedanken gelesen, era sério, dieser Mann, er hatte ein ernstes Anliegen. Und er war nicht so jung, eher wie Sie, Madame. Er wollte heute wiederkommen, ich habe versprochen, es dem Herrn Rechtsanwalt zu sagen. Aber ich habe ja Monsieur Janssens nicht gesehen, nicht seit Donnerstag abend. Das ist sehr merkwürdig.

Die beiden Frauen sahen einander an.

– Es ist wohl das beste, wenn wir bei ihm reinschauen, sagte Denise. Sie haben doch Schlüssel, Madame Cunhal?

Maria Cunhal nahm schon den Schlüsselbund von einem Brett im Küchenschrank.



Das erste, was ihnen auffiel, war der Gestank. Er schlug ihnen entgegen, sobald sie die Tür geöffnet hatten, ein metallischer, Übelkeit erregender Geruch, der, schon bevor sie ihn wiedererkannt hatte, Denise’ Herz rascher schlagen und die Härchen auf ihren Armen sich aufrichten ließ. Sie gingen langsam in die Wohnung und blieben dicht beieinander.

Er lag in seinem Arbeitszimmer mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden, den Kopf in Richtung Schreibtisch. Sein Hinterkopf war eine breiige, blutige Masse, und der Raum stank wie ein Schlachterladen von dem Blut, das überall verspritzt war, auf den Spiegeln und den Bücherschränken und dem antiken Mahagonischreibtisch. So viel Blut, dachte Denise, daß in einem Menschen so viel Blut ist. Sie machte ein paar Schritte ins Zimmer. Vielleicht war er nicht tot. Sie mußten doch versuchen, ihm zu helfen! Aber sie wußte, daß es zu spät war. Eric Janssens war tot, und schon summten Fliegen um seinen Körper. Eine Welle von Übelkeit überspülte sie, und sie packte einen Stuhl, um nicht ohnmächtig zu werden. Es war ein Gefühl, als wäre die Zeit stehengeblieben. Während eines langen, gefrorenen Augenblicks nahm sie alles im Raum auf – herausgezogene Schubladen, geöffnete Schränke, umgekippte Möbel. Auf dem kleinen Tablettisch aus Messing lag ein aufgeschlagenes Buch, mit dem Rücken nach oben. Sie konnte die roten Buchstaben des Titels lesen: »Die Thibaults«. Der Schreibtisch war entsetzlich mit Blut und Hirnsubstanz befleckt, aber eine viereckige Fläche war ohne Flecken, als ob von dort etwas weggenommen worden wäre. Neben dem toten Körper lag eine blutverschmierte Statuette. Denise erkannte sie wieder. Sie hatte sie vor erst einem halben Jahr Eric Janssens verkauft, eine grazile französische Bronzenymphe aus der Jahrhundertwende.

Maria Cunhal stand noch im Korridor, blaß, aber gesammelt, die Arme über der Brust verschränkt.

– Kommen Sie jetzt, Madame van Espen, sagte sie, wir müssen die Polizei anrufen. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung ließ sich Denise im Keller in der Rue des Minimes an ihrem Arbeitstisch nieder. Die Polizei hatte sie stundenlang festgehalten, sie ausgefragt und wieder ausgefragt. Max war ohne Eric Janssens’ Geld nach Gent gefahren, und Laurence, die Kunststudentin, die ihnen manchmal half, hatte im Laden den ganzen Tag allein die Stellung halten müssen. Jetzt saß Denise da und ging Gegenstände aus einem Nachlaß durch, den sie gerade hereinbekommen hatten. Aber es fiel ihr schwer, ihre Gedanken von dem blutbespritzten Zimmer in der Rue Jean Jacob fernzuhalten. Sie war widerwillig mit Polizeikommissar Patrick Anneessens noch einmal in Eric Janssens’ Wohnung gegangen, um zu sehen, ob etwas daraus verschwunden war. Aber obwohl es ausgesehen hatte, als wäre ein Tornado durch die Räume gefegt, schien alles von Wert noch dazusein. Denise kannte jedes Bild und jeden erlesenen Gegenstand in der Wohnung, und sie war sicher, daß nichts fehlte.

– Er muß nach etwas gesucht haben, sagte sie und betrachtete den offenen Wandschrank im Schlafzimmer, die Schubladen, die geleert, und das Bettzeug, das auf den Boden geworfen worden war.

– Vielleicht, sagte Kommissar Anneessens nachdenklich, ja, die Brieftasche scheint jedenfalls verschwunden zu sein. Sagen Sie, Madame, der Klatsch im Justizpalast besagt, daß er öfter junge Männer in die Wohnung mitgenommen hat. Wissen Sie etwas von ihnen, Sie kannten ihn ja?

Denise sah Anneessens böse an.

– Sie wollen doch nicht etwa darauf herumreiten, sagte sie, bald sagen Sie wohl, es war seine eigene Schuld, weil er einen riskanten Lebensstil hatte. Es waren jedenfalls keine Minderjährigen.

– Regen Sie sich nicht auf, sagte Anneessens abwiegelnd, ich habe Eric Janssens manchmal bei der Arbeit getroffen und hatte Respekt vor ihm, er war ein tüchtiger und redlicher Jurist. Ich habe keine vorgefaßten Meinungen dazu, was hinter diesem Mord steckt, aber es wäre dumm, das Offensichtliche zu ignorieren.

Denise sah auf die Uhr. Sie hatte den Lunch verpaßt, und jetzt konnte sie ebensogut warten, bis Max nach Hause kam, so daß sie zusammen zu Abend essen konnten. Aber sie fühlte sich staubig und trocken im Hals. Sie sollte vielleicht eine Pause machen, ins Freie gehen und in einem der Cafés an der Place du Grand Sablon etwas Kaltes trinken.

