Die Mystiker von Mülenburg

Obwohl die Dinge nicht so sind, wie sie zu sein scheinen – und wir werden unablässig daran erinnert, dass dem so ist –, muss trotzdem eingestanden werden, dass ausreichend viele von uns diese Wahrheit ignorieren und so die Welt vor dem Zusammenbruch bewahren. Dazu ist das Verhältnis entscheidend, auch wenn es nie exakt gleich ist, sondern sich andauernd verändert. Eine gewisse Zahl von Hirnen ist dazu bestimmt, in die Reiche der Täuschung zu reisen, wie in Übereinstimmung mit irgendeinem scheußlichen Fahrplan, und viele kehren nicht mehr heim zu uns. Doch auch den Zurückbleibenden fällt es bisweilen schwer, einen klaren Blick zu behalten und das Bild der Welt vor dem Verblassen zu bewahren oder gewaltige Deformationen des Sichtbaren zu verhindern.

Ich habe einen Mann gekannt, der behauptete, dass über Nacht alle festen Umrisse unserer Existenz durch billige Abklatsche ausgetauscht werden: Bäume bestünden plötzlich aus Stellwänden, Häuser aus farbigem Plastikschaum, ganze Landschaften aus abgeschnittenen Haaren. Sein eigenes Fleisch, sagte er, sei nichts anderes als Spachtelmasse. Es ist kaum nötig, anzumerken, dass mein Bekannter allen Anschein eines normalen Lebens aufgegeben hatte und zu diesem keine Beziehung mehr besaß. Allein war er in eine ganz andere Geschichte hineingewandert; für ihn hatten nun alle Dinge an diesem Albtraum des Unsinns teil. Aber obwohl seine Offenbarungen im Widerspruch zu den geringeren Formen der Wahrheit standen, lebte er doch im Licht einer größeren Wahrheit: Alles ist unwirklich. In ihm war dieses Wissen bis in die Knochen gegenwärtig, die angeblich durch eine Mischung aus Schlamm und Staub und Asche neu geformt worden waren.

Was meinen eigenen Fall angeht, so muss ich gestehen, dass der Mythos eines natürlichen Universums – das heißt eines Universums, das sich an gewisse Konstanten hält, ob es einem gefällt oder nicht – allmählich jede Macht über mich verlor und durch eine halluzinatorische Sicht auf die Schöpfung ersetzt wurde. Formen, die nichts zu bieten hatten außer der bloßen Andeutung von Festigkeit, wurden für mich immer weniger wichtig, während die Fantasie, jenes nebelhafte Reich der reinen Bedeutung, an Einfluss und Macht gewann. Dies waren die Tage, in denen meinem Verstand die esoterische Weisheit etwas galt und ich willig eine ganze Menge zu ihrer Erreichung geopfert hätte. Daher rührte mein Interesse an dem Mann, der sich selbst Klaus Klingman nannte; daher kam die kurze, aber einträgliche Beziehung zwischen uns beiden, die sich durch Kanäle ergeben hatte, welche so bizarr und verdreht waren, dass ich mich nicht mehr an sie erinnern kann.

Zweifellos war Klingman einer der Erleuchteten und stellte dies in einer Reihe von psychischen Experimenten, insbesondere von Séancen, immer wieder unter Beweis. Diesbezüglich muss ich nur den Mann erwähnen, der abwechselnd als Nemo der Nekromant, Marlowe der Magus und Meister Marinetti bekannt war; sie alle waren niemand anders als Klaus Klingman höchstpersönlich. Aber Klingmans größte Leistung bestand nicht in öffentlichen Schauspielen, sondern in dem rein privaten Triumph, den er durch mühevolle Arbeit und eine standhafte Akzeptanz der geisterhaften Natur aller Dinge errungen hatte, die für ihn nicht das waren, was sie schienen; ja, sie waren für ihn überhaupt nichts.

