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KinderStärken

Herausgegeben von Petra Büker

Band 2

Die Reihe im Überblick

Band 1:

Petra Büker (Hrsg.): Kinderstärken – Kinder stärken. Erziehung und Bildung ressourcenorientiert gestalten.

Band 2:

Petra Völkel: Entwicklung, Lernen und Förderung der Jüngsten.

Band 3:

Renate Niesel & Wilfried Griebel: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der Familie in die KiTa.

Band 4:

Dagmar Kasüschke: Kinderstärkende Pädagogik und Didaktik in der KiTa

Band 5:

Melanie Eckerth & Petra Hanke: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der KiTa in die Grundschule.

Band 6:

Susanne Miller & Katrin Velten: Kinderstärkende Pädagogik in der Grundschule

Band 7:

Julia Höke, Agnes Kordulla & Petra Büker: Bildungsdokumentation stärkenorientiert gestalten.

Band 8:

Birgit Hüpping & Petra Büker: Kulturelle Vielfalt. Kinderstärkende Pädagogik

Band 9:

Charlotte Röhner & Kathrin König: Kinder stärken in Sprache(n) und Kommunikation

Band 10:

Katja Koch: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der Grundschule in die weiterführende Schule

Petra Völkel

Entwicklung, Lernen und Förderung der Jüngsten

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-024303-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024304-0

epub:    ISBN 978-3-17-024305-7

mobi:    ISBN 978-3-17-024306-4

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Vorwort der Herausgeberin

 

Das Kind als Gestalter und als kompetenter Akteur seiner Lebens- und Bildungsbiografie: Diese im Sozial-Konstruktivismus verankerte Sicht auf das Kind steht aktuell im Fokus pädagogischer, psychologischer und soziologischer Diskurse sowie in Bildungsplänen für Kinder im Elementar- und Grundschulbereich. Kinder verfügen für die Gestaltung ihrer pluralen, komplexen Lebenswelten über enorme Stärken, die es durch Familie, Peers sowie pädagogische Fach- und Lehrkräfte als kompetente Mit-Akteure zu erkennen und zu stärken gilt: Diese Grundidee wird in der neuen Fachbuch-Reihe KinderStärken aufgegriffen und entlang der Lebensspanne von der Geburt bis zum Übergang in die weiterführende Schule in zehn Bänden kritisch und differenziert beleuchtet. Ein interdisziplinäres Autorenteam, bestehend aus Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Früh-, Elementar- und Grundschulpädagogik sowie der Entwicklungspsychologie, widmet sich in jeweils einem Band ausführlich einer spezifischen Lebensspanne, wissenschaftlich fundiert und nah an der pädagogischen Praxis.

Der vorliegende zweite Band der Reihe thematisiert die Entwicklung, das Lernen und die Förderung der Jüngsten. Petra Völkel zeigt aus entwicklungspsychologischer Perspektive die immensen Selbstbildungspotenziale auf, welche in der biologischen Ausstattung des jungen Kindes enthalten sind und die es ihm ermöglichen, sich zu einer denkenden, fühlenden sowie sozial und emotional handelnden Persönlichkeit zu entwickeln. Mit großer Präzision und zugleich sehr anschaulich beschreibt die Autorin, welche Bedeutung stabile Bindungen, Peer-to-Peer-Interaktionen und das Spiel für diesen Entwicklungsprozess besitzen. Gleichzeitig stellt Petra Völkel die – insbesondere im Zuge des Ausbaus der Betreuung unter Dreijähriger in KiTas aktuell gewordene – Frage der Passung von Lern- und Entwicklungsumwelten. Dabei werden Probleme der Über- und Unterforderung sowie die Sinnhaftigkeit lern- und entwicklungsfördernder Interventionsprogramme diskutiert. Auf diese Weise verbinden sich in diesem Band kompetent zusammengestelltes Grundlagenwissen mit wichtigen Reflexionsimpulsen, deren Diskussion sowohl für wissenschaftlich Interessierte als auch für pädagogische Fachkräfte und Eltern sehr gewinnbringend sein dürfte.

