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Bildnachweis:
Die Abbildungen stammen aus dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Wien, und aus der Privatsammlung der Autorin.

ISBN 978-3-85371-829-2
(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-372-3)
© 2014 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H./ Wien
Alle Rechte vorbehalten
Mit einem Vorwort von Elisabeth Holzinger
Umschlagentwurf: Gisela Scheubmayr
Lektorat: Karin Ballauff
Zusammenstellung des Anhangs: Irene Nierhaus

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Promedia Verlag
Wickenburgg. 5/12
A-1080 Wien
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Inhaltsverzeichnis

Elisabeth Holzinger: Widerstand in Zeiten des Terrors

Einleitende Worte der Autorin

Von Istanbul nach Wien

25 Tage illegale Arbeit

In der Gestapozentrale und im Polizeigefängnis »Liesl«

Eineinhalb Jahre im Bezirksgefängnis Schiffamtsgasse in Wien

Der Prozeß

Ab ins Zuchthaus

Als Zuchthäuslerin in Aichach

Die Befreiung

Von Aichach nach Wien

Anhang:
Die Mitgefangenen

Margarete Schütte-Lihotzky
Erinnerungen aus dem Widerstand
Das kämpferische Leben einer Architektin
von 1938 – 1945

Ich erzähle es, weil es
alt ist, das heißt, weil es
vergessen werden
und als
nur für vergangene
Zeiten gültig
betrachtet werden könnte.
Gibt es nicht ungeheuer viele,
für die es ganz neu ist?

Bert Brecht

Widerstand in Zeiten des Terrors

Am Mittwoch, den 22. Jänner 1941 um halb 12 Uhr mittags treffen einander zwei Personen im Café Viktoria Ecke Währingerstraße Maria-Theresien-Straße in Wien. Margarete Schütte-Lihotzky, Mitglied einer Widerstandsgruppe in Istanbul und Erwin Puschmann, genannt »Gerber«, Leiter der kommunistischen Widerstandsbewegung unterhalten sich über die weiteren Aufgaben im Widerstand. Zwei verschlüsselte Adressen werden übergeben, »als plötzlich, wie dem Erdboden entsprungen, zwei Männer auf uns losstürzten.« (S. 50)1 Die beiden werden in die Gestapozentrale am Morzinplatz gebracht.

In welches Land kehrte Margarete Schütte-Lihotzky 25 Tage zuvor, am 24. Dezember 1940, aus dem sicheren Istanbul nach Wien zurück? Am 12. März 1938 hatten deutsche Truppen die Grenze überschritten und holten Österreich »heim ins Reich«. Unter tosendem Applaus wurde die nationalsozialistische Kamarilla am 15. März in Wien gefeiert. Was für diese Anhänger und Mitläufer Grund zum Jubel war, bedeutete für Tausende und Abertausende das Todesurteil.

Margarete Schütte-Lihotzky hat in Istanbul, wo sie seit 1938 arbeitete, mit einer Gruppe von Nazi-Gegnern und österreichischen und türkischen KommunistInnen Kontakt aufgenommen. Der Gruppe war sicherlich der Aufruf der Partei zum aktiven Widerstand bekannt. Ob die AktivistInnen sich aber das Ausmaß des nationalsozialistischen Terror-Apparats, der von Spitzeln durchsetzt war, vorstellen konnten? Es hätte vermutlich nichts genützt, Margarete Schütte-Lihotzky von der Rückkehr in ihre Heimat abzuhalten. Wird sie später gefragt, warum sie aus dem sicheren Ausland nach Wien gekommen ist, reagiert sie empört darüber, wie man eine solche Frage überhaupt stellen kann.

Mit der Besetzung Österreichs am 12. März 1938 begann die Verfolgung der jüdischen BürgerInnen, die im Novemberpogrom 1938 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Parallel zur rassistisch motivierten Verfolgung begann die Jagd auf Menschen, die im Verdacht standen, Gegner des Regimes zu sein. Gestapo, Sicherheitsdienst und SS sind bereits bestens informiert über ihre Gegner. Schon in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurden etwa 70.000 Menschen verhaftet, ein Großteil von ihnen in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert. Die Gestapo ist auch im Besitz einer Liste von etwa 1.000 Personen, die als KommunistInnen gelten. Bis zum Herbst 1938 wurden einige hundert Funktionäre der Partei, darunter die erste Organisationsleitung der Kommunistischen Partei Österreichs, verhaftet und zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.

Noch in der Nacht vom 11. zum 12. März 1938 formulierte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in Prag als einzige politische Kraft den Aufruf zum aktiven Widerstand mit dem Ziel der Wiedererrichtung eines freien, unabhängigen Österreich. Das Flugblatt mit dem Aufruf wurde nach Österreich geschmuggelt und hier massenhaft verbreitet. Der mit enormem Einsatz geführte kommunistische Widerstand unterscheidet sich von dem anderer Gruppierungen aus mehreren Gründen: Durch den Aufruf zur Aktion, durch den patriotischen und politischen Charakter und durch den Umfang der Widerstandstätigkeit. 75% des organisierten Widerstands leisteten die KommunistInnen. Sie stellen auch die größte Gruppe der politisch Verfolgten: Von der Gesamtzahl der 5.348 Verurteilten sind 60% dem kommunistischen Widerstand zuzuordnen. Diesem Einsatz ist es zu verdanken, dass während der gesamten Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft die Existenz einer Opposition demonstriert werden konnte, über deren Ausmaß sich die Nationalsozialisten nie ganz im Klaren waren.

