e9783955302146_cover.jpg
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
1
Ich begegnete ihm zum ersten Mal an einem regnerischen Novemberabend.
Die Tropfen prasselten herab auf meinen kleinen, pinkfarbenen Taschenschirm, als ich vom Büro zur nächsten Bushaltestelle eilte. War mal wieder klar, dachte ich. Die Wolken hätten sich ja noch so lange geschlossen halten können, bis ich im Bus sitze, aber nein, wer ewig arbeitet, wird auch noch entsprechend bestraft. So wie immer halt.
Dunkelheit und kalte Nässe waren zwei Dinge, die ich beide alleine für sich schon nicht mochte, denn ich war eher ein sonniger Wüstentyp, dem es gar nicht trocken und heiß genug sein konnte. Eine Kombination aus Beidem glich somit einem gekonnt ausgeführten Faustschlag in mein Gemüt. Knock out in der ersten Runde. Im November ging ich mental öfter mal zu Boden. Da trösteten auch die ersten Lebkuchen der nahenden Weihnachtssaison nicht, die ich mal wieder unangetastet mit nach Hause trug, weil ich auf der Arbeit nicht zum Essen gekommen war.
Ich arbeitete als Reklamationssachbearbeiterin in der Münchner Zweigstelle eines großen amerikanischen Zigarettenimperiums. Reklamationen an sich waren bereits eine Herausforderung, und Zigaretten in Deutschland ein heikles Thema. Aber ich mochte meinen Job und verdiente auch nicht gerade schlecht damit. Sicher war es oftmals stressig, und es gab Tage, da hätte ich das unaufhaltsam klingelnde Telefon mit unzufriedenen Kunden am anderen Ende der Leitung gerne mal gepflegt an die Wand gepfeffert, doch – ganz ehrlich – wo gab es das nicht? Zudem schätzte ich meine Kollegen sehr. Stimmte das Team, war jeder Stress nur halb so schlimm.
Ich hatte auf meinem Tisch noch schnell das letzte Post-it für den morgigen Tag befestigt mit der Notiz, Harry Steet anzurufen, und dann nach draußen geblickt, was ich mir eigentlich hätte sparen können. Wenn man vom Licht ins Dunkel guckte, sah man nämlich – nichts. Nur eine schwarze Wand, die direkt hinter den schon nicht mehr ganz so toll isolierten Fensterscheiben begann. Als hätte während des letzten Telefonats jemand eine Studiokulisse vor mein Bürofenster geschoben oder einen Vorhang zugezogen. Allerdings ziemlich unwahrscheinlich im dritten Stock. Mein Gott, warum war es bloß wieder so schnell Nacht geworden? Es war doch erst neunzehn Uhr.
In diesem Moment hatte ich sie gehört – die kleinen nassen Boten des Himmels, wie sie mit einem besonders zynischen Gruß für Aline Heidemann an die Scheiben klatschen. Als wären sie flüssige Kamikazeflieger, die nur geschickt wurden, um nach Übermittlung ihrer Botschaft – zu lang gewartet, Pech gehabt! – milliardenfach auf Straßen und Fensterscheiben zu zerschellen.
Und auf meinem pinkfarbenen Taschenschirm. Ich liebte den kleinen knalligen Helfer gegen die Armee der Regentropfen. Es tat einfach gut, ein wenig Farbe mit sich herumzutragen. Gerade wenn das Wetter schlecht war. Probieren Sie das mal aus!
Natürlich nahm ich auf meinem Weg zur Haltestelle gleich die erste große Pfütze, die mir in die Quere kam. Zack!, und rein mit dem rechten Fuß. Da halfen auch keine gefütterten Winterschuhe mehr, des Fußes Schicksal war besiegelt. Und das der dazugehörigen Socke auch. Voll eingetunkt – na super!
Über meine Unachtsamkeit fluchend überquerte ich die viel befahrene Hauptstraße an der dafür erst kürzlich installierten Fußgängerampel. Die Bushaltestelle lag gleich fünf Schritte rechts daneben – ein Glück! Ein Blick auf den Fahrplan: Der nächste Bus fuhr erst in siebzehn Minuten – kein Glück! Aber daran war ich bereits gewöhnt. Mein Timing war schon immer lausig gewesen.
Wenigstens war das Haltestellenhäuschen überdacht und bot ganze vier Sitzgelegenheiten. Von denen waren aktuell drei mit diversen Fast-Food-Pappschachteln vermüllt. Nein danke, ich hatte den ganzen Tag im Büro gesessen, ein wenig Stehen würde mir nun sicher nicht schaden. Bei der Wahl meiner Sitznachbarn – sofern man denn im öffentlichen Nahverkehr eine hatte – war ich, ehrlich gesagt, pingelig. Manche rochen etwas streng. Da nahm ich dann lieber Abstand und einen halbstündigen Stehendtransport in Kauf. Jeder hatte so seine Prioritäten. Und wenn es nur Pappschachteln waren.
Während ich meinen Schirm ausschüttelte und ein wenig Abstand zwischen die vorbeifahrenden Autos und mich brachte – große Pfützen plus schnelle Wagen hoch zwei ergaben einen nassen Passanten – ließ ich meinen Blick ein wenig über die Bäume und Sträucher des direkt hinter dem Wartehäuschen beginnenden Parks schweifen. Im Sommer war dieser Park eine reine Oase der Ruhe. Ich verbrachte dort so gerne meine Mittagspause unter meinem Lieblingsbaum, einer stattlichen Pappel. Meiner Mutter waren Pappeln nie geheuer gewesen, man hatte ihr als Kind einst eine Gruselgeschichte von einer Prinzessin erzählt, die nachts auf der Flucht mit ihrer Kutsche ins Moor gestürzt war, während der Wind klagend durch die umstehenden Pappeln rauschte. Seitdem bedeuteten Pappeln für sie Unheil und Tod. Ich konnte diesen Glauben nicht teilen. Vielmehr hatte gerade diese Geschichte meinem Lieblingsbaum noch einen weiteren mystischen Hauch verliehen. Es war bisher nicht eine Mittagspause unter meiner Pappel vergangen, in der ich nicht an diese Geschichte dachte. Nennen Sie mich ruhig morbide. Mir gefiel das.
