cover
cover

 

cover

 

Für alle niederbayerischen Freunde, die mir bei der Arbeit entscheidend halfen, ganz besonders Angela, Suzanne, Marlis, Werner, Sepp, Georg und nochmals Sepp.

Und natürlich für meine Hamburger Familie. Sie hat die Rückkehr zu meinen Wurzeln klaglos hingenommen, wenn auch linguistisch nicht immer ganz verstanden.

Niederbayern –
Bayern ohne Make-up

Ich bin in Niederbayern aufgewachsen. Bin im Sommer barfuß in die Plattlinger Volksschule gegangen, habe in der Maiandacht »Meerstern, ich dich grü-ü-ü-ü-ße« gesungen und nach den Mädchen auf der Empore gegenüber geschielt, diese Mädchen später beim Baden an der Isar befummelt und mir in zwei Volksfestraufereien eine blutige Nase geholt (was besonders schmerzhaft war, weil die anderen angefangen hatten).

Ich bin stets Niederbayer geblieben. Auch wenn ich schon lange nicht mehr dort lebe. Doch ich komme immer wieder zurück. Ich mag meine Heimat. Niederbayern ist Bayern ohne Make-up. Ein Land, in dem die Menschen sie selber sind und sich selbst genügen. Sie verzichten auf die Lifestyle-Schminke, die anderswo häufig mehr das Leben ausmacht, als das Leben an und für sich. In Niederbayern bläst der Wind rauher, ist die Sprache gröber und schmeckt das Schweinerne mit Semmelknödeln und Sauerkraut herzhafter als sonstwo im Freistaat.

Kleiner Griff in die Geschichtskiste: Wo stellten schon die Römer, die bekanntlich zu leben wußten, ihre Villen mit Unterflurheizung und Thermalbad nördlich der Alpen hin? Etwa ins Erdinger Moos oder an den Fuß des Wendelsteins? Nein, sie ließen sich an der Donau, im heutigen Gäuboden, nieder und spähten bei Wein, Weib und Gesang aus ihren Kastellen zum anderen Ufer. Dort rotteten sich im dunklen Wald die Horden zottelhaariger Menschen im Bärenfell zusammen, die bald als Bajuwaren ausschwärmen und das römische Nachtigallenzungen-Gratin durch den Leberkäs ersetzen sollten.

Will sagen, in Niederbayern stand die Wiege der bayerischen Zivilisation, und von hier aus richteten auch die bairischen Herzöge ihre Herrschaft auf. – Kurzer orthographischer Einschub: »bairisch« oder »Baiern« mit einem i steht für den altbairischen Volksstamm, »bayerisch« und »Bayern« mit Ypsilon für den Freistaat und die heutige Sicht der Dinge.

Der erste Wittelsbacher von Format war Ludwig der Kelheimer, ein Einheirater und Städtegründer besonderer Güte, dessen Karriere 1231 auf der Donaubrücke seiner Heimatstadt von einem Meuchelmörder jäh gestoppt wurde. Aus der Mitgift seiner Frau stammt auch das optische Unterpfand des Bayerntums: die weißblaue Raute. Sie zierte zuvor das Wappen der Grafen von Bogen, ebenfalls Niederbayern, deren letzter Sproß die vom Kelheimer gefreite Ludmilla war.

Unglücklicherweise waren wir Niederbayern für Büttenredner und andere Berufs-Lachsäcke lange die Deppen der Nation, bis die Ostfriesen uns ablösten. Niederbayern stand für Hinterwald und tiefste Provinz, für Brett vor dem Kopf und Gehirn in Walnußgröße.

Das haben wir ein paar Phänomenen zu verdanken. Dem Wolferstetter Keller zu Vilshofen etwa. Dort polterte jeden Aschermittwoch Franz Josef Strauß selig vor vollem Haus und vollen Maßkrügen gegen die Russen und andere Rote los, in einer bayerisch-barocken Diktion, die Intelligenzquotienten und Hochdeutschkenntnisse bei keinem der Anwesenden überforderte. Und dann verschwand er zum Klang des Bayerischen Defiliermarsches durch Tabakschwaden und Begeisterungsstürme wieder hinaus in den politischen Alltag. Für den Rest der Republik war Vilshofen eine Art Komödienstadel.