Die Partei hatte schon seit Mai 1933 Übung in illegaler Tätigkeit, war am Februaraufstand 1934 beteiligt, und viele ihrer Mitglieder kämpften bis zur Niederlage 1939 an der Seite der spanischen Republik. Parteimitglieder verstanden sich als Teil einer weltweiten Bewegung zur Bekämpfung von Krieg und Faschismus. Diese Überzeugung und der Wunsch, etwas zu diesem Kampf beizutragen, kommt in vielen Äußerungen von Margarete Schütte-Lihotzky zum Ausdruck und hilft ihr, Gefängnis und Zuchthaus zu ertragen und zu überleben.

Das im Exil agierende Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Österreichs stellte sich die Aufgabe, den Widerstand zu koordinieren und strategisch zu steuern. Es galt, den Informationsfluss zu den AktivistInnen und innerhalb derselben zu gestalten, Aktionen zu planen und den Kreis der AntifaschistInnen zu erweitern. Die Nazis verstanden es, durch eingeschleuste Spitzel die kommunistischen Zellen immer wieder aufzurollen. Ein einziger Spitzel in einer vernetzten, zentral geführten Organisation konnte zum Auffliegen Hunderter WiderstandskämpferInnen führen. Was auch geschah.

Nach der Eliminierung der ersten Leitung im Zuge einer Verhaftungswelle im Spätherbst 1938 wurde versucht, eine zweite Leitung zu installieren. Ein Funktionär reiste aus dem Ausland ein, um die zerrissenen Verbindungen neu zu knüpfen und den Informationsfluss wieder in Gang zu bringen. Es war aber auch klar geworden, dass die Partei andere Formen der Aktion und Organisation brauchte. Ab Juli 1939 wurde eine Dezentralisierung eingeleitet. Mit der Parole »Du bist die Partei« wurde stärker auf die Selbstermächtigung der Genossinnen und Genossen gesetzt, und die Regeln der Konspiration wurden verschärft: Keine Aktivistin und kein Aktivist sollten mehr als zwei andere kennen und Aktivitäten selbständig planen und durchführen. Der Leiter oder die Leiterin sollte sich einen Überblick verschaffen, die Gruppen beraten und Kontakt zum Zentralkomitee im Ausland halten. Die Folge der Dezentralisierung war, dass die Verhaftungswelle vom Sommer 1939 die Strukturen nicht mehr im selben Ausmaß zerstören konnte wie die vorherige.

Ein neuerlicher Versuch, eine Leitung aufzubauen, wurde im Oktober 1940 gestartet. Erwin Puschmann, »Gerber«, der Kontaktmann für Margarete Schütte-Lihotzky in Wien, traf aus Bratislava ein, einem wichtigen Zentrum der Partei als Anlaufstelle für die Verbindung nach Österreich. Zusammen mit zwei anderen Genossen gelang es ihm, in Wien bereits abgerissene Verbindungen wiederherzustellen und den Widerstandskampf erneut zu organisieren. Es gelang auch, Kontakte zu zahlreichen Betrieben in Floridsdorf und Favoriten aufzubauen. Sie erstreckten sich bis ins niederösterreichische Industriegebiet und zu einer Eisenbahnergruppe in St. Pölten.

Neben der sogenannten »Betriebsarbeit«, vor allem zum Zweck der Sabotage, bestanden die Widerstandstätigkeiten in der Herstellung und Verbreitung von Druckwerken – unzählige Streuzettel, Flugblätter und Zeitschriften wurden hergestellt und verbreitet –, im Schmieren von Parolen im öffentlichen Raum, in Briefen an Soldaten, um sie über den Charakter des Krieges aufzuklären, in der Unterstützung politischer Gefangener und schließlich im Kampf mit der Waffe als PartisanInnen.

Der Terror der Nationalsozialisten hatte sich vor allem seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 weiter verschärft. Nicht nur für aktive Regimegegner wird es nun lebensgefährlich. Der Terror richtet sich auch gegen Menschen, die nur abfällige Bemerkungen über das Regime machen, Kriegsgefangenen mit einem Stück Brot helfen oder »Feindsender« hören. Sie haben mit mehrjährigen Zuchthausstrafen zu rechnen, je länger der Krieg dauert für die geringsten Vergehen auch mit dem Todesurteil. Vor allem das Abhören von BBC und Radio Moskau war eine wichtige Informationsquelle für Nachrichten, die schriftlich oder mündlich weitergegeben wurden. Viele KommunistInnen wurden auch wegen solcher Delikte verurteilt.

Eine wichtige Funktion für den Widerstand kam den Stützpunkten im Ausland zu. Sie waren unbedingt erforderlich, um Informationen über die Vorgänge in der Welt und Berichte über die Arbeit der oppositionellen Kräfte in den einzelnen Ländern zu sammeln und zu analysieren, da die illegal arbeitenden Widerstandsgruppen aus konspirativen Gründen nur einen kleinen Teil der Aktivitäten der Opposition überblicken konnten. Die Verbindungsstellen im Ausland leisteten auch materielle und logistische Hilfe – sie waren Anlaufstelle für Gefährdete, sie stellten Informationsmaterial her, sie betrieben illegale Sender, über die Nachrichten an die Landesstellen weitergegeben werden konnten. Eine dieser Verbindungsstellen war in Istanbul. Verbindungsleute wie MSL reisten zur Unterstützung des Widerstandes ins Land.