Petra Büker

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort der Herausgeberin
  2. 1 Einleitung
  3. 2 Biologische Ausstattung und soziale Erfahrungen: zwei starke Voraussetzungen für kindliche Entwicklung
  4. 2.1 Kindliche Entwicklung aus Sicht der Sozialisationsforschung
  5. 2.2 Kindliche Entwicklung aus Sicht der Psychoanalyse
  6. 2.2.1 Die psychosexuelle Entwicklung der Persönlichkeit Sigmund Freuds
  7. 2.2.2 Der Prozess der Loslösung und Individuation Margaret Mahlers
  8. 2.3 Kindliches Lernen aus Sicht der sozial-kognitiven Lerntheorie
  9. 2.4 Kindliche Entwicklung aus Sicht der kognitiven Entwicklungspsychologie
  10. 2.4.1 Die kulturhistorische Schule Wygotskis
  11. 2.4.2 Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung
  12. 2.5 Entwicklung und Lernen aus Sicht der Neurobiologie
  13. 2.6 Resümee
  14. 3 Kinderstärken im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung
  15. 3.1 Voraussetzungen der Jüngsten im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung
  16. 3.2 Die Bedeutung von Bindungsbeziehungen für die sozial-emotionale Entwicklung
  17. 3.3 Voraussetzungen der Jüngsten im Bereich der emotionalen Kompetenz
  18. 3.4 Selbstregulation als Entwicklungsaufgabe
  19. 3.5 Resümee
  20. 4 Kinderstärken im Bereich der kognitiven Entwicklung
  21. 4.1 Kindliche Voraussetzungen zum Verständnis der gegenständlichen Welt
  22. 4.2 Kindliche Ressourcen zum Verständnis der sozialen Welt
  23. 4.3 Resümee
  24. 5 Kinder stärken: Unterstützungsmöglichkeiten der Entwicklung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren – eine kritische Betrachtung
  25. 5.1 Bedeutung des Spiels für die kindliche Entwicklung
  26. 5.1.1 Unterstützung der Entwicklung durch das Übungsspiel
  27. 5.1.2 Unterstützung der Entwicklung durch das Symbolspiel
  28. 5.2 Bedeutung von Peer-Beziehungen für die kindliche Entwicklung
  29. 5.2.1 Peer-Interaktionen als Erfahrungs- und Lernchance – Implikationen für Bildungs-einrichtungen
  30. 5.2.2 Konflikte als Erfahrungs- und Lernchance
  31. 5.3 Resilienzförderung
  32. 5.3.1 Maßnahmen zur Unterstützung der elterlichen Erziehungskompetenz
  33. 5.3.2 Resilienzförderung in Krippe und Kindergarten
  34. 6 Fazit: Kinderstärken – Kinder stärken
  35. Literatur

 

 

 

 

 

 

1

Einleitung

 

 

 

Kinder verfügen ab der Geburt über die biologische Ausstattung und den inneren Antrieb, um zu lernen und um sich ein Bild von der Welt und von sich selbst zu machen. Allerdings können Lern- und Entwicklungsprozesse in der frühen Kindheit nur dann gelingen, wenn sich Kinder aktiv mit den sie umgebenden Dingen und Situationen auseinandersetzen dürfen und wenn die Erfahrungen, die sie dabei machen, im Rahmen sozialer Interaktion, geteilt werden können.

Mit dem Verhältnis, in dem die Anlagen eines Menschen und die Umweltbedingungen zueinander stehen, und mit der Bedeutung, die sich daraus für die individuelle Entwicklung eines Menschen ergibt, haben sich sowohl die Sozialisationsforschung und die sozial-kognitive Lerntheorie als auch die psychoanalytische und die kognitive Entwicklungspsychologie sowie in jüngster Zeit auch die Neurobiologie beschäftigt. In Kapitel 2 werden die Erkenntnisse dieser Theorien, mit besonderem Fokus auf die ersten drei Lebensjahre, kurz vorgestellt.

