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Für Corinna, in Dankbarkeit.

Für Cristina Salomè, Barla und Murezi, zur Erinnerung an ihren Urgrossvater Murezi, der mit einem gebrochenen Finger und einer vergoldeten Taschenuhr von Amerika heimgekommen ist.

01 | Sagt meinen Kameraden, zuckerbäckern sei besser als Schildwacht stehen – Einleitung

02 | Nach Australien oder nach Amerika, die Antwort fällt mir schwer – Aufbruch in eine neue Welt

03 | Die Auswanderungslustigen haben noch manches zu ordnen – Schritte vor der Abreise

04 | De het allerlei verstande – Ein Porträt des Auswanderungsagenten Friedrich Binder

05 | Solche Szenen können nicht beschrieben werden – Von den Bergen bis ans Meer

06 | Und segelten in Gottes Namen auf die hohe See – Von der Fahrt übers Meer

07 | Die Reisegesellschaft fliegt auseinander wie Federn im Winde – Von New York weiter nach Westen

08 | Die Gemeindeversammlung beschloss, diese Familien nach Südamerika zu spedieren – Vom Abschieben in die Fremde

09 | Unser Ort würde Grisonville getauft – Ein Porträt von Conradin Hössli, Wegbereiter der Schamser Auswanderung

10 | Bloss Haus und Stall haben wir nicht so gut wie ihr dort – Von Schamser Farmern am Mississippi und anderswo

11 | Wenn die Cholera regiert essen die Leute nicht viel Süsses – Ein Porträt der Brüder Cantieni in St. Louis

12 | Frau Base Fortuna ist noch nicht gekommen – Schamser auf der Suche nach Gold

13 | Iwan hat eine glänzende Stellung – Ein Porträt von Johann Jacob Ragaz, Grubenbesitzer in Mexico

14 | Jenseits des Ozeans winkt dem Strebsamen lohnender Verdienst – Schamser als Gastarbeiter in Kalifornien

15 | Meine Kühe melke ich ohne zu schwitzen – Ein Porträt des Melkers Dumeni «grànd» Cantieni

16 | Das Schlaraffenland ist nicht so grossartig wie man glaubt – Schamser in Australien und Neuseeland

17 | Nicht dass man das Gold von den Stauden pflücken könnte – Ein Porträt der Brüder Bartholome und Georg Sutter

18 | Kummer und Verdruss drücken darnieder – Von Schamser Frauen in Übersee und zu Hause

19 | Die lieben Heimatlieder haben in der Fremde einen andern Ton – Vom Heimweh

20 | Das Englisch will mir nicht in meinen Kopf hinein – Von der manchmal schwierigen Anpassung an die Fremde

21 | Es wird manche Stunde tiefen Nachdenkens erfordern – Ein Porträt von Florian Cajöri, Professor der Mathematik

22 | Man wird als «Americaner» angesehen und angeredet – Von der Heimkehr und von Rückkehrern

23 | Hier wird noch Menschenfleisch gefressen – Ein Porträt, das aus dem Rahmen fällt

24 | Die Dörfer sind zerfallen und halb ausgestorben – Von den Folgen der Auswanderung

 

Verzeichnis der Schamser Auswanderer nach Übersee

Amerika

Australien

 

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Register

Personen

Orte

 

Nachwort und Dank

Sagt meinen Kameraden, zuckerbäckern sei besser als Schildwacht stehen – Einleitung

Einer der vielen Küfer von Ausserferrera zog einst mit einer Bürde Geschirr aus Arvenholz durch die Schamser Dörfer, verkaufte da eine «broca», ein Henkelgefäss, und dort eine «galeda», ein Kälberfass, und war so bis nach Reischen am südlichen Ausgang der Viamala gelangt. Als er spätabends heimkam, frug ihn seine Liebste, wo er denn überall gewesen sei. Er gab zur Antwort: «Ich war weit, weit weg, am äussersten Rande der Welt – und weiter draussen war nur noch ein Stall.»1

Diese Anekdote zeigt, dass man die Schamser dahinten, hinter den schroffen Felswänden und Schründen der Viamala, für liebenswürdige, aber doch auf der Schattseite des Mondes lebende Hinterwäldler hielt. Schon der Prättigauer Prädikant und Chronist Nicolin Sererhard betont 1742 die Abgeschiedenheit des Schamsertals und seine jähen Zugangswege:

«Schamss ist ein artiges angenehmmes Ländlein in einer Oval-Ründe, hat auf Seithen nicht unangenehme und darzu fruchtbare Bergen, dem Land nach zugleich eine lustige Ebene. In anderthalb Stund kan man es von der Stein Bruk bis gen Bernburg, und allso von einem End zum andern durchwandern. Es ist von der Natur so vest verbollwerket, als irgend ein Land in der Welt. Auf beiden Seiten hat es hoche Gebirge und hinden und vornen ein Via mala, die mit leichter Mühe auch einem stark Feind impenetrabel könten gemacht werden.»2

Noch lange nach Sererhard liess sich mancher Reiseschriftsteller von den Bergen und Schluchten rings um die Val Schons zu einem falschen Urteil über dessen Bewohner hinreissen. So schrieb Hans Schmid vor über 80 Jahren nach einem Besuch am Schamserberg in seinen «Bündnerfahrten»:

«Ist das eine stille, gottverlassene Welt da oben. Da trifft man Leute, die noch keine Eisenbahn und kein Automobil gesehen haben.»3

001 Schams/Schons mit seinen 15 ganzjährig bewohnten Dörfern.

In Casti, einem dieser gottverlassenen Dörfchen da oben, erschien eines Abends beim Einnachten ein uraltes Weiblein. Murmelnd trat es ungebeten in eine Stube, wo Kinder und Erwachsene gemütlich beisammensassen. Brummelnd und grummelnd schlurfte es zum Ofen und wärmte sich die Hände. Niemand verstand die fremden Laute des merkwürdigen Gastes. Ein Nachbar wird geholt, schüttelt aber bald den Kopf. Ein zweiter wird gerufen, ein dritter herbeigebeten, rasch sind die fünf, sechs Haushaltungen von Casti benachrichtigt, alles umsonst. Und doch stehen schliesslich in der Stube solche, die ausser Romanisch auch Deutsch sprechen, aber auch solche, die Französisch oder Italienisch parlieren, ja sich sogar auf Russisch und Ungarisch verständigen können.4

Denn die Welt der Schamserinnen und Schamser war niemals in den Klüften der Viamala oder Roffla zu Ende. Im Gegenteil, das Schams war und ist ein historisches Durchgangs- und ein traditionelles Auswanderungstal, das seine Söhne und Töchter immer wieder in die Fremde schickte oder ziehen lassen musste.

Während Jahrhunderten schlugen sich Schamser Bauernsöhne im Kriegsdienst für fremde Herren und machtbesessene Fürsten, während Jahrhunderten schlossen Schamser die Reihen von Bündner- und Schweizerregimentern im Solde ausländischer Mächte. Getreu ihrem Eid dienten sie den Vereinigten Provinzen der Niederlande, starben sie für die Könige Frankreichs, schickten sie sich in die Strapazen der Feldzüge neapolitanischer Monarchen.