Wie man Kommunistin wird

Für die sozial engagierte Architektin und politisch denkende Frau ist der Schritt zu einer radikalen politischen Organisation, die bereits unmittelbar nach der Okkupation Österreichs zum aktiven Widerstand aufgerufen hatte, kein besonders großer. Der politische Mensch und der Berufsmensch Margarete Schütte-Lihotzky gehörten immer zusammen. Aus der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, der sie 1923 beigetreten war, ist sie 1927 aus Enttäuschung über die Reaktion der Partei auf die Streiks und Protestaktionen ausgetreten, die im Zusammenhang mit der sogenannten Julirevolte zu Massakern vor dem Justizpalast geführt haben.

Am Widerstand teilzunehmen, entspricht ihren Einsichten über das Wesen des Faschismus und ihrer Überzeugung, dass man etwas zum Sturz des Nazi-Regimes beitragen muss. Schon in der Zeit ihres Aufenthalts in Moskau zwischen 1930 und 1937 nimmt sie an politischen Kursen teil und holt sich noch vor ihrer Abreise Ratschläge, wie sie in den Ländern, in denen sie Arbeit zu finden hofft, Verbindung mit der Widerstandsbewegung aufnehmen kann. In London trifft sie österreichische EmigrantInnen, die der Partei nahe stehen, in Paris berät sie sich mit einem Kommunisten und Spanienkämpfer über die Möglichkeiten der Beteiligung am österreichischen Widerstand. In Istanbul kommt sie über Herbert Eichholzer, einem Kollegen und österreichischen Kommunisten, in Kontakt mit dem organisierten Widerstand und wird Mitglied einer österreichischen Gruppe. 1939 tritt sie der Kommunistischen Partei bei. Den theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Marxismus und den Erörterungen über Möglichkeiten der Unterstützung des Widerstands in Österreich folgt bald die Praxis. Dem Vorschlag von Herbert Eichholzer, nach Österreich zu fahren und dort Kontakt mit einem führenden Genossen aufzunehmen, stimmt sie sofort zu. Sie weiß, wie wichtig persönliche Verbindungen zwischen dem Widerstand im Land und den Stützpunkten im Ausland sind. Am 24. Dezember 1940 verlässt Margarete Schütte-Lihotzky Istanbul. In der Nacht vom 29. zum 30. Dezember überquert sie die Grenze nach Österreich und fährt Richtung Wien. Im Ohr hat sie ein Kügelchen aus Zigarettenpapier, auf dem die Nummern der Zeilen und Buchstaben einer bestimmten Buchseite aufgeschrieben sind, die die Adresse ihrer Kontaktperson ergeben. Obwohl sie sich streng an die Regeln der Konspiration hält, über die sie vor ihrer Abreise instruiert wird, scheitert ihre Mission. Wieder einmal durchkreuzten Spitzel die Pläne zur Aufrechterhaltung und Entwicklung des Widerstands der Kommunistischen Partei.

»Kinder, ich hab’ nur 15 Jahre«

Am Dienstag, 22. September 1942, eindreiviertel Jahre nach ihrer Verhaftung, findet die Verhandlung am Volksgerichtshof gegen eine Gruppe führender Funktionäre der illegalen Kommunistischen Partei mit Erwin Puschmann, »Gerber«, an der Spitze statt. Dieser Prozess ist einer von mehreren, bei denen über 500 WiderstandskämpferInnen vor Gericht standen und zu mehrjährigen Haftstrafen, über 100 von ihnen zum Tod, verurteilt worden waren. So auch die sechs Angeklagten dieses Prozesses. Erwin Puschmann und zwei weitere Männer wurden zum Tod, Margarete Schütte-Lihotzky und die Mitangeklagte Anni Haider zu 15 Jahren Zuchthaus und 20 Jahren Ehrverlust verurteilt.

Am Mittwoch, dem 21. Oktober 1942 um 4 Uhr früh erklingt im Bezirksgefängnis in der Schiffamtsgasse in Wien die Internationale, erzählt Margarete Schütte-Lihotzky. Diese Hymne der Arbeiterbewegung wurde immer von einer Mitgefangenen gesungen, wenn ein Transport vom Landesgericht abging. Sie und sieben Mitgefangene werden an diesem Tag ins Frauenzuchthaus Aichach in Bayern gebracht. Hinter Margarete Schütte-Lihotzky liegen 21 Monate Haft, davon acht Monate Einzelhaft, und 14 Gestapoverhöre. Das Abholen zu den Verhören ist immer wieder eine Nervenprobe. »Sicher war ich bei den vielen Verhören auch deshalb so ruhig, weil ich im Grunde meines Herzens stolz darauf war und es heute noch bin, einen, wenn auch winzigkleinen, Anteil an einem weltumspannenden Kampf für eine große Sache zu haben.« (S. 59). Sie fühlt sich nicht als Opfer. Für den Fall einer Verhaftung war sie gut vorbreitet und instruiert worden, wie man die Balance zwischen Zugeben und Abstreiten hält. »Das Lügen, das ich als etwas Feiges und Verwerfliches betrachtet hatte, wurde zur Tugend, zur moralischen Kraft, das Menschenleben retten konnte.« (S. 59)

Ein Gutteil des Buches ist dem Widerstehen in der Gefangenschaft und dem Gedenken an ihre Mitgefangenen gewidmet.2 Margarete Schütte-Lihotzky erzählt, wie es ihr gelang, den Mut nicht zu verlieren und wie es selbst unter den widrigsten Bedingungen gelang, den Kontakt mit den Mitgefangenen aufrechtzuerhalten. Der Einfallsreichtum der Frauen ist grenzenlos. Sie erfinden eine List nach der anderen, um miteinander in Kontakt zu bleiben. Auch wenn sie in Einzelzellen untergebracht sind, feiern sie über den Klosettstrang, das »Sprachrohr«, den 1. Mai mit Ansprachen, Gedichten und dem Absingen der Internationale. Sie »gisberln«3 sich Botschaften, verständigen sich durch Klopfzeichen und sprechen sich Mut zu. »Das Leben war erfüllt von den Beziehungen zu den Leidensgenossinnen ›drinnen‹, der Sehnsucht nach ›draußen‹ und dem brennenden Wunsch, den Tag der Freiheit noch zu erleben.« (S. 168) Er kommt am Sonntag, dem 29. April 1945, als amerikanische Truppen auf ihrem Vormarsch das Frauenzuchthaus Aichach und das KZ Dachau befreien.