Klingman lebte im ausgedehnten oberen Stockwerk eines Lagerhauses, das ein Teil seines Familienerbes war, und dort traf ich ihn oft an, wie er zwischen den wenigen Möbelstücken durch die höhlenartige Leere der schwach erhellten, leeren Lagerräume wanderte. Hin und wieder sank er in einen uralten Armlehnstuhl, ruhte sich unter den hohen, zerfallenden Deckenbalken aus und schaute an der physischen Gegenwart seines Besuchs vorbei, während sein Blick auf ferne Welten fiel und seine Miene durch die Einwirkung von Träumen und großen Mengen Alkohols verzerrt war. »Flüssigkeiten, immer nur Flüssigkeiten«, rief er aus. Seine Stimme trug durch die ausgedehnte verschwommene Dunkelheit um uns herum, die das Tageslicht verdrängt hatte. Als Verkörperung seiner mystischen Grundsätze schien er in jedem Augenblick am Rand einer verblüffenden Auflösung zu stehen; es war, als seien seine Atome stets bereit, gleich einem Feuerwerk in die große Leere zu schießen.

Wir sprachen über die Gefahren – für mich und für die Welt –, die sich aus der Annahme einer visionären Vorstellung von der Welt ergaben. »Die Chemie der Dinge ist so zart«, warnte er. »Schon dieses Wort: Chemie. Was bedeutet es anderes als eine Vermengung, eine Vermischung, ein Zusammenfließen? Das sind Dinge, vor denen sich die Menschen fürchten.«

Ich hatte bereits die Gefahren geahnt, die von Klingmans Gesellschaft ausgingen, und als die Sonne allmählich hinter den großen Fenstern des Lagerhauses versank, wurde ich ängstlich. Klingman nahm meine Gefühle auf unheimliche Weise wahr und rief: »Die schlimmste Angst der Rasse – ja, die Welt ist plötzlich in einen sinnlosen Albtraum verwandelt, die schreckliche Auflösung der Dinge. Nichts steht in Beziehung zueinander, selbst das Vergessen ist ein süßer Traum. Den Grund dafür verstehen Sie natürlich. Was für eine einzigartige Bedrohung. Diese brütenden Psychen und diese geschäftigen Hirne überall. Ich höre sie wie Fliegen in der Schwärze summen. Ich sehe sie wie Glühwürmchen vor der blendenden Sonne. Sie kämpfen und bemühen sich jede Sekunde, den Himmel über ihnen zu halten, die Sonne im Himmel zu halten, die Toten in der Erde zu halten – sozusagen alle Dinge dort zu halten, wohin sie gehören. Was für ein Unternehmen! Ist es etwa ein Wunder, dass sie alle von einer bösartigen universalen Kraft in Versuchung geführt werden – dass in irgendeiner dunklen Straße des Geistes eine einzelne Stimme einem und allen leise zuflüstert: ›Legt eure Bürde ab‹? Dann treiben die Gedanken davon; ein mystischer Magnetismus zieht sie in diese und in jene Richtung; Gesichter verändern sich, Schatten sprechen. Und früher oder später kommt der Himmel herab und schmilzt wie Wachs. Aber wie Sie wissen, ist noch nicht alles verloren. Der vollkommene Schrecken hat sich als Schutz gegen dieses Schicksal erwiesen. Ist es da ein Wunder, dass diese Wesen den Kampf um jeden Preis fortsetzen?«

»Und Sie?«, fragte ich.

