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Wir danken für die Unterstützung:
Regierungsrat des Kantons Aargau

Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft

Präsidialdepartement der Stadt Zürich

Stadt Brugg

Stiftung der Schweizerischen Landesausstellung 1939 für Kunst und Forschung

Dr. Adolf Streuli-Stiftung, Zürich

Aargauische Gemeinnützige Frauenvereine

Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit, Zürich

Chan Schrafl, Maur

Walter Stoll & Co., Kaffee-Rösterei, Zürich

Zonta-Club, Zürich

Dieses Buch ist nach den neuen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckige Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Lektorat: Simon Wernly, hier + jetzt

Gestaltung: Christine Hirzel, hier + jetzt

Bildverarbeitung: Humm dtp, Matzingen

©2007 hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden

www.hierundjetzt.ch

eBook-ISBN 978-3-03919-729-3

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Einleitung

 

Das Kind vom Land – Leben in Bözen

Die Eltern: Henriette Benker und Julius David Vögtlin

Eine durchaus gediegene Mädchenbildung

Rudolfine oder die grosse, städtische Welt

Fritz Erismann, charmanter Rebell und Maries erster Verlobter

«Zu sterben wäre ich freudig bereit gewesen» – Schicksalsjahr 1867

Marie Ritter, die verlässliche Vertraute

Das Brugger Kinderspital und seine Gründerin «Tante Rahn»

Die Würfel fallen

Ein «schüchterner Versuch, vom Baum der Erkenntnis zu naschen»

Erste Schritte in der akademischen Welt

Maries Kolleginnen – «über alle Massen zuvorkommend und liebevoll»

Sophie Heim – von der Freundin zur Schwägerin

Susan Dimock, unternehmungslustige Kollegin, schmerzlich vermisste Freundin

Wie man in den Wald ruft, kommt es zurück – Maries Studienkollegen

«Der liebe Professor war überaus besorgt für uns»

Wer den Rappen nicht ehrt, ist des Frankens nicht wert

Die Russinnen kommen – oder: Sturm im Wasserglas

«Jetzt fällt mir der letzte solche Stein vom Herzen» – Studienabschluss

Das «Haus, wo es mir so durch und durch wohl ist» – Marie bei Familie Heim

«An ihrem Ziel das höchste geistige Interesse genommen» – Albert Heim

«… wo die Zitronen blühn» – Marie und Albert auf Hochzeitsreise

Mit Feuer und Flamme für das Frauenstimmrecht

Maries Praxis – das Leben ihrer Wahl

Arnold – Maries «Alleinherrscher»

Im Sommer das «Hüsli», im Winter der Christbaum

Helene und Marie – eine Mutter-Tochter-Beziehung mit Tücken

Die Sternschnuppe – Röslis Geburt und Tod

Der grosse Onkel und sein kleines Geheimnis

«Diese Kinder lasse ich nicht fahren …» – das Ende einer langen Freundschaft

Die Geschichte einer schmerzhaften Ablösung – Arnolds Erwachsenwerden

«Denke an Goethe! Was wäre er als Euer Kind geworden?»

Maries Wunsch: «recht helfen können, nicht nur tröpfliweise»

Von Frauen ins Leben gerufen und von Frauen geleitet – die Pflegerinnenschule

Schwerer Abschied vom Leben

Wie es weiter ging

 

Anmerkungen

Bibliografie

Bildnachweis

Personenregister

Einleitung

Für mehrere Generationen war Marie Heim-Vögtlin ein wegweisendes Vorbild. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die an der Landesausstellung von 1939 in der Galerie bedeutender Schweizerinnen und Schweizer mit einem Porträt geehrt wurden. Mit der Neuen Frauenbewegung nach 1968 verblasste ihr Stern. Diese Generation stiess sich daran, dass Marie Heim-Vögtlin keiner politischen Bewegung angehörte, dass sie als verheiratete Frau den Schutz eines prominenten Gatten genoss und dass sie private Wohltätigkeit betrieb, statt eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu fordern.

Nachdem diese «Neue» Frauenbewegung ihrerseits ins Alter gekommen ist, fördert ein Blick auf Maries Leben Erstaunliches zu Tage. Genau wie die erste Schweizer Ärztin jonglieren auch heutige berufstätige Familienmütter mit zu vielen Bällen aufs Mal. Marie bewältigte ihren anspruchsvollen Alltag trotz regelmässig wiederkehrenden Migräneattacken. Für sich und ihre Nachfolgerinnen hatte sie das Recht auf Bildung erkämpft. Zahlreiche andere Pionierinnen der alten Frauenbewegung setzten sich ihrerseits für die rechtliche und politische Besserstellung der Frau ein. So veränderte sich in der Schweiz gerade in den letzten Jahrzehnten manches zugunsten der Frauen. Marie hätte sich über das Stimmrecht und die rechtliche Gleichstellung von Frau und Mann gefreut, denn die damalige juristische Benachteiligung der Frau zermürbte sie im Alltag.

Als sich die 23-jährige Marie Vögtlin zum Studium entschloss, hatte sie das Glück, an der Universität Zürich auf verständnisvolle Professoren zu stossen. Solche Männer waren die Ausnahme. Die älteste Schweizer Universität, Basel, liess Frauen erst 1890 zu. Marie stand bereits über zwei Jahrzehnte im Beruf, als der Direktor des Klinischen Instituts für Chirurgie an der Charité Berlin, Ernst von Bergmann, 1896 die Frage nach dem Frauenstudium mit einem Satz abschmetterte: «Ich halte die Frauen zum akademischen Studium und zur Ausübung der durch dieses Studium bedingten Berufszweige für in körperlicher und geistiger Beziehung für völlig ungeeignet.»1 Im Jahr 1900 gab es in der Schweiz erst 26 Ärztinnen, 1928, im Jahr der ersten SAFFA (Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit), waren von den rund 3300 in der Schweiz praktizierenden Ärzten 128 Frauen, knapp 3,9 Prozent. In den 1930er-Jahren meldete sich gar eine – allerdings einsame – Stimme in der «Schweizer Ärztezeitung», die Frauen seien vom Medizinstudium auszuschliessen und zum Pflegeberuf hinzuführen, um die Konkurrenz unter Ärzten abzuschwächen.

Der stille Held dieser Biografie ist Maries Vater Julius David Vögtlin. Ohne die Unterstützung dieses konservativen Theologen hätte sie nie ihren Weg gehen können. Er verdient umso mehr Bewunderung, als er persönlich ein Gegner des Frauenstudiums war und aus reiner Liebe zu seiner Tochter handelte. Mutig setzte er sich über die Vorurteile seiner Umgebung hinweg. Nicht nur vertraute er seiner Tochter, er war bereit, für ihre Ausbildung ein halbes Vermögen zu investieren. Die Familienkonstellation erwies sich für Marie ebenfalls als günstig: Die ältere Schwester Anna war bereit, dem verwitweten Vater den Haushalt zu führen. Da der Bruder als Kleinkind gestorben war, standen finanzielle Mittel für eine Ausbildung der Tochter zur Verfügung.