Erste Architektin Österreichs –
sozial engagierte Architektin in der ganzen Welt

Wer war die 43-jährige Frau, die aus dem sicheren Istanbul in das Österreich unter Nazi-Terror reiste und ihr Leben riskierte?

1897 geboren, wuchs sie zusammen mit ihrer älteren Schwester in einem bürgerlichen Elternhaus auf. Sie besuchte zuerst die k.k. Graphische Lehr- und Versuchsanstalt und setzt sich in den Kopf, an der k.k. Kunstgewerbeschule, heute Universität für angewandte Kunst, Architektur zu studieren. Zu dieser Zeit durften weder an der Akademie der bildenden Künste noch an der Technischen Hochschule Frauen studieren. Die gesetzliche Grundlage für das Studium von Frauen an diesen Ausbildungsstätten wurde erst 1918 geschaffen. An der Architektur fasziniert sie, wie sie später sagt, »dass jeder Millimeter einen Sinn hat.« Sie beginnt das Studium 1915 und ist nach Ende des Studiums 1919 die erste Architektin Österreichs.

Schon während des Studiums gewinnt Margarete Lihotzky einen Preis in einem Arbeitsfeld, das sie ihr Leben lang beschäftigen wird: dem Wohnbau. Die Anregung ihres Lehrers Oskar Strnad an der Kunstgewerbeschule sollte für ihr zukünftiges Planen und Bauen prägend sein. Er riet ihr, hinauszugehen und zu schauen, wie die Arbeiter wirklich wohnen, bevor sie auch nur einen Strich macht. Er forderte Forschung vor Tat, Verbindung von Theorie und Praxis – und Margarete Schütte-Lihotzky lebte es vor.

Zur Zeit ihres Studiums und in den Jahren danach herrschte in Wien große Wohnungsnot. Die Menschen lebten unter entsetzlichen Bedingungen. Eine Antwort des seit 1919 »Roten Wien« war ein aus den Mitteln einer eigens eingeführten Wohnbausteuer – im Volksmund Luxussteuer genannt – betriebener umfangreicher kommunaler Wohnbau. Er versorgte im Gegensatz zur privatwirtschaftlich organisierten Wohnungsproduktion die Menschen mit günstigen, gut ausgestatteten Wohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen.

Ein weiterer Ansatz zur Lösung des Wohnungsproblems war die Wiener Siedlerbewegung. Sie entstand aus einer Selbsthilfemaßnahme durch wilde Landnahme und entwickelte sich zu einer starken genossenschaftlichen Organisation, die von der Stadt unterstützt wurde. Die Gemeinde stellte städtischen Baugrund zur Verfügung, auf dem die Siedlerinnen und Siedler mit finanzieller Unterstützung standardisierte Häuser selbst bauen konnten. Obwohl sich das ursprüngliche Modell nach und nach verändert und die auf Selbsttätigkeit und Selbstverwaltung basierende Organisationsform durch eine zentralistische ersetzt wurden, bestand der Siedlungsbau über viele Jahre und trug zur Verbesserung der Wohnsituation bei.

Das Siedlungswesen wird zum Betätigungsfeld der jungen Architektin. Sie kommt mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten, u. a. mit Adolf Loos und Otto Neurath, zusammen, die dazu beitragen, ihre analytischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und sie in ihrer Auffassung bestärken, dass Architektur nicht Selbstzweck, sondern Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen ist. Im März 1922 wird Margarete Schütte-Lihotzky im Baubüro des Österreichischen Verbands für Siedlung- und Kleingartenwesen als Architektin eingestellt und arbeitet dort bis 1925.

1926 wird sie von Ernst May, Stadtrat für Bauwesen und Städtebau in Frankfurt am Main, an das Hochbauamt der Stadt Frankfurt berufen. Zwei ihrer Arbeitsschwerpunkte verdienen Aufmerksamkeit: Einer ist die Verbesserung der Lebensumstände von Frauen. Nicht nur leistbare Wohnungen sind ihr ein Anliegen, sondern Wohnungen mit Einrichtungslösungen, die durch die Vereinfachung der Haushaltsführung eine Entlastung der – immer mehr berufstätigen – Frauen mit sich bringt. Sie arbeitet an Typenentwürfen für »Die Wohnung der berufstätigen Frau«, plant Schul- und Lehrküchen, entwickelt serienmäßige Kochnischen- und Spülkücheneinrichtungen und – dafür wird sie schließlich international berühmt – die »Frankfurter Küche«. Jahrzehntelang erinnert man sich an sie als Erfinderin der »Frankfurter Küche«. Eine wichtige Vertreterin des Neuen Bauens wird so auf eine Küchenplanerin herabgestuft. Selbst ohne jede Ambition für Kochen und Hauswirtschaft, galt ihr berufliches Interesse ausschließlich der Minimierung von Hausarbeit, also der Befreiung der Frauen von diesen Tätigkeiten. In späteren Jahren wird sie die selektive Wahrnehmung ihrer vielfältigen Planungs- und Bautätigkeit auf die berühmte Küche dazu veranlassen zu sagen: »Ich bin keine Küche.«

Den zweiten Schwerpunkt im Werk von Margarete Schütte-Lihotzky nimmt das Bauen im pädagogischen Kontext ein. In einer Zeit, in der sich langsam die Erkenntnis durchsetzte, dass Tagesstätten für Kinder nicht Aufbewahrungsanstalten, sondern Spiel- und Lernorte sind, erforscht sie die Bedürfnisse von Kindern und entwickelt bedürfnisgerechte Konzepte, die medizinisch-hygienische, pädagogische und künstlerisch-architektonische Überlegungen vereinen.