»Ich?«

»Ja. Tragen Sie nicht das Universum auf Ihre eigene Weise?«

»Keineswegs«, erwiderte er, lächelte und richtete sich in seinem Sessel auf, als wäre er ein Thron. »Ich bin einer der Glücklichen, ein Parasit des Chaos, eine Made des Bösen. Wo ich lebe, gibt es nur den Albtraum; daher zeige ich eine gewisse Gleichgültigkeit. Ich bin daran gewöhnt, im Delirium der Geschichte herumzutreiben. Und in den Begriff Geschichte schließe ich Ereignisse und sogar ganze Zeitalter ein, die nie aufgezeichnet wurden. Das Gespräch mit den Toten kann so lehrreich sein. Sie erinnern sich an das, was die Lebenden vergessen haben und was sie gar nicht wissen können. Die wahre Brüchigkeit der Dinge! Nehmen Sie zum Beispiel das, was in der alten Stadt Mülenburg geschehen ist. Dort gab es eine Gelegenheit, einen Augenblick der Ablenkung, in dem so vieles beinahe für immer verloren gegangen wäre – in dem so viele verloren gegangen wären in jenem mittelalterlichen Zwielicht, in jener Katastrophe der Träume. Ihre Geister wanderten in den Schatten, während ihre Körper an die schmalen, zerfurchten Straßen gebunden waren und scheinbar von der hochtürmigen Kathedrale beschützt wurden, die zwischen 1365 und 1399 errichtet wurde. Es war ein seltener und glücklicher Augenblick, als die Last des Himmels am schwersten war – so vieles musste an seinem Platz gehalten werden – und die Psyche so leicht von ihren Mühen abgelenkt und weggeführt werden konnte. Aber sie wussten nichts davon; sie konnten es nicht wissen. Sie kannten nur die Erwartung vollkommenen Schreckens.«

Klingman lächelte, kicherte, sein Verstand kehrte sich offenbar nach innen und unterhielt sich mit sich selbst. In der Hoffnung, dieses Gespräch nach außen ziehen zu können, sagte ich: »Mr. Klingman, Sie sprachen gerade von Mülenburg. Sie sagten etwas über die Kathedrale.«

»Ich sehe die Kathedrale, das gewaltige Gewölbe droben, den Mittelgang, der sich vor uns erstreckt. Die Steinmetzarbeiten grinsen aus dunklen Ecken auf uns herunter, es sind Tiere und Missgestalten, Menschen in den Mäulern von Dämonen. Machen Sie wieder Aufzeichnungen? Gut, dann machen Sie halt Aufzeichnungen. Wer weiß, woran Sie sich am Ende noch erinnern können? Aber wird die Erinnerung überhaupt helfen? Jedenfalls sind wir schon dort und sitzen zwischen den erstickten Geräuschen der Kathedrale. Hinter den geschmückten Fenstern liegt die Stadt im Dämmerschein.«

Der Dämmerschein war, wie Klingman erklärte, an einem bestimmten Tag im Spätherbst ein wenig vorzeitig über Mülenburg hereingebrochen. Schon früh an jenem Nachmittag hatten sich Wolken gleichmäßig über das Land gelegt, das die Stadt umgab; sie hatten das Licht zurückgehalten und den Wäldern, den Gehöften mit ihren Reetdächern und den still vor dem Horizont stehenden Windmühlen ein mattes und düsteres Aussehen verliehen. Innerhalb der hohen Steinmauern von Mülenburg schien niemand besonders besorgt darüber zu sein, dass die schmalen Gassen, die für gewöhnlich mit den spitzen Schatten der Dächer und vorspringenden Giebel übersät waren, in ein trübes Halbdunkel getaucht wurden, das die hellfarbigen Schilder der Kaufleute zu den verblassten Artefakten einer toten Stadt machte und die Gesichter der Einwohner wie aus blassem Ton modelliert erscheinen ließ. Und auf dem Hauptplatz, auf dem der Schatten des Rathausturms manchmal jene der doppeltürmigen Kathedrale auf der einen Seite und den hohen Bergfried der Burg auf der anderen Seite überlagerte, herrschte jetzt nur ungestörte Fahlheit.

Wo war der Verstand der Einwohner? Wie war es dazu gekommen, dass sie der althergebrachten Ordnung der Dinge keine Ehre mehr erwiesen? Und wann hatte die Loslösung begonnen, die ihre Welt in fremde Gewässer trieb?

Einige Zeit lang blieben sie in Unwissenheit über die Katastrophe und gingen ihren Beschäftigungen nach, während die aschene Düsternis viel zu lange blieb und auch allmählich auf die Stunden übergriff, die dem Abend gehörten und so die Stadt zwischen Tag und Nacht in der Schwebe hielten. Überall erglühten die Fenster im gelben Schein der Lampen und erschufen so die Illusion, dass die Dunkelheit bald hereinbrechen würde. Es schien, dass der natürliche Kreislauf die Stadt jeden Augenblick von der verlängerten Dämmerung befreien würde, unter der sie an jenem Herbsttag litt. Wie sehr wünschten sich all jene die Schwärze herbei, die in prächtigen Gemächern oder einfachen Kammern saßen, denn niemand vermochte den Anblick von Mülenburgs gewundenen Gassen in jenem unheimlichen, allzu lange anhaltenden Zwielicht zu ertragen. Sogar der Nachtwächter schreckte vor seinen üblichen Gängen zurück. Und als die Glocken der Abtei die Mönche zum Mitternachtsgebet riefen, fiel jeder Schlag wie eine Warnung auf die Stadt, die noch immer in das seltsame Zwielicht der Abenddämmerung getaucht war.