Wäre Marie ein berühmter Staatsmann gewesen, hätten öffentliche Amtsstellen rechtzeitig ihre Dokumente gesammelt und archiviert. Bei Privatpersonen ist die Überlieferung mehr oder weniger zufällig. Kurz nach Maries Tod verfasste die Schriftstellerin Johanna Siebel (1873–1939) eine Biografie. Das Buch erlebte sechs Auflagen, und der Verkauf von 12 000 Exemplaren ist ein Hinweis für das Ansehen, das Marie in jener Zeit genoss. Eine Reihe Briefe, die Siebel zitierte, sind heute verschollen. Bei jenen Briefen, die zum Beispiel im Medizinhistorischen Institut der Universität Zürich erhalten sind, lässt sich Siebels Zuverlässigkeit überprüfen. Alle direkten Zitate sind korrekt, einzig Auslassungen werden nicht angegeben. In der Regel betreffen diese Auslassungen Drittpersonen. In dieser Biografie werden inzwischen verschollene Briefe, die Siebel wörtlich zitiert, als Quelle benutzt.

Johanna Siebel und die Autorinnen und Autoren der zahlreichen Nachrufe betonen, Marie Heim-Vögtlin sei eine wunderbare Hausfrau und keine emanzipierte Frauenrechtlerin gewesen. Sie verstanden es als Kompliment. Spätere Generationen übernahmen diese Wertung unkritisch und machten Marie die Häuslichkeit zum Vorwurf. Wer die Quellen mit heutiger Brille liest, entdeckt eine junge Frau, die das überlieferte Frauenbild radikal in Frage stellte. Dass Marie daneben eine tüchtige Hausfrau und fleissige Gärtnerin war, sollte niemanden erschrecken. Sie war ebenso eine weit überdurchschnittlich sportliche Bergsteigerin, die einige Professoren von der Gleichwertigkeit der Studentinnen ausgerechnet auf strengen Touren überzeugte, wo sie und ihre amerikanische Freundin mehr Ausdauer als die jungen Männer zeigten.

Von Anfang an war sich Marie bewusst, dass sie im Interesse der Frauen nicht scheitern durfte. Als sie die nachgeholte Maturitätsprüfung bestanden hatte, jubelte sie: «Ich bin doch so froh; niemals dachte ich, dass es so gehen würde; mehr froh noch wegen der Frauen im allgemeinen als wegen mir selbst.»2 Diese Vorbildfunktion war nicht immer einfach.

Maries Gatte, Albert Heim, war bedeutender Geologe und Kynologe und wichtiger Professor am Polytechnikum (ab 1911 Eidgenössische Technische Hochschule ETH). Die Familie überliess seinen und den Nachlass des Sohnes Arnold der ETH. In diesen Nachlässen befinden sich Dokumente, die sich direkt auf Marie Heim-Vögtlin beziehen. Andere Papiere sind indirekt mit ihr verknüpft, wie die betont wissenschaftliche Chronik der Hochzeitsreise oder das Tagebuch, das der Vater über seinen kleinen Sohn Arnold verfasste und das einen Einblick in Alberts Gemütsleben erlaubt. Im Medizinhistorischen Institut der Universität Zürich sind vor allem Dokumente aus der Studienzeit verfügbar.

Mehr noch als heute lebten die Menschen im 19. Jahrhundert in einem engmaschigen Netz. Auf kleinem Raum wohnte man nahe beieinander, so dass es kaum private Rückzugsmöglichkeiten gab. Innerhalb der Familie besuchte man sich regelmässig oder pflegte fortwährend schriftlichen Kontakt. Marie schrieb beispielsweise ihrer Schwester Anna jede Woche einen Brief. Diese Korrespondenz ist zum grössten Teil verloren, weshalb die Persönlichkeit Anna Vögtlins blass bleiben muss. Von Maries Vater ist kein einziges privates Schriftstück überliefert.

Lauter tüchtige Hausfrauen: Die Schwestern Roth aus Lenzburg, später Elise Ringier-Roth und Emilia Louise Tobler-Roth, Trogen, waren mit Marie befreundet. Im Album für Arnold gibt es immer wieder knappe Hinweise auf Begegnungen. Marie, zweite von links, sitzt im Vordergrund.

Freundinnen waren wichtige Vertraute. Glücklicherweise schrieb Maries Jugendfreundin Marie Ritter aus Schwanden ihre Lebenserinnerungen auf, die einen ausgezeichneten Einblick in das Leben einer unverheirateten, hochintelligenten Frau ihrer Epoche erlauben. Hätte Marie keine Gelegenheit zum Studium gehabt, wäre ihr Leben vielleicht in ähnlichen Bahnen verlaufen. – Für die historische Überlieferung wirkte sich der frühe Tod von Maries amerikanischer Studienfreundin Susan Dimock ebenfalls günstig aus. Die geschockten Freunde sammelten Erinnerungen und veröffentlichten sie als «Memoir», das Einblicke in Studien- und Arbeitsbedingungen jener Zeit gibt.

Andere Freundinnen Maries kennen wir höchstens mit Namen. So gab es mehrere Schwestern Roth aus Lenzburg, die gemäss Alberts Kindertagebuch als «Frau Tobler-Roth oder Frau Ringier-Roth» zu Besuch kamen, aber weiter nicht fassbar sind.

Verschiedene Männer spielten in Maries Leben eine grosse Rolle. Mit ihrem Vater muss sie zutiefst verbunden gewesen sein. Ihr erster Verlobter, Friedrich Erismann, öffnete ihr den Blick auf eine grössere Welt. Als er sie verliess, um Nadejda Suslova, die erste russische Ärztin zu heiraten, fand Marie nach einer schweren Krise die Kraft, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Ihr Ehemann Albert Heim liebte seine Frau und legte ihr keine Steine in den Weg. Seine eigene Berufstätigkeit nahm ihn allerdings voll in Beschlag, sodass Marie in vielem auf sich selbst gestellt war. Eine enge, teils recht konfliktreiche Beziehung verband sie mit ihrem erwachsenen Sohn Arnold. Ihre Freundschaft mit dem Vater ihres Pflegekindes, Johannes Hundhausen, lässt sich nicht mehr dokumentieren, war aber zeitweise sehr herzlich.3

Maries Leben spielte sich vor dem Hintergrund eines rasanten politischen und gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen und technischen Wandels ab. In ihrem Leben spiegelt sich immer wieder diese bewegte Epoche. Marie war zwei Jahre alt, als die erste Eisenbahn zwischen Zürich und Baden den Betrieb aufnahm. Am 3. Oktober 1898 überquerte ihr Gatte im Ballon «Wega» die Alpen, vier Jahre nach ihrem Tod kaufte sich Sohn Arnold 1920 ein Flugzeug. Marie erlebte die Einführung der Elektrizität und des Telefons. Sie war drei Jahre alt, als der Bundesstaat gegründet wurde, als Studentin verfolgte sie 1871 die Entstehung des deutschen Kaiserreichs mit, sie starb mitten im Ersten Weltkrieg, der den Untergang des alten Europa einläutete.

Als Marie zum Studium nach Zürich kam, zählte die Stadt rund 20 000 Einwohner. Im Jahr von Arnolds Geburt, 1882, verkehrte in Zürich das erste Rösslitram. Mit der Eingemeindung der umliegenden Dörfer – auch Maries Wohnort Hottingen gehörte ab dem 1. Januar 1893 zur Stadt – schnellte die Einwohnerzahl auf 121 057. 1901 lebten bereits 150 000 Menschen in Zürich, 1912 über 200 000.