(Der Wolferstetter Keller als solcher kann nichts dafür. Das ist eigentlich eine ganz handfeste Brauerei-Wirtschaft, in der später bei geringerem Publikumsandrang auch die SPD die Fastenzeit einläuten durfte.)

Außerdem belächelte man jenseits der weißblauen Grenzen, daß in Niederbayern die CSU regelmäßig bei jeder Wahl ein Ergebnis einfuhr, das die besten Resultate der Schwesterpartei CDU im tiefschwarzen Cloppenburg/Land noch weit übertraf und den christlich-sozialen Abgeordneten, der in seinem Stimmkreis nicht die Sechzig-Prozent-Hürde übersprang, in eine Sinnkrise stürzte.

Und wenn man dann auch noch diesen Dialekt mit seinen nasalen, dumpfen Vokalen hörte und höchstens halb verstand, dann stand für die amüsierten »Kenner« meiner Heimat fest: Diese Seppeln sind einfach folkloristische Witzfiguren!

Das ist natürlich ein deppertes Vorurteil vom Kaliber der »tiefen slawischen Sääle« oder der »italienischen Feigheit«. Niederbayern sind konservativ, fromm bis frömmlerisch und manchmal von aufreizender Beharrlichkeit. Aber eben nicht nur. Und bei weitem nicht alle.

Wo könnte man im Klischee vom Hinterwäldler Menschen wie den Abensberger Bierbrauer Leo Salleck unterbringen, der alles über Leonardo da Vinci weiß und im Kellergewölbe neben Weißbier und Brezen für seine Gäste eine naturgetreue Kopie des »Abendmahls« in Originalgröße bereithält? Wo die Kabarettistenschar von Bruno Jonas, Siggi Zimmerschied und Ottfried Fischer bis zum Niederbayern türkischer Herkunft Django Asül? Oder Anna Rosmus mit ihrer couragierten Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit ihrer Heimatstadt, die der Passauerin den Sophie-Scholl-Preis einbrachte? Meinen Plattlinger Jugendfreund Alexeij Sagerer, der damals noch Rudi hieß und seit Jahrzehnten eine feste Größe des Münchner Theaterbetriebs ist? Gar nicht zu reden von Roman Herzog, dem Exbundespräsidenten aus Landshut.

Nur in billigen Witzen und teuren Tourismusbroschüren ist Niederbayern stromlinienförmig. Im wahren Leben ist meine Heimat so widersprüchlich und unterschiedlich wie alle Gegenden dieser Welt, wenn man genauer hinschaut. Niederbayern kann dicht nebeneinander urwüchsig, verschandelt, komisch, hinterfotzig (Erklärung folgt noch!), modern, traditionsbewußt und vernagelt sein.

Ich habe mich bemüht, es so zu beschreiben. Eigene Kapitel über bewährte Bavarica wie Bier, CSU oder Preiß’n wird der Leser vergeblich suchen. Das sind Themen, die ganz Bayern angehen und nicht nur uns. Aber natürlich sind sie immer wieder die treibende Hefe in oder zwischen den Zeilen dieses Buches. Bei allen meinen Landsleuten, die sich von mir ungerecht behandelt fühlen sollten, entschuldige ich mich im vorhinein. Es irrt der Mensch, solang er strebt. Oder ein bisserl weniger geschwollen: »Was woaß denn i scho!«

Fahnenweihe

Nein, das hätte keiner geglaubt, daß es der Stieglbauer Heidi so aus der Feder fließen täte, auch wenn sie auf der Kreissparkasse arbeitet:

»Heut ist für unsere Wehr ein großer Tag, vergessen ist die ganze Müh und Plag. Vom Herrgott gesegnet, vom Priester geweiht, soll dieses Band euch begleiten, für die Jahre und die Zeit.«

Da mußte die Mama vor Rührung schnell ein paar Tränen aus dem Augenwinkel wischen, bevor sie hinuntergelaufen wären in den imposanten Ausschnitt ihres Festtagsdirndls. Mei Tochta, dachte sie zärtlich bewundernd. Der Herr Pfarrer nickte wohlgefällig ob der Erwähnung des unbedingt nötigen himmlischen Beistands für die Fahne der Freiwilligen Feuerwehr von Oberhinterbach und für diese selbst.