Erschöpft von der Angst legten viele die Läden vor die Fenster, löschten die Lampen aus und begaben sich zu Bett in der Hoffnung, dass am nächsten Morgen wieder alles in Ordnung sein würde. Andere blieben bei einer Kerze sitzen und genossen den verlorenen Luxus der Schatten. Einige wenige Landstreicher, die nicht in das Leben der Stadt einbezogen waren, drangen durch das unbewachte Tor in das Gewirr der Straßen ein, während sie andauernd in den blassen Himmel starrten und sich fragten, wohin sie gehen sollten.

Alle Einwohner von Mülenburg, die diese Stunden entweder im Traum oder mit schlafloser Nachtwache verbrachten, wurden durch etwas um sie herum beunruhigt; es war, als sei eine gewisse Seltsamkeit in die Atmosphäre ihrer Stadt, in ihre Häuser und vielleicht auch in ihre Seelen eingedrungen. Die Luft schien irgendwie schwerer geworden zu sein und sich ihnen zu widersetzen, und in ihr schienen Dinge zu schwimmen, die nur als flinke, schattenhafte, einer sinnlichen Erkenntnis nicht zugängliche Bewegungen wahrnehmbar waren, die sie durchwirkten wie durchsichtige Flügel, die lediglich den Rand des Blickfeldes sanft liebkosten.

Als die Uhr hoch droben im Rathausturm bewiesen hatte, dass etliche Nachtstunden bereits vergangen waren, öffneten einige Bewohner ihre Fensterläden und wagten sich sogar auf die Straße hinaus. Aber der Himmel hing noch immer über ihnen wie ein endloses Gewölbe aus schimmerndem Staub. Überall in der Stadt versammelten sich die Menschen in flüsternden Gruppen. Bald wurden Eingaben an Schloss und Kathedrale gemacht, und Mutmaßungen wurden geäußert, um die Menge zu beruhigen. Einige waren der Ansicht, es tobe ein Kampf im Himmel, der die grobe Wirklichkeit der sichtbaren Welt beeinflusse. Andere vermuteten eine Täuschung durch die Dämonen oder eine ausgeklügelte Bestrafung aus dem Himmel. Gewisse Personen trafen sich heimlich in gut verborgenen Kammern und redeten mit geschwächter Stimme über alte Gottheiten, die vor Urzeiten von der Erde vertrieben worden waren und sich nun einen schrecklichen Weg zurück bahnten. Und all diese Erklärungen des Mysteriums waren auf ihre eigene Weise richtig, auch wenn keine von ihnen die Furcht vermindern konnte, die sich über die Stadt Mülenburg gelegt hatte.

Eingetaucht in unveränderliches Grau, verstört und verwirrt durch das Eindringen des Geisterhaften überall um sie herum, spürten die Einwohner der Stadt, wie sich ihre Welt auflöste. Sogar die Uhr im Rathausturm vermochte keine klare Ordnung mehr zu schaffen. Dieses Chaos war eine Brutstätte für seltsame Gedanken und Taten. So wurde nun ein uralter Baum im Garten der Abtei gemieden, und Gerüchte verbreiteten sich über eine Veränderung seiner knorrigen Gestalt und über etwas Schlaffes und Seilartiges zwischen seinen Ästen, bis ihn die Mönche schließlich mit Öl übergossen und in Brand steckten, während sie mit zugekniffenen Augen und verzerrten Gesichtern in das Lodern starrten. Gleichermaßen wurde ein Springbrunnen, der in einem der abgeschiedensten Höfe des Schlosses stand, zum Gegenstand des Argwohns, als sein Wasser fabelhafte Tiefen weit jenseits seines natürlichen, muschelartigen Bassins anzudeuten schien. Sogar die Kathedrale war zu einem hohlen und leeren Heiligtum verkommen, in dem die Gebete durch seltsame Bewegungen der geschnitzten und gemeißelten Figuren auf den Friesen und durch Schatten verspottet wurden, die auf grässliche Weise über das zuckende Licht Tausender Kerzen flossen.