Solche Veränderungen kannten nicht nur Gewinnerinnen und Gewinner. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts taten sich Frauen zusammen, um den Menschen auf der Schattenseite des Lebens beizustehen. Marie Heim-Vögtlin nahm ihre soziale Verantwortung wahr und engagierte sich nicht nur in privater Wohltätigkeit, sondern auch in der Sittlichkeits- und Abstinenzbewegung. Als eine der Gründerinnen der Schweizerischen Pflegerinnenschule schuf sie ein Frauenwerk, das rund 100 Jahre Bestand hatte. Die Privilegien, die sie dank ihrer akademischen Ausbildung genoss, empfand sie – ganz im Geist des 19. Jahrhunderts – stets als Verpflichtung.

Das Kind vom Land – Leben in Bözen

«Ich erlebte meine ganze Kindheit auf dem Lande. Da ich in dem einsamen Dorfe Bözen keine Gespielen hatte, so suchte ich meine Vergnügungen in Feld und Wald und es ist wohl dieser Umstand, dem ich meine spätere Liebe zu Naturwissenschaften verdanke. Die Freude meiner frühesten Kinderjahre, zu denen meine Erinnerung zurück reicht, waren Blumen und Wurzeln auf Wiesen und Feldern zu Hausmitteln zu suchen; ich sammelte Schneckenschalen von allen Arten, erzog Raupen zu Schmetterlingen, beobachtete die verschiedenen Arten von Ameisen und brachte ihnen allerlei Futter […].»1 Mit dieser Beschreibung einer idyllischen Welt beginnt die 25-jährige Studentin Marie Vögtlin einen Lebenslauf, den sie für die Aargauer Erziehungsdirektion schrieb.

Am Zürcher Schreibtisch erinnert sich die junge Frau 1870 an die Abgeschiedenheit ihres Dorfes, an das Fehlen seelenverwandter Freundinnen, an beglückende Naturerlebnisse, an erste wissenschaftliche Neugier. Dann kokettiert sie mit Wissen, das sie sich wohl vor nicht allzu langer Zeit erworben hatte: «Die Glanzpunkte meiner Tage waren die Entdeckungsreisen auf die benachbarten Hügel, wo ich in glühender Sonne stundenlang umher kroch, um die im Jura häufig versteinert vorkommenden Ammonites und die gegliederten Stiele des Haarstern Cuerium liliformis zu suchen.»2 Maries Liebe zur Botanik begleitete sie ein Leben lang, wie Briefe aus der Studienzeit und Fotos der alten Frau belegen.

An ihre Schwester Anna Vögtlin schrieb Marie während Jahrzehnten jede Woche einen Brief, die Korrespondenz ist grösstenteils verschollen. Anna besorgte den Haushalt ihres verwitweten Vaters bis zu dessen Tod.

Marie Vögtlin kam als jüngstes Kind ihrer Familie am 7. Oktober 1845 im Pfarrhaus des «einsamen Dorfes» Bözen zur Welt. Das Aargauer Strassendorf Bözen liegt westlich des eigentlichen Bözbergs, damals die kürzeste Landverbindung von Zürich nach Basel. Bis heute sind in der Nähe Spuren der alten Römerstrasse sichtbar; völlig im Abseits, wie es dem kleinen Mädchen schien, lag Bözen also nicht.

Die Volkszählung von 1850 zeichnet ein buntes Bild von Maries Umfeld. Die Statistik führt neben der fünfjährigen Marie ihre Mutter Henriette Vögtlin-Benker (*1802), den Vater, Pfarrer Julius David Vögtlin (*1813), die zwei Jahre ältere Schwester Anna (*1843) sowie die Dienstmagd Elisabeth Brändli (*1799) als Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses auf – für damalige Verhältnisse eine ausgesprochene Kleinstfamilie. Der ältere Bruder Julius (1842–1843) war im Alter von knapp einem Jahr gestorben und bleibt unerwähnt. – Das Pfarrhaus selbst wurde 1824/25 als schlichtes, klassizistisches Gebäude errichtet. An der Rückseite befindet sich eine Holzlaube über vier dorischen Eichen-Säulen.3 In Maries Kindheit war die Liegenschaft recht modern, aus heutiger Sicht wirkt sie romantisch und bescheiden.

Am Stichtag der Volkszählung hatte die Gemeinde 539 Einwohner, die vornehmlich in Landwirtschaft und Rebbau – rund 50 Hektaren – tätig waren. Während Maries Kindheit besserten zahlreiche Haushalte ihr mageres Einkommen mit dem Zurichten von Stroh für die Strohindustrie auf.4

In Bözen lebten der Gemeindeschreiber, je ein Wagner, Krämer, Küfer und Steinhauer, zudem jeweils ein Drechsler, Wegknecht, Stationsadjunkt, Bäcker und Schmied. Es gab je zwei Metzger, Zimmerleute und Schreiner, Näherinnen und Maurer, ebenfalls zwei Wirte und zwei Postillione (Postkutscher). Später wurde Marie Zeugin des Eisenbahnbooms, doch während ihrer Kindheit bedeutete die Pferdepost Mobilität.

Im Pfarrhaus in Bözen kam Marie 1845 zur Welt und verbrachte da ihre Kindheit.

Die Schneider waren zu viert, man zählte diverse Dienstmägde, Dienstknechte sowie Lumpensammler-Landarbeiter. Der Pfarrer mit seinem Siegrist und schliesslich ein Johann Heuberger (*1764), der als Beruf «Capitalist» angab, waren vermutlich zusammen mit dem «medicinischen Doktor», dem 1817 geborenen Johann Gottlieb Märk, so etwas wie die Prominenz des Ortes. – Im Dorf lebten auch einige Fremde: Vier Dienstknechte, zwei Dienstmägde und die beiden Postillione stammten aus dem benachbarten Grossherzogtum Baden. – Am Stichtag hielten sich andererseits 20 Bözener im Ausland auf, 19 lebten in Amerika und einer in Frankreich.5

Die zwei Schullehrer betreuten jeder eine Abteilung, die Unter- und die Oberstufe. 1825 hatte Bözen diese Aufteilung eingeführt und für die Oberstufe Johannes Kistler eingestellt. Dieser war einer der ersten Aargauer Schulmeister, der eine fachliche Ausbildung im damals neu gegründeten Lehrerseminar besucht hatte. Seine Klasse zählte jeweils zwischen 60 und 70 Kinder. Zu Beginn seiner Laufbahn erhielt er eine Entschädigung von jährlich 130 Franken. Über fünf Jahrzehnte prägte er das Schulleben, erst am 28. Mai 1878 ging er in Pension.6

Unter mühseligen Bedingungen produzierten Kleinbauern auf winzigen Flächen für den Eigenbedarf. Im Dorf gab es zudem eine Anzahl Rebberge. 1866, zwei Jahre nachdem Marie mit ihrer Familie Bözen verlassen hatte, fand eine Viehzählung statt. Sie erlaubt einen Blick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse. In Bözen lebten im Stichjahr 1866 82 Kühe, 99 Schweine und 85 Ziegen, jemand besass zwei Schafe, keiner der Bauern hatte ein Pferd.7 Der Charakter dieses Viehbestands deutet auf ein armes Dorf, man zählte mehr Ziegen als Kühe, die Milch diente in erster Linie der Selbstversorgung. – Im April 1902 machte Marie mit ihren Kindern einen Ausflug nach Bözen und zeigte ihnen ihr Geburtshaus und «Grossdättes» Kirche. Ihr Sohn Arnold hielt das Ereignis fotografisch fest: Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts holten die Frauen Wasser am Dorfbrunnen.8

Im April 1902 fotografierte Maries Sohn Arnold auf einem Familienausflug den Dorfbrunnen in Bözen. Noch immer holten die Frauen hier das Wasser.