Die Türklingel bimmelte. Laurence mußte vergessen haben, die Tür abzuschließen, als sie ging, obwohl Denise sie gebeten hatte, es zu tun. Aber in Zeiten wie diesen konnte man einen möglichen Kunden nicht verscheuchen. Sie zog schnell ihre Baumwollhandschuhe aus und den Lagerkittel, den sie trug, wenn sie arbeitete.

– Ich komme, rief sie, während sie gleichzeitig anfing, die gußeiserne Wendeltreppe hinaufzusteigen, die in den Laden führte.

Ein junges Mädchen stand in der Türöffnung. Auf dem Weg die Treppe hinauf sah Denise sie zuerst von unten als ein Paar Beine in schmaler, schwarzer langer Hose und hochhackigen, geschnürten Stiefeln und dann im Ganzen in den Spiegeln, die an der Seitenwand genau dort hingen, wo die Treppe endete. Sie hatte dunkelrote Haare, straff zurückgekämmt, und sie war kräftig geschminkt mit dunklem, fast schwarzem Lippenstift, ungefähr wie die Serviererinnen in De Ultieme Hallucinatie in der Rue Royale, wo Denise und Max am Freitagabend gegessen hatten.

Denise hatte sie noch nie gesehen. Oder doch? Auge in Auge mit dem Mädchen, glaubte sie plötzlich, in ihrem Gesicht, in den grünen Augen, in den Linien des Kinns und des schwarzgeschminkten Mundes etwas vage Bekanntes zu sehen.

– Catherine? sagte sie fragend, und das Gesicht des Mädchens hellte sich auf.

– Ja, ich bin Tatia Poirot, sagte sie und streckte mit einem beinah schüchternen Lächeln die Hand aus.

Die angeschminkte Ausstrahlung überkultivierter Dekadenz verschwand völlig, wenn sie lächelte. Ein sehr junges Mädchen mit noch kindlich runden Wangen schaute unter der Schminke hervor. Wie alt mochte sie sein? Denise rechnete nach und kam zu dem Ergebnis, daß sie jetzt sechzehn sein mußte.

Catherine Poirot mit dem Kosenamen Tatia war die Nichte von Denise’ bester Freundin Martine. Denise hatte sie seit mehreren Jahren nicht gesehen, aber sie erinnerte sich an das rothaarige kleine Mädchen, dem sie ein paarmal zusammen mit ihrem Teenagerschwarm Philippe Poirot und seiner Frau begegnet war. Sie hatte Mitgefühl mit dem Kind gehabt, das mit forcierter Munterkeit so offensichtlich versuchte, die Mißstimmung, die das katastrophal schlechte Verhältnis zwischen den Eltern um sich verbreitete, zu verbergen. Denise erinnerte sich immer noch an die ängstlichen Blicke, die die kleine Tatia jedesmal wenn das Gespräch auf etwas kam, das verminter Boden sein konnte, verstohlen den Eltern zugeworfen hatte. Inzwischen lebte sie bei ihrer Mutter und deren neuem Mann, das wußte Denise durch Martine.

– Lange her, Tatia, sagte sie und lächelte zurück, als sie die Hand des Mädchens nahm, was führt dich her?

– Na ja, Martine hat mir gesagt, ich sollte zu Ihnen gehen, Madame van Espen, sagte Tatia eifrig. Sie meinte, Sie hätten vielleicht alte Kleider, aus Nachlässen und so, meine ich, die ich kaufen könnte, ich mache ganz viel mit getragenen Kleidern und einige ändere ich, für mich selbst, aber auch für andere.

Sie sah Denise hoffnungsvoll an, die nachdenklich die schwarzgekleidete Gestalt betrachtete. Tatias taillierte Jacke mit Samtaufschlägen saß perfekt, aber der dichtgewebte Wollgabardine sah wirklich aus, als stamme er von älteren Kleidungsstücken. Hatte das Mädchen die Jacke selbst genäht, war sie geschickt. Aber hatte sie Tatia etwas anzubieten? Es kam vor, daß sich Denise und Max um ganze Nachlässe kümmerten, aber Kleider und Textilien versuchten sie immer so schnell wie möglich loszuwerden. Sicher, sie hatte die Koffer, die sie bei Eric Janssens abgeholt hatte. Sie standen jetzt ganz hinten im Keller. Denise hatte sie nicht einmal aufgemacht. Sie zögerte einen Augenblick, aber die Kleider waren ja schon ein paar Wochen hier. Sie hatten mit dem Mord nichts zu tun, und das Mädchen mußte sowieso nicht erfahren, woher sie kamen.

– Unten im Keller habe ich ein paar Koffer, die dich schon interessieren können, sagte sie zu Tatia, du kannst darin stöbern und mitnehmen, soviel du willst. Komm mit mir, ich zeig sie dir!



Tatia folgte ihr mit einem festen Griff um das Geländer, um in ihren hochhackigen Stiefeln von den ausgetretenen Treppenstufen nicht abzurutschen, in den Keller. Sie betrachtete Denise’ schlanken Rücken, der die Treppe hinunter verschwand, interessiert, wie sie Menschen, denen sie begegnete, immer studierte. Sie fand, daß Denise in ihrem blaßrosa Twinset und ihrem grauen Bleistiftrock ein bißchen wie eine dunkelhaarige Grace Kelly aussah. Aber die rosa Jacke hatte ein Loch am Ellenbogen, und Denise’ Ohrringe gehörten nicht zusammen, das war das erste, was Tatia an ihr aufgefallen war. Sie war sich sicher, daß das Absicht war. Alle Menschen verkleideten sich irgendwie, das war Tatias feste Überzeugung. Schon als sie klein war, hatte sie begriffen, daß ihre Eltern nur in ein glückliches Paar verkleidet waren, daß sie Rollen spielten, die ungefähr ebenso wirklich waren wie die schmucke Puppenfamilie in ihrer Puppenstube. Sie selbst hatte sich verkleidet in die Person, die sie würde sein wollen, jemand, der sophisticated und unverwundbar und bedeutend älter als die wirkliche Catherine Poirot war. Denise van Espen war verkleidet in eine kühle und korrekte Antiquitätenhändlerin, sagte aber mit ihren nicht zusammengehörenden Ohrringen und ihrer kaputten Jacke, daß es hinter der Fassade eine andere Person gab, dachte Tatia.