Überall in der Stadt trugen Orte und Dinge den Beweis verblüffender Veränderungen im Bereich der Materie in sich: Fein skulpturierter Stein wurde locker und sackte in sich zusammen, ein verlassener Karren verschmolz mit dem saugenden Schlamm der Straße, und Gegenstände in verlassenen Zimmern verloren sich in den Oberflächen, gegen die sie lehnten. Metallzangen verbanden sich mit den Ziegeln der Kamine, geschliffene Juwelen mit üppigem Samt, ein Leichnam mit dem Holz seines Sarges. Schließlich unterlagen die Gesichter Mülenburgs einer Verwandlung des Ausdrucks, die zuerst sehr vage war, doch später wurden die Abweichungen so übertrieben, dass es nicht mehr möglich war, die ursprünglichen Formen zu erahnen. Die Einwohner konnten weder sich selbst noch ihre Mitbürger mehr erkennen. Alle wurden vom mächtigen Strom ihrer Träume fortgetragen, alle wirbelten herum im grauen Mahlstrom des unendlichen Zwielichts, alle taumelten und verschmolzen am Ende mit der vollkommenen Schwärze.

In dieser Schwärze mühten sich die Seelen von Mülenburg und erwachten endlich. Nun erhellten die Sterne und der hoch am Himmel stehende Mond die Nacht, und es schien, dass ihnen die Stadt zurückgegeben worden war. Diese Prüfung war so schrecklich gewesen, dass von ihrem Beginn, ihrem Fortschreiten und ihrem Ende nichts im Gedächtnis der Bewohner zurückblieb.

»Nichts?«, wiederholte ich.

»Natürlich«, antwortete Klingman. »All jene schrecklichen Erinnerungen wurden in der Schwärze zurückgelassen. Wie hätten sie es ertragen können, sie mitzunehmen?«

»Aber wie konnte es dann zu Ihrer Geschichte kommen?«, wandte ich ein, »und wie zu den Aufzeichnungen, die ich heute Abend gemacht habe?«

»Was habe ich Ihnen vorhin gesagt? Es sind privilegierte Informationen und Vertraulichkeiten, die abseits der Geschichtsbücher ausgesprochen wurden. Sie wissen, dass sich die Seelen, die Mülenburg bewohnten, an diese Ereignisse früher oder später in allen Einzelheiten erinnerten. Das alles wartete auf sie an dem Ort, an dem sie es zurückgelassen hatten – in der Schwärze, die das Reich des Todes ist.«

Ich dachte an das nekromantische Wissen, das Klingman zu besitzen behauptete und das ich nicht einfach abtun konnte. Aber dies war zu viel. »Dann kann also nichts bestätigt werden. Sie können nichts vorbringen, was Ihre Geschichte zu beweisen imstande wäre. Ich dachte, Sie beschwören wenigstens einen Geist oder zwei herauf. Bisher haben Sie mich noch nie enttäuscht.«

»Auch heute Abend werde ich Sie nicht enttäuschen. Denken Sie daran, dass ich eins mit den Toten von Mülenburg bin … und mit allen, die den großen Traum in all seinen veränderlichen wahren Ausprägungen kennen. Sie haben zu mir gesprochen, so wie ich nun zu Ihnen spreche. Diese alten Träumer haben mir etliche ihrer Erinnerungen mitgeteilt, und ich habe mit ihnen viele trunkene Dialoge geführt.«

»Wie den trunkenen Dialog des heutigen Abends«, sagte ich, indem ich seine Erzählung offen verwarf.