Wenn die Marschrhythmen der Werbetrommel in den Dörfern der Val Schons erklangen, nahmen allemal ein paar Burschen Handgeld. So verpflichteten sich im Winter 1785 in Andeer gleich zehn einheimische Männer, als ihnen Wachtmeister Adam Tester von Rongellen bei einem Becher Rotwein in beredten Worten die Schönheiten Hollands und die Anmut der Holländerinnen pries. Schulmeister Marti Bassett (1763–1799), einer dieser für Holland angeworbenen Söldner, besang in einem 144 Verse umfassenden Gedicht ihren Abschied von Andeer am 21. Januar 1785.5

Es gab Schamser Familien, deren Söhne gleichzeitig in verfeindeten Heerlagern Militärdienst leisteten. Während Tumasch Antieni (1759) von Casti in der holländischen Garnisonsstadt Maastricht die ewig gleichen Gewehrgriffe exerzierte, stand sein Bruder Christ (1765–1791) vor französischen Kasernen Schildwacht.6 Die jungen Männer durchliefen manchmal seltsame militärische Karrieren, so der 1787 in Wergenstein geborene Joseph Loringett. Nachdem er mit dem zweiten Schweizerregiment in französischem Solde die napoleonischen Feldzüge überstanden hatte,7 stiess er am 1. April 1819 zum «Regïment Zwitsers» von Sprecher in Holland. In den ersten Tagen wurde er zum Korporal und nach fünf Monaten zum Sergeanten befördert. Nach neun Dienstjahren setzte das Regimentsgericht mit einer Verurteilung wegen Diebstahls einen unschönen Schlusspunkt hinter seine militärische Laufbahn.8 Sie fanden den Tod fern der Heimat, so Christian Marchion Antieni (1710–1735) von Mathon, der «im Piemont in Kriegsdiensten sein Leben geendet»,9 oder Tieni Menn (1719–1747) von Zillis und sein Bruder Zacharias (1713–1747), die im selben Jahr «in Engelland» umgekommen sind.10

002 Innerferrera, romanisch Calantgil, um 1910. Nicolin Sererhard nannte 1742 das Ferreratal «ein rauches, wüstes Thal-Geländ […], reich an Holzungen und Bergwerken».

 

Es gab ihn, den Schamser, der im sauberen Waffenrock, mit blitzblankem Schuhwerk und mit dem Offizierspatent in der Tasche den Abschied vom Regiment nahm, so Lieutenant Johann Cantieni (1799–1850) von Mathon, den das Schamser Volk 1848 zum Landammann wählte. Es gab aber auch jenen, der des eintönigen Drills überdrüssig bei Nacht und Nebel aus dem Kantonnement schlich, so Johannes Polin (1725) von Zillis, der um 1757 unter Hinterlassung von Schulden in Höhe von 42 Gulden und 53 Kreuzern von einem Schweizerregiment in Holland desertiert ist.11

Wie viele Schamser je unter fremden Fahnen gedient haben, wird nie mehr zu ermitteln sein. Einige sind zurückgekommen, der verheerenden Wirkung krachender Kartätschen zum Trotz, den immer wieder wütenden Seuchen wie der Cholera zum Spott. Nach Jahren der Abwesenheit kehrten sie zurück, oft krank oder zum Krüppel geschlagen, in der Mehrzahl mit nichts als dem Waffenrock in den Regimentsfarben und einem leeren Tornister, so etwa Jacob Wieland (1749–1793) von Casti. Völlig mittellos ersucht er seine Eltern, ihm doch etwas Geld nach Basel zu schicken, denn er wolle «mit Ehren nach Haus kommen» und nicht «böttlen auf der Strass». Er habe «genug von denen Kriegsdiensten», wo er mehr ausgestanden habe als ein Stück Vieh und sich trotzdem aufgeführt habe, «wie es einem braven Saldath» zustehe.12 Auch Matthäus Schan (1749–1783) von Wergenstein bestand glücklich alle Fährnisse des Solddienstes in Holland,13 ist aber später bei der bedächtigen Arbeit im Heimattal «vom Wasserrad der Müllÿ zerquetscht» worden.14

003 Donat mit dem Kirchlein von Farden (links oben), Pazen im Hintergrund und Lohn (rechts oben).

 

Als einer der letzten in einer unüberblickbaren Kolonne von Schamser Söldnern hat sich der in Zillis geborene Hieronymus Rostetter (1819–1860) am 17. Januar 1845 für den Dienst im Königreich beider Sizilien anwerben lassen. Er verliess seine Frau und zwei Kinder und schiffte sich in Genua nach Neapel ein. In den Reihen des dritten Schweizerregiments half er im Mai 1848 in den Strassen Neapels einen Aufstand der Monarchiegegner blutig niederschlagen und bezog dafür wie alle anderen Söhne Tells einen Extrasold so gross wie ein Monatsgehalt. Im Herbst und Winter des gleichen Jahres zog er gegen die Unabhängigkeitsbewegung auf Sizilien zu Felde, beteiligte sich an der Brandschatzung und Plünderung von Messina und stürmte die Stellungen der sizilianischen Freiheitskämpfer in den Hügeln um Palermo. Statt nach Ablauf der Dienstzeit im Scharlachrock mit den dunkelblauen Aufschlägen und in himmelblauen Beinkleidern zu Frau und Kindern heimzukehren, liess sich Hieronymus Rostetter noch dreimal für je vier Jahre engagieren. Er ist als letzter Schamser in fremden Kriegsdiensten am 12. Dezember 1860 im Militärspital von Gaeta verstorben und im Schatten von Zypressen begraben worden.15 Zu jenem Zeitpunkt war ein anderer seines Geschlechts, Christian Rostetter (1807–1888) von Ausserferrera, schon aus Amerika zurück, und dessen Sohn Johann (1843–1917) blickte hoffnungsfroh dem Frühjahr entgegen, um sich nach Australien aufzumachen.

Über Jahrhunderte hinweg verdienten sich Schamser Bauernsöhne als Gewerbetreibende fern der Heimat ihr Brot. Hinter den Arkaden italienischer Palazzi und in den verwinkelten Gässchen deutscher Kleinstädte, aber auch in Skandinavien, in der Provence und im Baltikum betrieben sie Kaffeestuben und Pastetenbäckereien, Weinhandlungen und Confiserien, Gaststätten und Konditoreien. Die lange Reihe namentlich fassbarer Schamser im Ausland eröffnet ein gewisser «Martin del Matly von Zilis»,16 laut einem Kaufbrief im Jahr 1537 sesshaft in Venedig. 1569 wird ein weiterer Schamser in der Lagunenstadt urkundlich erwähnt, Tomasch Jan Bysaun von Farden «dozemal wonhaft ze Venedigen».17

Sie sind in Oberitalien zu finden, die ersten Schamser Zuckerbäcker, in Venetien und in der Poebene. In zwei, drei Tagesmärschen war man in der Lombardei, mit der romanischen Muttersprache und einigen Brocken Italienisch schlug man sich fürs Erste durch. Hatten sie es zu etwas gebracht, wurden sie in der Heimat respektvoll mit «Signor» tituliert, so Johann Janigg (1717–1794) von Donat, Teilhaber florierender Konditoreien in Brescia und anderen italienischen Städten, so Peter Calger (1726–1782) von Zillis, «fabbricatore di paste» oder Kuchenbäcker in Montagnana,18 so Bartolome Menn (1749) von Andeer, «caffettiere e scaleter» (Zuckerbäcker) in Mira sulla Brenta,19 so noch viele andere.

