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Norman M. Naimark

Stalin und der Genozid

Aus dem Amerikanischen
von Kurt Baudisch

Suhrkamp Verlag

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel Stalin’s Genocides im Jahr 2010 bei Princeton University Press.

© Princeton University Press



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

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Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den Norman M. Naimark im Rahmen der »Stanford-Suhrkamp Lecture« am 3. Dezember 2009 in der Berliner Repräsentanz des Suhrkamp Verlages gehalten hat.







ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-518-74440-6

Inhalt

Einleitung


1. Die Diskussion um den Genozid

2. Der Werdegang eines Völkermörders

3. Die Entkulakisierung

4. Der Holodomor

5. Der Angriff auf die Völker

6. Der »Große Terror«

7. Stalins und Hitlers Verbrechen


Schlußfolgerungen

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

In diesem schmalen Buch, das eigentlich ein erweiterter Essay ist, soll begründet werden, weshalb Stalins Massenmorde in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts als »Genozid« klassifiziert werden sollten. Das wird dadurch erschwert, daß es im Falle der Sowjetunion keinen einzelnen Akt von Genozid gegeben hat, sondern vielmehr eine Serie miteinander zusammenhängender Aktionen gegen »Klassenfeinde« und »Volksfeinde« – Bezeichnungen für verschiedene angebliche Gegner des Sowjetstaates. Auch fanden die massenhaften Tötungen auf unterschiedlichste Weise statt: Zum einen gab es Massenerschießungen, zum anderen die Verbannung in die »Sondersiedlungen« und in den GULag. Dort fanden Hunderttausende nicht nur wegen der ungewöhnlich harten Haftbedingungen und Verhörmethoden den Tod, sondern kamen auch auf Grund der furchtbaren Transportbedingungen, der Unterbringung, der Ernährung und der Zwangsarbeit ums Leben.

Die sozialen und nationalen Kategorien der angeblichen Feinde der UdSSR änderten sich im Laufe der Zeit; das trifft auch auf die Rechtfertigungen für die Aktionen gegen Bevölkerungsgruppen und Ausländer in der Sowjetunion zu. Stalin und seine Handlanger begründeten die blutigen Taten mit den Lehren des Marxismus-Leninismus-Stalinismus und setzten ihren Willen mit polizeilichen, gerichtlichen und außergerichtlichen Mitteln durch. Sowohl Parteiinstanzen als auch staatliche Behörden waren beteiligt, als Stalin die durch die bolschewistische Revolution geschaffenen Macht- und Kontrollmittel nutzte, um gegen tatsächliche und potentielle Gegner vorzugehen. Dabei spielte es keine Rolle, ob diese real existierten oder nur eingebildet waren. Unter Stalins Herrschaft in den dreißiger und frühen vierziger Jahren starben viele Millionen unschuldiger Menschen, die entweder erschossen wurden, verhungerten oder den Tod in Haft und Verbannung fanden. Es ist höchste Zeit, diesem wichtigen Kapitel seinen Platz in der Geschichte des Genozids einzuräumen.

Es gibt berechtigte wissenschaftliche und sogar moralische Bedenken gegen eine solche Erörterung. Nicht nur Historiker und Journalisten sehen in dem Begriff »Genozid« einen Ausdruck, der hauptsächlich dazu dient, den Holocaust – also den Massenmord der Nationalsozialisten an den Juden – zu bezeichnen, der nicht vermengt werden sollte mit dem Mord an Sowjetbürgern in den dreißiger Jahren. Vor allem deutsche und jüdische Wissenschaftler werden wohl darauf beharren, daß die Ermordung von fast sechs Millionen Juden durch das NS-Regime ein historisch einmaliges Verbrechen war, das mit anderen Massenmorden in der Neuzeit nicht vergleichbar ist. Dieses Verbrechen, eine Kombination aus Hitlers Rassenwahn und traditionellen christlichen antisemitischen Motiven, war in den Augen vieler Wissenschaftler ein beispielloser Völkermord.1 Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht auch die Morde an Zigeunern (Roma und Sinti), Homosexuellen und geistig Behinderten Züge eines Genozids trugen – ganz zu schweigen vom Massenmord an sowjetischen Kriegsgefangenen, Polen und anderen.