Ihre erste Kindereinrichtung konnte sie 1921 in Wien realisieren, ihre letzte zwischen 1961 und 1963 ebenfalls in Wien. Dazwischen liegen der Bau zahlreicher Kindertagesstätten und Schulbauten in aller Welt, Forschungsarbeiten und zahlreiche Publikationen, die sich mit dem Thema des kindgerechten Bauens auseinandersetzen. Noch bis 1968, inzwischen über 70-jährig, arbeitet sie an einem Baukastensystem für Kindertagesheime.

Da der soziale Wohnbau und innovative Wohnprojekte ab Ende der 1920er-Jahre in Frankfurt nicht mehr finanziert wurden, nahmen Ernst May, 15 Architekten und Margarete Schütte-Lihotzky eine Berufung nach Moskau an, wo ausländische Experten hoch willkommen waren. Mit dieser Gruppe kommt sie 1930 in Moskau an, wo sie sieben Jahre lang bleibt. Die Gruppe ist an der Planung und Erbauung gänzlich neuer Städte – z. B. in Magnitogorsk – beteiligt, aus dem Boden schießende Zentren der Schwerindustrie, und beschäftigt sich mit der Rationalisierung des Wohnungsbaus. In dieser Zeit unternimmt Margarete Schütte-Lihotzky mehrere Reisen innerhalb der Sowjetunion, reist nach Japan und China, wo sie Schulen und Kindereinrichtungen besucht und Vorträge hält.

1934 verließ Ernst May die Sowjetunion, nachdem eine scharfe Kritik gegen alle avantgardistischen Richtungen wie das Neue Bauen eingesetzt hatte. Nach und nach wurden ausländische Experten von der Arbeit an städtebaulichen Projekten ausgeschlossen. Ausländer-Innen waren immer mehr Repressionen ausgesetzt, wurden ausgewiesen und, so sie blieben, verhaftet. Margarete Lihotzky, die durch ihre 1927 erfolgte Heirat mit Wilhelm Schütte deutsche Staatsbürgerin geworden war, hatte die Wahl, in das nationalsozialistische Deutschland zurückzukehren. Noch bevor ihre Pässe abgelaufen waren, verlassen Margarete Schütte-Lihotzky und ihr Mann Anfang August 1937 die Sowjetunion. Nach einem Kurzaufenthalt in London, wo es keine Arbeitsmöglichkeiten gab, und einem Arbeitsjahr in Paris nimmt sie eine Berufung an die Académie des Beaux Arts in Istanbul an. Dort lernt sie dann den Architekten und Kommunisten Herbert Eichholzer kennen, der sie dazu anregt, ins faschistische Österreich zu reisen, um den dortigen Widerstand zu unterstützen.

Ein zweites Leben beginnt im Kalten Krieg

Am Samstag, dem 22. September 1945, kommt Margarete Schütte-Lihotzky nach viereinhalb Jahren Gefangenschaft und einer monatelang dauernden Heimreise mit Lastwagen und Pferdewagen, per Bahn und zu Fuß, über München und Augsburg, mit einer Unterbrechung in einer Lungenheilstätte in Hochzirl/Tirol, in ihrer Heimatstadt Wien an.

Im Frühjahr 1946 geht sie nach Sofia. Sie trifft dort ihren Mann und kann die Leitung der Abteilung für Kindereinrichtungen am Stadtbauamt übernehmen. Die beiden kehren im Jänner 1947 nach Wien zurück. Margarete Schütte-Lihotzky macht die Ziviltechnikerprüfung und arbeitet im eigenen Büro. Sie ist 50 Jahre alt. Wien wird ab jetzt ihr Lebensmittelpunkt, wenn man das von einer Frau sagen kann, die an unzähligen Kongressen teilnimmt, Studienreisen nach China4 und Kuba unternimmt und sich anlässlich von mehrmonatigen Arbeitsaufenthalten in Kuba und Ostberlin einem ihrer Arbeitsschwerpunkte, der Gestaltung von Kindereinrichtungen, widmet. Ein reges berufliches Leben als Architektin und ein aktives politisches Leben gehen weiter.

Allerdings sind nach 1945 die Bedingungen für die in der Vorkriegszeit gefragte Architektin und politische Aktivistin völlig andere.

Das offizielle Österreich hat sich die Lebenslüge vom ersten Opfer des Nationalsozialismus zugelegt. Es betreibt die Verfolgung der Täter kurze Zeit halbherzig und die großen Parteien ÖVP und SPÖ buhlen schon bald um die Gunst ehemaliger Nationalsozialisten. Diese werden 1949 zu Wahlen zugelassen und ihre gerichtliche Verfolgung wird 1957 eingestellt. Die meisten gelangen wieder in Amt und Würden, die sie mit der gleichen Einstellung ausüben wie zuvor. Erst im März 1965 regt sich erstmals Widerstand gegen diese Kontinuität, als Tausende Menschen gegen einen Hochschulprofessor demonstrieren, der seine Vorlesungen mit deutschnationalen und antisemitischen Äußerungen zu würzen pflegt. Das Begräbnis des bei der Demonstration ums Leben gekommenen Kommunisten Ernst Kirchweger wird zu einer großen antifaschistischen Manifestation.