Unten an der Treppe standen ein langer Arbeitstisch und zwei Stühle, umgeben von Packkisten, die anscheinend Gemälde und andere Kunstgegenstände enthielten. Auf dem Tisch lag ein vergoldeter Spiegel zusammen mit einem Vergrößerungsglas, einem Ordner, einer Schale mit Wasser und einer Packung Wattestäbchen.

Denise ging am Tisch vorbei und weiter in den Keller hinein, der sich offenbar unter dem ganzen großen Laden erstreckte. Ganz hinten sah Tatia eine Garagentür. Vielleicht gab es einen zweiten Eingang in den Keller von der Rue de la Samaritaine aus auf der anderen Seite des Viertels.

– Die Beleuchtung hier ist etwas schlecht, sagte Denise entschuldigend, aber wenn du etwas Interessantes findest, kannst du es ja mit nach oben in den Laden nehmen, damit du es bei Tageslicht ansehen kannst. Ich glaube, die Koffer sind zu schwer, als daß du und ich sie bewegen könnten.

Sie schlug die Deckel von zwei altmodischen Koffern auf, die nahe an der Wand standen.

– Bitte sehr, it’s all yours! Ich wollte eine halbe Stunde weggehen, aber du kannst trotzdem hierbleiben. Weil du’s bist.

Sie lächelte Tatia zu und verschwand die Wendeltreppe hinauf.

– Ich schließe ab, rief sie, aber wenn du keine Lust mehr hast, kannst du einfach die Tür von innen aufschließen und hinter dir zumachen. Ciao!

Tatia hörte die Türklingel bimmeln, als Denise die Tür hinter sich zuzog. Sie hockte sich vor den ersten Koffer. Der wohlbekannte Geruch von Mottenmitteln und alten Kleidern schlug ihr entgegen. Tatias Großmutter hatte die alten Kleidungsstücke jedes Frühjahr zum Lüften in ihre Kleiderkammer gehängt, aber die Kleider, die hier lagen, waren seit vielen Jahren, vielleicht Jahrzehnten, nicht auf Sonne und frische Luft getroffen.

Tatia hob vorsichtig die obersten Kleidungsstücke und hängte sie über den aufgeschlagenen Kofferdeckel. Ein dunkelgrauer Herrenüberzieher aus einem weichen Material, das sich wie Kaschmir anfühlte, ein Kamelhaarulster, ein dreiteiliger Anzug mit Nadelstreifen. Alle Teile sahen aus, als wären sie für einen schlanken, ziemlich kleingewachsenen Mann angefertigt worden. Die Stoffe waren wunderbar, dicht, weich und geschmeidig. Tatia seufzte beinah vor Wohlbehagen, als sie das Seidenfutter in der nadelgestreiften Weste befühlte, marineblau mit taubenblauen Streifen. Die Weste konnte sie benutzen, wie sie war, wenn sie sie an den Seiten ein wenig einhielt und vielleicht Abnäher an der Brust anbrachte. Den Anzug selbst konnte sie für ihre Tante Martine ändern.

Martine war eine der wichtigsten Personen in Tatias Leben, nicht zuletzt weil sie die Verbindung zu ihrem angebeteten Vater Philippe gewesen war, als er nach der Scheidung ein paar Jahre lang ganz aus ihrem Leben verschwunden war. Daß die Eltern sich scheiden ließen, war für Tatia fast eine Erleichterung gewesen, aber sie wußte immer noch nicht genau, warum sie den Kontakt zu Philippe so lange verloren hatte. Ihre Mutter Bernadette und ihr Stiefvater Bert hatten von Philippe nur geredet, wenn sie glaubten, daß Tatia sie nicht hörte, und mit flüsterndem Tonfall, als läge er im Sterben. Inzwischen kannte sie das dunkle Geheimnis, daß ihr Vater auf Männer stand. Für Tatia, beinhart auf eine Karriere in der Modewelt konzentriert, war diese Enthüllung kein größerer Schock gewesen. Sie fand es eigentlich ziemlich cool. Manchmal, wenn Tatia tagträumte, sah sie vor ihrem inneren Auge Philippe bei ihrer ersten, selbstverständlich erfolgreichen Modenschau auf einem Ehrenplatz sitzen. Es war erheblich schwieriger, sich dort Bernadette vorzustellen, ganz zu schweigen von Bert, der ihre Modeträume als Teenagerspleens betrachtete, die sie baldmöglichst vergessen sollte. Er meinte, sie sollte eine kaufmännische Ausbildung absolvieren und dann in Demeesters Delikatessen, Berts erfolgreicher und expandierender Kette von Delikatessengeschäften, zu arbeiten beginnen.

Kaufmännische Ausbildung! Tatia schnaubte bei dem Gedanken vor sich hin. Das Schnauben ging in ein Niesen über, als sie der Staub von den alten Koffern in der Nase kitzelte.