Von der Bushaltestelle aus war die Pappel relativ gut sichtbar, in einiger Entfernung befand sich zudem eine kleine Parklaterne, die den tagsüber gut benutzten Teerweg ein wenig erhellte. Jetzt allerdings war kein Mensch mehr unterwegs, selbst die Gassigeher hatten ihre Fiffis offenbar gebeten, sie mögen ihr Geschäftchen doch im heimischen Garten erledigen oder gnädigerweise um ein, zwei Stunden nach hinten verschieben. Manchmal jagte man wirklich keinen Hund vor die Tür, wie das Sprichwort so sagte.
Umso irritierter war ich, als ich in all der anthrazitgrauen, vom schimmernden Laternenlicht hier und da stellenweise gelblich verfärbten Dunkelheit die Umrisse eines Mannes ausmachte, der an meinem Lieblingsbaum lehnte. Erst dachte ich, es sei womöglich ein Angestellter der Firma, der auf dem Nachhauseweg Schutz vor dem überraschend einsetzenden Regen gesucht hatte. Immerhin möglich und einleuchtend. Doch irgendwie sagte mir mein Gefühl, dass es sich hier nicht um einen Kollegen handelte. Sicher konnte man in einer zweihundertfünfzig Mann starken Zweigstelle nicht jeden Menschen persönlich kennen. Man entwickelte allerdings beim jahrelang praktizierten täglichen Kantinengang einen gewissen Überblick über die zur Firma gehörenden Damen und Herren.
Nein, dieser Mann – es musste einer sein, denn trotz Dunkelheit und einiger Entfernung war die Statur eindeutig männlich; Frauen erkennen das ja auf hundert Kilometer gegen den Wind sogar noch mit verbundenen Augen – war mir bisher noch nie untergekommen. Weder in der Kantine noch sonst wo außerhalb der Reichweite meines Arbeitgebers. Da war ich mir einfach sicher. Seine Silhouette wurde leicht von dem kleinen Laternchen angestrahlt. Auch wenn er ein gutes Stück weit weg war, erkannte ich, dass er mit dem Rücken am Baum lehnte, das rechte Bein lässig am Stamm angewinkelt. Ich zwickte meine Augen angestrengt zusammen, um, dem Regen und der Dunkelheit trotzend, mehr erkennen zu können. Seine Hände steckten in seinen Jackentaschen, sein Kopf lehnte am Stamm und sein Gesicht war der Baumkrone zugewandt. Lange dunkle Haare fielen offen und lässig wie ein glänzender Vorhang über seine Schultern, und an seinen klobigen Schuhen blitzten hier und da kleine Nieten im Laternenschimmer auf. Das Ganze wirkte irgendwie seltsam friedlich. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte gesagt, er genoss tatsächlich den abendlichen Regen. Genoss es, im Dunkeln am Stamm der Pappel lehnend dem Prasseln der Tropfen auf das nicht mehr ganz so dichte Blätterdach zu lauschen und dabei den frischen Duft, den der Regen mit sich brachte, einzuatmen. Ich wusste nicht, wieso mir dieser Gedanke kam – es mochte durchaus das Surreale des Augenblicks gewesen sein. Zumindest kam es mir surreal vor – Sie erinnern sich, von wegen dunkel und nass in Kombination mit mir, ein No-Go.
Was tat dieser Kerl da? Und wieso tat er das? Fragen über Fragen türmten sich in meinem Kopf, ohne dass ich sie da überhaupt haben wollte. Was ging mich schon irgendein Fremder unter einem Baum an? Nun ja, auch wenn’s mir peinlich war zuzugeben, aber ich war von Haus aus schon immer recht neugierig.
In einem gesunden Maß, nicht übertrieben.
Neugier war schließlich der Katze Tod.
Sollte der Typ doch machen, was er wollte. Aber wieso faszinierte er mich dann so sehr? Seine Lässigkeit, so wie er dort am Baum lehnte, und gleichzeitig auch seine Eleganz, als würde er der Nacht entstammen, sich in ihr zu Hause fühlen. Ich konnte mir hierauf einfach keinen Reim machen.
Während ich noch angespannt versuchte, Ordnung in mein plötzlich so chaotisches Oberstübchen zu bringen und zeitgleich den unbekannten Fremden zu observieren, passierte es. In der einen Sekunde blickte der Mann noch nach oben, in der nächsten drehte er seinen Kopf und blickte genau in meine Richtung. Als hätte er gespürt, dass ich ihn schon eine Zeit lang beobachtet hatte. Mir schoss schlagartig das Blut ins Gesicht. Er hatte mich offenbar erwischt. Nur was sollte ich jetzt tun? Verschämt wegschauen? Nennen Sie mich trotzig, aber das war nicht mein Stil. Wenn ich jemanden anstarrte und dabei erwischt wurde, dann stand ich dazu, und war es für mich auch noch so peinlich. So standen wir also in einiger Entfernung voneinander – er unter seinem Blätterdach, ich unter dem Blechdach der Haltestelle – und starrten einander an. Ich konnte seine Augen nicht genau sehen, was mir ehrlich gesagt gar nicht so unrecht war. Dass sich seine Mundwinkel langsam nach oben bewegten und sich in einem hypnotisierenden Lächeln eine blendend weiße Zahnreihe offenbarte, das konnte ich dagegen sehr gut erkennen. So weiße Zähne hatte ich noch nie gesehen und war schwer am Überlegen, ihn tatsächlich zu fragen, wo er das Bleaching habe machen lassen. So langsam verschwand das Blut aus meinem Gesicht und ließ dafür meine Haut erschauern. Dieses Lächeln, so selbstsicher, so wissend um seine Wirkung, jagte mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken. Verdammt, was war nur los mit mir?