Dann stimmte die Blaskapelle »D’Hinkofer Wuidschützn« einen frohen, wenn auch, den Umständen angemessen, getragenen Marsch an. Das Band der Festdamen, überreicht von der Stieglbauer Heidi, wurde den übrigen bunten Bändern beigefügt, die das neue Fahnentuch der Feuerwehr für die Jahre und die Zeit begleiten sollten.

Vom Himmel, der so wolkenlos war wie auf einem CSU-Wahlplakat, strahlte die Augustsonne nicht weniger als das Gesicht des Schirmherren, der als direkt gewählter Bundestagsabgeordneter in Niederbayern unweigerlich der Regierungspartei angehörte. Eine geglückte Fahnenweihe, dachte Josef Wurmbauer und rechnete sich irgendwie das schöne Wetter als Verdienst an: hatte er doch seine Zusage zur Schirmherrschaft unter einem weißblau gerauteten Regenschirm gegeben mit der funkelnden Bemerkung: »Möge er nur gegen Strahlen, nicht gegen Tropfen schützen müssen!«

Wie fast alle Teilnehmer an der Fahnenweihe der Freiwilligen Feuerwehr Oberhinterbach anläßlich ihres 125jährigen Bestehens fühlte er trotz des erhebenden Festgottesdienstes in der frisch renovierten St. Leonhardskirche eine gewisse Mattigkeit. Das machte ihn leicht schuldbewußt. Da erbat der Herr Pfarrer nach altem christlichen Brauch den Segen von oben für das Oberhinterbacher Brandkorps, und ihm brummte leise der Schädel wegen der drei Maß Bier, die er gestern abend im Festzelt beim gemütlichen Zusammensein getrunken hatte, die strafenden Blicke seiner Gattin nicht achtend angesichts der hübschen Dirndlausschnitte diverser Festjungfrauen an seinem Tisch und des Popularitätszuwachses, den ein so volksnaher Auftritt sicherlich bedeuten würde.

Immerhin hatte er schon auch seinen Teil dazu beigetragen, dem Festakt die angebrachte Weihe über das Vorspiel zu einem weiteren gemütlichen Zusammenhocken im Bierzelt hinaus zu verleihen, indem er das Engagement der freiwilligen Feuerwehrmänner lobte »gerade in einer Zeit von um sich greifendem Individualismus und Egoismus«. Da hatten alle beifällig genickt, selbst die, die wo ihn nicht verstanden.

In diese Kerbe schlug dann auch der Herr Pfarrer, natürlich etwas mehr ins Christliche gewendet. Hochwürden erinnerte die Männer an der Spritze daran, daß ihr Kampf gegen die irdische Feuersbrunst im Sinn des Gebots der Nächstenliebe und des traditionellen Feuerwehrmottos: »Gott zur Ehr, den Menschen zur Wehr« in gewisser Weise auch die Flammen der Hölle eindämme. Zu Recht ziere die neue Fahne daher auch ein gesticktes Bild des hl. Florian, der aus einem Eimer Wasser über ein lichterloh brennendes Haus gieße, was sinnbildhaft zeige, wie Dies- und Jenseitiges Hand in Hand gehe.

Niemand in Oberhinterbach konnte sich der Bedeutung und Feierlichkeit dieser großen Stunde im Leben eines kleinen Dorfs entziehen. Selbst ein so Hartgesottener wie der Altbürgermeister Karl Ertl schlug bei seiner Ansprache geradezu lyrische Töne an. Er sprach vom »Wohl und Wehe« der Gemeinde, um die sich »gar manche Stunde« die Feuerwehr tätig sorge, »wo sich derweilen andere auf die Hausbank setzen oder vom Wirtshaus aus zuschauen«.

Nicht nur er fand die richtigen Worte zur richtigen Zeit, nicht nur der Pfarrer, der Abgeordnete und die Stieglbauer Heidi hatten das getan. Nein, jeder, der mit der neuen Fahne auch nur irgendwie in Berührung war, schien sie poetisch hochzuhalten, auch wenn er sonst Saatgut verkaufte oder nach Dingolfing zur Arbeit bei BMW pendelte.