Sie nahm den grauen Überzieher vom Kofferdeckel, um sich die Näharbeit genauer anzusehen. Er mußte fast maßgeschneidert sein. Ja, da war ein diskretes Etikett von einer Schneiderei in Uccle. Tatias Großeltern väterlicherseits hatten in Uccle gewohnt. Sie hängte den Überzieher zurück und sah die übrigen Kleidungsstücke im Koffer durch. Das meiste schien von derselben Schneiderei zu kommen. Beinah alles konnte sie verwenden. Denise hatte gesagt, sie dürfe nehmen, was sie wolle, aber sie hatte wohl nicht gemeint, daß sie alles nehmen durfte? Sie mußte warten, bis Denise zurückkam, und fragen.

Die Türklingel bimmelte, als habe jemand an der Tür gerissen, ohne sie zu öffnen. Konnte das schon Denise sein? Nein, sie hatte ja Schlüssel. Es war vielleicht das beste, nachzusehen, wer es war.

Tatia fing an, die Wendeltreppe hinaufzusteigen, aber irgendein Instinkt sandte in ihrem Nervensystem ein schrilles Warnsignal aus und ließ sie mit heftig klopfendem Herzen auf halbem Weg stehenbleiben. Wo sie im Dunkeln stand, sah sie den unteren Teil der Ladentür, und hinter dem satinierten Glas sah sie undeutlich eine Gestalt, anonym und schattenähnlich. Die Türklinke bewegte sich abwärts, langsam, langsam. Dann hörte sie plötzlich Schritte und laute Stimmen auf der Straße, die Bewegung der Klinke brach ab, und die Gestalt verschwand von der Tür.

Tatias Herz wurde ruhiger und begann, wieder normal zu schlagen. Sie begriff nicht, was ihr zugesetzt hatte. Es war wohl nur ein Stammkunde gewesen, der gehofft hatte, nach Ladenschluß eingelassen zu werden. Sie kehrte zu den Schätzen im Keller zurück und richtete die Aufmerksamkeit auf den zweiten Koffer. Sie sah sofort, daß er Damenkleider enthielt. Zitternd vor Erregung sah sie Schichten aus mattem Wollcrêpe, blankem Satin und grobem Tweed in den Farben Puderrosa, Flaschengrün, Safrangelb und einem tiefen, fast schwarzen Tintenblau. Sie nahm das puderrosafarbene Stück heraus und entfaltete es mit einem nahezu andächtigen Gefühl. Es war ein perlenbesticktes Abendkleid, schräggeschnitten im typischen Dreißiger-Jahre-Stil. Leider überhaupt nichts für sie selbst, und es würde auch Martine nicht stehen. Die Farbe wäre recht apart an ihrer rotblonden Mutter, aber Bernadette interessierte sich selten für Tatias Funde, und außerdem wäre ihr das Kleid zu klein. Denise van Espen dagegen, fiel ihr plötzlich ein, würde phantastisch darin aussehen. Sie sah es vor sich wie ein Bild in einer Modezeitschrift – Denise, die dunklen Haare im Dreißiger-Jahre-Stil frisiert, lässig an ein Piedestal gelehnt, mit einer Zigarettenspitze in der Hand und den Antiquitäten im Laden als Hintergrund. Sie mußte Denise das Kleid zeigen und sich erbieten, es zu ändern, so daß es perfekt paßte.

Tatia hängte das Kleid auf und nahm das nächste Kleidungsstück heraus, ein Kleid im Schottenmuster mit kurzen Ärmeln und abnehmbarem weißen Kragen. Es sah aus, als wäre es eher für ein Schulmädchen gemacht als für die überkultivierte erwachsene Frau, die das puderrosafarbene Abendkleid getragen hatte. Der Stoff war fein, aber das Modell ziemlich trist. Nichts, was man sich näher ansehen mußte.

Als sie das Kleid zusammenfaltete, um es wieder in den Koffer zu legen, spürte sie, daß etwas in der säuberlich genähten Brusttasche steckte. Sie tastete neugierig danach und zog es heraus.

Es war ein quadratisches, schwarzweißes Foto, das zwei Mädchen in Tatias Alter darstellte, das eine blond und das andere dunkelhaarig. Der Kleidung und den Frisuren nach war es in den vierziger Jahren aufgenommen worden. Die beiden Mädchen hatten die Köpfe zusammengesteckt und lächelten auf eine Weise, die etwas übertrieben wirkte, als hätten sie für den Fotografen posiert.

Das blonde Mädchen hatte eine hohe, breite Stirn, ein rundes Kinn und ein deutliches Lachgrübchen an der linken Wange. Ihr klarer, heller Blick hatte etwas sehr Intelligentes, etwas, das Tatia das Gefühl gab, daß sie das unbekannte Mädchen auf dem Foto hätte mögen können.

Doch das notierte sie nur en passant, bevor ihr Blick auf dem Gesicht des anderen Mädchens innehielt, so schockierend wohlbekannt. Tatia spürte, wie sich an ihrem Nacken die Härchen aufrichteten. Sie betrachtete das spitze Kinn, die etwas zu lange Nase, die feingezeichnete kurze Furche zwischen der Nase und der fülligen Oberlippe, die Augenbrauen, die sich wie Schwalbenflügel über mandelförmigen Augen hoben, all diese Züge, die sie so viele Male mit Mißmut oder Zustimmung studiert hatte, je nachdem, in welcher Stimmung sie war.

Es war ihr eigenes Gesicht dort auf dem Foto.

KAPITEL 2

Freitag, 24. Juni 1994
Villette

Sie konnten nicht anders als kichern, als sie in ihren hochhackigen Sandaletten die Landstraße entlangschwankten. Sie hatten den letzten Bus verpaßt, genau das, was sie ihren Eltern versprochen hatten, nicht zu tun, und sie hatten keine andere Wahl, als zu Fuß zu gehen. Es waren sechs Kilometer nach Hause, eine Strecke, die sie normalerweise in einer Stunde schaffen konnten. Aber auf den ungewohnten hohen Absätzen dauerte jeder Kilometer doppelt so lange wie sonst.