Ich hatte plötzlich das Gefühl, nackt an der Haltestelle zu stehen. Dieses Lächeln verunsicherte mich zutiefst. Es war so durchdringend, so sanft und doch ausdrucksstark. Das war kein „Hallo, schön Sie zu sehen“-Lächeln, das war ein „Hallo, schön, dass Sie morgen mit mir frühstücken werden“-Lächeln. Jeder Mann hatte so ein Lächeln. Es war das Lächeln, das sich normalerweise zeigte, wenn die Frau über das erste Kennenlernen und die ersten Küsse hinausgegangen war und dem Mann signalisiert hatte, dass sie bereit war, ihn heute Nacht bei sich behalten zu wollen. So siegessicher, so erobernd, so unendlich zufrieden mit sich selbst. Hase gejagt, Beute geschnappt. Nur fühlte ich mich selten wie ein Hase, und außerdem hatten wir uns noch nicht mal vorgestellt, geschweige denn die erste Kennenlernphase hinter uns gebracht. Der Kerl war mir völlig fremd. Trotzdem verunsicherte er mich über die Maßen und weckte diesen kleinen Kolibri, der sich in solch aufregenden Situationen stets schlagartig in meinem Magen ans Fliegen machte. Als würden seine kleinen, emsig flatternden Flügel meine Magenwand streifen. Zeitgleich wurden mir dann auch noch die Knie weich. Jetzt reicht’s!, dachte ich mir. Es kann doch nicht sein, dass dich ein vollkommen Fremder mit einem kleinen Zahnpastalächeln so aus dem Takt bringt. Reiß dich mal zusammen! Ich hasste es, die Kontrolle zu verlieren, ganz besonders über mich selbst. Zumindest außerhalb des Schlafzimmers. Doch egal wie viel Mühe ich mir gab, ich konnte einfach den Blick nicht von dieser dunklen, schlanken Gestalt unter meinem Lieblingsbaum abwenden, so faszinierend, so geheimnisvoll verführerisch, wie er dort stand, als hätte er tagtäglich für diese besondere Pose geübt. Oh gut, mein Zynismus funktionierte tatsächlich noch ein bisschen und half mir zumindest, aus meinem Kolibri nicht eine ganze Vogelschar werden zu lassen. Das war dann nämlich der Zeitpunkt, an dem es für mich und nicht selten für einige Beteiligte brenzlig wurde, der einzige Zeitpunkt, an dem ich mir gestattete, meine Fassung willentlich zu verlieren und mich hemmungslos einfach dem hinzugeben, was mein Körper verlangte. Einfach genommen zu werden, einfach Frau zu sein, mit Haut und Haar, ekstatisch und leidenschaftlich. Da hatte schon der eine oder andere Mann nicht schlecht gestaunt. Hinter meiner vertrauensvollen Fassade lauerte tief in mir drin eine wilde Katze, die nur darauf wartete, sich in die Kolibrischar zu stürzen, sie zu reißen und somit den Weg frei für mehr zu machen. Und während meine Gefühle in mir gerade Achterbahn fuhren – vom Kopf in die Füße und wieder zurück mit prickelndem Zwischenstopp zwischen meinen Beinen – wurde das fremde Lächeln immer breiter, fast zu einem Grinsen, so als wüsste der Mann in diesem Moment genau, was in mir vorging. Als konnte er hören, wie sich mein Atem ein klein wenig beschleunigt hatte, als konnte er sehen, was sich da unter meiner Kleidung und unter meiner Haut abspielte, als konnte er mein sich anbahnendes Verlangen nach ihm riechen.
Riechen?
O Gott, ich müffelte doch nicht etwa?
Dieser unsinnige Gedanke half mir, mich wieder einigermaßen mental an die Bushaltestelle zurückzuversetzen. Sie sehen, ich konnte selbst die aufregendsten Szenen ruinieren. So war das eben, wenn man nicht gerne unten lag. Ich bestimmte, was ich fühlte und wann ich es fühlte. Und kein anderer. Mal ganz abgesehen davon, dass der dunkle Fremde und ich viel zu weit auseinander waren, als dass er auch nur mein Parfüm hätte erschnüffeln können. Mein RicciRicci, heiß geliebt und stets eine Investition wert. So schwer und gleichzeitig doch leicht, wie eine Blumenoase mitten in der kargen, unerbittlichen Wüste …
Ein Lachen riss mich aus meinen Gedanken. Ein Lachen voller Versprechungen, herzlich und echt wie Holz mit dem vollen Ton von Waldesrauschen. Ein Lachen, so tief wie die Wurzeln meiner Pappel in der Erde und so intensiv wie die wärmende Sonne nach einem Regenschauer. Ich schüttelte kurz den Kopf, ordnete meine Gehirnwindungen neu und konzentrierte mich abermals auf den Fremden unter meinem Baum.
Er war weg.
Wo war er hin? Und wieso hatte ich nicht gesehen, dass er sich bewegt hatte?
Super, Aline, ganz super. Mal wieder kurz die Kontrolle verloren und ein geheimnisvolles Beobachtungsobjekt gleich dazu. Verdammt! Ich ließ meinen Blick über den gesamten Park schweifen – oder vielmehr über das, was ich in der Dunkelheit noch erkennen konnte.
Nichts. Nur der Regen, der unaufhaltsam auf die Blätter schlug und blechern gegen das Dach der Bushaltestelle trommelte.