Das Problem liegt in der im Dezember 1948 angenommenen »Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide« (Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes) der Vereinten Nationen (UN), die den Mord an ethnischen, nationalen, rassischen und religiösen Gruppen in den Mittelpunkt rückt und, wenn auch nicht explizit, soziale und politische Gruppen ausschließt – und damit die Hauptopfer der blutigen Kampagnen Stalins. Einige Wissenschaftler betrachten den ukrainischen Hungertod in den Jahren 1932/33 oder die Deportation der sogenannten »bestraften Völker« im Jahre 1944 isoliert, um Stalin des Genozids bezichtigen zu können. Andere bezeichnen das »Massaker von Katyn«, bei dem 22 000 polnische Offiziere und Staatsbeamte im Frühjahr 1940 hingemetzelt wurden, als einen typischen Genozid Stalins. Aber wenn diese einzelnen blutigen Ereignisse als Völkermord eingestuft und andere nicht berücksichtigt werden, besteht die Gefahr, daß der genozidale (meint »genozidähnliche«) Charakter des sowjetischen Systems, in dem in den dreißiger Jahren eher systematisch als sporadisch gemordet wurde, verschleiert wird.

Ein weiterer Einwand gegen die Bezeichnung der stalinistischen Massenmorde als Genozid ergibt sich aus dem speziellen Charakter einer ethnischen und nationalen Identität. Die Menschheit besteht aus erstaunlich vielen Völkern, von denen jedes einen eigenen Charakter hat – sogar wenn dieser »erfunden« ist, wie Benedict Anderson es formuliert hat. Dieser Charakter verdient einen besonderen Schutz. Die Entwicklung des Begriffs »Genozid« hing eng mit dieser Idee zusammen. Trotzdem schützt die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen auch religiöse Gruppen, obwohl diese anders – man könnte sagen: »schwächer« – wahrgenommen werden als ethnische oder nationale Gruppen. So wurden Juden und Armenier als »Völker« umgebracht, nicht als religiöse Gruppen, obgleich ihre Religion wie eine Volkszugehörigkeit gesehen wurde, wie es zum Teil auch bei den serbischen Angriffen auf die bosnischen Muslime in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschah. Aber der Schutz ethnischer und nationaler Gruppen sollte den von politischen oder sozialen Gruppen vor demselben furchtbaren Verbrechen nicht überflüssig machen. Die Opfer und ihre Nachkommen würden schwerlich die moralischen, ethischen und rechtlichen Unterschiede zwischen der einen Form von Massenmord und der anderen begreifen, geschweige denn die historischen.

Zugleich meinen viele Beobachter, wenn die potentiellen Opferkategorien des Genozidbegriffs erweitert und soziale und politische Gruppen mit einbezogen würden, verlöre dieser seine historische und rechtliche Bedeutung. Gewiß wird der Begriff von verschiedenen, manchmal nur lose definierten Gruppen von Menschen, die sich als Opfer eines Genozids sehen, ungenau und unverantwortlich verwendet. Aber gerade das ungeheure Ausmaß des systematischen Massenmordes – den die politische Führung eines Staates absichtlich an einer Zielgruppe innerhalb oder außerhalb der Grenzen dieses Staates begeht – reicht aus, um einen Genozid von verwandten Formen wie Pogromen, Massakern und terroristischen Bombenanschlägen zu unterscheiden. Wird die Massenvernichtung sozialer und politischer Gruppen beim Genozid berücksichtigt, kann dies zu einem tieferen Verständnis dieses Phänomens führen; es verringert nicht seine historische Bedeutung. Beim Genozid – besonders im Falle des ukrainischen Hungertodes in den Jahren 1932/33 – überlappen sich häufig die sozialen, nationalen und ethnischen Kategorien. Manchmal werden, wie im Falle des sowjetischen Angriffs auf die sogenannten Kulaken, die sozialen und politischen Kategorien der Opfer »ethnisiert«. Dies geschieht, um der Gesellschaft den Angriff plausibler zu machen. Über Genozid als ein Produkt kommunistischer Staaten – von Stalins Sowjetunion über Maos China bis Pol Pots Kambodscha –, in denen Millionen von Bürgern in Massenmordkampagnen getötet wurden, kann und sollte neben analogen Fällen von Völkermord, der an Minoritäten verübt wurde, gründlich nachgedacht werden.