– Hast du seinen Gesichtsausdruck gesehen, piepste Sabrina. Sie runzelte die Brauen und zog in einer recht gelungenen Nachahmung von Irritation und Enttäuschung die Mundwinkel herunter. Peggy bog sich in einem neuen Kicheranfall, und sie schwankten weiter, den Arm um die Taille der anderen.

Nadia, die Jüngste, war nicht ganz so amüsiert. Sie dachte ernstlich daran, sich die Schuhe auszuziehen und barfuß zu gehen. Sie war ihre große Schwester und deren Freundin ziemlich leid. Ohne Schuhe könnte sie sie hinter sich lassen und in einer halben Stunde zu Hause sein. Aber dann mußte sie mehrere Kilometer allein die Straße entlanggehen. Das konnte gefährlich sein. Es war etwas anderes, wenn sie zusammen gingen, da konnte ihnen nichts passieren. Sie waren ja zu dritt.

Aus den Schatten am Straßenrand glitt lautlos eine schwarze Katze vor ihnen heraus. Sie überquerte die Straße mit gespitzten Ohren und nach unten durchgedrücktem Körper, ein nächtlicher Jäger mit scharfen Klauen und dem Geruch warmen Blutes in den Nasenlöchern. Plötzlich blieb sie stehen, kauerte sich zusammen und machte einen Satz. Etwas quiekte herzzerreißend am Straßenrand. Dann wurde es still.

Sabrina und Peggy lachten auch darüber, Nadia jedoch nicht. Heute mochte sie Katzen nicht. Am Morgen hatte sie ihre Katze Minette mit drei Vogeljungen entdeckt, die sie getötet hatte. Nadia hätte fast angefangen zu weinen, als sie die kleinen, flaumigen Körper sah. Wochenlang hatte die Vogelmutter fleißig ihre Jungen gefüttert, und jetzt, wo sie beinah flügge waren, lagen sie mit gebrochenem Genick still auf dem Boden. Wie grausam und traurig das Leben war!

Hätten sie nur den Bus nicht verpaßt. Nadia hatte Peggy und Sabrina in den Ohren gelegen, sie sollten sich beeilen, aber die älteren Mädchen waren immer wieder stehengeblieben, um kurz mit Jungen zu flirten, die zu einem Bier einladen wollten, um noch mehr Gratisessen abzustauben oder um einen weiteren Auftritt der mittelalterlich gekleideten Musiker, Akrobaten und Feuerschlucker anzusehen, die während der Johannisnacht die Straßen von Villettes Zentrum füllten. Als sie schließlich an der Bushaltestelle am Quai des Marchands ankamen, waren sie gerade rechtzeitig genug da, um die roten Rücklichter des Busses verschwinden zu sehen.

Aber die Mittsommernacht war warm und nicht besonders dunkel, so daß sie sich sehen konnten und auch die Landschaft entlang der Straße, obwohl das Nachtdunkel alle Farben aufsaugte, Nadias rosa Kleid grau und Sabrinas rotes Top schwarz machte. Nur Peggys Jeansrock leuchtete kreideweiß im Halbdunkel. Die sinkende Sonne war ein Blutstreifen am Horizont im Westen. Im Osten war die perlweiße Scheibe des Mondes zu ahnen.

Der Fluß verlief hier in der Nähe der Straße. Sie hörten ihn auf seinem Weg zum Meer gluckern und flüstern und murmeln, spürten seine feuchte Kühle und rochen das Wasser. Am Flußufer flog mit einem Plätschern und dem Flattern von Flügeln, das in der stillen Nacht deutlich zu unterscheiden war, eine Ente auf.

Das Geräusch eines Automotors war in der Ferne zu hören, und Nadia empfand einen kleinen Stich von Unruhe. Aber das Auto fuhr an ihnen vorbei, ohne die Geschwindigkeit zu senken, und die roten Rücklichter verschwanden hinter der ersten Kurve auf der Straße.

Nadia entschloß sich weiterzugehen, ohne darüber nachzudenken, wie weit es nach Hause war und wie unbequem die Schuhe waren. Statt dessen würde sie an das denken, was sie im Laufe des Tages gesehen hatte. Sie hatte die Johannisprozession in Villette geliebt, solange sie sich erinnern konnte, und obwohl sie jetzt schon vierzehn war, schlug ihr Herz immer noch schneller, wenn sie den Zug langsam über den Pont des Évêques kommen sah, mit seinem Gewimmel von römischen Soldaten und mittelalterlichen Kreuzrittern, orientalischen Tänzerinnen und Nonnen, Priestern und Propheten, Pferden und Kamelen, alles in leuchtendem Gold und Scharlachrot und Violett. Ihr gefielen am besten die biblischen Szenen, und die waren dieses Jahr ungewöhnlich aufwendig gewesen. Fast alle Mädchen in Villette träumten davon, einmal auf der Wagenfläche, wo Salome für König Herodes tanzte, die biblische Prinzessin spielen zu dürfen. Aber dieses Jahr war Salome von einer Tänzerin von der Oper in Brüssel gespielt worden.