Stolz flatterte sie im Wind der vier Zeilen, mit denen dem Patenverein aus dem Nachbarort Moosschwaige gedankt wurde: »Wenn auch des Festes frohe Klänge verrauschen bald in des Alltags Wind, so erinn’re Euch stets unser Band an der Fahne, daß wir in Freundschaft verbunden sind.« Und sie wurde in Trauer gesenkt zum Gedenken an die verstorbenen Wehrkameraden: »Was bleibt, ist die Erinnerung an Stunden voller Licht – seid ihr auch längst gegangen, vergessen seid ihr nicht.« Wobei etwas im dunklen blieb: ob die Stunden voller Licht für die Einsätze im Feuerschein brennender Scheunen stand oder metaphorisch für das helle Leuchten der Freundschaft an vielen langen Kameradschaftsabenden.

Wer das Ritual der Fahnenweihe kennt, weiß, daß der Festakt selbst nur die Spitze des Eisbergs ist (wenn dieses Bild bei einer so wenig eisigen Sache wie der Feuerwehr erlaubt ist). Zuvor muß so viel passieren. Als erstes wird eine Struktur benötigt, und dazu bedarf es einer Galionsfigur. Sie heißt Fahnenmutter oder Festfrau und ist meist die Gemahlin des Bürgermeisters oder des Vereinspräsidenten. In Oberhinterbach war sie die Gattin des Feuerwehrkommandanten. Kommandant und Präsident sind bei einer Freiwilligen Feuerwehr nicht identisch, sie stehen zueinander wie Bundespräsident und Bundeskanzler. Der eine hält Festreden und verleiht Orden, der andere bestimmt die Richtlinien der Löschpolitik, wenn es brennt.

Da ihr Mann sowieso auch Vorsitzender des Fahnenweihe-Festausschusses war, bot sich das Amt an. Einerseits brachte die Schauer Helga genügend Reimtalent ein, wie bei der Fahnenweihe ihr Zweizeiler unter Beweis stellte: »So nehmt nun hin aus meiner Hand, von mir dieses Festfrauband.« Andererseits konnte sie mit ihrem Franze bei Tisch und Bett etwa rasch klären, welche der Jungfrauen von Oberhinterbach für die flankierende Aufgabe einer Festdame geeignet wäre und wieviel die Brotzeit höchstens kosten dürfe, mit der die Festfrau traditionell alle Beteiligten zu bewirten hat.

Als Festfrau drängt man sich übrigens nicht auf. Man läßt sich bitten. Und vorher durchblicken, daß man – natürlich nur aus Sorge ums Gemeinwohl – zur Verfügung stehe, falls es gar nicht anders ginge.

Also traten an einem trüben Novembertag die Spitzen der Freiwilligen Feuerwehr, unterstützt vom Bürgermeister, den Bittgang zu den Schauers an, brachten ihr Anliegen unerbittlich in gereimter Form, begleitet von einem Freßkorb und Blasmusik, vor, kriegten überraschend eine positive Antwort und hätten den ganzen Abend Stunden voller Licht im Kameradenkreis bei Schauers verbracht, wäre nicht eine zweite, größere Aufgabe zu erledigen gewesen: einen Schirmherrn zu verpflichten.

Dies war besagter Josef Wurmbauer. Als Bundestagsabgeordneter mit der Ambition, von seiner Partei wieder aufgestellt zu werden, konnte er sich einer Bitte aus seinen Herzlanden nach seiner schirmenden Hand nicht verschließen. Noch dazu sie von der eben gekürten Festdame Helga in der Form eines schelmischen Lächelns und dann, nach dem unvermeidlichen Blaskapellen-Intermezzo von Helgas Gemahl in der ebenso unvermeidlichen Gedichtform geäußert wurde. Wurmbauer sagte freudig und kräftig »ja«, hatte den weißblauen Schirm und sein schon zitiertes Bonmot parat und durfte dann die erfreuten Gäste bewirten, was für ihn nach mehreren Stunden mit der Einnahme von zwei Aspirintabletten endete. Das brachte den zukünftigen Schirmherrn einigermaßen über den nächsten Tag.

Festfrau und Schirmherr, das sollte wohl genügen für den würdigen Rahmen einer Fahnenweihe. Weit gefehlt, lieber Leser, der Du das nur annehmen kannst, wenn Du einer protestantisch-nüchternen Welt entstammst. Keine Fahne in Niederbayern schafft es zum kirchlichen Segen, falls nicht ein Nachbarverein Pate steht, dessen einzig erkennbare Rolle im Stiften eines Ehrenbandes besteht. Es wird nicht mehr sonderlich überraschen, daß sich auch die Anwerbung des Patenvereins in rituellen Bahnen bewegt, vor Launigkeit strotzt und mit Stunden voller Licht unter Gleichgesinnten ausklingt.