Die Schamser waren Teil einer friedlichen Invasion von Krämern und Scherenschleifern, Flickschustern und Glasern, Zuckerbäckern und Kaffeesiedern aus den Bündner Tälern in die Städte südlich des Alpenkamms. In Stadt und Republik Venedig konkurrenzierten die Bündner Einwanderer bald einmal empfindlich das einheimische Gewerbe, beherrschten gewisse Zünfte und erweckten Neid und Missgunst. 1766 wies Venedig alle reformierten Bündner aus. 172 Ladenbesitzer wurden vertrieben, vor allem Engadiner, Bergeller und Puschlaver, aber auch Schamser, der Zuckerbäcker Simon Piccoli von Andeer, der Spirituosenverkäufer Bartolo Basorgia von Pignia und weitere. Unzählige Bündner und Schamser mussten sich nach einem neuen Wirkungsbereich umsehen. Als sehr anpassungsfähig erwiesen sich nicht nur Caspar und Johannes Polin von Zillis. Im Bürgerbuch von Stendal, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt, findet sich folgender Eintrag:

«Pollini, Johann und Caspar, Brüder; geboren zu Cilano/Chams/Graubünden, zuletzt in Venedig, haben am 8. Mai 1767 das Bürgerrecht eintragen lassen.»20

Mit unglaublicher Tatkraft haben sie ihr Gewerbe in wenigen Monaten von der Alpensüdseite in den Norden Deutschlands verlagert!

Als im Jahr 1780 auf privater Basis die erste, vielleicht etwas unzuverlässige Volkszählung durchgeführt wurde, waren von den insgesamt 1772 Einwohnern des Schamsertals deren 108 oder 6 Prozent in der Fremde. Eine Generation später, im Jahr 1808, bedauerte Pfarrer Mattli Conrad, es sei bei der starken Auswanderung unmöglich, genaue Zahlen zur Schamser Bevölkerung mitzuteilen, «weil sie sich durch Zurückkehrende und Abreisende jeden Augenblick» verändere. Er schätzte, dass man auf die Bevölkerung von 1728 Personen noch 300 bis 350 Abwesende rechnen müsse.21 Das scheint hoch gegriffen. Aber in einem Rodel der wehrfähigen Mannschaft der Landschaft Schams, das die Jahrgänger 1790 bis 1800 erfasst, sind von 94 diensttauglichen jungen Männern 22 oder fast ein Viertel ausser Landes.22 Pfarrer Mattli Conrad schreibt:

«Ein einziges Gewerbe behagt den Schamsern, die Zuckerbäckerey im Auslande. Seit die Aufhebung des Venetianischen Bündnisses, 1766, dem dortigen Gewerbe der Bündner ein Ende machte, zogen sich mehrere Schamser nach Halle in Sachsen, und trieben dort, so wie in Berlin, ihre Kaffee-Siederey und Conditorey mit Glück. Sie liessen junge Gehülfen aus dem Vaterlande nachkommen, und unterstützten sie, nach überstandenen Lehrjahren, in Errichtung eigener Buden. Ihre Zahl wuchs an, sie überschwemmten ganz Deutschland, und verbreiteten sich dann in Schweden, Pohlen, Russland; wenige sind in Frankreich und Italien niedergelassen.»23

Wie die Schamser Zuckerbäcker Deutschland «überschwemmten», kann man sich vorstellen, wenn man erfährt, dass beispielsweise in Lüneburg zwischen 1800 und 1825 mindestens sieben Schamser Konditoren tätig waren. Ihrer fünf trugen den Familiennamen Janett, kamen aber von Lohn, Mathon und Donat, und nur Thomas (1780–1817) und Jöri Prevost Janett (1783–1863) stammten von gemeinsamen Eltern ab. 1819 etablierte sich mit Padrut/Peter Markees von Tartar ein weiterer Bündner Zuckerbäcker in Lüneburg, auch er mütterlicherseits mit Schamser Wurzeln.24 Als dann der junge einheimische Konditor Johann Christian Wriede das Geschäft von Markees übernehmen wollte, wurde ihm das verwehrt, unter anderem weil er nicht auf seinem «Fach gereisst» sei. Im Rekurs gegen diesen Entscheid führte Wriede aus, er habe sich tatsächlich nur in Hannover und Hamburg «in den daselbst befindlichen Conditoreyen zur Ausbildung umgesehen», fährt aber fort:

«Ich glaube indessen auch meine Kunst von den drey Principalen, die ich im Hause meiner Schwester gehabt habe, hinreichend erlernt zu haben. Alle drey – Janett, Cantienÿ und Markees waren weitgereiste Männer, die allen Ansprüchen, welche man an einen Conditor machen kann, Genüge zu leisten vermochten.»25

004 Christian Andrea (1843–1900) von Pignia wanderte als 14-Jähriger nach Helsinki/Helsingfors (Finnland) aus, machte die Lehre als Zuckerbäcker, bildete sich hernach in St. Petersburg weiter und war dann zeitlebens als Gastwirt und Hotelier in Vyborg (Russland) tätig.

 

Mit 14, 15 oder 16 Jahren brachen sie auf, zogen zu einem Landsmann in die Lehre, um anschliessend kreuz und quer durch europäische Länder zu wandern, bald da, bald dort zu arbeiten und stets auf dem Sprung, auf eigene Rechnung etwas zu unternehmen. Clopat Vergith (1755–1800) von Donat lernte sein Handwerk in Marseille und arbeitete anschliessend in Brüssel, Genf, Halle und Jena.26 Der Konditor Andreas Tester (1827) von Rongellen verliess 1843 seine Heimat, machte eine Lehre in Mantua und ist anschliessend in Budapest dokumentiert.27 Während sich Abraham Florin Schan (1744–1811) von Farden als Angelo Sandi an Geschäften in Reggio Emilia, Carpi und Bergamo beteiligte,28 wirkte sein Cousin Jeremias Schan (1762–1831) von Rongellen ab 1789 als «Sockerbagare» in Stockholm.29 Zur selben Zeit entstanden die ersten Zuckerbäckereien von Schamsern im Baltikum, so in Riga, wo Bartholome Calinard (1751) von Zillis kurz vor Weihnachten 1790 nach einer «glücklichen, aber langen Reise, die genau drei Monate dauerte», angekommen ist.30

Wenigen unter den Hunderten und Aberhunderten von Schamser Cafetiers und Konditoren war das Glück hold. Einer dieser Glücklichen war Johann Mazolt (1804–1886) von Zillis. Das Zuckerbäckerhandwerk erlernte er in Riga. Anfang der 1830er-Jahre eröffnete er in Charkow/Charkiv in der Ukraine ein eigenes Geschäft. Er schuftet Tag und Nacht, und nach viel «Verdruss, Strapatz, Kumer und Sorgen» kann er endlich schreiben:

«Und jetz bin ich der Conditorei zimlich iberdrieslich geworden nach 20 Jahren. Also habe ich mier und meinen lieben Mutter zu Gefallen meine Bude verkauft an mein gewessener Conpangion, Vallentin Aggula, fir nein [neun] tausend Rubel […] und ausser dises habe ich noch ein kleines Vermögen mier erworben. Meine Bude behalte ich noch bis den 15ten Juni, dan wirt Aggula si ibernehmen. So ist unsere Abmahung, und bis dahin hoffe ich, mit meine Gescheften in Ordnung zu sein. Und dan wil ich in Gottes Nahme meine Reisse antreten iber [über] Moscau, Petersburg, und dan noch einmahl Riga sen [sehen].»31