Während ich noch so grübelte und versuchte, meiner sich überschlagenden Gedanken Herr zu werden, quietschten auch schon laut die Bremsen des Busses hinter mir.
Ach, stimmt, ich wollte ja eigentlich nach Hause.
2
Zu Hause angekommen, war der Abend für mich erst einmal gelaufen. Ein fieser, drückender Kopfschmerz begann sich in der hinteren Hälfte meines Schädels auszubreiten, als würde jemand langsam, aber stetig mit einer Hand zudrücken. Ich bekam doch hoffentlich keine Erkältung?
Achtlos ballerte ich die durchnässten Schuhe in die Ecke, überlegte es mir dann aber doch anders und verfrachtete sie auf die Heizung. Es gibt kaum was Ekligeres, als am nächsten Morgen in noch klamme Schuhe zu schlüpfen. Eigentlich hatte ich saumäßigen Hunger und mich schon auf eine kalorienreiche Fertigpizza gefreut, doch nachdem sich der Kopfschmerz nach einem Blick auf das noch tiefgekühlte Mahl dazu entschloss, auch seinen Freund Übelkeit zur Party einzuladen, wanderte das kleine Stückchen Italien wieder ins Gefrierfach. Auch der schon auf der Anrichte auf mich wartende Rotwein musste seine Vorfreude aufs Entkorkt-werden unterdrücken. Alkohol und Kopfschmerz war eine fatale Kombination. Man konnte mir ja viel Unvernunft nachsagen, aber so masochistisch war ich dann doch nicht. Zügig entledigte ich mich meiner Tagesklamotten auf einem Stuhl gegenüber vom Bett und schlüpfte anschließend in meine geliebte graue Jogginghose, zog einen rosafarbenen Fleecezipper über, und fertig war die Kuschelmontur. Meine weißen Eisbärpuschen rundeten das Ensemble perfekt ab, auch wenn ich an diesem Abend dafür nicht wirklich ein Auge hatte. Normalerweise fand ich mich selbst mit meinen kurzen roten Strubbelhaaren in dieser Kombination immer ganz niedlich, doch heute war mir nicht nach Selbstbeweihräucherung vor dem Spiegel. Hauptsache trocken und warm, mehr brauchte ich nicht.
Doch, eine Aspirin.
Während ich mir also eine Sprudeltablette in ein Wasserglas schnipste, fragte ich mich noch, wann ich wohl das letzte Mal solche Kopfschmerzen gehabt hatte. Ein leicht geprellter Fuß, als mich vor Kurzem ein nicht gerade rücksichtsvoller Rentner mit seinem Rollator „überfuhr“ und mir statt sich zu entschuldigen auch noch einen Stinkefinger zeigte – ja, das passierte mir in der Großstadt schon mal häufiger. Aber Kopfschmerzen? So richtig arg hatte ich die zuletzt vor ganzen vier Jahren, und das, nachdem mir mein damaliger Freund verkündet hatte, er hätte mit einer anderen geknutscht.
Autsch.
Ich hatte mich damals auf ein schönes Wochenende zu zweit gefreut, als er zur Tür hereinkam. Das Essen stand bereits auf dem Tisch, ich hatte mich extra an den Herd und dazu noch in Schale geschmissen – bei einer Wochenendbeziehung erhöhte sich nämlich sprunghaft die Qualität der gemeinsamen Zeit. Ich hatte sofort gespürt, dass etwas anders war, es jedoch auf das typische Fremdeln nach einer Woche Abstinenz geschoben. Als er aber später über dem Hackbraten hing und, wie ich heute weiß, ängstlich mit der Gabel in seinem Gemüse stocherte, da fasste ich mir doch ein Herz und fragte, was nur mit ihm los sei. Beinahe erleichtert hatte er geschnauft und mir seinen Fehltritt gebeichtet. Was darauf folgte, waren, kurz gesagt, ein schlimmer Weinkrampf und ein Bratenfleck an meiner Wand.
Schön blöd.
Dann hatte ich geschrien, ich könne ihn nicht mehr ansehen, und er solle meine Wohnung verlassen. Das tat er auch.
Und kam nie wieder.
Später am Abend war ich vom Heulen benommen und verquollen ins Bett gekrochen. Der Katzenjammer am nächsten Morgen hatte jeder Beschreibung gespottet.
Die heutigen Kopfschmerzen waren zwar nicht ganz so heftig, doch wollte ich es gar nicht erst so weit kommen lassen. Seit jenem Tag hatte ich vorsorglich immer ein paar Tabletten daheim. Grundregel für wirklich jede Frau – niemals ohne Aspirin. Erst recht, wenn sich ein Kerl den Weg in dein Herz gebahnt hat. Auf Aspirin konnte man sich immer verlassen, aber auf Männer … Na, lassen wir das.
Woher kam nun diese Spannung in meinem Schädel, die sich unablässig ausbreitete, als wäre ich mit den Schläfen in einen Schraubstock gespannt? Die Arbeit war so wie immer gewesen, also konnte es nicht daran liegen. Nichts Besonderes war vorgefallen. Konnte es vielleicht etwas mit dem ominösen Fremden zu tun haben, der mir heute im Park begegnet war? Im Bus hatte ich noch überlegt, ob ich ihn nicht doch von irgendwoher kannte, und gegrübelt, was mir da überhaupt passiert war. Ein Fremder im Regen, der mir mit einem unwiderstehlichen Lächeln einen Knoten in die Eingeweide gezaubert hatte. Selbst jetzt, als ich nur an ihn dachte, spürte ich wieder den kleinen Kolibri im Magen flattern. Verdammt. Aline, wie alt bist du eigentlich? Du solltest dich doch eigentlich besser im Griff haben und dich nicht so mir nichts, dir nichts von einer Reihe blendend weißer Zähne und einem herzhaft männlichen Lachen derart aus der Fassung bringen lassen. Vom Aufwecken der kleinen Wildkatze mal ganz abgesehen.