Die Stadt Wien verzichtet auf die Erfahrungen und die fachliche Kompetenz der international bekannten Architektin. Gerade zwei Kindergärten und die Mitarbeit an zwei Wohnbauten der Gemeinde Wien sind alles, was sie an öffentlichen Aufträgen erhält. Berufsverbot hieß die Ausgrenzung alles Linken erst in den 1960er-Jahren. De facto wurde ein solches allerdings seit der Befreiung vom Faschismus praktiziert. Das hat Margarete Schütte-Lihotzky sehr getroffen, kann sie als politisch bewussten Menschen aber nicht überrascht haben. Es herrschte Kalter Krieg.

In Bewegung(en)

Ende April 1949 tagte in Paris der erste Weltfriedenskongress, ein Vorläufer des Weltfriedensrates, der später seinen Sitz u. a. auch in Wien hatte. Der Bewegung gehörten nicht nur kommunistische Intellektuelle, sondern auch viele international bekannte Persönlichkeiten an. Der erste Präsident war der Nobelpreisträger Frédéric Joliot-Curie. Im November 1949 wurde der Österreichische Friedensrat gegründet – unter Beteiligung von Margarete Schütte-Lihotzky. Für ihren jahrelangen aktiven Einsatz erhielt sie 1977 die Joliot-Curie-Medaille der Weltfriedensbewegung.

Eine Initiative erregte weltweit große Aufmerksamkeit: Die 1950 gestartete Unterschriftenkampagne zur Ächtung der Atombombe und für nukleare Abrüstung, der sogenannte »Stockholmer Appell«. Kolportiert wurden 500 Millionen Unterschriften, was vom »Westen« hämisch als Beispiel kommunistischer Zwangsrekrutierung bezeichnet wurde, da die Mehrheit der Unterschriften aus der Sowjetunion, China und anderen sozialistischen Ländern kam. Der Appell wurde aber auch in westlichen Staaten von friedensbewegten Menschen massiv unterstützt.

An der Verbreitung der Ziele der Friedensbewegung war auch die der Kommunistischen Partei nahe stehende Frauenbewegung – der Bund Demokratischer Frauen – beteiligt, deren Präsidentin Margarete Schütte-Lihotzky seit 1948 war. In dieser Funktion ist sie Mitorganisatorin der großen Abschlusskundgebung des österreichischen Friedenskongresses, der 1950 in Wien tagte, nimmt an zahlreichen Kongressen der Internationalen Demokratischen Frauenföderation – IDFF – teil, hält Vorträge und publiziert über theoretische und praktische Fragen der Architektur und deren Relevanz für die Lebensbedingungen von Frauen.

Eine weitere Aktion ist bezeichnend für den unermüdlichen Einsatz des politischen Menschen Margarete Schütte-Lihotzky. Bereits Ende der 1950er-Jahre gab es in vielen Ländern, darunter auch in Österreich, antisemitische Ausschreitungen. Zum Beispiel wurde der Film »Das Tagebuch der Anne Frank«, der 1959 ins Kino kam, wegen Protesten nach kurzer Zeit von den ängstlichen Kinobesitzern abgesetzt.

Das rief die streitbare Margarete Schütte-Lihotzky auf den Plan. Sie versammelt eine Gruppe von Frauen, die am 14. März 1960 den Film in der Urania zeigen. Wegen des großen Erfolges beschließt das erste kleine Initiativkomitee dieser demonstrativen Filmvorführung weitere folgen zu lassen. So geschehen bis ins Jahr 1994 durch ein Komitee, das auf 50 Frauen angewachsen war, unter ihnen die Präsidentin des Bundes österreichischer Frauenvereine, Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Wissenschaftlerinnen. In diesen 34 Jahren haben 25.000 bis 30.000 Jugendliche kritische Filme gesehen, die sich gegen Krieg und Faschismus, gegen die Ausbeutung der »Dritten Welt« oder die Zerstörung der Umwelt richteten, resümiert die 97-jährige Margarete Schütte-Lihotzky in der Einführung zum letzten Film, dem Spielfilm von Susanne Zanke über die Gefangenschaft der Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky: »Eine Minute Dunkel macht uns nicht blind«.

Ab Ende der 1970er-Jahre, in einer Zeit, in der sie nicht mehr bauen kann, setzen die Ehrungen für ihre Tätigkeit als Architektin ein. Es regnet Preise und Ehren aller Art – Ehrenmitgliedschaften, Ehrendoktorate, Ehrenzeichen, Ehrenringe, eine Margarete Schütte-Lihotzky-Stiftung wird gegründet. Die Vielfalt des Lebenswerks der nunmehr 96-jährigen Architektin wird 1993 in einer großen Ausstellung im Wiener Museum für angewandte Kunst gewürdigt. Im Katalog zu dieser Gesamtausstellung: »Margarete Schütte-Lihotzky: Soziale Architektur – Zeitzeugin eines Jahrhunderts«, sind alle ihre Entwürfe und Planungen, ihre theoretischen Ausführungen und die Bauten in Wien, Frankfurt, Frankreich, Moskau, Magnitogorsk, Istanbul und Sofia dokumentiert. Zu ihrem 100. Geburtstag erhält sie das Große Ehrenzeichen mit dem Stern für Verdienste um die Republik Österreich. Sie hat den Medaillenregen immer ironisch kommentiert.