Jahrzehntelang verhinderte die Politik des Kalten Krieges (also die Politik gegen den Kalten Krieg) eine offene Diskussion in der akademischen Welt über die Frage des Genozids im Zusammenhang mit Stalin und dem Stalinismus. Dies ist auch für unser heutiges Verständnis der Sowjetunion von Bedeutung. Weil Stalin im Namen der hohen Ideale des Sozialismus und des menschlichen Fortschritts mordete, könne dies, so wird argumentiert, nicht mit den Motiven anderer Völkermörder im 20. Jahrhundert gleichgesetzt werden. Diese mordeten aus keinem anderen Grund als dem wahrgenommenen »Anderssein« ethnischer oder religiöser Gruppen oder – wie in Hitlers Fall – wegen einer Rassentheorie, die nur wenigen, außer den »arischen« Deutschen, gefallen konnte. Wenn es um Stalins Motive für die massenhafte Vernichtung vieler Millionen Menschen in den dreißiger Jahren geht, scheinen Historiker manchmal bestrebt zu sein, einen plausiblen Grund für die Taten finden zu wollen. War es das riskante Programm der Modernisierung des Landes oder die Notwendigkeit, Kapital für die Schwerindustrie zu beschaffen und die Landwirtschaft technisch zu modernisieren; war es der Schutz der Sowjetunion gegen einen künftigen Angriff von außen, vor allem durch Polen, Deutschland und Japan oder die Existenz möglicher Terroristen in der Bevölkerung, die darauf aus waren, Stalin und seine Mitstreiter zu töten; oder war es der schädliche Einfluß Trotzkis und seiner »Vierten Internationale« auf die sowjetische Elite?

In der neueren Literatur über Stalins Verbrechen werden häufig Wjatscheslaw Molotows Erinnerungen zitiert, um die Säuberungsaktionen und Morde zu erklären. Dessen Gespräche mit dem Schriftsteller Felix Tschujew wurden etwa 35 Jahre nach den Ereignissen aufgezeichnet:

1937 war notwendig. Geht man davon aus, daß wir nach der Revolution nach rechts und nach links droschen, so siegten wir, aber es gab weiterhin Überreste von Feinden verschiedener Richtungen, und angesichts der drohenden Gefahr einer faschistischen Aggression bestand die Möglichkeit, daß sie sich vereinigen. Wir waren 1937 gezwungen, dafür zu sorgen, daß wir im Kriege keine fünfte Kolonne hatten. [...] Natürlich ist das sehr bedauerlich, und solche Leute [die unschuldig waren] tun einem leid, aber ich glaube, daß der Terror, der gegen Ende der dreißiger Jahre ausgeübt wurde, notwendig war. [...] Stalin verfolgte meiner Meinung nach eine sehr richtige Politik: Besser es rollten ein paar Köpfe mehr, als daß es während des Krieges und nach dem Krieg Schwanken gab.

Molotow hatte selbst erlebt, daß seine Frau Polina Schemtschuschina auf Grund frei erfundener Anklagepunkte nach Sachalin verbannt wurde. Trotzdem blieb er sogar im hohen Alter noch dabei, daß die Säuberungen nicht nur notwendig, sondern gegen schuldige Genossen gerichtet gewesen seien. Gewisse Ungerechtigkeiten seien jedoch unvermeidlich gewesen. Bei den Rehabilitierungen in der Zeit nach Stalin handele es sich um »jetzt übliche Fälschungen«.2