Mit Rückgriff auf diese Erkenntnisse thematisiert der vorliegende Band in den Kapiteln 3 und 4 zunächst die kindlichen Voraussetzungen in den Bereichen der sozial-emotionalen und der kognitiven Entwicklung, um im Sinne dieser Buchreihe die Stärken der Kinder in diesen Entwicklungsbereichen deutlich zu machen. Lediglich angerissen wird dabei in diesem Band das Thema der Sprachentwicklung (vgl. dazu Röhner & König, 2015, im Basisband dieser Buchreihe) und die Bedeutung von Bindungsbeziehungen (vgl. dazu Griebel & Niesel, 2015, in dieser Buchreihe). Über alle Bereiche hinweg wird Entwicklung in der frühen Kindheit als ganzheitlicher und individueller Prozess verstanden. Ganzheitlich meint hier, dass es kaum möglich ist, in den ersten Lebensjahren die Entwicklung in verschiedenen Bereichen getrennt voneinander zu betrachten, weil Entwicklungsfortschritte in diesem Alter immer miteinander vernetzt und wechselseitig voneinander abhängig sind. Individuell bedeutet, dass die Entwicklung von Kind zu Kind sehr unterschiedlich verlaufen kann. Alle Kinder lernen im Rahmen einer gesunden Entwicklung zu laufen, zu sprechen, zu denken und sich sozial auszutauschen und alle Kinder entwickeln irgendwann die Einzigartigkeit ihrer eigenen Persönlichkeit. Aber nicht alle Kinder entwickeln diese Fähigkeiten exakt zur gleichen Zeit. Das eine Kind verzichtet zum Beispiel ganz auf das Krabbeln und läuft bereits mit neun Monaten. Ein anderes Kind macht die ersten Schritte erst im Alter von 18 Monaten. Manches Kind spricht mit zwei Jahren klar, deutlich und gut verständlich, ein anderes erzählt zwar viel, aber man versteht so gut wie nichts, und es klingt, als ob es in einer fremden Sprache spräche. Ein Kind ergeht sich mit knapp drei Jahren in einer unendlichen Vielzahl von Symbolspielen und ersten Rollenspielen, für ein anderes sind eher Bewegungsspiele attraktiv. Das eine Kind pocht mit zwei Jahren vehement darauf, alles alleine machen zu wollen, während ein anderes Kind im gleichen Alter sich noch ganz gerne verwöhnen lässt. Obwohl also auch in diesem Band durchaus sogenannte Meilensteine der Entwicklung dargestellt werden, die alle jungen Kinder zu bewältigen haben und die auch mit einem bestimmten Alter verbunden werden, muss doch darauf hingewiesen werden, dass jedes einzelne Kind diese Aufgaben, im Rahmen einer normalen Entwicklung, in recht unterschiedlichem Tempo angeht.

Kapitel 5 richtet den Blick dann auf Möglichkeiten der Entwicklungsunterstützung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren. Da, wie bereits erwähnt, Entwicklung als individueller und ganzheitlicher Prozess angesehen werden muss, kann die Anregung von Entwicklung nicht die isolierte Förderung einzelner Aspekte bedeuten, die für alle Kinder nach dem gleichen Programm abläuft. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass Entwicklungsanregung und -förderung individuell zugeschnittene Erfahrungsmöglichkeiten erfordern, die alle Sinne ansprechen. Auf eine Unterteilung zwischen Unterstützungsmöglichkeiten der sozial-emotionalen Entwicklung und Förderung der kognitiven Entwicklung wird daher in diesem Kapitel verzichtet. Zudem wird davon ausgegangen, dass die Unterstützung kindlicher Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren am besten in der alltäglichen sozialen Interaktion mit den Bezugspersonen und mit gleichaltrigen Spielpartnern stattfindet. Daher wird zunächst auf das kindliche Spiel und seine Bedeutung für die kindliche Entwicklung eingegangen sowie auf den Nutzen alltäglicher und positiver Kontakte zu Gleichaltrigen auch schon in der frühen Kindheit. Den Abschluss bildet schließlich die Darstellung und kritische Auseinandersetzung mit einigen präventiven Maßnahmen zur Resilienzförderung in Form von Interventions- und Trainingsprogrammen in der Familie und in der Kindertageseinrichtung.