Die Wirkung des Aspirins ließ leider noch etwas auf sich warten. Deshalb verfrachtete ich mich mit einem Kühlpack, das ich in ein Handtuch gewickelt hatte, auf die Couch. Mein Handy legte ich vorsichtshalber auf den Boden, nur für den Fall, dass ich einschlief. Ich hatte keinen Wecker, das erledigte das kleine pinkfarbene Telefon für mich. Oh, schon gemerkt? – Ich hatte eine Vorliebe für Pink. So Frau, so Klischee …
Jeder hatte so seine Macken.
Und meine waren eben pink.
Oder männlich.
Oder beides, wie im Sommer vor zwei Jahren, aber das gehört hier jetzt nicht hin.
Die Kälte der Eispackung auf meiner Stirn fraß sich schnell schmerzlindernd durch meine Stirn, und ich schloss die Augen, um wieder meine allseits bekannte Privatshow zu sehen. Wie oft hatte ich bereits in meinem Freundes- und Bekanntenkreis herumgefragt, ob jemand so etwas in der Art auch kannte, und war doch immer auf Unverständnis und Ratlosigkeit gestoßen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich nicht nur Schwarz, nein, ich sah eine Explosion von Tausenden kleiner gelber, grüner und roter Lichtpunkte, die in Hochgeschwindigkeit umherschwirrten und sich nicht selten zu Gestalten formten, die entweder miteinander kämpften oder bedrohlich auf mich zurasten. Ja, ich wusste, wie sich das anhörte, konnte es aber nicht ändern. Das Ganze hatte mit meinem Eintritt in die Pubertät begonnen. Eines Nachts hatte ich einen schlimmen Albtraum. Ich erinnerte mich noch genau, wie ich im Schlaf dachte, dass sei alles kein Problem, ich müsse einfach nur aufwachen, und der Traum würde vorbei sein. Tatsächlich schlug ich hierauf die Augen in meinem stets vollkommen abgedunkelten Kinderzimmer auf – um mit Erschrecken festzustellen, dass der Traum weiterlief. Da dachte ich, ich würde noch schlafen, doch erst als ich es schließlich in allmählich aufkommender Panik schaffte, den Lichtschalter zu betätigen, war der Spuk vorbei. Und ich saß kerzengerade im Bett, hellwach und schweißgebadet. Ich hatte bis jetzt niemals jemandem von diesem Ereignis erzählt. Es war viel zu verunsichernd und beängstigend für mich. Und, mal ehrlich, wer hätte mich schon ernst genommen – ein früh pubertierendes, dickliches Kind mit Riesenminderwertigkeitskomplexen, das bei seinen Klassenkameraden aufgrund seiner guten Noten so beliebt war wie Fußpilz? Verrückte Träume? Ein weiterer Grund für Hänseleien. Wenigstens der Babyspeck hatte sich dank zahlreicher Joggingrunden im Laufe der Jahre verwachsen und eine einigermaßen normale Figur freigegeben. Die Albträume allerdings waren mir geblieben. Seit jener Nacht hatte ich diese, nennen wir sie in Ermangelung einer passenden Bezeichnung mal Minivisionen, denn das Schauspiel setzte immer dann ein, sobald ich die Augen schloss.
Egal wann, egal wo.
Zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Früher hatte mich das beinahe in den Wahnsinn getrieben, doch über die Jahre hinweg hatte ich gelernt, es zu ignorieren. Was war mir denn sonst auch anderes übrig geblieben?
Die Kopfschmerzen lenkten heute allerdings vortrefflich von meinem persönlichen Heimkino ab. Zwar auf qualvolle Weise, aber egal. Hauptsache war, nur nicht mehr zu denken. Nicht mehr zu denken an einen großen, schlanken, dunklen Fremden, wie er lässig und lasziv an meinem Lieblingsbaum lehnte und den Duft des Regens inhalierte, nicht mehr zu denken an sein Lächeln, das meine Knie in Wackelpudding verwandelt hatte, nicht mehr zu denken an seine Ausstrahlung, die so verheißungsvoll und gleichzeitig so gefährlich mysteriös in meiner Magengrube vibrierte …
3
Ein leichtes Klicken ließ mich aufschrecken.
Ich brauchte zwei Sekunden, bis mir klar wurde, dass ich tatsächlich auf der Couch eingeschlafen war, die Eispackung noch immer auf meiner Stirn drapiert. Mittlerweile war es einigermaßen warm, also hatte ich schon eine ganze Weile geschlummert, tief und traumlos. Draußen war es immer noch dunkel. Wie spät mochte es jetzt bloß sein? Doch mir blieb keine Zeit, mein Handy nach der Uhrzeit zu checken, abermals vernahm ich den Grund meines Erwachens. Ein leichtes Klicken. Und noch eins.
Das kam von links, von meinem Balkonfenster. Mein Puls beschleunigte innerhalb einer Sekunde von null auf hundert, und ich benötigte all meine Selbstbeherrschung, nicht auf der Stelle hochzuschrecken. Da meine Couch mit dem Rücken zum Fenster stand, konnte das, was auch immer das Klicken an der Scheibe verursachte, mich nicht auf den ersten Blick wahrnehmen, was mir einen nicht unwesentlichen Vorteil verschaffte. Ich dankte in diesem Moment Gott im Himmel dafür, dass ich dieses eine Mal auf meine Mutter gehört hatte, die der Meinung gewesen war, es würde dem Wohnzimmer mehr Tiefe verleihen, wenn man das Sofa parallel zum Balkon stellte. Mir persönlich hätte es quer ja besser gefallen, aber Sie hätten mal den glücklichen Ausdruck auf Mamas Gesicht sehen sollen, als die Couch angeliefert und zurechtgerückt wurde. Sie war ein Einzugsgeschenk von ihr gewesen. Graues Alcantaraleder.