Die kleine Pfarrerstochter ging nicht nur in der freien Natur auf Entdeckungsreise, sondern half – wie die Bauernkinder ihrer Umgebung – tüchtig mit: «Daneben arbeitete ich viel auf dem Feld mit unsern Tagelöhnern, und mein grösster Stolz war, wenn ich ebenso schwer geladene Kartoffelkörbe, ebenso grosse Garben wie unsere Nachbarskinder nach Hause tragen konnte.»9 Ihre Biografin Johanna Siebel berichtet über Maries Kindheit: «Die kleinen Mädchen wurden streng gehalten, mussten stundenlang nähen und stricken, und für geringfügige Vergehen wurden sie mit Freiheitsstrafen bedacht.»10 In Maries Lebenslauf für die Aargauer Regierung sind Handarbeiten kein Thema. Für eine junge Frau waren solche Fertigkeiten selbstverständlich und, im Gegensatz zu den Naturbeobachtungen, für Maries angestrebtes Berufsziel unerheblich.

Die sonnige Erinnerung an das Bözen ihrer Kindheit steht in merkwürdigem Gegensatz zu tragischen Vorfällen, die in jenen Jahren den Kanton Aargau und die künftige Schweiz erschütterten. In Maries Geburtsjahr schlossen sich die katholischen Kantone zum Sonderbund zusammen – ein Entscheid, der 1847 den bislang letzten innerschweizerischen Bürgerkrieg auslöste. Erst nach dem Sieg über die «Sonderbündler» war ein moderner Bundesstaat möglich, gab es Platz für die neue Schweiz. Ob die dreijährige Marie «hinter den sieben Bergen» etwas davon mitbekam? Ihre etwas ältere Freundin Marie Ritter (1842–1933) beschrieb in ihren Lebenserinnerungen den Abmarsch der Soldaten in ihren farbigen Uniformen.

Doch zurück ins Jahr 1845. Damals vernichtete eine Pilzkrankheit, die Braunfäule, europaweit die Kartoffelernte. Innert weniger Wochen wurden grüne Felder braun, die Erdäpfel schrumpften schon im Boden und waren ungeniessbar. – Bereits seit rund hundert Jahren waren Kartoffeln im Aargau ein Hauptnahrungsmittel der Kleinbauern und Kleinhandwerker. Deshalb hatte die Kartoffelfäule vor allem für die arme Bevölkerung verheerende Folgen. In zahlreichen Gemeinden mussten Sparsuppenanstalten die Menschen vor Hunger und Krankheit bewahren. Diese Katastrophe läutete eine Auswanderungswelle ein. Die Missernte von 1850 war ein weiterer Rückschlag für arme Dorfbewohner. 1854, auf dem Höhepunkt der Auswanderung, suchten 41 Bözener ihr Glück in Übersee.11

Wie erwähnt, war Marie im Lauf ihres Lebens Zeugin, wie die Schweizer Industrie aufblühte und wie ihre Heimat zum Eisenbahnland wurde. 1847 fuhr die sogenannte Spanischbrötlibahn zwischen Baden und Zürich. Während ihrer Kindheit stritt man sich heftig über die Frage des Verlaufs der Bahnlinien. Grosse wirtschaftliche und lokale Interessen standen auf dem Spiel. Durch welche Gegenden sollte beispielsweise die Bahnlinie von Baden in Richtung Basel führen? Die Zürcher «Handels- und Gewerbezeitung» kommentierte: «Der Plan [einer Bözbergbahn] erhält eine europäische Wichtigkeit. Der diametrale Handelsweg über die Landenge von Suez nach Ostindien kann für den Westen Europas keine kürzere Route einschlagen.»12

Maries Landschaft als Teil der grossen Welt – ein Punkt auf der Landkarte zwischen Paris und dem 1869 eröffneten Suez-Kanal? Maries Bözener Träume waren handfester. In jenem Jahr 1869 schrieb die Studentin aus Zürich an ihren Vater, sie habe von der Pfarrwahl in Bözen geträumt: «Am Himmelsfahrtstag früh träumte ich so lebhaft, ich war in der Kirche von Bözen und sah, wie man die Stimmen zählte und Herr Keller hatte die Mehrheit für sich.»13 Jakob Keller wurde tatsächlich gewählt.

Während ihres ganzen Lebens blieb das Dorf in Maries Briefen gegenwärtig. Wenige Wochen vor ihrem Tod bat sie ihre Schwester Anna um Hilfe: «Wo muss man dies Jahr Härdöpfel hernehmen? […] Wie steht es wohl damit in Bözen? Haben sie gute und übrig zum Verkaufen? Ich würde ja den höchsten Preis bezahlen. Und dann nimmt mich wunder, wie es dort dem Chüeli geht.»14 Wie in ihrem Geburtsjahr waren auch 1916 die Kartoffeln im Boden verfault.

Die Eltern: Henriette Benker und Julius David Vögtlin

Maries Mutter Henriette Benker stammte aus einer Thurgauer Theologendynastie. Ihr Vater – Maries Grossvater – Johann Ulrich Benker1 (1766–1850) war Theologe wie schon zuvor sein Vater, sein Grossvater und der ältere Bruder. Einzig der jüngere Bruder Conrad entzog sich der Familientradition und wurde Arzt. Gute Stellen waren damals rar, junge Theologen warteten oft jahrelang auf ein geregeltes Auskommen und sahen sich gezwungen, eine Familiengründung immer wieder aufzuschieben. In Benkers Heimatstadt Diessenhofen hatte sich bereits Johann Ulrichs Bruder Leodegar niedergelassen, als sich mit dem Untergang des Ancien Régime Johann Ulrich Benker eine unerwartete Karrieremöglichkeit eröffnete.

Nach dem Einmarsch der französischen Truppen brach 1798 die Alte Eidgenossenschaft zusammen. Die meisten Berner Theologen, die bis anhin die kirchlichen Ämter im Aargau besetzt hatten, zogen sich überstürzt aus dem ehemaligen Untertanenland zurück.2 Die militärische Besetzung brachte viel Leid ins Land, doch eröffneten die Wirren manchen Menschen auch neue Perspektiven. Maries Grossvater nutzte seine Chance, verliess die thurgauische Heimat und wanderte aus.

Ein Blick auf Benkers Stammbaum zeigt eine Familiengeschichte, wie sie für jene Epoche typisch ist. Innerhalb von 24 Jahren brachte Johann Ulrichs Mutter neun Kinder zur Welt. Susanne Benker-Huber, Maries Urgrossmutter, wurde 39 Jahre alt und starb vermutlich in Zusammenhang mit der Geburt ihrer jüngsten Tochter. Drei Buben und drei Mädchen hatte sie als Kleinkinder verloren, nur drei Söhne – die beiden Theologen und der Mediziner – erreichten das Erwachsenenalter. Beim Tod seiner Mutter war Johann Ulrich elf, sein jüngster Bruder, der spätere Arzt, ein Jahr alt. Sterben war in jener Zeit allgegenwärtig und nicht wie heute mit Alter oder Gebrechlichkeit verknüpft.