Die Auffassung, die schrecklichen Massenmorde der dreißiger Jahre seien in Erwartung eines künftigen Krieges durchgeführt worden und entscheidend für den sowjetischen Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« über das nationalsozialistische Deutschland gewesen, paßt auch zu der aphoristischen Bemerkung Molotows und anderer Stalinisten: »Wo gehobelt wird, da fallen Späne«, mit anderen Worten: Für die großen Ziele des sowjetischen Sozialismus mußten Menschenleben geopfert werden. Viele Historiker in Rußland und im Westen glauben, Stalin habe sich mit der Entkulakisierung, den Säuberungsaktionen und den Kampagnen gegen angebliche innere Feinde auf den Krieg vorbereitet. Sogar die massenhaften Säuberungen, die in den sowjetischen Streitkräften, im Geheimdienst und unter ausländischen Kommunisten durchgeführt wurden, seien rational begründbare Vorbereitungen auf den bevorstehenden Konflikt gewesen.3 Post hoc ergo propter hoc wird argumentiert: Weil Stalin den Krieg gewann, können diese angeblichen Vorbereitungen in den dreißiger Jahren, ganz gleich, wie brutal, gewaltsam und kontraproduktiv sie gewesen sein mögen, als gerechtfertigt angesehen werden, und daher können sie nicht als Genozid – als das durch nichts zu rechtfertigende »Verbrechen der Verbrechen« der internationalen Rechtsprechung – angesehen werden.

Der sowjetische Sieg im Zweiten Weltkrieg, die große Bewunderung, die Stalin für die Wiederherstellung der Weltordnung nach 1945 gezollt wurde, und die Geheimhaltung des sowjetischen Regimes bewirkten, daß das Ausmaß und die Intensität der sowjetischen Massenmorde der Weltöffentlichkeit wie auch der sowjetischen Öffentlichkeit verborgen blieben. Heute, wo viele Archivbestände aus der Sowjetzeit zugänglich sind und manche Russen, darunter in jüngster Zeit auch der Präsident der Russischen Föderation, Dmitri Medwedew, fundamentale Fragen nach dem blutrünstigen Charakter des Stalinschen Regimes stellen, kann und sollte die Genozidfrage neu aufgeworfen werden. Viele Russen schätzen nämlich Stalin weiterhin hoch, trotz der Massengräber, in denen ihre Vorfahren ruhen. Für das Selbstverständnis und die Zukunft des Landes ist es entscheidend, über den Umfang dieses Genozids Bescheid zu wissen. Außerdem können sich die Beziehungen zu den Ukrainern, den baltischen Völkern, den Polen, den Tschechen und den Krimtataren, die alle – in größerem oder geringerem Umfang – Opfer des stalinistischen Genozids geworden sind, nur verbessern, wenn die Russen offen die Verbrechen der Vergangenheit anerkennen und gewissenhaft untersuchen. Der Völkermord bleibt in der historischen Erinnerung. Er belastet, wie es der Fall der türkischen Regierung und der im Jahre 1915 begangene Völkermord an den Armeniern zeigen, die Beziehungen zwischen den Völkern und Nationen. Wissenschaftler, die sich heute mit der sowjetischen Vergangenheit befassen, haben die Pflicht, sich mit dem Genozid auseinanderzusetzen und die nötigen Konsequenzen zu ziehen.



Das Buch beginnt mit einer Diskussion über die Fragen, die mit dem Begriff »Genozid« verbunden sind. Ich vertrete den Standpunkt, daß es gute Gründe gibt, die »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« der UN weiter zu interpretieren und flexibler anzuwenden, als dies in der Fachliteratur geschieht. Das ist für die Untersuchung stalinistischer Verbrechen besonders wichtig, da die Sowjetunion und ihre Verbündeten an der Definition von Völkermord beteiligt waren. Hierbei hatten sie Einspruch gegen die Einbeziehung sozialer und politischer Gruppen in die Konvention erhoben, welche praktisch in allen frühen Entwürfen der Genozidkonvention enthalten waren. Inzwischen haben sich auch die Internationalen Gerichtshöfe einer weiteren Auslegung des Genozidbegriffs angenähert. Ein gutes Beispiel ist das Urteil, das der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ, auch Haager Tribunal genannt) 2004 in der Strafsache Radoslav Krsti´c fällte. Der IStGHJ befand, daß die Massenerschießung von fast 8000 bosnischen muslimischen Männern und Knaben durch bosnische Serben einen Fall von Massenmord darstellte. Derselbe Gerichtshof erklärte bei einem Einspruch in dieser Sache, eine Massenerschießung wie in Srebrenica könne als Genozid eingestuft werden, auch wenn er letztlich keinen der Täter des Völkermordes überführen konnte. Im Februar 2007 entschied auch der ebenfalls in Den Haag ansässige Internationale Gerichtshof (IGH) in einem Strafverfahren, das die Regierung von Bosnien-Herzegowina gegen Serbien beantragt hatte, daß das Massaker von Srebrenica ein Fall von Genozid war.