Das hatte Mama sich eine Stange kosten lassen.
Langsam, ganz langsam rollte ich mich auf die Seite und schob meinen Kopf millimeterweise über das eine Ende des Sofas hinaus. Nur nicht zu schnell – ich wusste ja nicht, was ich auf meinem Balkon vorfinden würde. Einer der Momente, in dem ich mich wegen meiner Vorliebe für gruselige Bücher und Horrorschinken innerlich verfluchte. Vielleicht war es ein glutäugiges Monster mit Fangzähnen und vier Armen, das nachts hungrig auf der Suche nach wehrlosen Jungfrauen durch die Straßen schlich und nun auf seinen Appetizer lauerte? Nein, wohl eher nicht, ich war schließlich keine Jungfrau mehr. Wobei ich es technisch gesehen schon wieder hätte geworden sein können, so lange wie mein letztes Mal her war, aber das war eine andere Geschichte. Dann war es vielleicht schon eher ein verrückter Serienkiller mit einer bluttriefenden Axt. Aber klopften Serienkiller ans Fenster? Eine Achterbahn war die reinste Seniorenkaffeefahrt gegen den Gedankenstrudel in meinem Geisteskino, als ich vorsichtig um das Kopfende meines Sofas spähte. Die Angst schnürte mir die Kehle zu, und kalter Schweiß begann bereits aus meinen schreckgeweiteten Poren zu tropfen. Für meine Hasenfüßigkeit geradezu todesmutig lugte ich schließlich ums Eck und sah – nichts. Niemanden. Ein Blick nach rechts und einer nach links, noch mal zurück. Nein, definitiv nichts.
Moment! Da lag etwas auf dem Balkonboden. Direkt neben meiner kleinen Zuckerhutfichte, die seit drei Jahren schon tapfer als Weihnachtsbaumersatz herhalten musste. Wozu ein echtes Bäumchen fällen, wenn man eins im Töpfchen weiterleben lassen konnte? Noch mal einen schnellen Sicherheitscheck, dann wagte ich mich allmählich von der Couch und glitt vorsichtig auf den Boden, sodass ich auf allen vieren aufkam. Dazu immer noch eine Menge Schiss. Aber wer wollte das einem auch verdenken, so als Frau alleine in der großen, bösen Stadt? Man las ja jeden Tag von so vielen Schauergeschichten, Vergewaltigung hier und Raubmord da!
Geduckt wie eine kleine Katze vor dem Sprung schlich ich mich langsam auf allen vieren an die Balkontür heran. Nur dass ich im Notfall nicht hätte angreifen wollen, sondern eher flüchten. Links von der Balkontür versteckte ich mich noch mal schnell hinter dem Vorhang, wobei das im Nachhinein betrachtet ein völlig sinnloses Manöver war. Der Vorhang war halbtransparent, und wenn jemand auf dem Balkon gestanden hätte, dann hätte er mich schon längst bei meiner albernen Krabbeltaktik erspäht.
Und sich wahrscheinlich vor Lachen in die Hosen gemacht.
Ein sich selbst einnässender Axtschwinger. Der Gedanke hatte was.
Wenn es mir geholfen hätte, dann hätte ich mich auch mit meinem blanken Hintern rückwärts zum Fenster bewegt. Aber da war wirklich niemand. Somit alle Theorie umsonst. Relativ beruhigt wagte ich mich allmählich wieder auf meine zwei Beine und schalt mich selbst wegen meiner Hysterie. Trotzdem war da etwas auf meinen Balkon gelangt, was eindeutig nicht von mir stammte und – noch eindeutiger – heute früh noch nicht dort gelegen hatte. Das wär mir sonst bei meinem allmorgendlichen Tee-trink-und-dabei-auf-die-Strasse-schau-Ritual aufgefallen. Definitiv.
Ich öffnete die Fenstertür und erschauerte in der kalten Novemberluft, die sich umgehend einer Hydra gleich um meine bisher warmen Kuschelklamotten schlängelte. Ein kurzes Blinzeln, dann blickte ich auf das, was neben meiner Zuckerhutfichte lag. Ein paar kleine Kieselsteinchen, die offenbar an mein Fenster geworfen worden waren. Und – ein Ast. Ich musste genauer hinschauen. Nicht irgendein Ast. Herzförmige Blätter, an den Rändern abgerundet und innen gezeichnet von kleinen, feinen Verästelungen. Unverkennbar. Das war ein Ast einer Pappel. Wie kam der hierher, auf meinen Balkon? Weit und breit gab es hier nicht einen einzigen meiner Lieblingsbäume, nur ein paar Birken säumten die zu dieser Uhrzeit menschenleere Straße. Ich trat in die kalte Nachtluft, der Regen hatte mittlerweile aufgehört. Vorsichtig bückte ich mich und hob den Ast auf. Da war etwas an ihm befestigt.
Ich musste mir noch mal kurz die Augen reiben, um sicher zu gehen, dass ich nicht noch immer träumte.
Eine Strähne.
Eine Strähne schwarzen Haares, an den Ast gebunden mit einer kleinen, ebenso schwarzen Satinschleife. Was hatte das zu bedeuten?
So langsam machte ich mir doch Gedanken, ob ich mich nicht mal zwicken sollte. Die Kälte allein war allerdings schon der beste Wachmacher, den man sich wünschen konnte. Erneut einmal geblinzelt, doch die zarte Satinschleife samt Haarsträhne befand sich noch immer an den Ast gebunden, und der Ast befand sich weiterhin in meiner rechten Hand. Erneut überzog mich eine Gänsehaut, und die kam diesmal nicht von der kalten Novemberluft.