Johann Ulrich Benker hatte in Zürich und Halle Theologie studiert. Von 1787 bis 1800 wirkte er in seiner Heimatstadt Diessenhofen, dann setzte er seine Laufbahn als Provisor in Brugg fort. 1801 wurde er Lateinlehrer und Klasshelfer. In Brugg kam 1802 die Tochter Henriette, Maries Mutter, zur Welt. Drei Jahre später verheiratete sich Johann Ulrich zum zweiten Mal.3 1808 schaffte Benker den Sprung ins Pfarramt Bözen, 1813 verpflanzte er seine Familie nach Schinznach-Dorf.

Bis zu ihrer späten Heirat lebte und arbeitete Henriette Benker im elterlichen Haus. Nach der Kindheit in Bözen verbrachte sie ihre Jugend in Schinznach-Dorf, wo der Pfarrer damals gleichzeitig auch Zivilstandsbeamter, Schulinspektor und Sittenrichter war. Als einziger Auswärtiger hatte Johann Ulrich Benker im Sittengericht allerdings einen schweren Stand. Niemand wollte sich mit Wirtsleuten anlegen, die sich nicht an das Gesetz hielten. So donnerte er am 28. November 1813 von der Kanzel: «[…] ein solches Unwesen ist besonders in der gegenwärtigen Zeit sündlich, wo Gottes Führsehung uns durch das Stillestehen der Gewerbe, durch Misswachs in den Weinbergen und durch die Gefahr, in der sich unser Vaterland befindet, vom herrschenden Leichtsinn heilen und zum Ernst, zur Mässigkeit und Nüchternheit führen will.»4

Benkers Weltbild stand im Einklang mit seiner Zeit. In der aargauischen Kirche war in der Predigt zu Herzen gehende Erbauung nicht gefragt: «Vernunftgemässe Tugendlehre und staatserhaltende Pflichterfüllung waren die Hauptthemen.»5

Die folgenden Jahre brachten neues Elend. Mit der Verbannung des Kaisers nach St. Helena war die napoleonische Epoche 1815 endgültig zu Ende, doch konnten die Europäer noch immer nicht aufatmen. 1816 herrschte nasskaltes Wetter: «An keinem Baum war Obst zu finden, die Weinreben blühten spärlich im August, die Trauben erfroren vor Michaeli, die Kornernte begann Ende August, […] der Hafer wurde im Christmonat und im Jänner noch unter dem Schnee hervorgesucht. Die Kartoffeln waren verfault, das Futter vergraut.»6 Nicht nur die bisherigen Armen, auch rechtschaffene Familienväter gerieten in Not. Das Pfarrhaus war gefordert.

Pfarrer Benker empfahl die Verteilung der sogenannten Rumfordischen Suppe und anerbot sich, «dieselbe in seinem Hause und von seinen eigenen Leuten bereiten zu lassen.»7 Es meldeten sich 52 Familien, an die im Februar 1817 pro Tag 133, im März 169 und im April 183 Portionen ausgeteilt wurden.

Die Rumfordische Suppe war eine Armenspeise, die nach dem Rezept des Amerikaners B. Thompson – «Graf Rumford» – gekocht wurde. Im Protokoll der Armenpflege beschreibt Benker die Zutaten: «Es wurde beschlossen, unter den verschiedenen Rezepten dasjenige auszuwählen, welches die Aargauische Kulturgesellschaft bekannt gemacht hat. Es besteht dasselbe für 100 Portionen aus 38 Maass Wasser, 6 Mässlein Habermehl, 8 Mässlein Erdäpfeln, ½ Pfund Anken, 1 Pfund Salz und 6 Pfund Brot.»8 Mit keinem Wort werden die Frauen des Hauses erwähnt, die diese grosse Zusatzarbeit leisteten.

Benker vertrat eine harte Linie. Teuerung und Hunger hatten in diesem Unglücksjahr 1817 sieben Kinder veranlasst, täglich Lebensmittel zu stehlen. In der Schule wurden sie mit der Rute bestraft, ihre Eltern vor die Armenpflege zitiert, der Pfarrer hielt eine Predigt, alles umsonst. Schliesslich verfügte der Oberamtmann auf Bitte Benkers, «dass der Landjäger die ertappten sieben Kinder vor Anfang des Morgengottesdienstes zur Kirche führen, dieselben in dem Chor auf eine besondere Bank setzen, nach vollendetem Gottesdienst aber sie vereint mit ihren Vätern und Müttern in Gegenwart der ganzen Gemeinde vor das ehrenwerte Sittengericht stellen soll […].» Zum Schluss kommentiert der Pfarrer: «Dies geschah an dem heutigen Tage, zur Zufriedenheit und Sicherstellung aller Rechtschaffenen und hoffentlich zur Warnung so vieler […].»9

Im Alter von 63 Jahren traute sich Benker letztmals eine neue Aufgabe zu. Er liess sich 1829 nach Schöftland wählen, wo er 1850 im Amt starb. In seinem neuen Wirkungskreis betreute er fast 4000 Gläubige, ein Riesenpensum für einen älteren Herrn, kein Wunder also, dass ihm ein junger Vikar wie Julius Vögtlin zur Seite stehen musste. Zudem hatte Benker allerhand Ärger mit seinem Umfeld. Mit der Schulpflege stritt er sich wegen der Ansetzung des Konfirmandenunterrichts, der mit dem Stundenplan der Bezirksschule kollidierte. Auch der Staat machte ihm gelegentlich das Leben schwer. So sollte die Pfarrscheune in ein Schuloder ein Spritzhaus umgewandelt werden.10 Trotzdem war er mit seinem Schicksal nicht unzufrieden. Es wäre undankbar gewesen, den Kanton Aargau zu verlassen, da habe er viel Freundschaft und Zuneigung erfahren, schrieb er neun Monate vor seinem Tod.11

Der Bildungsstand der männlichen Angehörigen der Familie Benker beeindruckt. Dies umso mehr, als damals ein Grossteil der Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnte und der Besuch der Universität ein Vermögen kostete. Immerhin gab es in Diessenhofen eine ausgezeichnete Lateinschule, sodass die Grundausbildung lokal gesichert war. Als sich die Thurgauer in den 1830er-Jahren ernsthafte Gedanken zur Verbesserung der Lehrerbildung machten, organisierten die Verantwortlichen aufgrund der Lateinschule an diesem Ort einen ersten Kurs. Die Behörden vertrauten dem Ortspfarrer Leodegar Benker den erfolgreichen Lehrgang an. Leodegars Sohn wandte sich als Theologe ebenfalls der Pädagogik zu. Henriette Benker kannte diesen Cousin von seinen Besuchen in Schinznach-Dorf.12 Er wurde zum ersten Rektor der neu gegründeten Thurgauischen Kantonsschule in Frauenfeld ernannt.13 Benkers durften sich zur Thurgauer Bildungselite zählen, die von den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts unmittelbar profitierte.

Mit weiblicher Gelehrsamkeit dagegen taten sich diese bildungsfreudigen Männer schwer. Über Henriette Benker schreibt Johanna Siebel: «In ihrer Jugend ein hochstrebender Mensch, geistreich und witzig und voller Ideale, war Henriette Benker durch die Macht der Zeitverhältnisse, die sich der harmonischen Entwicklung der Frau entgegenstellte und sie in Haus und Küche bannte, nicht dazu gelangt, ihre Talente auszubilden. Ihr grosser Wunsch, Lehrerin zu werden, scheiterte an der Strenge ihres Vaters, der trotz leidenschaftlichen, kniefälligen Flehens von einer beruflichen Ausbildung der Tochter nichts wissen wollte. Auch die übrigen aristokratischen Verwandten stellten sich mit ihren starren Anschauungen dem Bildungsverlangen des Mädchens entgegen.»14

Maries Mutter, die Pfarrerstochter Henriette Vögtlin-Benker, heiratete spät und war oft krank. Sie muss eine für ihre Zeit gebildete Frau gewesen sein.