Rechtzeitig zu seinem 36.Geburtstagsfest kehrte Johann Mazolt nach 20-jähriger Abwesenheit in sein Heimatdorf zurück. Lange noch wurden ihm in mehr oder weniger regelmässigen Abständen grössere und kleinere Summen aus Russland überwiesen. Fast ein halbes Jahrhundert lang genoss der Junggeselle mit dem Spitznamen «Non d’or», goldener Johann, spazierend und prozessierend die frühen Früchte seiner Arbeit. Als Greis noch versteuerte er ein Vermögen von 155 000 Franken und war damit der mit Abstand reichste Steuerzahler der Landschaft Schams.32

Mit solchen Vorbildern vor Augen ist es verständlich, dass der Solddienst im Schams immer weniger Anklang fand. Joseph Cadosi (1771), ehemaliger Soldat in holländischen Diensten und nun in Anstellung bei seinem Landsmann, dem Schweizer Bäcker Georg Domenic Thöni (1771) in der Fischergasse im sächsischen Freiberg, fasst es in Worte:

«Grüsst meine Kameraden, den Huober und den Thöni und den Hunger, und sagt ihnen, zuckerbäckern sei besser als Schildwacht stehen.»33

Doch die Arbeit in dunklen, feuchten Backstuben und kalten Kellergewölben war ungesund, Arbeitszeiten von 16 und mehr Stunden waren die Regel. So gilt die folgende Aussage auch für einen Grossteil der Schamser Zuckerbäcker:

«Die Eltern ziehen es vor, ihre Knaben als Zuckerbäcker in die weite Welt zu schicken, wo sie allerdings, wenn ihnen das Glück lächelt, glänzendere Geschäfte machen können, als ein Handwerker in seiner Heimath. Aber wie Vielen ist das Glück günstig? Kann man sagen, dass von zehn Zuckerbäckerjungen Einer reich wird? Geht nicht vielmehr weit der grössere Theil dieser Auswanderer einer traurigen Sklaverei und einem frühen Tod entgegen?»34

Peter Menn (1774–1791) von Andeer verstarb mit 17 Jahren in Padua,35 Peter Clopath (1781–1798) von Lohn mit 17 Jahren in Hannover.36 Noch nicht 14 Jahre zählte Simon Risch von Wergenstein, Lehrbub bei seinem Onkel, als er am 9. Juni 1799 in Görlitz zu Grabe getragen wurde.37 Der Zuckerbäckerbursche Georg Durisch (1793–1813) von Mathon schied als 20-Jähriger in Flensburg aus dem Leben.38 Seinen Namensvetter, den Konditoreigesellen Georg Durisch (1835–1855) von Zillis in Helsinki, raffte die Schwindsucht im gleichen Alter hinweg.39 Die namentliche Nennung der fern der Heimat im Jünglingsalter Verstorbenen wird zur Litanei!

Als sich der 15-jährige Murezi Conradi (1831–1887) als einer der letzten Schamser auf den Weg nach Finnland machte, um in einer «Schweizerì» die Zuckerbäckerlehre anzutreten, war eine Handvoll Schamser bereits nach Amerika ausgewandert. Murezi Conradi hielt aber das Zeugnis seines Patrons noch nicht in Händen, als sein inzwischen verwitweter Vater mit seinen sechs jüngeren Geschwistern im amerikanischen Bundesstaat Wisconsin einen Neuanfang wagte. Und als wenige Jahre später Murezi Conradis Aufstieg zum grössten Schokoladefabrikanten Russlands begann, hatten bereits weit über 200 Schamserinnen und Schamser ein Schiff bestiegen, das sie nach Übersee bringen sollte. Unter den Ersten, die Kisten und Koffern für die mehrwöchige Reise über Meer packten, waren auch einige Zuckerbäcker, die eine Marktnische witterten.

 

Binnen wenigen Jahren übten Amerika und Australien einen solchen Sog auf die Schamser Bevölkerung aus, wie es zuvor der Reislauf und die gewerbliche Auswanderung während Jahrhunderten nicht vermocht hatten. Trotz aller kritischen Stimmen, welche die «fortschreitende Abnahme der Bevölkerung» beklagten40 und vor der «zunehmenden Entvölkerung» warnten,41 vermochte doch die eine oder andere Korrespondenz aus dem Schams diesem Exodus auch eine positive Seite abzugewinnen:

«Dann ist nicht zu vergessen, dass unser Land von jeher mehr Volk hervorbringt, als es zu beschäftigen und zu ernähren vermag, und so empfehlenswerth als die frühern Söldnerdienste und die spätern Züge junger Leute in Küchen und Gewölbe in Italien, Frankreich etc. sind die Auswanderungen nach Californien auch. Etwas unternehmen und arbeiten muss der junge Mensch und ist es nur natürlich, wenn er dahingeht, wo seine Kraft Verwendung und lohnender Verdienst findet.»42

Die Auswanderung nach Übersee bewegte während acht Jahrzehnten die Gemüter von Alt und Jung in den Schamser Dörfern und war von 1846 bis um 1930 und darüber hinaus wie die Wetterlaunen Anknüpfungspunkt für ein Gespräch. Damals war im Tal wohl keine Familie, die nicht Angehörige, Verwandte oder Freunde «tschivei an la Mericà», drüben in Amerika, hatte, oder «tschaaint», dort drinnen im fernen Australien. Was zum geflügelten Wort geworden ist, war damals traurige Wirklichkeit:

Nus da Schons vagn sper igls noss santieris ear ànc la California – Wir Schamser haben ausser unseren Friedhöfen auch noch das ferne Kalifornien!

005 Johann Mattli heiratete nach seiner Rückkehr von Bakersfield 1893 die um 25 Jahre jüngere Maria Grischott von Pignia/Bogn.

Nach Australien oder nach Amerika, die Antwort fällt mir schwer – Aufbruch in eine neue Welt

Auch ein Cantieni von Pignia wollte hinüber nach Amerika. Schon in Thusis verfehlte er jedoch den Weg; anstatt nordwärts durchs Domleschg zu ziehen, setzte er seine Reise durch die Schinschlucht und über den Albulapass fort und gelangte ins Unterengadin. Die Frage des Tiroler Grenzpostens «Hoabens a Bass?» verstand der Schamser Romane falsch und meinte treuherzig, nein, er singe im Tenor. Da verwehrte man ihm den Grenzübertritt, und Cantieni blieb im Engadin und wurde – und das ist die verbürgte Fortsetzung der Anekdote – Stammvater einer Nachkommenschaft, der er seine sängerischen und musikalischen Anlagen weitergab.1 Sein Enkel Robert Cantieni (1873–1954), Dirigent und Komponist, war der Schöpfer des Engadiner Nationalliedes «Chara lingua da la mamma».