Wer hatte mir diesen Ast auf den Balkon gelegt? Ein Blitz schoss mir durch den Kopf. Pappel.
Dunkles Haar.
Der Fremde aus dem Park.
Woher hatte er gewusst, wo ich wohnte?
Und war er vielleicht noch in der Nähe?
Leicht panisch lehnte ich mich über die Balkonbrüstung und spähte nach beiden Seiten. Nichts außer einer ruhigen verlassenen Straße und ein paar traurigen alten Fahrrädern, die an einer Laterne in der Nähe angekettet auf ihre Besitzer warteten. Oder auf ihre Verschrottung. Ich hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen, Angst schnürte mir die Kehle zu. Wenn dieser Fremde heute Nacht tatsächlich auf meinem Balkon gewesen sein sollte, warum hatte er mir dann diese Art Botschaft hinterlassen? Was sollte sie mir sagen? Warum hatte er nicht wie jeder halbwegs anständige Mann die Klingel benutzt und sich ordentlich vorgestellt? Fragen über Fragen prasselten im Sekundentakt auf mich ein, bis mir ein leichter Windhauch um die Nase strich und unter meinen Pulli fasste, sodass mich die Kälte erneut in die Realität zurückholte.
Wem war ich da bloß im Park begegnet und – noch viel interessanter – was wollte er von mir?
4
Kaum in meine Wohnung zurückgekehrt, merkte ich, dass sich meine sonst schon nicht sehr warmen Füße – typisches Frauenleiden – mittlerweile in wahre Eisblöcke verwandelt hatten. Vor lauter Panik und Verwirrung war ich mal glatt barfuß in die Nacht getreten.
Super.
Ich tapste in die Küche, wo ich mir schnell den Wasserkocher befüllte und anstellte. Eine Wärmflasche würde wahre Wunder wirken. Während das Wasser langsam zu kochen begann, drehte ich den Zweig samt dem daran befindlichen sonderbaren Präsent in meinen Händen und befühlte das dunkle Haar. Es war so weich und hatte einen wunderbaren Glanz. Meine Denkerfalte auf der Stirn weitete sich dagegen spürbar zum rauen Grand Canyon aus. Das alles ergab keinen Sinn. All die Fragen, die mir bereits auf dem Balkon durch meine Hirnwindungen geschossen waren, rotierten in meinem Kopf wie manche musikalische Endlosschleife einer Telefonhotline. Aber selbst bei einer Hotline bekam man irgendwann mal Antwort, während hier niemand den gedanklichen Hörer abnahm. Das machte mich allmählich wütend. Das und die Überlegung, was sich der Scherzkeks, der dahintersteckte, wohl dabei gedacht hatte, es nicht mal für nötig zu befinden, zumindest anständig an die Scheibe zu klopfen. Nein, stattdessen hatte er lieber einen Abgang auf Französisch hingelegt und kindisch kleine Steine geworfen. Wie alt war der Kerl, fünfzehn?
Meine Wut kochte parallel zum Wasser hoch, sodass ich vor mich hin schimpfend meine Wärmflasche füllte und mich mit ihr auf die Couch verzog. Mit gut temperierten Füßen ließ es sich einfach besser denken. Die wohlige Wärme kroch leider nur langsam meine blau gefrorenen Füße hinauf, und je mehr ich mir das Hirn zermarterte, desto stinkiger wurde ich. Auch so eine Macke von mir: Wenn ich mir etwas nicht gleich erklären konnte, verunsicherte mich das zutiefst, und Verunsicherung konnte ich gar nicht leiden.
Weil es bedeutete, dass ich über etwas keine Kontrolle besaß.
Dass ich etwas, was mich betraf, völlig aus der Hand geben musste.
Das ging mal gar nicht; schließlich konnte man meiner Meinung nach nur sich selber trauen. Diesen Umstand hatte ich schon frühzeitig erkennen müssen. In der Schule war ich einst eine pummelige Streberin mit null Sozialkontakten gewesen, die sich nichts sehnlicher wünschte als echte Freunde. Fürs Draufhauen und Hänseln war ich meinen Klassenkameraden immer willkommen, doch kaum war ihnen eingefallen, dass in Latein eine Hausaufgabe zu erledigen gewesen war, umgurrten sie mich mit den liebsten Worten, den freundlichsten Absichten und dem Versprechen, sie würden mich ab sofort in Ruhe lassen. Was sie dann auch taten. Und zwar genau so lange, bis sie abgeschrieben hatten. Kaum war das letzte Wort gekritzelt und das Heft zugeschlagen, fingen die Sticheleien wieder von vorne an. Kinder konnten so grausam sein.
Ab da war mir klar geworden: Ich würde mich nie wieder auf das Wort eines anderen verlassen.
Dann blieb einem wenigstens der Verrat erspart.
Sechzehn Jahre später nun saß ich in einer kleinen, schnuckeligen Wohnung um genau zwei Uhr siebenunddreißig auf dem Sofa, eingemummelt in meine blaugelbe Lieblingsdecke, die Wärmflasche auf den Füßen und betrachtete weiterhin den kleinen Ast, den ich inzwischen auf den Couchtisch gelegt hatte. Ich wollte lieber ein bisschen Abstand zwischen mich und das Ding bringen. Wer konnte schon wissen – vielleicht war es ja gar kein Geschenk, sondern eine Art Platzhalter, in dem sich ein Fluch befand.
Ha, ja, ein Fluch, sicher.
Ich schalt mich innerlich wegen so viel Fantasie, oder sollte ich lieber Realitätsverlust sagen? Egal wie ich es drehte und wendete, ich konnte mir keinen Reim auf dieses Ding machen. Aber eines war sicher: Es sollte eine Botschaft sein.
Aber was für eine?
Verdammt, benutzte denn heutzutage niemand mehr Stift und Papier?