Insgesamt wird in diesem Band Wert darauf gelegt, ressourcenorientierte Möglichkeiten für Erwachsene aufzuzeigen, um an den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Möglichkeiten der Kinder in den ersten drei Lebensjahren anzuknüpfen und durch diese Art der Unterstützung und Herausforderung, im wahrsten Sinne des Wortes, die Stärken der Kinder zu stärken (vgl. Büker, 2015, im Basisband dieser Buchreihe) und ihre Schwächen zu schwächen.

 

 

 

 

 

 

2

Biologische Ausstattung und soziale Erfahrungen: zwei starke Voraussetzungen für kindliche Entwicklung

 

 

 

Wenn ein Kind geboren wird, bringt es mehr oder weniger alles mit, was es braucht, um zu lernen und sich zu entwickeln. Es verfügt sowohl über die biologische Ausstattung als auch über den inneren Antrieb, um mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten und sich in ihr zu orientieren. Zudem verfügt es über ein einfaches Verhaltensrepertoire, um seine Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken und um Interesse oder Überforderung zu signalisieren. Das Kind ist also von Anfang an aktiv an seiner eigenen Entwicklung beteiligt, weil es über eine Grundausstattung von Fähigkeiten bzw. Anlagen verfügt, die es ihm erlauben, seine Umwelt wahrzunehmen und handelnd mit ihr umzugehen. Davon gehen mittlerweile alle modernen Entwicklungs-, Lern- und Sozialisationstheorien aus. Gleichzeitig kann ein Kind seine angeborenen Fähigkeiten nur nutzen und weiterentwickeln, wenn es die Möglichkeit zur sozialen Interaktion mit anderen Menschen erhält, die auf seine Bedürfnisse eingehen und ihm eine anregende Entwicklungsumwelt zur Verfügung stellen. Dies gilt insbesondere für den Beginn des Lebens, an dem der Säugling voll und ganz auf die Zuwendung und Fürsorge seiner Bezugspersonen angewiesen ist. Anlage und Umwelt beeinflussen sich demnach wechselseitig, wobei jedoch davon auszugehen ist, dass keine Erfahrung aus der Umwelt der anderen absolut gleicht und darüber hinaus jede Erfahrung von jedem Menschen individuell unterschiedlich verarbeitet wird. Dies wiederum führt dazu, dass nachfolgende Informationen aus der Umwelt auf der Grundlage vorangegangener eingeordnet, bewertet und verstanden werden. Auf dieser Grundlage wird Wirklichkeit konstruiert und es werden die Weichen gestellt, für die Art und Weise, mit der ein Mensch soziale Beziehungen eingeht, sich Wissen und Kompetenzen aneignet und seine Persönlichkeit entwickelt.

Nachfolgend wird kurz aus sozialisationstheoretischer, psychologischer und neurobiologischer Sicht erläutert, in welchem Verhältnis die verschiedenen Disziplinen die Bedeutung von Anlage und Umwelt sowie deren Wechselspiel in Bezug auf die Entwicklung der Persönlichkeit, der sozialen und emotionalen Kompetenzen sowie den Aufbau kognitiver Strukturen sehen.

2.1        Kindliche Entwicklung aus Sicht der Sozialisationsforschung

Als Sozialisation wird jener Prozess bezeichnet, »in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt« (Hurrelmann, 2002, S. 15). Damit spielen in der Sozialisationstheorie sowohl die Anlagen des Menschen eine Rolle als auch die Bedingungen der Umwelt und ihre Verarbeitung. Für eine gelungene Persönlichkeitsentwicklung ist entscheidend, wie gut es dem Individuum gelingt, seine genetischen Anlagen zu nutzen und sich den gegebenen Umweltbedingungen anzupassen.

Sozialisationstheoretiker, die sich mit der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen beschäftigen, sehen in der genetischen Ausstattung den Möglichkeitsraum, in dem der einzelne Mensch sich entwickeln und lernen kann. Damit legen die Gene oder Anlagen also die Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen fest, über die er nicht hinausgehen kann. Gleichzeitig beeinflussen die genetischen Anlagen die Entwicklung und das Lernen jedoch nicht direkt. Ob sie zum Zuge kommen bzw. aktiviert werden, hängt stark von den sozialen und materiellen Umweltbedingungen ab. Die Umwelt kann sowohl Bedingungen bereitstellen, durch die die genetische Anlagen umfassend genutzt werden können, als auch Bedingungen schaffen, die dazu führen, dass die genetischen Dispositionen völlig ungenutzt bleiben bzw. niemals zu Tage treten (vgl. Hurrelmann, 2002).