Nadia hatte keine Salometräume. Sie war mager und schmächtig und galt mit ihren strähnigen Haaren und der Brille, die sie trug, seit sie denken konnte, als nicht besonders hübsch, aber das hatte sie nie gekümmert, denn sie hatte Zukunftspläne, bei denen ihr Äußeres keine Rolle spielte. Obwohl es langsam immer schwerer wurde, dem Druck zu widerstehen. Freundinnen, mit denen sie vorher über wichtige Dinge hatte reden können, waren plötzlich unbegreiflich interessiert an kichernden Gesprächen über Jungen und Schönheitstips, und sie hatte das Gefühl, daß sie versuchen mußte, dabei mitzuhalten. Deshalb hatte sie sich an diesem Tag zum ersten Mal von Sabrina, der anerkannten Schönheitsexpertin des Heimatdorfes, schminken und sich die Haare zurechtmachen lassen. Beinah gegen ihren Willen hatte sie einen Schauer der Erwartung empfunden, als sie sah, wie ihre kurzsichtigen dunklen Augen durch Mascara und Lidschatten hervorgehoben wurden und wie nach Himbeeren schmeckender rosa Lipgloss ihrem kindlichen Mund einen feuchten Schimmer verlieh.

Sie mochte Sabrina nicht. Sabrina war die beste Freundin ihrer Schwester Peggy, aber sie war eitel, egozentrisch und ziemlich bösartig, fand Nadia. Sabrina hatte wochenlang geschmollt, als klar gewesen war, daß sie dieses Jahr nicht die Chance bekommen würde, für die Rolle der Salome vorzutanzen, aber sie durfte wenigstens als eine der begleitenden Tänzerinnen auf den Salome-Wagen, und das hatte sie in bessere Laune versetzt. Der Tag war ein kleiner Triumph gewesen für Sabrina, die sich in dem orientalischen Gewand sehr gut gemacht hatte und nicht nur von der Lokalzeitung Gazette de Villette fotografiert worden war, sondern auch von ein paar ausländischen Fernsehteams und Fotografen von mehreren internationalen Zeitschriften aufgenommen wurde. Noch glühend von ihrem Erfolg, hatte sie auch nach der Prozession ungewöhnlich viele Blicke auf sich gezogen. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und immer wieder perlend gelacht, mit sonnenverbrannten Soldaten vom Flawinne-Regiment geflirtet, mit sie bewundernden amerikanischen Touristen englisch gesprochen und war schließlich in Villettes bestes und teuerstes Restaurant zu einem Essen zu zweit eingeladen worden. Sie hatte dankend abgelehnt, aber Nadia hatte den Verdacht, daß das nur daran lag, daß Sabrina Angst vor der Reaktion ihrer Eltern hatte, wenn sie es erfahren hätten.

Obwohl Nadia Sabrina nicht leiden konnte, sah sie sie gern an, besonders ihre langen Haare, die ihr in dicken Wellen den halben Rücken hinunterhingen und in Tönen von Gold, Kupfer und Rostrot schimmerten, wenn die Sonne darauf schien oder wenn Sabrina den Kopf in den Nacken warf. Nadia war die Beste der ganzen Schule im Zeichnen, und sie wollte Malerin werden, eine große Künstlerin. Sie hatte viele Male versucht, Sabrina zu malen, war aber nie zufrieden gewesen, nicht einmal wenn sie den teuren Malkasten benutzte, den sie vor ein paar Wochen zum Geburtstag bekommen hatte. Sabrina selbst war zufrieden und schmeichelhaft beeindruckt gewesen, aber Nadia wußte insgeheim, daß es ihr nicht gelungen war, das Licht und die Bewegung in Sabrinas Flut von Haaren so einzufangen, wie sie es wollte.

Sie hatte auch viele Versuche gemacht, die Johannisprozession auf dem Weg über die Brücke mit der Kathedrale im Hintergrund zu malen. Das gelungenste ihrer Aquarelle hing gerahmt in der Schule, aber nicht einmal mit dem war sie zufrieden. Sie wollte die Gefühle einfangen, die sie überkamen, wenn sie die Prozession sah, und das war etwas ganz anderes, als die geflochtenen Mähnen der Pferde und die Falten in den Mänteln der römischen Soldaten so hinzukriegen, daß sie echt aussahen. Ihr Lieblingsbild war Eva Lidelius’ Gemälde »Die neue Anbetung des Lammes«. Sie hatte am ganzen Körper gezittert, als sie es zum ersten Mal in einem Buch gesehen hatte. Eines Tages würde sie selbst ein Bild malen, das die Menschen ebensosehr berührte …

Nein, das würde sie nicht. Ohne Vorwarnung war Nadia plötzlich von einer lähmenden Furcht, kalt und schwarz wie eisiges Wasser, und einer unheimlichen Gewißheit, daß sich ihre Träume nie verwirklichen würden, erfüllt. Sie sah den Tod in der Prozession vor sich, den schwarzen Mantel, den grinsenden Totenschädel, die scharfgeschliffene Sense. Ihre Lippen fühlten sich starr an und ihre Fingerspitzen kalt wie Eis, als hätte das Herz aufgehört, das Blut im Körper herumzupumpen.

Das Gefühl dauerte nur ein paar Sekunden, ging ebenso schnell vorbei, wie es gekommen war. Peggy und Sabrina hatten nichts bemerkt.

Erneut war in der Ferne ein Automotor zu hören. Aber dieses Auto bremste ab und hielt an, als es neben ihnen war. Die Autotür wurde geöffnet, und eine Stimme, die sie wiedererkannten, sagte einladend:

– Wollt ihr mitfahren, Mädels?

KAPITEL 3

Freitag, 24. Juni 1994
Villette

Noch war niemand tot, aber Martine Poirot war auf das Schlimmste gefaßt. Am Tag der Johannisprozession, dem höchsten Festtag der Stadt, wollte in Villette keiner den Job des diensthabenden Untersuchungsrichters übernehmen. Die Stadt war voller Touristen, jede Bar vollbesetzt, und das Gedränge auf den Straßen war so dicht, daß es kaum ein Durchkommen gab. Die Bilanz des Vorjahres waren drei schwere Raubüberfälle, zwei Vergewaltigungen und eine Messerstecherei mit tödlichem Ausgang. Martine hatte mit etwas Ähnlichem gerechnet, als sie die Niete des Jahres zog. Aber bis jetzt war es ruhig gewesen. Mit etwas Glück würde sie zu Abend essen können, ohne an einen Tatort gerufen zu werden.