Den politischen Menschen wiederentdecken

Wovon handelt dieses Buch? Von einer Frau, die ihre Überzeugung, »daß man sich in so harten Zeiten nicht einem angenehmen, risikolosen Leben hingeben darf, sondern im Widerstand gegen die Nazis auch etwas zu leisten hat« (S. 31), in die Tat umgesetzt hat.

Die vorliegende Neuausgabe der »Erinnerungen aus dem Widerstand«, die 1994 erstmals in Österreich erschienen ist5, ist deshalb so wichtig, weil zwar die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky mittlerweile bekannt ist, zu wenig aber der politische Mensch.6 Der im Oktober 2013 gegründete Margarete Schütte-Lihotzky-Club hat sich u. a. auch die Präsentation der Kommunistin, Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin zur Aufgabe gestellt. Die Protagonistinnen »wollen an ihr Engagement und ihre Tätigkeit für Frauen anknüpfen, ihr Leben und Werk sichtbar machen, im aktuellen Diskurs halten und eine Plattform für zeitgemäße Auseinandersetzung bieten. Der Margarete Schütte-Lihotzky-Raum soll wesentliche Stationen ihres Lebens und Werks zeigen und einen Rahmen für das Zusammenkommen von Frauen bilden, Information, Ausstellung und Gedankenaustausch ermöglichen.« Eine systematische Dokumentation ihrer politischen Aktivitäten wird also weitergehen.

Elisabeth Holzinger

Wien, im Jänner 2014

1 Die Seitenangaben beziehen sich auf den folgenden Text von Margarete Schütte-Lihotzky.

2 Im Anhang findet sich eine Namensliste der österreichischen Frauen und Männer, die im österreichischen Widerstand gearbeitet haben und denen sie während ihrer Tätigkeit und der Haftzeit begegnet ist. Nach den Aufzeichnungen von Margarete Schütte-Lihotzky hat Irene Nierhaus diese Liste zusammengestellt.

3 An einer Schnur wird ein kleiner Zettel befestigt und durch das Gitter zum Gitter der Nebenzelle geworfen.

4 Unter dem Titel »Millionenstädte Chinas – Bilder- und Reisetagebuch einer Architektin« sind ihre 1958 verfassten Aufzeichnungen im Jahr 2007 erschienen.

5 Die verwendeten Zitate sind daher in alter Rechtschreibung gesetzt, in der Margarete Schütte-Lihotzky ihre Erinnerungen niedergeschrieben hat.

6 Neben dem Spielfilm von Susanne Zanke gibt es noch einen Dokumentarfilm von Uwe Bolius aus dem Jahr 1999: »Margarete Schütte-Lihotzky – Erinnerungen aus dem Widerstand«.

Einleitende Worte der Autorin

Hier meine Erlebnisse 1938–1945 und deren kurze Vorgeschichte. Warum, wozu, für wen habe ich sie schriftlich festgehalten? Seit langem bin ich von verschiedenen Seiten dazu aufgefordert worden, aber auch ich selbst fühle mich zu dieser Schilderung verpflichtet, besonders über die Widerstandsarbeit, weil von jenen, mit denen ich damals zusammenarbeitete, kein einziger diese Zeit überlebt hat.

Als ich diese Schrift verfaßte, hatte ich drei Lesergruppen vor Augen:

Erstens die Historiker, alle jene, die sich mit diesen bedeutungsvollen Jahren wissenschaftlich beschäftigen.

Zum zweiten die Jungen, die Nachgeborenen, die Einblick in das Leben vor ihrer Geburt gewinnen wollen, Einblick auch in die politische und menschliche Haltung von Österreichern und Österreicherinnen meiner Generation. Die Jungen, die sich, so wie wir, für das Schicksal der Nachkommenden verantwortlich fühlen. Die Jungen, die für ihre Haltung und Tätigkeit aus Erlebnissen wie den meinen praktische Schlüsse ziehen könnten. Mögen sie nie einem erbitterten Feind unter so grausamen Umständen gegenüberstehen müssen, wie das bei uns der Fall war. Trotzdem: Wieviele junge Menschen anderer Länder erleben heute Ähnliches. Wir leben in unruhigen Zeiten und wissen nicht, was unsere Jugend, auch in Europa, noch durchzustehen haben wird. Verhöre, Polizeimethoden und Prozesse sind nur deshalb so eingehend geschildert, damit mancher Leser, in ähnlicher Lage, für sein Verhalten daraus lernen kann.

Und zum dritten: Schriftsteller und Filmschaffende. Ich denke, daß nicht nur das große Geschehen, sondern auch die Geschichten über Einzelschicksale, entsprechend künstlerisch gestaltet, Bewegendes aussagen könnten. Ich selbst fühle mich nicht als Schriftstellerin, doch hoffe ich, daß jene, die zu solcher oder ähnlicher Tätigkeit berufen sind, in diesen Aufzeichnungen Themen für ihre Arbeit finden können.