Nun war es schon Frühling, und zur Patenbitte fuhr die gesamte Freiwillige Feuerwehr. Angeführt von Festfrau, Festleiter, Bürgermeister, Blasmusik und als Neuzugang Schirmherr Wurmbauer. Man war sich sicher, daß der Nachbarverein Moosschwaige sich der Bitte – natürlich wieder gereimt, diesmal aber in Mundart – nicht entziehen würde. Schließlich hatte man zwanzig Jahre zuvor bei den Moosschwaigern Pate gestanden bis zum Umfallen, und jetzt waren eben die anderen dran.

Sie zierten sich, so will es die Tradition. Die Oberhinterbacher mußten ihr Anliegen kniend vortragen. »Scheitlknian« sagt der Niederbayer zu dieser demütigen Haltung, da sie eigentlich mit den Knien auf kantigen Holzscheiten stattfindet. In sinniger Abwandlung der Methode verwendeten die Moosschwaiger jedoch einen Feuerwehrschlauch als Unterlage für die Knie ihrer Gäste.

Die Nachbarwehr machte ihr Mitwirken vom Bestehen einiger Aufgaben abhängig. Der Herr Abgeordnete und der Feuerwehrpräsident mußten zusammen einen Baumstamm zersägen, um ihre Harmonie zu testen. Sie mußten auf einem Fahrrad fahren, bei dem der Lenker dort war, wo sonst der Sattel ist, und umgekehrt. Das hatte was mit der richtigen Richtung zu tun, und der Wurmbauer bemerkte, kurz bevor er auf die Nase fiel, daß er keinesfalls nach links abdriften werde. Beifall.

Prüfung bestanden. Patenverein gesichert. Wurmbauer durfte ein Faß Bier anzapfen und tat auch dies zur allgemeinen Zufriedenheit. Der Moosschwaiger Präsident gab den leicht taumelnden Gästen auf den Heimweg mit, wie sehr er sich schon freue, wenn es im August bei ihnen in Oberhinterbach heiße »O’zapft is!«. Auf ein diskretes Räuspern seiner Gattin hin schob er eilig nach: »Und natürlich auf die Weihe eurer Fahne.«

Ja, das O’zapfn, das bringt’s halt, dachte sich Wurmbauer, als er nun an diesem wunderschönen Augusttag mit seinem leichten Kater zwischen all den Festdamen auf dem Kirchplatz stand und auf den Auszug zum Festplatz wartete. Auch gestern hatte er diese Übung, die im Freistaat politische Karrieren ruinieren kann, wieder bravourös hingekriegt. Keine Gefahr also für seine erneute Nominierung. Leutselig blinzelte er den Ehrendamen in ihren adretten Dirndln zu, der einheitlichen Tracht zu festlichem Anlaß für alle Oberhinterbacher Mädchen mit Feuerwehrbezug.

Morgen würden sie wieder Jeans und Tank-Tops und hochhackige Schuhe tragen. Heute aber waren sie in Wohlanständigkeit vereint hinter der Fahne mit dem heiligen Florian. Niederbayerinnen, wie sie sich die Staatsregierung, der Bischof von Passau und die Weißbierwerbung vorstellen. Nicht er selbst, er zählte nach allgemeiner Einschätzung schließlich zum liberalen Flügel seiner Partei. Trotzdem fand er schön zu sehen, daß die Welt hier im Gäu wenigstens bei Fahnenweihen noch in ihren Fugen war: die Festdame Hüglsburger Marianne hatte zur Feier des Tages ihr Piercing aus der Unterlippe genommen.

Nachbemerkung: Personen und Orte sind erfunden. Frei. Oder fast frei. Oder zum Teil. Ähnliches gilt für Zitate, doch da für die wenigsten.

Raufen

»Auf dem Festplatz rührte sich am Wochenende einiges«, titelte das »Straubinger Tagblatt« auf seiner Lokalseite an einem Volksfestmontag. Was rührte sich denn da? Oder Schriftdeutsch: Was war da los in Straubing? Feuerwerk? Trachtenumzug? Auftritt von Schlagersternchen Nicki aus Plattling? Besucherrekord im Bierzelt beim zweitgrößten Volksfest Bayerns?