Diese Anekdote bringt zum Ausdruck, welche Aufbruchstimmung und Unruhe das Schamsertal um die Mitte des 19.Jahrhunderts erfasst hatte. Begierig wurden alle aus Übersee kommenden Neuigkeiten aufgenommen, beredet und erwogen und bereits Ausgewanderte um ihre Meinung und Ratschläge gebeten, so Florian Andrea in Fountain City (Wisconsin):

«In seinem Brief beauftragte mich Domenic, so schnell wie möglich zu schreiben, wohin ihr gehen sollt: Nach Australien oder nach Amerika, die Antwort fällt mir schwer.2 Hier gibt es im Sommer genug Arbeit und die Löhne sind gut. Im Winter hingegen ist wenig zu tun, man kann vielleicht etwas verdienen, aber nicht viel. Man hat eine 8 Fuss lange, 4 Fuss breite und 4 Fuss hohe Beige Holz zu spalten und bekommt dafür 1 Dollar und 80 Cents. Wenn man dann 2½ bis 3 Dollar Tischgeld die Woche bezahlen muss, so kommt man kaum vorwärts. Aber ich muss gestehen, ich sähe es lieber, ihr kämet hierher. Aber ich kann unmöglich schreiben, dass ihr kommen sollt. Denn es kann sich in dieser Zeit viel verändern, vielleicht gibt es weniger Verdienst oder es passiert euch etwas und dann wäre ich schuld.»3

Im gesamtschweizerischen Vergleich setzte in Graubünden die Auswanderung nach Übersee erst spät ein. Vor 1820 sind nur wenige Bündner nach Amerika ausgewandert, und Australien war bis zur Mitte der Fünfzigerjahre kaum das Ziel von Bündner Emigranten. Im Jahrzehnt von 1821 bis 1830 sind gemäss nicht mehr vorhandenen Passregistern der kantonalen Polizeidirektion 35 Personen von Graubünden nach Nordamerika emigriert. In den folgenden zehn Jahren zählte man bereits 530 Auswanderer, denen von 1841 bis 1850 nicht weniger als 2126 Bündnerinnen und Bündner über den Atlantik folgten.4

Der grösste Teil dieser Auswanderer kam aus dem Prättigau, der Landschaft Davos und dem Churer Rheintal, während die Überseeauswanderung aus dem Engadin, dem Münstertal und den italienischsprachigen Bündner Tälern vor 1850 zahlenmässig völlig unbedeutend war.5 An gewissen Orten kehrten ganze Familien oder Sippen ihrer Heimat den Rücken, um sich jenseits des Atlantiks eine vermeintlich bessere Existenz zu suchen. So brachen im Frühjahr 1847 allein aus der kleinen Streusiedlung Arezen im vorderen Safiental 28 Personen auf und zogen nach einem feierlichen Abschiedsgottesdienst in der Kirche zu Versam hinüber nach Amerika, wo sie sich in den Prärien zwischen Michigansee und Mississippi neue Heimstätten schufen.6 In den Jahren 1847 und 1848 verliessen aber auch 111 Frauen, Männer und Kinder das von Felsstürzen am Calanda bedrohte Felsberg und wanderten nach Amerika aus.7

Konrad Meuli aus dem «hinter» dem Schamsertal gelegenen Rheinwald schiffte sich schon 1821 nach Amerika ein. Vier Jahre später folgten ihm Christian Toscan, Alexander und Georg Schwarz sowie Christina und Paul Zoja von Splügen.8 Jeremias Tester, der nachweislich erste Schamser Amerikafahrer, machte sich später auf den Weg.

Jeremias Tester, fünftes der zehn Kinder von Dorfmeister und Kirchenvogt Antoni Tester und seiner Gattin Barbara Caprez, ist in Rongellen geboren und am 7. September 1798 in Thusis getauft worden. Vielleicht war die Geschwisterschar zu gross, Rongellen vielleicht zu klein, Jeremias Tester verliess seine Heimat. In den 1820er-Jahren betrieb er zusammen mit seinem Cousin, dem Pastetenbäcker Johann Caprez von Flerden, eine Zuckerbäckerei in Gävle in Schweden. 1825 zog er nach Göteborg,9 und 1826 soll er nach Amerika ausgewandert sein.10 In New Orleans, wo damals bereits einige Bündner als Zuckerbäcker tätig waren, fand er eine neue Heimat, heiratete und wurde Vater von zwei Kindern. Jeremias Tester ist am 1. Februar 1852 in New Orleans gestorben, wenige Monate nach seinem Sohn, wenige Monate vor seiner Tochter.11

Vor 1835 ist auch der 1796 in Zillis geborene Padrut oder Peter Thöni nach Amerika ausgewandert, der Sohn von Signor Bartholome und Susanna Thöni-Fimian. Ob er die Reise aus dem Schams machte oder sich vorher in der Lombardei etabliert hatte, wo sein Vater in Correggio Teilhaber am «Caffè dei Protestanti» war, ist nicht bekannt. 1835 heisst es, er befinde sich «gegenwärtig in America».12 Zehn Jahre später erkundigt sich sein Onkel, ob Padrut Thöni noch in Amerika weile.13 Sein weiteres Schicksal ist unbekannt.

Christian Piccoli, 1799 als Sohn eines Zuckerbäckers von Andeer in Krakau (Polen) geboren, ist nach 1830, aber vor 1835 nach Amerika gezogen. Er war mit Margareth Fravi, seiner Cousine zweiten Grades, verheiratet, die ihm zwei Kinder gebar. Als diese im Zeitraum weniger Wochen starben, zerbrach die Ehe und wurde geschieden.14 In einer «Recurs-Beschwerde» der Gemeinde Innerferrera an die Bündner Regierung wird Christian Piccoli beschuldigt, im Jahr 1830 die Gemeinde hintergangen zu haben. Er habe vorgetäuscht, Vertreter einer finanzstarken Bergwerksgesellschaft zu sein, und so zwei Abgesandte aus Innerferrera verführt, einen «seiner ganzen Fassung nach unlautern Vertrag» über die Ausbeutung der Erzlager auf Starlera «alsogleich zu unterschreiben». Die beiden gutgläubigen Ferrerer seien, halb närrisch durch die von Piccoli «zauberisch vorgemahlten spanischen Schlösser», nach Hause gestürmt,

«wo sie um Mitternacht anlangend mit Liecht und Dinte von Haus zu Haus gingen und auf diese Weise in grösster Hast ihre gutmüthigen Mitbürger vom Schlafe aufweckten und blindlings die beiliegende Trippotage [franz. tripotage = Schwindel] unterzeichnen machten, die sie hierauf noch in der gleichen Nacht unverzüglich wieder forttrugen und, selbst ohne sich ein gleichlautendes Exemplar ausfertigen zu lassen, ihrem vermeintlichen Gönner Piccoli übergaben».15

Nach diesem Vorfall habe Christian Piccoli, «der in eben jener Epoche durch mancherlei abentheuerliche Speculationen hier zu Land sein Glück zu machen vergeblich versucht hatte», nichts mehr von sich hören lassen und «den Wanderstab nach Amerika» genommen.16 1835 ist er in Philadelphia (Pennsylvania) nachgewiesen,17 und vielleicht ist er identisch mit jenem Christian Picoly, der 1840 mit einer nicht namentlich genannten Frau und Tochter in Ferguson in der Centre County (Pennsylvania) lebt.18

Der vierte, vor 1846 nach Amerika ausgewanderte Schamser, der Zuckerbäcker Clo oder Nicolaus Cantieni (1803–1854) von Donat, hat die Küste Amerikas nach 1839 erblickt. Von ihm wird später ausführlicher die Rede sein.19

 

Bis 1930 haben nachweislich 730 Personen das Schamsertal in der Absicht verlassen, sich nach Amerika zu begeben. Überdies sind von 1855 bis 1890 eine einzige Frau und 106 Männer nach Australien und/oder Neuseeland gezogen. Ein Schamser ist nach Ozeanien ausgewandert. Christian Cantieni von Pignia, Hans Pedrett, Christian Piccoli, Richard Ragaz und Georg Risch von Andeer haben Amerika und Australien gesehen.