Sie schlug die Akte zu, an der sie gearbeitet hatte, und legte die Mappe auf einen der vielen Papierhaufen des Schreibtisches zurück. Sie sah sich im Dienstzimmer um. Das Sonnenlicht, das durch halb geschlossene Jalousien hereinsickerte, beleuchtete unbarmherzig die Flecken auf dem Nadelfilzteppich, die abgeschabten Aktenschränke und die Ringe, die unzählige Kaffeebecher auf Martines Schreibtisch und dem ihrer Rechtspflegerin Julie Wastia hinterlassen hatten.

Sie ging zum Spiegel, der neben den Aktenschränken hing. Wie gewöhnlich war ihre Hochsteckfrisur in sich zusammengefallen. Sie zog die Haarnadeln heraus und bürstete ihre schulterlangen aschblonden Haare, während sie kritisch ihr Gesicht im Spiegel musterte. Sie hatte im Laufe des Frühjahrs abgenommen. Die lange Hose saß locker in der Taille, und die Wangenknochen sahen unter den grünen Augen spitz aus. Ein Mordfall, den sie im April untersucht hatte, hatte mit einem politischen Skandal geendet, der nationale und selbst internationale Aufmerksamkeit erregt hatte, und das war nicht nur angenehm gewesen. Sicher hatte es ihr gefallen, ihr eigenes Bild in den Medien zu sehen, sogar mehr, als sie sich eigentlich anmerken lassen wollte. In der untersten Schreibtischschublade, verborgen unter ihrem Reservevorrat an Strumpfhosen und Monatshygieneartikeln, lag die Illustrierte, die das allerbeste Bild auf der Titelseite hatte. Manchmal nahm sie sie heraus und betrachtete heimlich ihr Porträt.

Aber nicht alle Schlagzeilen waren so wohlwollend gewesen.

Außerdem war sie bei vielen Honoratioren in Villette unpopulär geworden. Sie meinte giftige Blicke im Nacken zu spüren und ahnte jedesmal wenn sie sich in der Stadt unter Politikern bewegte, manchmal sogar unter Kollegen im Justizpalast, gehässiges Flüstern.

Und hinzu kamen private Probleme, über die sie ständig nachgrübeln mußte.

Sie schloß den Schreibtisch ab, nahm ihre Tasche und machte sich auf den Weg, um zu Abend zu essen. Feuchte Hitze legte sich wie eine nasse Decke auf die Haut, als sie auf die Straße hinaustrat. Düfte und Geräusche aus der Stadt drangen in die enge Rue des Chanoines, der Geruch von Fritierfett von Pommes- und Waffelständen, schwache Öldämpfe, der scharfe Geruch nach Stall, der sich von den Pferden und Kamelen der Prozession gehalten hatte, Lachen und Johlen. Auf dem Platz vor der Kathedrale spielte jemand auf quietschenden mittelalterlichen Instrumenten. Von den Klubs am Quai des Marchands jenseits des Flusses kam Musik, vibrierende Baßrhythmen, die eher im Körper zu spüren als zu hören waren.

Martine war den ganzen Tag im Büro gewesen. Sie hatte nur eine Pause gemacht, um auf dem Hof des Justizpalastes gegenüber Saint Jean Baptiste, der Kathedrale, die den Namen Johannes des Täufers trug, zuzusehen, wie sich die Prozession auf dem Kathedralplatz versammelte.

Die Johannisprozession in Villette-sur-Meuse wurde zum ersten Mal in einem Dokument von 1299 erwähnt, was sie älter machte als die Heiliges-Blut-Prozession von Brügge, etwas, worauf keine Touristenbroschüre über Villette hinzuweisen versäumte. Dieses Jahr hatte Villette seinen Versuch, europäische Kulturhauptstadt 1999 zu werden, gerade rechtzeitig zum siebenhundertjährigen Jubiläum der Prozession lanciert, und die Veranstalter hatten sich mit Tänzern der Oper, Musikern aus den besten Orchestern Belgiens und mehr Kamelen und Pferden als je zuvor selbst übertroffen. Das Event sollte mit einem großen Gratiskonzert auf dem Kathedralplatz und einem Festfeuerwerk auf dem Fluß beendet werden.

All das, dachte Martine zynisch, weil ein Straßenverkäufer in Jerusalem vor fast tausend Jahren dem Kreuzritter Raimunt de Verney einen rostroten Metallsplitter aufgeschwatzt hatte, der, so hatte er behauptet, von dem Schwert stammte, mit dem Johannes der Täufer geköpft worden und der mit des Propheten eigenem Blut befleckt war. Dennoch war es schwer, sich von der Stimmung nicht mitreißen zu lassen, als die Reliquie in ihrem juwelenbesetzten Schrein unter Glockenläuten und liturgischem Gesang durch das Mitteltor der Kathedrale herausgetragen wurde und die Prozession sich in Bewegung setzte.

Eine Busladung europäischer Journalisten war aus Brüssel eingetroffen, um an der Prozession, einem Empfang im Rathaus, dem Gratiskonzert und am Samstag an der Pressekonferenz über Villettes unschlagbare Vorzüge als Kulturstadt teilzunehmen. Martine hatte gehört, daß das Interesse der Medien groß war, aber sie hatte den Verdacht, daß das auch mit der weniger schmeichelhaften Aufmerksamkeit zu tun hatte, die die Stadt aufgrund ihrer Morduntersuchung genoß.