Das zweite Kapitel handelt davon, wie Stalin zum Völkermörder wurde. Hier stütze ich mich, wie auch an anderen Stellen dieser Studie, stark auf einige der besten Stalinbiographien, die in jüngerer Zeit erschienen sind, und zwar auf die Werke von Robert Service, Hiroaki Kuromiya, Dmitri Wolkogonow, Simon Sebag Montefiore, Donald Rayfield, Mikl´os Kun und Ronald G. Suny (als Manuskript), aber auch auf einige Memoiren und unveröffentlichte Arbeiten über Stalins Leben. Im dritten, vierten und fünften Kapitel des Buches werden konkrete Fälle des Massenmords in den dreißiger Jahren untersucht, die die Basis für die weiteren Verbrechen Stalins waren: die Entkulakisierung – gemeint ist damit nicht nur die Enteignung der »Kulaken«, sondern auch die darauffolgenden Repressalien – in den Jahren 1929 bis 1931, die große Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932/33 und die blutigen Kampagnen gegen nichtrussische Nationalitäten, die von 1934 bis in die Kriegsjahre reichten. Das sechste Kapitel gibt einen Überblick über den »Großen Terror« in den Jahren 1937/38. Zu diesen Themen gibt es inzwischen viele wissenschaftliche Arbeiten jüngeren Datums. Die jüngsten basieren auf der Öffnung wichtiger Archive und der Veröffentlichung bedeutender Dokumente in Rußland und im Westen. Dieses Buch verdankt den Historikern viel, die sich mit der Sowjetunion befaßt und die bemerkenswerte Arbeit geleistet haben, indem sie die dunklen Seiten der stalinistischen Zeit untersucht haben.

Das Ziel der Kapitel über den Massenmord in den dreißiger Jahren und Anfang der vierziger Jahre besteht darin, einige charakteristische Merkmale für die Definition von Genozid hervorzuheben: die Motive der Täter, den Weg vom »Chef« (Chosjain) oder »Führer« (Woschd) – Stalin – bis zu den Vollstreckern der Befehle sowie den Versuch, diese Opfergruppen insgesamt oder teilweise zu liquidieren. Diese Fragen nach Absicht, Motiv und Befehlskette waren entscheidend in den Strafverfahren gegen die Täter der Balkankriege und des Völkermordes in Schwarzafrika vor dem IGHJ in Den Haag und vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (IStGR) in Arusha. Will man einschätzen, ob Stalin und sein Regime des Völkermordes in den dreißiger Jahren für schuldig befunden werden können, sind sie von größter Bedeutung. Ebenso müssen diese Fälle verglichen werden mit dem mutmaßlichen Genozid, der in den postsozialistischen baltischen Staaten und in Lateinamerika, vor allem in Argentinien, zur Anklage gebracht wurde.

Im Schlußkapitel des Buches werden die NS-Verbrechen mit den sowjetischen Verbrechen verglichen. Jede Beurteilung der stalinistischen Massenmorde geschieht vor dem Hintergrund des Holocausts. Der Schrecken, den die Bilder auslösen, ist kaum in Worte zu fassen: Hunderttausende, nackte und hilflose Männer und Frauen alte wie junge –, wurden systematisch vergast und dann in Krematorien verbrannt. Viele Historiker sind der Ansicht, Hitlers Endziel sei die Vernichtung aller Juden gewesen. Das wäre eine präzedenzlose, durch nichts übertroffene kriminelle Absicht gewesen. Doch auch der von Stalin verantwortete Tod von etwa 15 bis 20 Millionen Menschen ist entsetzlich, unter anderem deswegen, weil dies im Namen des Kommunismus geschah, einer der einflußreichsten und angeblich progressivsten politischen Ideologien der Neuzeit.