Einige wenige dieser Emigranten haben wohl im Schams das Licht der Welt erblickt, waren aber zum Zeitpunkt ihrer Auswanderung erwiesenermassen nicht mehr im Tal wohnhaft. Zu diesen zählen beispielsweise die in Nufenen verheiratete Margaretha Trepp-Grischott (1829–1906) von Pignia und ihre Tochter aus erster Ehe, Anna Trepp-Fimian (1857–1919), oder der im Bad bei Pignia geborene, später in Dalaus bei Masein wohnhafte Joseph Marchion (1808). Unter diese wird aber auch Martin Mani (1825–1876) gerechnet, der um 1846 von Innerferrera in den Süden Frankreichs auswanderte, wo er als Patissier tätig war. Im Sommer 1852 ist er mit seiner französischen Gattin Melanie Dupont an Bord der «Old England» nach New Orleans gefahren. Zudem wird ein Schamser Auswanderer porträtiert, der weder im Tal geboren noch im Tal wohnhaft war. Die Persönlichkeit von Florian Cajöri rechtfertigt wohl diese Ausnahme.20 Ohne den Letztgenannten mit einzubeziehen, sind insgesamt 843 Schamserinnen und Schamser nach Übersee ausgewandert.

Diese 843 namentlich bekannten Emigranten verteilen sich wie folgt auf die Dörfer der Val Schons:

 

 

 

 

Amerika

 

Australien21

Beide Ziele

Total

 

Frauen

Männer

Kinder

Frauen

Männer

Männer

 

Rongellen

7

25

6

-

-

-

38

Reischen

3

20

1

-

-

-

24

Zillis

31

94

12

-

5

-

142

Pignia

10

26

4

-

26

1

67

Andeer

62

132

53

-

36

4

287

Clugin

5

11

3

-

5

-

24

Donat

17

44

1

-

2

-

64

Pazen

4

11

2

-

-

-

17

Farden

3

7

1

-

1

-

12

Casti

2

6

-

-

-

-

8

Wergenstein

4

13

4

-

2

-

23

Mathon

9

27

2

-

2

-

40

Lohn

2

9

2

-

4

-

17

Ausserferrera

3

34

-

1

8

-

46

Innerferrera

3

15

-

-

16

-

34

Total

165

474

91

1

107

5

843

 

In den 85 Jahren von 1846 bis 1930 sind durchschnittlich fast jedes Jahr zehn Personen aus dem Schams nach Übersee ausgewandert. Was bewog so viele Schamserinnen und Schamser zum dramatischen Schritt, die Scholle ihrer Vorfahren, ihr Heimattal, ihre Familien, Freunde und Bekannten und alles, was ihnen lieb und teuer war, zu verlassen? Was veranlasste sie, all die Unannehmlichkeiten und Fährnisse der langen Reise auf sich zu nehmen, um in einer unbekannten, fremden und oft abweisenden Umgebung einen neuen Anfang zu wagen? Jeder Auswanderer hatte wohl verschiedene Gründe, die Koffern zu packen, solche, die ihm das Auswandern erleichterten, und solche, die das Ziel seiner Wanderung in einem vorteilhaften Licht zeigten. Und mancher wird so oder ähnlich wie Joachim Catrina gedacht haben:

006 Leo Christoffel Joos (1930–2008) von Andeer, das letzte der 91 Kinder, die vom Schams nach Übersee «gezogen» sind, auf einer Farm in Bakersfield (California).

007 Von 1846 bis 1930 sind 731 Personen nach Amerika ausgewandert oder 44 Prozent der Schamser Bevölkerung von 1888. Rechnet man die Australienfahrer dazu, sind es 50,5 Prozent.

 

«Bis dato bin ich noch niemals gerauen gewesen, das ich hieher gekommen bin, nicht nur wegen Verdienst, sondern auch, das ich noch ein kleinen Theil von der Welt zu sehen kommen bin.»22

Die Grafik (Abbildung 007) zeigt, wie viele Emigranten in jedem einzelnen Jahr von 1846 bis 1930 Amerika aufgesucht haben, wobei nur gerade von 18 der 731 Amerikafahrer23 der genaue Zeitpunkt ihrer Auswanderung nicht bekannt ist. Höchstwerte erreichte die Emigration in den Jahren 1849 mit 36, 1854 mit 84 und 1920 mit 35 Personen. 1884 und 1885 sowie 1889, 1890 und 1891 wanderten jeweils zwischen 23 und 28 Personen nach Amerika aus. Damit gleicht die «Fieberkurve» der Schamser Auswanderung nach Amerika entsprechenden Grafiken der in die Hunderttausende gehenden schweizerischen Übersee-Auswanderung.24 Für das Auf und Ab der Schamser Auswanderung gelten demnach in etwa die gleichen Gründe, die für andere Gebiete der Schweiz ermittelt wurden.

In den neun Jahren von 1846 bis 1854 sind 160 Schamser nach Amerika ausgewandert. 1846 und 1847 wurde die Landwirtschaft von der Kartoffelfäule aufs Schwerste heimgesucht. In den folgenden Jahren missriet die Getreideernte in weiten Teilen der Schweiz und des nahen Auslandes. Die Jahre 1850 bis 1854 waren geprägt von einer Serie nasskalter oder verschneiter Frühlings- und Sommermonate und einem ungewohnt harten Winter 1851/52. Mit den Missernten einher gingen Ernährungskrisen und eine allgemeine Teuerung. Betroffen waren vor allem Kleinbauern, Taglöhner und Handwerker. Wer konnte, wanderte aus, bevor er völlig verarmte.25

Um Hamsterkäufen zuvorzukommen, erliess die Bündner Regierung schon im Herbst 1846 unter Androhung von Bussen folgende Verordnung:

«Aller Verkauf von Kartoffeln, von im Land erzeugten Kornfrüchten, worunter auch Türkenkorn (Mais) und Heiden (Buchweizen) verstanden sind, sowie von inländischer Butter wird anmit bis auf Weiteres im Umfang des ganzen Kantons verboten.»26

Trotz obrigkeitlichem Bettelmandat vermehrte sich in ganz Graubünden «die Zahl derjenigen, welche von Haus zu Haus gehen, um unter dem Vorwand von Kien- und Besenverkauf oder geradezu mit Almosen ihren Unterhalt zu fristen».27 Mehrere Gemeinden, so Grüsch und Tamins, und die Stadt Chur richteten öffentliche Sparsuppenanstalten für Notleidende ein, wo «täglich sehr schmack- und nahrhafte Suppe theils unentgeldlich, theils um sehr billigen Preis» ausgegeben wurde.28

Die Krise von 1846/47 traf die Täler am Hinterrhein etwas weniger. Obschon man bezweifeln dürfe, dass sich die Domleschger, Schamser und Rheinwalder «wie Vögel im Hanfsaamen» befänden, wie behauptet worden sei,29 meint der Korrespondent der «Bündner Zeitung» doch auch:

«In Schams und Rheinwald wird sich allerdings die Theuerung nicht sehr fühlbar machen, weil diese Gegenden vom Kartoffelmisswachs wenig oder gar nicht berührt werden konnten und weil gerade die hohen Preise des Getreides in Süddeutschland ihnen den Fruchttransport aus Italien in die Hände spielten.»30

1846/47 ist tatsächlich ein erhöhter Warentransport durch das Schams und Rheinwald festzustellen. Aber schon 1848 und 1849 wurde, bedingt durch die politischen Wirren in Europa, deutlich weniger Fracht über den Splügen- und Bernhardinpass transportiert.31 Im Schams, wo einige Familien direkt oder indirekt am Transitverkehr verdienten, mag dies den einen oder anderen Wanderungsentscheid beeinflusst haben. So gingen 1849 zwei und in späteren Jahren vier der sieben Söhne von Fuhrhalter Curdin Joos von Andeer in die Fremde.