Für eine gelungen Persönlichkeitsentwicklung kommt es jedoch nicht nur darauf an, wie gut genetische Anlagen und Umweltbedingungen zueinander passen, sondern auch auf die Art und Weise, wie sich der einzelne Mensch mit unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben auseinandersetzt und wie er sie verarbeitet. Hurrelmann spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Menschen über die gesamte Lebensspanne hinweg »jeweils ihren Möglichkeiten entsprechend die produktive Verarbeitung der inneren und äußeren Realität vornehmen« (Hurrelmann, 2002, S. 35). Die innere Realität bezeichnet hier die genetischen Dispositionen, mit der äußeren Realität sind die Umweltbedingungen gemeint (s. Abb. 1). Mit dem Begriff der produktiven Verarbeitung wird der individuelle und aktive Prozess beschrieben, in dem die eigenen Möglichkeiten mit den Gegebenheiten der Umwelt abgestimmt und angepasst werden, zum Zwecke einer Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit.

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Abb. 1: Das Verhältnis von innerer und äußerer Realität (Hurrelmann, 2002, S. 27) Quelle: Klaus Hurrelmann (2002). Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim: Beltz

Beeinflusst werden Umweltbedingungen und die Art und Weise ihrer Verarbeitung in der frühen Kindheit vor allem durch die Familie als primäre Sozialisationsinstanz. Später kommen mit dem Kindergarten, der Schule und der Gruppe der Gleichaltrigen weitere Sozialisationsinstanzen hinzu. Bezogen auf die primäre Sozialisationsinstanz Familie benennt Schneewind (2008) drei zentrale Aspekte durch die Eltern auf die Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Kinder einwirken. Zum einen sind Eltern die ersten Interaktions- und Beziehungspartner ihrer Kinder, zum anderen werden sie als Erziehungspersonen und Bildungsbegleiter gesehen und drittens sind sie Arrangeure kindlicher Entwicklungsgelegenheiten (vgl. Schneewind 2008, S. 260ff).

Als in der Regel erste Interaktions- und Beziehungspartner ihrer Kinder sind bei den Eltern vor allem zwei Verhaltensmuster von Bedeutung. Zum einen handelt es sich dabei um responsives Verhalten, d. h. das prompte und feinfühlige Reagieren auf die kindlichen Signale. Responsivität trägt dazu bei, dass Kinder sich in emotional unsicheren Situationen auf ihre Eltern verlassen und fördert den Aufbau einer sicheren Bindungsbeziehung. Darüber hinaus hilft elterliche Responsivität den Kindern, negative Emotionen zu regulieren und empathisches Verhalten gegenüber anderen zu zeigen. Bei dem zweiten bedeutsamen Verhaltensmuster handelt es sich um die Wärme, d. h. die positive Zugewandtheit im Umgang mit dem Kind, in Situationen, die für das Kind mit einer emotional positiven Grundstimmung verbunden sind. Elterliche Wärme unterstützt das Kind darin, kompetent mit positiven Emotionen umzugehen und fördert die Bereitschaft des Kindes sich emotional auf Beziehungen mit anderen Menschen einzulassen (vgl. Schneewind, 2008).

Beeinflusst wird die Entwicklung im sozialen, emotionalen und kognitiven Bereich unter anderem durch den elterlichen Erziehungsstil (vgl. Mischo, 2009). Im Allgemeinen werden in der Literatur vier Erziehungsstile voneinander unterschieden, die die kindlichen Bedürfnisse nach emotionaler Unterstützung und Wärme auf der einen Seite und nach Herausforderungen sowie Regeln und Grenzen auf der anderen Seite in unterschiedlicher Weise berücksichtigen (s. Abb. 2).