Während der Niederschrift dieser Erinnerungen habe ich mich oft gefragt: Ist es möglich, der Wissenschaft nacktes Tatsachenmaterial zu liefern, gleichzeitig den nicht beruflich interessierten Leser zu fesseln und drittens auch noch Anregung für schriftstellerische und filmische Werke zu liefern? Durch dieses Dilemma entstanden hier zwangsweise einige Wiederholungen, für die ich mich beim Leser entschuldige. Vielleicht wäre es notwendig gewesen, zwei oder drei verschiedene Schriften zu verfassen. Aber ich bin über 90 Jahre alt und habe noch andere, berufliche Arbeiten vor mir – so bleibt mir dafür keine Zeit mehr. In diesem Bewußtsein übergebe ich meine Erinnerungen 1938–1945 der Öffentlichkeit mit der Bitte: Möge sich jeder, der sie liest, das heraussuchen, was seiner Arbeit dienlich sein kann, und an andere weitergeben. Damit wäre der Zweck dieser Schrift voll erfüllt.

Wien, 1994

Von Istanbul nach Wien

Wenn du nicht brennst

wenn ich nicht brenne

wenn wir nicht brennen

Wer wird dann Licht in

die Dunkelheit bringen?

Nazim Hikmet

Türkischer Dichter

Es begann in Moskau 1937. In Deutschland war Hitler bereits vier Jahre an der Macht. Mit einer Gruppe von Architekten war ich 1930 als Spezialistin für Kinderanstalten zum Aufbau der neuen Städte in die Sowjetunion berufen worden. Mein Mann arbeitete in derselben Architektengruppe in Moskau. Im August 1936 liefen unsere deutschen Pässe ab. Die Nazi-Botschaft in Moskau verlängerte damals Pässe nur für ein halbes Jahr und nur mit Gültigkeit für Deutschland und die Sowjetunion. Schon herrschte Vorkriegsstimmung. Hätten wir mit solchen Pässen die Sowjetunion verlassen, hätten wir damals nur nach Hitler-Deutschland zurückkehren können. Das aber kam für uns nicht in Frage. Wir beschlossen daher, die Sowjetunion zu verlassen, ehe die Pässe abliefen. Wo sollten wir die Pässe erneuern lassen? Wo konnten wir gleichzeitig Arbeit finden? Und wo konnten wir im Ausland Anschluß gewinnen an die Widerstandsbewegung?

Die letzte Frage war die wichtigste. Ich ging zu Ernst Fischer, der damals Vertreter der Kommunistischen Partei Österreichs in der Komintern war. Ich kannte ihn damals noch nicht. Wir hatten eine lange Unterredung. Ich fühlte mich bereits zu den Kommunisten hingezogen, aber weder mein Mann noch ich gehörten einer kommunistischen Partei an. Die Aufnahme in die KPdSU war damals für Ausländer und auch für Sowjetbürger gesperrt. Aber selbst wenn ein Beitritt möglich gewesen wäre, hätte ich es als übelsten Opportunismus betrachtet, die Mitgliedschaft zu beantragen – ein Schritt übrigens, den uns niemand nahelegte. Wir waren als ausländische Spezialisten unseren sowjetischen Kollegen, ob sie nun Parteimitglied waren oder nicht, völlig gleichgestellt; wir waren wie sie sogar wahlberechtigt, weil wir dem Land unsere Arbeitskraft zur Verfügung stellten. Ernst Fischer gab mir einige Ratschläge, mit wem wir in London oder in Paris Verbindung aufnehmen könnten.

Wir entschieden uns vorerst für England und reisten im August 1937, zusammen mit unseren Freunden, der Familie des Schweizer Architekten Hans Schmidt, der auch mit unserer Gruppe 1930 in die Sowjetunion gekommen war, aus Moskau ab.

Abschied am Bahnhof. Alle sowjetischen und ausländischen Freunde waren da; zum letztenmal umarmten wir uns. Die Fahrt ging nach Odessa, ein sowjetisches Schiff sollte uns von dort über Istanbul nach Athen bringen. Es war kein leichter Entschluß gewesen, dieses Land zu verlassen. Lange standen wir an der Reling, bis die letzten Lichter von Odessa langsam dem Blick entschwanden. Ein neues Leben lag vor uns.

Einen Tag Aufenthalt in Istanbul mit Besuch bei unseren Freunden Bruno und Erika Taut. Bruno Taut war einer der bekanntesten deutschen Architekten der zwanziger Jahre, bahnbrechend vor allem für den Wohnungsbau der Zwischenkriegszeit. Seit 1937 war Bruno Taut Professor an der »Académie des Beaux Arts« in Istanbul und leitete neben seiner Professur ein Büro für die Planung von Erziehungsbauten für das Unterrichtsministerium. Das war auch unser Spezialgebiet. Sofort schlug er uns vor, an der Akademie zu arbeiten. Im Hafen wartete das Schiff. Wir beschlossen, an Deck zurückzukehren. Westeuropa war unser Ziel.

Einige unvergeßlich leuchtende Tage im glühendheißen Athen, dann eine herrliche Küstenfahrt nach Triest und schließlich Paris. Wider Erwarten erhielten wir dort neue deutsche Pässe, o Wunder, Pässe für fünf Jahre. Es war hoffnungslos, sich in Paris eine berufliche Existenz aufbauen zu wollen. Wir hatten eine Unterredung mit dem deutschen Kommunisten Hermann Duneker. Sobald wir unser neues Domizil aufgeschlagen hätten, sollten wir ihm unsere Adresse mitteilen. Er würde dann für eine Möglichkeit sorgen, damit wir im Widerstand gegen die Nazis etwas tun konnten. Von Bruno Taut erhielten wir einen Brief: »Warum lassen Sie nichts von sich hören? Ich habe bereits im Ministerium in Ankara vorgesprochen. Man will Sie beide für die Arbeit an der Akademie in Istanbul haben.« Trotz dieses Angebots fuhren wir weiter nach London, um uns dort nach Arbeit umzusehen.