008 Die zahlungsunfähige Schamser Bergwerksgesellschaft versteigert ihr Mobiliar.

 

In den 1850er-Jahren aber nahm der Warentransport durch Graubünden und die Hinterrheintäler auffällig stark zu. Den Höhepunkt dieser Entwicklung markiert das Jahr 1856, als 270 995 Zentner à 50 Kilogramm über die Bündner Pässe transportiert wurden, eine Zahl, die weder vorher noch nachher auch nur annähernd erreicht worden ist.32

Stärker als Missernten und Teuerung und der von Einbrüchen und sprunghaft zunehmender Warenmenge geprägte Transitverkehr beeinflussten lokale Ereignisse die Schamser Auswanderung der Jahre 1846 bis 1854. So folgten die 33 Personen, die 1849 von Andeer in die Neue Welt aufbrachen, der Anregung ihres Mitbürgers Conradin Hössli – und sie reisten fast alle mit Unterstützung ihrer Heimatgemeinde.33 1854 entfachten ein paar Goldkörner aus Kalifornien und entsprechende Berichte eines Rückkehrers im Schams ein wahres Auswanderungsfieber.34

In den 14 Jahren von 1855 bis 1868 wanderten jährlich nie mehr als 7 Schamser nach Amerika aus. Während des amerikanischen Bürgerkriegs, der von 1861 bis 1865 mit grösster Erbitterung und Grausamkeit geführt wurde und die Vereinigten Staaten in einen blutigen Konflikt stürzte, wagten überhaupt nur 8 Männer und 5 Frauen die Fahrt nach Amerika. – Im gleichen Zeitraum aber zogen 34 Männer aus der Val Schons nach Australien.

Nach dem Bürgerkrieg erlebte die amerikanische Industrie einen mächtigen Aufschwung, und die erste transkontinentale Eisenbahnlinie wurde gebaut. Im Schams aber stand der Bergbau nach einer kurzen letzten Blüte mit dem Konkurs der «Val Sassam Mines Company» 1870 endgültig still. Wenn auch den Schamsern die eigentliche bergmännische Tätigkeit unter Tag wenig behagte, so fanden sie doch Verdienst beim Transport von Holzkohle, Erz und Eisen und wohl auch beim Kahlschlag ihrer Wälder oder als Köhler. Von 1869 bis 1873 wanderten 63 Schamser nach Amerika aus und 37 nach Australien.

Im Herbst 1873 brach eine Wirtschaftskrise über die Vereinigten Staaten herein, die in eine sich über vier Jahre hinziehende Depression mündete. Meldungen über Hungersnöte, wieder aufflammende Indianerkriege, Arbeitslosigkeit und Streiktätigkeit liessen die Auswanderung nach Nordamerika abflauen.35 Aus dem Schams emigrierten von 1874 bis 1880 bloss 13 Personen nach Amerika, 14 gingen nach Australien.

In den zehn folgenden Jahren von 1881 bis 1890 verliessen 137 Schamserinnen und Schamser ihre Heimat in Richtung Amerika, im gleichen Zeitraum zogen 10 nach Australien. Die schweizerische Auswanderung erreichte 1883 den höchsten Stand seit 1854.36 Ende der 1870er- und Anfang der 1880er-Jahre wurde der europäische Markt mit landwirtschaftlichen Produkten von maschinell bewirtschafteten Farmen in Übersee überflutet. So fielen beispielsweise die Getreidepreise auf die Hälfte, der schweizerische Getreidebau brach zusammen.37 In den Folgejahren griff die Krise auf andere Zweige über:

«Der Viehmarkt in Andeer war stark mit Vieh befahren. Der Handel ging flau und die Preise waren sehr gesunken, in Folge dessen, trotz der zahlreich anwesenden Händler, wenig gehandelt wurde.»38

Der allgemeine Zerfall der landwirtschaftlichen Preise stellte manchen Schweizer Landwirt vor die Wahl, seinen Betrieb umzustellen oder aufzugeben. In den Jahren 1880 bis 1885 meldeten allein im Kanton Zürich 900 Landwirte den Konkurs an.39

«In Thusis beherrschten bisher die Schamser Geflügelzüchterinnen den Eierhandel; sie forderten in letzter Zeit nicht weniger als 10 Rp. pro Stück. Nun haben italienische Eier den Weg nach der Nollastadt gefunden, die nur für 6 Rp. losgeschlagen werden. Ob die resoluten Schamserinnen nicht den Boykott über Thusis verhängen?»40

In einigen Alpentälern, so im Schams und Rheinwald, trieb zudem die Entwicklung im Transitverkehr die Auswanderungsstatistik in die Höhe. Schon nach dem Bau der Alpenbahnen über den Brenner, 1867, und durch den Mont Cenis, 1872, wurden weniger Waren über die Bündner Pässe geführt. Als aber 1882 die ersten Züge durch den Gotthardtunnel donnerten, brach der Warenverkehr endgültig zusammen, und der Personenverkehr erlitt grosse Einbussen. Betroffen waren Fuhrleute, Säumerbauern, Gastwirte und Handwerker wie Sattler, Wagner und Hufschmiede in den Dörfern entlang der Landstrasse. Jürg Simonett, der wohl beste Kenner des Bündner Transportwesens im 19.Jahrhundert, schreibt:

«Die Jahre nach 1882 waren an der Unteren Strasse, ganz besonders im Schams und Rheinwald, von einer allgemeinen wirtschaftlichen Depression gekennzeichnet. In den Tälern fand sich eine deutlich resignative und eher ratlose Stimmung.»41

«Wir sind eben Dahinten geblieben!», klagt 1882 ein Schamser dem «Freien Rhätier».42 In den Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre schnürten überdurchschnittlich viele Schamser ihr Bündel.