Bevor wir fortfahren, muß auf die Opferzahlen unter der Herrschaft Stalins eingegangen werden. Seit 1990 wurden viele sowjetische Dokumente freigegeben und Wissenschaftlern in den russischen Archiven zugänglich gemacht. Vor allem Berichte der OGPU und des NKWD – die sowjetischen Sicherheitsdienste – enthalten verblüffend genaue und vollständige Angaben über die Zahl derer, die in der fraglichen Zeit verhaftet, erschossen oder deportiert wurden. Aber diese Zahlen müssen vorsichtig verwendet werden. Sie lassen keine endgültige Aussage darüber zu, wie viele Sowjetbürger in den dreißiger Jahren Repressalien ausgesetzt waren und wie viele von ihnen getötet wurden. Die Tatsache, daß die Zahlenreihen immer aufgehen und immer bis zur letzten Stelle angegeben werden – z. B. 496460 deportierte Tschetschenen und Inguschen, oder 1 800 392 entkulakisierte Bauern in den Jahren 1931/32 –, wirft die Frage auf, ob diese beinahe unmöglich genauen Zahlen korrekt sind.

Bisweilen korrigierten Polizei und Justizbeamten die Zahl der Verhafteten und Erschossenen nach oben, damit ihre Vorgesetzten – Stalin und vor allem seine OGPU- und NKWD-Chefs Jagoda, Jeschow und Berija mit den Ergebnissen zufrieden waren. Doch häufiger meldeten die Beamten zu wenige Opfer oder berichteten überhaupt nicht, besonders wenn es im GULag – eine Abkürzung sowohl für die Straflager als auch für die Hauptverwaltung des Straflagersystems – und in den »Sondersiedlungen« während der großen Hungersnot oder der Entkulakisierung »unvorhergesehene« Todesopfer gab. Was die Zahl der Sowjetbürger betrifft, die im GULag den Tod fanden, so warnt Alexander Jakowlew davor, die Zahlen des NKWD für bare Münze zu nehmen. Er leitete mehrere Kommissionen zur Untersuchung der stalinistischen Massenmorde und hatte dank seiner Stellung Zugang zu vielen Archiven. Er erklärt rundheraus, daß die Zahlen des NKWD nicht stimmen: »Sie berücksichtigen nicht die Menschenmengen in den überfüllten NKWD-Gefängnissen. Ebensowenig gibt man die Sterblichkeitsziffern in Lagern für politische Gefangene oder die Zahl der verhafteten Bauern und der Angehörigen von deportierten Völkern an.«4 Auf jeden Fall sei bei den von Historikern verwendeten NKWD-Zahlen Skepsis angebracht, einerseits wegen der falschen Exaktheit der Daten, andererseits wegen der sich dauernd verändernden Vorgaben der Unterdrückungsorgane zur Verhaftung politischer Feinde.