Es ist unbekannt, wie es Henriette Benker gelang, sich trotz ungünstigem Umfeld eine gewisse Bildung anzueignen, denn, berichtet Marie, ihre Mutter habe sie in «Französisch und Clavier» unterrichtet.15

1829 folgte Henriette ihrer Familie nach Schöftland. Dort begegnete sie dem viel jüngeren Vikar ihres Vaters, Julius David Vögtlin, und entschloss sich zu einer späten Ehe. Sie hatte Zeit gehabt zu lernen, was die Gesellschaft von einer Frau Pfarrer erwartete.

Maries Beziehung zu Henriette bleibt ein Geheimnis. Nach einer recht stürmischen Pubertät verlor sie als 19-Jährige ihre Mutter. In ihren Briefen taucht ihre Mutter nicht mehr auf. Nur einmal – vermutlich im Sommer 1867 – spricht sie von ihr zu Marie Ritter: «Wenn ich bei Dir bin, so fühle ich mich wie ein ganz kleines Kind von Dir geschützt und behütet; es ist ein Gefühl ganz ähnlich dem, was ich für meine Mutter hatte, als ich noch ein kleines Kind war. Aber auch ebenso wenig als damals für sie, kann ich jetzt für Dich tun.»16

Ihrem Vater, dem konservativen Theologen Julius David Vögtlin, stand Marie sehr nahe. «Wenn doch mein Vater ein anderes Amt hätte! Er ist auf der äussersten Rechten, und zwar einer von denen, welche es kaum der Mühe wert halten zu polemisieren, weil die Ansichten der Gegner ihm unmoralisch vorkommen […]. Wunderbar ist die Kombination von soviel natürlicher Güte und Gerechtigkeitssinn mit diesen Theorien. Wunderbar namentlich seine Toleranz mir gegenüber. Er sucht nie eine Kontrolle auf mich auszuüben, er lässt mir die absoluteste Freiheit, und trotz meiner für ihn verwerflichen Theorien hat er zu mir das vollkommenste Vertrauen. – Aber nun musst Du daraus nicht ein Vorurteil gegen meinen Vater schöpfen, – erinnere Dich an die Selbständigkeit, an die Stärke, mit der er meinen Gegnern widerstand, nachdem er sich einmal entschlossen hatte, mich ziehen zu lassen, und du wirst ihn darüber wie ich bewundern und lieben.»17

Mit kritisch-zärtlichen Worten beschrieb Marie Vögtlin ihrem Verlobten Albert Heim die Persönlichkeit Julius David Vögtlins (1813–1894). Sie war ihm zutiefst verbunden, wie die Briefe aus der Studienzeit zeigen. Nachdem sich Julius durchgerungen hatte, seine Tochter den Beruf ihrer Wahl lernen zu lassen, war er offensichtlich stolz auf sie. Nur wenige Monate nach Studienbeginn schrieb Marie: «Mein lieber Vater scheint nun völlig beruhigt; er ist sehr guter Dinge –, hört sehr gern von allen meinen Angelegenheiten und erzählt andern gern davon.»18 Auch als berufstätige Frau besuchte Marie ihren Vater regelmässig in Brugg, der glückliche Grossvater tauchte gelegentlich in Zürich auf.19

Aus Julius’ Feder sind keine Originaldokumente erhalten, Maries Antworten lassen seine Sicht der Dinge nur vermuten, einiges lässt sich rekonstruieren. Im Vergleich zu anderen Vätern seiner Generation verbrachte der Pfarrherr während Maries Kindheit recht viel Zeit mit seiner kleinen Tochter. So gab er ihr Unterricht in Deutsch und Rechnen. «Von ihm lernte Marie die Pflanzen und Gesteine ihrer Heimat nach Namen und Eigenschaften kennen; unter seiner Leitung legte sie auch systematisch die ersten Sammlungen an und vertiefte ihr grosses Interesse für Naturgeschichte», ergänzt Siebel Maries Beschreibungen in ihrem Lebenslauf.20 Die Tochter begleitete den Vater auf seinen Gängen zu den Pfarreiangehörigen. Früh entwickelte sie einen Sinn für soziale Verpflichtungen, der ihr bis zum Lebensende erhalten blieb.

Die Vögtlins sind ein altes Brugger Bürgergeschlecht. Wie bei Henriette finden sich auch in Julius’ Stammbaum Theologen. Sein Vater sowie sein Grossvater dagegen arbeiteten bei der Post, Maries Urgrossvater als Postcommis in Brugg, ihr Grossvater als Postkontrolleur in Aarau, ein Amt, das mit der Führung einer heutigen Kreispostdirektion vergleichbar ist.21

Am 8. November 1830 immatrikulierte sich Julius an der theologischen Fakultät der Universität Basel.22 Sein um ein Jahr älterer Bruder Jakob Samuel studierte dort bereits Jurisprudenz, was dem 17-Jährigen den Abschied von zu Hause bestimmt erleichterte. Die Studienzeit fiel in eine unruhige Epoche. Nach der Pariser Julirevolution von 1830 forderten Liberale die Revision und Modernisierung des Bundesvertrags von 1815. Ein bürgerkriegsähnlicher Konflikt lag unmittelbar vor der Basler Haustüre. Julius’ Studienkollege Johann Georg Ritter erinnerte sich: «Die ganzen zwei Jahre meines Basler Aufenthaltes waren erfüllt mit Kriegslärm. Professoren und Studenten taten Militärdienst, De Wette stand Schildwache.»23 Der Schildwächter De Wette lehrte Neues Testament. – Nach längeren Wirren und einer bewaffneten Auseinandersetzung, die 67 Menschen das Leben kostete, anerkannte die Tagsatzung 1833 die Aufspaltung Basels in die beiden Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft. Ganz besonders schmerzlich war für die Stadt die Aufteilung des Vermögens.

«Wunderbar namentlich seine Toleranz mir gegenüber», schrieb die junge Marie über ihren Vater, den Pfarrer Julius David Vögtlin.

Julius David Vögtlin war Mitglied der 1819 gegründeten Studentenverbindung Zofingia.24 Ihre Devise lautete: Vaterland, Freundschaft, Wissenschaft. Vögtlins Karteikarte vermerkt, dass er keine Chargen übernommen hat. Der Verein förderte das Chorsingen, Turnen, organisierte patriotische Feste und wünschte eine Bundesverfassung, wie sie schliesslich 1848 verwirklicht wurde. In welchem Mass sich der – in den Augen seiner Tochter – konservative Julius mitreissen liess, ist nicht bekannt.