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Abb. 2: Erziehungsstil-Dimensionen (Fröhlich-Gildhoff, 2013, S. 78) Quelle: Klaus Fröhlich-Gildhoff (2013). Angewandte Entwicklungspsychologie. Begleiten, Unterstützen und Fördern in Familie, Kita und Grundschule. Stuttgart: Kohlhammer

Eltern mit einem autoritären Erziehungsstil zeigen in der Regel eine zurückweisende Haltung gegenüber dem Kind. Sie sorgen zwar für kognitive Herausforderungen, nehmen aber auch in stark einschränkender und strafender Weise Einfluss auf das Kind. Bei einem permissiven Erziehungsstil haben die Eltern zwar durchaus eine akzeptierende und emotional warme Haltung gegenüber dem Kind, sind jedoch wenig fordernd und stellen keine klaren Regeln auf. Die Kinder dürfen weitgehend tun, was sie wollen. Demgegenüber stellen Eltern mit einem autoritativen Erziehungsstil, ähnlich dem autoritären Stil, hohe Anforderungen an ihre Kinder und setzen klare Grenzen, die jedoch nicht willkürlich sind, sondern den Entwicklungsstand des Kindes mit berücksichtigen. Gleichzeitig nehmen sie die Bedürfnisse und Ansichten ihrer Kinder ernst und ermöglichen ihnen viel Autonomie und eigene Entscheidungen. Darüber hinaus gewähren sie ihren Kindern, ähnlich dem permissiven Erziehungsstil, die emotionale Unterstützung und Wärme, die diese benötigen, und behandeln sie respektvoll. Eltern mit diesem Erziehungsstil weisen auf unterschiedlichen Ebenen Kompetenzen auf. Schneewind (2008) unterscheidet dabei zwischen den selbstbezogenen, den kindbezogenen, den kontextbezogenen und den handlungsbezogenen Kompetenzen. Diese Kompetenzen beinhalten u. a., dass Eltern dazu in der Lage sind, sich Wissen über die kindliche Entwicklung und den Umgang mit Kindern anzueignen, kindliche Potentiale zu erkennen und den Kindern Freiräume für eigenes Handeln einzuräumen, Entwicklungsgelegenheiten zu arrangieren sowie konsequent zu handeln, aber ihr Handeln auch zu verändern und an andere Gegebenheiten anzupassen. Dadurch gilt der autoritative Erziehungsstil als besonders günstige Voraussetzung für die sozial-emotionale und die kognitive Entwicklung von Kindern. Als vierter Erziehungsstil wird der vernachlässigende Stil benannt. Hier interessieren sich die Eltern kaum für ihre Kinder, stellen ihnen in keiner Weise Herausforderungen, vermitteln ihnen aber auch kaum Wärme und emotionale Unterstützung. Kinder, die diesen Erziehungsstil erfahren, sind stark ihn ihren kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklungschancen eingeschränkt.

Neben der Qualität des elterlichen Beziehungsangebots und dem Erziehungsstil nehmen Eltern Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder, indem sie Lernumwelten außerhalb der Familie auswählen und gestalten. Auffällig ist in diesem Zusammenhang vor allem die unterschiedliche Nutzung außerfamiliärer Bildung, Erziehung und Betreuung in den ersten drei Lebensjahren. Jüngere Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund, aus sozioökonomisch schwachen Familien und aus Familien mit niedrigem Bildungsniveau besuchen deutlich seltener eine Kindertageseinrichtung. Zudem weisen Einrichtungen, die von diesen Kindern besucht werden, häufig eine geringere Qualität auf (vgl. Edelmann, Schmidt & Tippelt, 2012, S. 138f).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Sozialisationsforschung auf die primäre Sozialisationsinstanz Familie aufmerksam macht, die gelungene oder weniger gelungene soziale Interaktionen und Beziehungserfahrungen anbietet, in der Kinder angemessene und weniger angemessene Erziehungsstile erleben und günstige oder ungünstige Entwicklungsumwelten und Entwicklungsimpulse vorfinden, welches sich sowohl auf die sozial-emotionale als auch auf die kognitive Entwicklung auswirken kann (vgl. Thomas & Feldmann, 2002, S. 359ff).

2.2        Kindliche Entwicklung aus Sicht der Psychoanalyse