Der Beobachter sollte gewarnt sein, wenn er sich mit der Geschichte der stalinistischen Massenmorde von Anfang der dreißiger Jahre bis zum Kriegsbeginn beschäftigt. Problematisch ist etwa, daß sich Aktionen vermischten: die politischen Säuberungen mit der Entkulakisierung, die Zwangsumsiedlung von Völkern mit der Eliminierung von »Asozialen« laut Befehl 00447, die Erschießung der polnischen Offiziere im Jahre 1940 mit den Prozessen gegen sowjetische Offiziere im Jahre 1938. Umgekehrt übersahen Wissenschaftler leicht die mörderischen Seiten des stalinistischen Regimes in dieser Zeit, weil sie die Geschehnisse zu scharf voneinander trennten. Auch kann nicht jeder dieser Fälle als Genozid angesehen werden. Es mußte vielmehr ein gewisser Vorsatz bei Stalin und seiner Regierung vorhanden sein, die Absicht, eine Gruppe als Ganzes anzugreifen, indem ein bedeutender Teil von ihr zerstört wird. Das war nicht immer und überall in den dreißiger Jahren und Anfang der vierziger Jahre der Fall; einigen Geschehnissen haftet klarer als anderen der Makel eines Genozids an. Natürlich ist diese Absicht nur sehr schwer nachweisbar – selbst bei verbesserter Dokumentation und bei vollem Zugang zu Archiven in Rußland. Stalin und seine Handlanger nutzten häufig die Deportation, um die eine oder die andere Gruppe wegen angeblicher Verbrechen zu bestrafen. Eine Deportation ist eindeutig ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, und ihre Folgen können manchmal genozidal sein; das hat aber nicht dieselben juristischen Konsequenzen, als wenn einzelne Geschehnisse als »Genozid« eingestuft werden. Alles in allem ist es sehr schwierig, diese Unterscheidungen zu treffen. Dennoch sind sie wichtig, um den blutigen Charakter der Herrschaft Stalins zu begreifen. Kurz gesagt, es besteht sowohl die Gefahr, alle diese verschiedenen Massenmorde miteinander zu vermengen, als auch die Gefahr, sie zu scharf voneinander zu trennen.

Wenn Stalin in das Zentrum dieser Studie zum Genozid gestellt wird, sollen damit die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Faktoren der Massenmorde in der Sowjetunion in den dreißiger Jahren nicht für gering erachtet werden. Die Sowjetunion in der Stalinzeit war nicht einfach nur eine Ein-Mann-Diktatur, obwohl sie eben auch das war. Ein weitreichendes Geflecht staatlicher Organe mußte mobilisiert werden, um so viele Menschen umzubringen. Das wichtigste Exekutivorgan war dabei die Polizei, besonders die politische Polizei. Die Zahl der »Komplizen des Genozids« – in juristischer wie in historischer Hinsicht – ging in die Zehntausende. Aber als Stalin starb, hörte auch der Massenmord in der Sowjetunion auf. In der Zeit vor der Diktatur Stalins sollte man den Massenmord in der Sowjetunion nicht als »Genozid« bezeichnen, so schrecklich das Morden während des Bürgerkrieges von 1918 bis 1921 auch war. Durch Stalin veränderte es sich, und die Rolle, die er bei dem Massenmord spielte, ist für das Verständnis des genozidalen Charakters seines Regimes von zentraler Bedeutung.

1. Die Diskussion um den Genozid

Die Formulierungen der im Dezember 1948 angenommenen UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes werden häufig als Grund dafür genannt, daß Stalins Verbrechen nicht als Genozid angesehen werden können. Betrachtet man jedoch die Entstehungsgeschichte der Konvention, so gibt es durchaus gute Gründe, ihren Inhalt zu überdenken. Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, der im Zweiten Weltkrieg den Begriff »Genozid« prägte, definierte als erster, was er 1933 in einem Vorschlag an den Völkerbund als »Barbarei« bezeichnete: »Wer aus Haß gegen eine rassische, religiöse oder soziale Gruppe oder zum Zwecke ihrer Ausrottung eine strafbare Handlung gegen Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Würde oder wirtschaftliche Existenz einer Person, die einer solchen Gruppe angehört, unternimmt, macht sich des Verbrechens der Barbarei schuldig.« Lemkin fügte hinzu: »Wer aus Haß gegen eine rassische, religiöse oder soziale Gruppe oder zum Zwecke ihrer Ausrottung ihre Kunst- oder kulturellen Werke vernichtet, macht sich des Verbrechens des Vandalismus schuldig.«1

Lemkin floh 1940 vor den Nationalsozialisten aus Polen in die USA und setzte dort die Suche nach internationalen Rechtsnormen gegen Massenmord, Ausrottung und »Vandalismus« fort. Erstmals legte er seine Definition des neuen Begriffs »Genozid« in der Dokumentensammlung Axis Rule in Occupied Europe (Herrschaft der Achsenmächte im besetzten Europa) dar, die er 1944 als Berater des US-Kriegsministeriums veröffentlichte. Er hatte die Schrecken von Massenmord, Ausrottung und Unterdrückung beschreibengenos cide homicide , fratricide 2