Wie immer er sich dazu stellen mochte, Zeitfragen interessierten Julius. Gemäss Vorlesungsverzeichnis besuchte er im ersten Semester neben theologischen Veranstaltungen «Die Geschichte der letzten 40 Jahre oder neueste Geschichte» bei Friedrich Kortüm. Im folgenden Sommersemester 1831 hörten die beiden Brüder Vögtlin die «Geschichte der gegenwärtigen Zeit».25 Friedrich Kortüm war eine berufene Persönlichkeit, um über Gegenwartsgeschichte zu referieren. In jungen Jahren hatte er an den Freiheitskämpfen der Deutschen und der Spanier gegen Napoleon teilgenommen, fand Zuflucht vor den Verfolgungen der Reaktion in der Berner Erziehungsanstalt Hofwil und kam dann für kurze Zeit nach Basel. Seine Laufbahn beendete er als gefeierter Professor in Heidelberg.26 Mit Kortüm lernte Julius einen Vertreter jener deutschen Gelehrten kennen, denen später auch seine Tochter Marie begegnete. Es waren Männer, die sich neben ihrer wissenschaftlichen Berufung zumindest zeitweise politisch engagierten und denen die jungen Schweizer Hochschulen, Zürich, Bern und das Eidgenössische Polytechnikum, viel verdankten.

Wenige Monate nach Studienbeginn starb Julius’ Vater. Die Witwe Verena Vögtlin-Erismann kehrte mit der einzigen Tochter Rosa nach Brugg zurück, wo sie ihren Gatten um über drei Jahrzehnte überlebte. Ob der Tod des Vaters die jungen Studenten in eine finanzielle Klemme brachte? Am 8. Oktober 1831 reichte Julius ein Stipendiengesuch ein: «Die Candidaten Frey und Voegtlin bitten um eine Unterstützung zur Fortsetzung ihrer Studien in Berlin oder doch um Prolongation ihrer bisherigen Beneficien und Stipendien.»27 Die Antwort liegt nicht vor.

Julius’ Studienfreund Johannes Georg Ritter schildert die Reise der drei Theologen nach Berlin. Zunächst rüsteten zwei Professoren die jungen Männer mit Empfehlungsschreiben für die Berliner Kollegen Schleiermacher und Neander aus. Dann ging es mit der französischen Post nach Strassburg: «Von da nach Karlsruhe, Heidelberg, Mannheim, Mainz, Coblenz, Wiesbaden, Frankfurt, Leipzig, Wittenberg […]. Ich […] sage nur, dass wir in Frankfurt Schnyder von Wartensee und den jungen Fichte und in Leipzig Alexander Schweizer kennen lernten; dass wir die Festung Ehrenbreitenstein genau besichtigten und einem Manöver beiwohnen durften; auf der Wartburg und in Weimar vergangener Zeiten gedachten.»28 Ritter kommentiert die damalige Art des Reisens: «Reisen überhaupt, aber besonders solche, wie man sie damals machte, nicht im Eisenbahnwagen, sondern bald zu Fuss, bald mit einem Hauderer [= Lohnkutscher], der überall, auch auf dem Lande, die Pferde füttern und warten muss, haben etwas Befreiendes, Bildendes. Meine Reise nach Berlin hat mir mehr genützt, als ein fünftes Semester in Basel hätte tun können.»29

Die Schweizerkolonie an der Universität Berlin zählte 75 Studierende. Die Neuankömmlinge fanden freundliche Aufnahme: Am Donnerstag traf sich die Gruppe jeweils zu einer gemeinsamen Kneipe. Nach Schleiermachers Tod verliess Julius mit zwei Kollegen Berlin, Ritter blieb länger in Deutschland. Doch auch Julius wagte sich nochmals in die grosse Welt hinaus. Seinen zweiten Urlaub von der Universität Basel verbrachte er im Wintersemester 1833/34 in Bonn.

Julius’ Beziehung zu Ritter hatte später für Marie unmittelbare, glückliche Folgen. Wie zuvor ihre Schwester Anna freundete sie sich mit Ritters Tochter Marie und deren Bruder Johannes an. Schwanden, wo Johann Georg Ritter während Jahrzehnten als Pfarrer wirkte, wurde für Marie zum wichtigen Bezugspunkt. Marie Ritter begleitete Marie Vögtlin als treue Freundin durchs Leben. Die an sie gerichteten Briefe sind eine der wichtigsten Quellen dieser Studie. Auf die Schwandener war in jeder Hinsicht stets Verlass, wie sich noch und noch zeigen wird.

Julius begann seine berufliche Tätigkeit als Vikar in Kulm, dann zog er zu Pfarrer Benker nach Schöftland. Am 22. Oktober 1840 heiratete er die Tochter seines Vorgesetzten. 1842 liessen sich Henriette und Julius in Bözen nieder. Für Henriette war es eine Art Heimkehr. Wie wir uns erinnern, hatte ihr Vater zwischen 1808 und 1813 fünf Jahre hier gewirkt. Fast das ganze Eheleben der Vögtlins spielte sich in diesem Dorf ab, hier kamen die Kinder zur Welt, hier erlebten sie Schmerzliches, wie den Tod des kleinen Sohnes Julius, verschiedene Fehlgeburten, die Kränklichkeit Henriettes, und hier in Bözen verbrachte Marie ihre «Kindheit auf dem Lande».

Eine durchaus gediegene Mädchenbildung

«Ich wage nun […] dennoch vor Sie hinzutreten, indem ich Sie erinnere an die grossen Schwierigkeiten, welche einem Mädchen in den Weg treten, das sich eine Bildung zu verschaffen wünscht, ähnlich derjenigen, zu deren Erlangung den jungen Männern alle Thüren offen stehen. Wäre mir früher Gelegenheit geboten worden, ein Gymnasium zu besuchen, so hätte ich mich glücklich genug geschätzt, dies zu thun und in diesem Falle würde ich auch keine Schwierigkeit gehabt haben, allen Forderungen einer normalen Maturitätsprüfung zu entsprechen.»1

Mit deutlichen Worten beklagte sich Marie in ihrem Gesuch um Zulassung zur Maturitätsprüfung an der Kantonsschule Aarau über die fehlenden Bildungschancen für Mädchen. Sie wusste, dass ein Pfarrerssohn mit ihrer Begabung das Gymnasium besucht hätte. Ihre spontane intellektuelle Neugier liess sie früh Fragen stellen, auf die eine traditionelle Mädchenbildung keine Antwort hatte. Vor allem vermisste sie gründliche naturwissenschaftliche Kenntnisse. Nach dem Entscheid zum Studium verbrachte Marie Jahre damit, Lücken in ihrem Allgemeinwissen zu stopfen.

Bei ihren Zeitgenossen hätten Maries Bemerkungen Kopfschütteln ausgelöst, denn in deren Augen schien ihre Bildung richtig «gediegen». Die Eltern Vögtlin hatten sich redlich bemüht, der Tochter einen soliden schulischen Rucksack auf den Lebensweg mitzugeben, und dafür weder Aufwand noch Kosten gescheut. In den modernen Fremdsprachen Französisch und Englisch beispielsweise war sie jungen Männern überlegen. Allerdings sollte sie ihre Schulung nicht auf wissenschaftliches Denken oder einen Beruf, sondern auf das Leben einer Ehefrau ihrer Gesellschaftsschicht vorbereiten. Dazu gehörten handwerkliche Fertigkeiten wie Nähen, Stricken, Flicken, Sticken, Kochen, aber auch Fremdsprachenkenntnisse und eine gewisse musikalische Bildung. In den Jahrhunderten vor Radio und Schallplatte hörte man nur Musik, die man selbst machte. Einzig in Städten gab es ein bescheidenes Konzertleben. Marie spielte Klavier und in der Kirche Harmonium;2 auch in späteren Jahren sang sie häufig und offensichtlich gerne. Doch all das war der jungen Frau zu wenig.

Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts fällt auf, dass Marie stets privat unterrichtet wurde. An der Universität nutzte sie erstmals das Angebot einer öffentlichen Institution. Über ihre Grundausbildung berichtet sie: «Bis zum zwölften Jahr wurde ich aber nicht zu strenger Arbeit angehalten, sondern trieb mit aller Musse die Elementarfächer entsprechend den Stadtschulen für Kinder meines Alters. Mein Vater lehrte mich Deutsch und Rechnen, meine Mutter Französisch und Clavier, und bei meinem Lehrer, der die übrigen Schulfächer übernommen hatte, trieb ich mit vorzüglicher Freude Schweizergeographie, Singen und Zeichnen.»3 Interessant ist der Hinweis auf die Stadtschulen. Offenbar hatte die Familie Vögtlin Vorbehalte gegen die Bözener Dorfschule und setzte die Latte für ihre Tochter etwas höher. Ob es in einer Aargauer Dorfschule zuging wie auf den Bildern Albert Ankers?

Siebel glaubte, die schwächliche Gesundheit der Mutter sowie Konflikte zwischen den beiden Schwestern Marie und Anna hätten die Eltern veranlasst, die Zwölfjährige zur weiteren Ausbildung zu Jakob Immanuel Hunziker und seiner Frau ins Pfarrhaus in Thalheim zu schicken.4 In Maries Thalheimer Zeit fällt Annas Welschlandaufenthalt in Montmirail 1859.

In einer grosszügigen Liegenschaft aus dem 18. Jahrhundert betrieben Hunzikers eine kleine Pension.5 Marie beschreibt diese erste Internatszeit: «Mit zwölf Jahren kam ich, da in unserem kleinen Dorf keine Gelegenheit zu weiterer Ausbildung geboten war, in eine kleine Privatmädchenanstalt im Aargau, wo ich während der folgenden 3½ Jahre unterrichtet wurde. Hier fing ich an, Englisch zu lernen, und da wir nur abwechselnd Französisch und Englisch sprechen durften, so lernte ich rasch, mich etwas in diesen Sprachen zu unterhalten. Ich genoss guten Unterricht in allen Schulfächern; Naturwissenschaft trat in den Hintergrund, dagegen trieb ich mit grosser Freude allgemeine Weltgeschichte, Geographie, Rechnen, Zeichnen und Musik. Unsere Anstalt war in einem völlig abgeschlossenen Dorf, wir hatten keine Gelegenheit, mit anderen Mädchen zusammen zu kommen, um so grössere Freude hatten wir am Lesen, und ich werde nie den tiefen Eindruck vergessen von den Abenden, als uns zuerst Götz von Berlechingen, Schillers Wallenstein und Jung frau von Orléans vorgelesen wurde. An den Sonntagen pflegten wir die Kinder des Dorfes zu versammeln und hielten ihnen, in viele Classen abgetheilt, Schule.»6

Im Pfarrhaus in Thalheim AG besuchte Marie mit zwölf Jahren als Internatsschülerin den Unterricht bei Pfarrer Jakob Imanuel Hunziker und seiner Gattin.

Gerade die «Jungfrau von Orléans» war Marie aus nahe liegenden Gründen ans Herz gewachsen: eine junge Frau, die ihrer Berufung folgt und Grosses leistet. In ihrem Maturitätsaufsatz über die Rolle der Frauen in der Geschichte schreibt sie: «AUS DEM VOLKE sind keine Frauen hervorgegangen, welche DIREKT ihrem Staat in der Administration desselben Dienste geleistet haben, selten solche, welche ihrem Vaterland durch ihren Arm gedient haben. Die grösste und unvergesslichste Frau, welche, von reiner Vaterlandsliebe getrieben, das letztere gethan hat, ist Jeanne d’Arc.»7

Das Vorlesen spielte früher eine ähnliche Rolle wie heute der gemeinsame Fernsehkonsum. Bücher waren so teuer, dass sich selbst bürgerliche Familien höchstens eine bescheidene Bibliothek leisten konnten. Vortragen mit verteilten Rollen oder Lesungen des Familienvaters, während sich die Frauen mit Handarbeiten nützlich machten, waren klassische Abendvergnügungen. Zuhörerinnen und Zuhörer sassen oft im Dunkeln, Elektrizität gab es keine, Petrollampen oder Kerzen spendeten kärgliches Licht.

Während der Thalheimer Jahre verbrachte Marie ihre Ferien nach wie vor in Bözen: «In den Ferien, die ich zu Hause zubrachte, eilte ich dann wieder meinen alten Freunden unter Blumen und Thieren in Wald und Feld nach.»8 Über das Familienleben erfahren wir nichts.

Die Beziehung zu den «Thalheimern» hielt mindestens bis in die Zürcher Zeit. Im Mai 1869 erhielt die Studentin Besuch von der «alten treuen Luise». Im Brief an ihre Schwester Anna lässt sie durchblicken, dass Hunzikers noch immer wenig Verständnis für ihren Berufsentscheid haben. «Ihr [Luises] Besuch hat mich herzlich gefreut […], sie schien auch über mein Leben etc. beruhigt, als sie mich so gesund und frisch und zufrieden fand, dass hoffentlich ihr Befund in Thalheim ein kleines Gewicht in die Waagschale zu meinen Gunsten legen kann.»9

Das Welschlandjahr galt als Höhepunkt eines traditionellen Jungmädchenlebens. Erstmals war die Grundschulabsolventin weit von zu Hause fort, sie erhielt den letzten intellektuellen und gesellschaftlichen Schliff und schloss oftmals Freundschaften für das Leben. Marie besuchte – wie zahllose Pfarr- und Bürgerstöchter vor und nach ihr – das Herrenhuter Internat Montmirail bei Neuenburg, eine Schule mit internationalem Ruf.

Kern der malerischen Anlage ist ein Schloss aus dem Jahr 1618. 1766 übernahm die Herrenhuter Brüder-Sozietät das Anwesen. Das Gegenstück für junge Männer befand sich im Schloss Prangins in der Nähe von Nyon, dem heutigen Westschweizer Landesmuseum. Kurz bevor Marie in Montmirail eintrat, waren neue Bauten entstanden, so 1853 ein Haus für die Pensionärinnen.10 Die Bildungsstätte überlebte bis 1991, als die Brüder-Sozietät das Institut aufgab und die Liegenschaft umnutzte.

«Während dieser Jahre wurde ich in den Schulfächern so weit gefördert, dass, wie ich im sechzehnten Jahr in ein grösseres Internat im Ct. Neuenburg eintrat, ich mit den höhern Classen folgen konnte. Hier wurde die Abwechslung zwischen französischer und englischer Conversation fortgesetzt, so dass ich bald mit diesen Sprachen völlig vertraut war. Ich fing nun auch Italienisch zu lernen an, trieb mit grossem Eifer alle übrigen Fächer, namentlich Musik und Zeichnen.»11

Maries spätere Freundin Marie Ritter schildert in ihren Lebenserinnerungen das Leben im Internat: «Es gab so viel Neues zu erleben, dass ich nicht dazu kam Heimweh zu haben […]. Ich kam ins 5te Zimmer […]. Im Zimmer waren 15 Mä»