«Schams. Nächste Woche werden wiederum 20 bis 30 junge Leute ihre Heimath verlassen, um nach dem fernen Amerika zu ziehen und dort ihr Glück zu suchen. Die Ursachen der massenhaften Auswanderung aus unserm Thale dürften allgemein bekannt sein. Wir sind abgefahren, haben keinen Verkehr und die Landwirthschaft wirft nichts ab. Darum sind unsere jungen Kräfte gezwungen, sich anderswo, im fernen Westen, eine Heimat zu suchen. Aber wenn dies noch lange so fortgehen sollte, so geht unser Thal einer traurigen Zukunft entgegen und muss mehr und mehr verarmen. Möge die Zentralbahn uns vor dieser Eventualität bewahren.»43

Die Gotthardbahn wird über Jahre hinweg nicht nur für den Wegzug der Schamser Jugend, sondern für alle vermeintlichen und echten Übel im Tal verantwortlich gemacht:

«Aber was wird auf diesem Wege aus dem armen Schams, das wie keine andere Gegend die bitteren Folgen der Abgefahrenheit durch die Gotthardbahn verspürt? Das schöne Thal mit seinen grünen Matten und Wiesengründen, seinen grossen Wäldern, seinem ausgedehnten Alpengebiet, seinen Bergwerken, Erzen und Marmorbrüchen verarmt von Jahr zu Jahr mehr. Die Jungmannschaft flieht die Heimat, die ihr zu wenig bietet, die Bodenpreise sinken immer mehr, ganze Heimwesen werden bald um Spottpreise zu haben sein, was eine allmälige Einwanderung fremder Elemente zur Folge haben wird und so geht die Bevölkerung einer allmäligen, aber sichern Wandlung mehr und mehr entgegen.»44

Während Jahrzehnten warteten das Schams und Rheinwald auf die Splügenbahn, allein, alles Hoffen war vergeblich! Die düstere Stimmung, der Eindruck, von den Eisenbahningenieuren vergessen, von den Tourismuspionieren übersehen worden zu sein, begünstigte auch im letzten Jahrzehnt des ausgehenden und im ersten des neuen Jahrhunderts den Gedanken, alles liegen und stehen zu lassen und auszuwandern. Von 1891 bis 1900 verliessen nochmals 97 Personen das Schams in Richtung Amerika, von 1901 bis 1910 ergriffen 93 den Wanderstab.

Den Wanderungsentscheid erleichterten jetzt wohl zunehmend Berichte, die von in früheren Jahren ausgewanderten Schamsern in die Heimat gelangten, um Verwandte oder Bekannte einzuladen, es ihnen gleichzutun. Zudem dürften die Gelder, die ins Schams überwiesen wurden, und gerade die kurz vor der Jahrhundertwende zu beobachtende Häufung von Besuchen aus Amerika das Ihre dazu beigetragen haben.

Von 1911 bis 1914 emigrierten immerhin noch 21 Schamser über Meer. Im Ersten Weltkrieg war die Schweiz von kriegsführenden Mächten eingeschlossen. So wanderten im Jahrfünft 1915 bis 1919 nur 4 Personen aus: Christian Manzoni, dem später Frau und Tochter folgten, und Maria Lombardini, die sich in Genua nach New York einschiffte.

1920 brachen 35 Personen nach Amerika auf, und die Auswanderung aus dem Schams erreichte nach 1854 und 1849 ihren dritten Höhepunkt. Diesen Emigranten folgten bis 1930 weitere 44. Die Ursachen dieser Auswanderungswelle dürften in der gedrückten Gemütsstimmung nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren und der verheerenden Grippeepidemie gesucht werden, in der Teuerung der Nachkriegsjahre und der Arbeitslosigkeit, die 1922 mit 67 000 Arbeitslosen ein Höchstmass erreichte. Nach 1923 aber sorgte die amerikanische Quotenregelung dafür, dass nur noch kleine Kontingente von Schweizern – und Schamsern – in die Vereinigten Staaten eingelassen wurden.

Warum Amerika und Australien in 85 Jahren weit über 800 Schamserinnen und Schamser anzogen haben, wird für jedes einzelne Auswandererschicksal nie restlos zu ermitteln sein. Die landwirtschaftlich ausgerichtete Bevölkerung der Val Schons soll seit jeher Vorurteile gegen das Handwerk gezeigt haben. So sei sie von Missernten oder dem schlechten Verlauf der Viehmärkte stärker getroffen worden, was wiederum die Auswanderung begünstigt habe.

Zwar beklagt schon Pfarrer Mattli Conrad anno 1808 in seiner «Beschreibung des Schamserthals» die Abneigung der Schamser gegen jegliches Handwerk mit Ausnahme der «Zuckerbäckerey im Auslande»:

«Unter die schädlichsten Vorurtheile gehört auch hier die entschiedene Abneigung gegen Handwerke. Fast kein Gerber, ein einziger Maurer, kein Strickmacher, Zinngiesser, Kupferschmied, Sattler, Hutmacher, Glaser – nicht einmal Kaminfeger und Maulwurfsfänger – finden sich hier; Färber, Schuster, Schneiderinnen, Holzarbeiter und Schmiede nur diesseits des Rheins. Die Quelle dieser Abneigung liegt in der Furcht, ausgelacht zu werden oder sich mit einem Handwerk nicht ernähren zu können. Mannspersonen schämen sich des Schneiderhandwerks, und überlassen es den Weibspersonen; Ausländer tragen für Kaminfegen und Maulwurffangen jährlich wohl 200 fl. [Gulden] hinweg, während der ärmste Einwohner diese Gewerbe verschmäht, nur um nicht Kaminfeger und Talpér gescholten zu werden. Nicht einmahl mit Verfertigung der Mayen [Kränze] aus künstlichen Blumen für Leichen, Hochzeiten etc. beschäftigt sich jemand.»45

Mehr als 100 Jahre später, zu einer Zeit, da kein einziger Schamser die «Zuckerbäckerey im Auslande» betrieb, in der Zwischenzeit aber einige hundert nach Übersee gezogen waren, stösst Steafan Loringett in einem Kommentar zur Schamser Auswanderung ins gleiche Horn:

«Es fehlt die Arbeit, man muss also Arbeit besorgen. Arbeit gibt es nur, wenn ein Teil unserer Leute sich allmählich herbeilässt, ein Handwerk zu erlernen. In unserem Tale fehlen Schmiede, Schuhmacher, Maurer (kein einziger), Schreiner. […] Wir Bauern allgemein und wir Schamser im Besondren haben in dieser Beziehung einen eigenartigen Stolz: Ein Bauernsohn und das Maurer- oder Schuhmacherhandwerk lernen – Gott behüte – lieber lassen wir ihn übers Meer ziehen, weit, weit weg von zu Haus, wo Heimweh und Kummer immerzu an seinem Herzen nagen, alle die langen Jahre, die er drüben ist, und ihn schliesslich wieder in die Heimat herüber treiben, wo er wieder keine Arbeit findet. – Alles wegen einer falschen Scham. Wie wenn ein zünftiger Schuhmacher nicht so viel wie ein tüchtiger Bauer wäre.»46

Zwei ähnliche Stimmen aus unterschiedlichen Zeiten, doch treffen sie im Kern ihrer Aussage wirklich zu?

Anlässlich der ersten eidgenössischen Volkszählung von 1850 werden die einzeln und namentlich erfassten Einwohner mit ihrem «Beruf oder Gewerbe» aufgelistet. Damals waren im Tal sieben Müller tätig, aber auch neun Bäckerinnen oder Bäcker. Wo 2665 Schafe47 weideten, schätzte man die haufenweise anfallende Wolle, pflanzte aber auch viel Hanf an, denn «jede, sogar die ärmste Haushaltung, sucht so viel Hanfland als möglich in Zins zu nehmen».48 So findet man in den Erhebungsbogen der eidgenössischen Volkszählung 25 Schneiderinnen, 16 Spinnerinnen, sieben Weberinnen, eine Spinnerin und Weberin, zwei Näherinnen und eine Stickerin, aber auch vier Färber. Die Holz verarbeitenden Berufe sind mit 13 Schreinern, 16 Zimmerleuten, einem Zimmermann und Säger, zwei Sägern, einem Korbmacher, einem Drechsler und zwei Wagnern vertreten. Neben den sechs in Rongellen, Andeer und Pignia wohnhaften Küfern betääüä«è»ää