Das wäre preußisch-moderat gedacht. Wenn der Niederbayer hingegen sagt: »Da rührt sich was!«, dann meint er deutlich handfestere Bewegung. Und deswegen waren die Leser des Lokalblatts auch sicher nicht überrascht oder sonderlich bestürzt, als sie den Rest der Schlagzeile sahen: »Jede Menge Schlägereien und Betrunkene – mehrere Verletzte«.

Ein Auswärtiger wird schwer verstehen, wie Trunkenheit und Prügel bis hin zur Krankenhausreife unter »da hat sich einiges gerührt« geführt werden können. Der Einheimische hingegen weiß seit frühester Jugend und oft aus eigener schmerzlicher Erfahrung, daß schon immer zu einem zünftigen Volksfest, ob weltlich oder religiös, die eine oder andere brachiale Belustigung gehört. Bereits 1806 schrieb der »Churpfalz-bairische Landesdirectionsrath« Joseph von Hazzi aus Abensberg über seine Heimatgemeinde: »Es gibt hier viele Kirchen, die ebenso viele Kirchweihfeste und Märkte nach sich ziehen, wobei gewöhnlich pfarrgemeindeweis gerauft und nachher ebenso hitzig gezecht wird.«

Die religiöse Motivation für eine zünftige Schlägerei hat sich im Lauf der Zeit verloren, wir leben in einer säkularen Welt. Die Reihenfolge: erst raufen, dann saufen, ist heute ebenfalls kein Muß mehr, in der Abfolge herrscht eher Toleranz. Das Grundsätzliche aber hat noch immer Bestand. Zum einen: Ein Volksfest ohne Bier ist kein Volksfest, und die akzeptierte Maßeinheit fürs Trinken auf der Wies’n ist und bleibt der Liter, die berühmte Maß – deswegen heißt sie auch so. Weil es sich bei der Maß eigentlich nur um eine Eichgröße handelt, ist impliziert, daß der Maßkrug mehrmals gefüllt werden kann. Zwei Liter pro Bierzeltbesuch sind guter Durchschnitt.

Zweitens: Auf einem niederbayerischen Bierfest ist es ab, sagen wir mal, 21 Uhr ratsam, Zeitgenossen aus dem Weg zu gehen, die mit leicht glasigem, doch stechendem Blick Festplatz und Brauereizelte heimsuchen und nur noch das eine wollen: Ärger. Sie schnipsen dann Zigarettenkippen in anderer Leute Maßkrug. Sie trinken unaufgefordert deren Bier aus. Oder sie nehmen einfach Anstoß. Weil jemand sie länger als drei Sekunden ansieht. Oder mit einem Mädchen knutscht, das ihnen auch gefallen würde.

Die klassische herausfordernde Eröffnungsfrage ist dann: »Was schaust denn so bläd?« Wenn nun der andere nicht demütig die Augen niederschlägt und so tut, als wäre nichts, sondern sein Haupt hebt oder Widerworte gibt, kommt drohend der nächste Zug: »Paßt dir was net?« Jetzt werden die Weichen gestellt. Noch kann der Angesprochene vor der Provokation einknicken und sich mit einer gemurmelten Entschuldigung verdrücken, etwa: »Is ja scho guat, i geh ja scho.«

Tut er sich diese Selbsterniedrigung nicht an, antwortet vielmehr mit einem »Leck mich doch du am Arsch, du bläda Hund!«, dann ist der Zug in Richtung Schlägerei endgültig abgefahren. »Geh ma ausse?«, Gehen wir hinaus? ist der Standardsatz, nachdem es kein Zurück gibt. »Hinausgehen« ist die Umschreibung für ein Faustduell hinter dem Bierzelt (außer Sichtweite der Ordner, die sich jeder Festwirt heute leistet).

Es ist tröstlich zu wissen, daß bei diesen Prügeleien nicht immer der Provokateur die Oberhand behält. Oft ist er einfach zu blau, um noch so richtig zuschlagen zu können. Oder sein vermeintliches Opfer arbeitet im Straßenbau. Früher war eine ungeschriebene Regel, daß nur Mann gegen Mann stand. Der jeweilige Freundeskreis feuerte die beiden Kampfhähne lediglich an. Falls man dem Spezi doch beisprang, mußten die beiden Seiten annährend gleich stark sein. Das war fair, führte dann aber zur Massenschlägerei.