»Vielleicht, aber sie waren viel lebendiger und wirklicher. Doch das Garn, das ich nun Ihrer Meinung nach gesponnen habe, dient einem bestimmten Zweck. Damit Sie vom Zweifel geheilt werden, mussten Sie zuerst zum Zweifler werden. Sie mögen mir verzeihen, aber bisher haben Sie in dieser Richtung kein Talent gezeigt. Sie haben jede wilde Geschichte geglaubt, die Ihnen erzählt wurde, wenn es wenigstens den Schatten eines Beweises für sie gab. Das ist eine beispiellose Leichtgläubigkeit. Doch heute Abend haben Sie gezweifelt, und nun sind Sie bereit, von diesem Zweifel geheilt zu werden. Hatte ich nicht immer wieder die Gefahren erwähnt? Leider können Sie sich nicht zu jenen vergesslichen Seelen Mülenburgs zählen. Sie besitzen sogar Ihre Aufzeichnungen, denen man vielleicht Glauben schenken wird, wenn diese Nacht vorbei ist. Das ist mein Geschenk an Sie. Das wird Ihre Erleuchtung sein. Denn die Zeit für die Rückkehr des Fließens und für das erneute Erschlaffen der Welt ist gekommen. Später wird so vieles weggespült werden, und die Dinge werden neu geboren. Es fließt, alles fließt.«

Als ich an jenem Abend von ihm ging und damit die dunklen, formlosen Stunden hinter mir ließ, die ich in jenem Lagerhaus verbracht hatte, lachte Klingman wie ein Wahnsinniger. Ich erinnere mich, wie er auf jenem zerschlissenen Thron saß, mit gerötetem Gesicht und verzerrter Miene, und sein Mund über urkomische Geheimnisse lachte, die nur ihm bekannt waren. Anscheinend hatte die letzte Phase der Auflösung seine Seele ergriffen.

Doch bald wurde mir vorgeführt, dass ich die Macht Klaus Klingmans unterschätzt oder missverstanden hatte, und ich wünschte, es wäre nicht so gewesen. Aber niemand sonst erinnert sich an die Zeit, in der die Nacht nicht weichen wollte und keine Morgendämmerung herankam. Zu Beginn der Krise wurden allerorten eher vernünftige als apokalyptische Erklärungen angeboten: ein Stromausfall, bizarre meteorologische Phänomene, eine Sonnenfinsternis. Später wurden diese Mythen sinnlos und schließlich unnötig. So, wie wir es schon einmal getan hatten, kehrten wir zu dieser fadenscheinigen Welt zurück – zu dieser Welt, die ich jetzt nur noch als Dunst aus geisterhaften Manifestationen und Trugbild aus einer reich verzierten Leere ansehen kann. Wie Klingman mir versprochen hatte, war meine Erleuchtung einsam.

Denn niemand sonst erinnert sich an die Hysterie, die überhandnahm, als der Mond in Schwärze verdämmerte. Und niemand kann auch nur die schwächste Erinnerung an die Zeit in sich hervorrufen, als die künstlichen Lichter dieser Erde matt und unheimlich wurden und sich alle Umrisse, die wir einst gekannt hatten, zu Nachtmahren und unsinnigen Schrecken verzerrten. Und niemand weiß, wie die Schwärze zähflüssig wurde, das restliche Licht umhüllte und uns in sie hineinzog. Welches Grauen wartet in jener Schwärze darauf, den Legionen der Toten zurückgegeben zu werden! Kein lebender Mensch erinnert sich daran, als sich alles zu verändern begann – niemand außer Klaus Klingman und mir.

In der roten Morgendämmerung, die jener schrecklich verlängerten Nacht folgte, ging ich zu dem Lagerhaus. Leider war es nicht mehr bewohnt, nur die wenigen Möbel und einige leere Flaschen standen dort noch herum. Klingman war verschwunden, vielleicht in dieselbe Schwärze, nach der er ein unglaubliches Heimweh verspürt hatte. Ich erwarte natürlich nicht, dass man mir glaubt. Wo es keinen Zweifel gibt, kann es keinen Glauben geben. Hier geht es nicht um geheimes Wissen – als ob solches Wissen etwas verändern könnte! Hier geht es nur um den Schein, und der Schein ist alles.