Martine überquerte die Straße auf die Blinde Gerechtigkeit zu, die Kneipe ihres Freundes Tony Deblauwe Ecke Rue des Chanoines und Rue du Palais. Die Tür zur Straße stand offen, und die Bar füllte sich gerade, aber im Restaurantteil waren alle Tische noch leer, obwohl viele aussahen, als seien sie reserviert. Es war zu früh, um zu Abend zu essen, es sei denn, man hatte das Pech, diensthabender Untersuchungsrichter zu sein.

Ihr Bruder Philippe saß schon an der Bar, eine Tasse Kaffee vor sich. Sie schielte verstohlen zu ihm hin. Es war drei Jahre her, daß er zuletzt in Villette gewesen war. Da war er in schlechter Verfassung gewesen und hatte dringend Geld gebraucht. Jetzt aber schien es ihm gutzugehen, und sein cremeweißes Leinensakko sah teuer aus.

Sie kletterte auf den Barhocker neben Philippe und registrierte amüsiert die neidischen Blicke aller anderen Frauen im Lokal, als er sie auf die Wange küßte. Sah man denn nicht, daß sie Geschwister waren? Obwohl Philippe dunkel war und Martine blond, fanden die meisten, daß die Familienähnlichkeit offensichtlich war. Aber während Martine nur durchschnittlich hübsch war, war Philippe immer umwerfend gewesen. Die Leute drehten sich auf der Straße nach ihm um und fragten sich, in welchem Film sie ihn gesehen hatten.

– Hallo, sagte Martine, hast du dein Treffen mit Tony schon hinter dir? Was habt ihr eigentlich zusammen ausgeheckt?

Philippes Blick bekam etwas Ausweichendes.

– Ach, ich hab eine kleine Idee, ein Geschäftsprojekt, über das Tony und ich schon eine Weile reden, wir mußten etwas Papierkrieg erledigen. Jetzt warte ich auf Tatia, sie müßte bald hier sein.

– Tatia kommt, wie nett, sagte Martine und ließ das »Geschäftsprojekt« durchgehen, aber warum seid ihr nicht zusammen gekommen?

Philippe runzelte die Stirn.

– Das hatten wir vor, aber dann mußte sie mit Bernadette und Wurst-Bert zur Einweihung von Berts neuem Laden in Ostende. Das Wurstimperium wächst offensichtlich immer weiter, und das Geld strömt herein. Bernadette muß glücklich sein.

Wie gewöhnlich war Martine irritiert über Philippes Art, über seine Exfrau und ihren neuen Mann zu reden. Aber sie biß sich auf die Zunge und sagte nichts. Sie hatte mit ihrem Bruder über wichtigere Dinge zu reden. Es fiel ihr nur so schwer, die Worte über die Lippen zu bringen.



Philippe Poirot schielte zu seiner Schwester. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, ein sicheres Zeichen dafür, daß sie an etwas dachte, das sie nicht sagen wollte oder nicht zu sagen wagte. Er ahnte trotzdem, worum es ging. Martine wollte über ihre Mutter Renée reden und darüber, was sie im Krieg erlebt hatte. Renée hatte zwei Jahre im Konzentrationslager Ravensbrück gesessen. Martine hatte bis vor kurzem nichts davon gewußt.

Philippe dagegen hatte Erinnerungen, traumartig formlose Erinnerungsbilder aus einer Zeit, als er sehr klein war, Erinnerungen an Tage mit zugezogenen Gardinen und Renées Tränen und gedämpften Stimmen im Schlafzimmer der Eltern, während er draußen stand und nicht hereinkommen und seine Maman festhalten durfte, obwohl sie so traurig war. Damals hatte er das Wort »Ravensbrück« gehört. Es fiel heraus, schwarz und schwefelgelb mit seinen harten, fremden Lauten, und er hatte begriffen, daß die Tatsache, daß seine Maman nicht sie selbst war, damit zu tun hatte. »Dummes Ravensbrück« hatte er einmal eifrig zu seinem Vater gesagt. Aber der hatte ernst gesagt: »Darüber reden wir nicht, Maman wird dann nur traurig.« »Ravensbrück« war das gefährliche Wort, das nicht ausgesprochen werden durfte, ein Tabu so effektiv, daß seiner kleinen Schwester nie auch nur das geringste Flüstern über die Kriegserlebnisse der Mutter zu Ohren gekommen war. Tage mit zugezogenen Gardinen hatte es trotzdem gegeben, schwarze und schwefelgelbe Tage, an denen alle mit leisen Stimmen sprachen und ängstlich zur geschlossenen Schlafzimmertür schielten.

Martine hatte nicht gewußt, was den dunklen Schatten über ihr Elternhaus warf, nicht die leiseste Ahnung davon gehabt, bis vor ein paar Monaten, als ein Verwandter es beiläufig erwähnt hatte. Jetzt war sie fast besessen davon, mehr zu erfahren. Thomas, ihr Mann, hatte Philippe erzählt, daß sie die ganze Zeit daran dachte, Bücher über Ravensbrück suchte, Artikel über Übergriffe an muslimischen Frauen in Konzentrationslagern in Bosnien verschlang und darüber nachgrübelte, wie sie die ganze Wahrheit darüber, was Renée erlebt hatte, erfahren konnte.

Philippe gefiel das nicht. Seiner Auffassung nach war es das beste, die Vergangenheit nicht aufzurühren. Es riß unnötigerweise alte Wunden auf und konnte sogar gefährlich sein.

Martine sah aus, als würde sie gleich etwas sagen, aber bevor sie den Mund aufmachen konnte, kam Tony Deblauwe aus seinem Büro und steuerte auf sie zu.

– Telefon für dich, Martine, sagte er, du kannst es im Büro annehmen.

Martine stöhnte.

– Da geht mein Abendessen flöten, sagte sie und ging hinter die Theke.