Ein Brief im Briefkasten wäre mir wesentlich lieber gewesen. Oder ein schönes Kärtchen. So eins mit zwei schlafenden Welpen darauf. Ja, erwischt, ich liebte diese kitschigen Tierfotos. Verklagen Sie mich doch!
Während ich mir also das Hirn runzlig dachte und sich als Resultat keine Erleuchtung einstellte, sich dafür aber langsam meine Kopfschmerzen wieder meldeten, kam ich zu dem Entschluss, ich sollte dringend eine Runde frische Luft tanken. Mittlerweile war es drei Uhr in der Frühe, und auf den Straßen war keine Menschenseele mehr unterwegs. Ein bisschen Bewegung würde nicht nur meinen Brummschädel vertreiben, sondern ihn auch mal ein wenig frei pusten. Frei pusten von dem ganzen Gedankenwirrwarr, der sich hinter meinen Augen angesammelt hatte und nun auf eben jene drückte, so als würden sie jeden Moment aus meinem Kopf herausfallen.
Schnell schlüpfte ich in meine Jeans und die warmen Winterschuhe, die inzwischen gut getrocknet waren. Meinen rosa Kuschelpulli ließ ich an; wozu schick machen, wenn man mitten in der Nacht nur eine Runde mit dem Fahrrad drehen wollte? Lediglich ein wenig Concealer tupfte ich, doch nicht so ganz uneitel, auf meine Augenringe, aber das ganz große Make-up, ohne das ich in der Regel nie das Haus verließ – und war es auch nur, um den Müll wegzubringen –, blieb unbeachtet in der Schminktasche verstaut. Eine schwarze Mütze passend zu meinem schwarzen Mantel aufgesetzt, meinen pinkfarbenen Lieblingsschal umgeschlungen, et voilà! – schon konnte es losgehen.
Keine zehn Minuten später holte ich meinen kleinen Drahtesel aus dem Keller. Er war schon sehr alt und ziemlich klapprig, doch erfüllte er immer noch brav seinen Zweck. Ich hatte mir das Geld dafür einst als Teenager durch das Austragen von Zeitungen mühsam zusammengespart; meine Eltern hatten sich leider ein solches Geschenk nicht leisten können. Als Busfahrer verdiente man einfach nicht die Welt, und als Kassiererin im Supermarkt erst recht nicht. Aber ich wollte nicht undankbar sein: Ich hatte eine schöne Kindheit gehabt, und echten Mangel gab es nie. Nur Extras, die musste ich mir eben selbst erarbeiten. Als Papa starb, erhielt meine Mama eine nicht gerade unerhebliche Summe von seiner Lebensversicherung ausgezahlt, sodass sie ab sofort nicht mehr derart knapsen musste. Dieses alte, silbergraue Fahrrad war meine erste eigene, hart erarbeitete Investition gewesen, und mir bedeutete das immer noch eine Menge. Für kein Geld der Welt hätte ich es hergegeben, ich würde es fahren, bis es mir unter dem Hintern auseinanderfiel – stand es doch dafür, dass Träume wahr werden konnten, wenn man nur fest daran glaubte und arbeitete.
Die kalte Novemberluft knallte mir ins Gesicht, als ich in die Pedale trat, und für einen Moment fand ich meine Idee gar nicht mehr so gut wie noch vor zwei Minuten. Aber jetzt saß ich schon einmal auf dem Sattel und würde mich mindestens eine halbe Stunde lang auspowern. An Schlaf war sowieso grad nicht zu denken. Und, ehrlich gesagt, machte es auch irgendwie Spaß, zu solch nachtschlafender Zeit durch menschenleere Gassen und Straßen zu fahren, die blinkenden Neonreklamen der Schnellimbisse zu begutachten, hier und da einen neugierigen Blick in ein beleuchtetes Fenster zu werfen und dabei nicht wirklich auf vorbeirasende Autos achten zu müssen. Ich radelte durch meine Nachbarschaft, nahm die erste Querstraße rechts und fuhr einfach drauflos, ohne ein wirklich konkretes Ziel. Die Pfützen spiegelten die Leuchtreklamen der Geschäfte wider und schienen deren Glanz zu verdoppeln, als ich hindurch fuhr. Hier und da stieg mir neben dem kalt-nassen Novemberhauch eine Brise verschiedenster Gerüche und Gewürze in die Nase. Man glaubt ja gar nicht, wie viele Leute sich um drei Uhr nachts noch etwas kochen. An der einen Ecke duftete es nach leckerem Fladenbrot, das die Leute in der türkischen Bäckerei gerade frisch aus dem Ofen geholt hatten, an der nächsten nach einem saftigen Hackbraten wie dem von meiner Mutter. Da ich seit fast vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte, reagierte mein Magen auf die diversen Gerüche äußerst sensibel. In Kombination mit der ungewohnten Stille der Stadt fühlte ich mich dabei fast wie Indiana Jones auf der Suche nach dem verlorenen Eintopf. Immer weiter trieb mich meine Fahrt und die Neugier, welches Großstadtkleinod sich wohl hinter dem nächsten Häuserblock verbergen mochte.
So bemerkte ich den Stadtpark erst, als ich um die letzte Ecke bog und die Straße nur nach rechts oder links führte. Geradeaus offenbarte sich lediglich der Fahrradweg des großen Grüns, das zu dieser nächtlichen Zeit vielmehr wie ein rabenschwarzes Loch inmitten all der Hochhäuser klaffte. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich hierher gelangt war, geschweige denn, wie lange ich geradelt war; so sehr hatte ich mich von all den vielen neuen Eindrücken ablenken lassen. Ich blieb stehen und stieg zögerlich vom Fahrrad. Ein Gedanke formte sich in meinem Kopf, der die Haare auf meinen Armen Tango tanzen ließ.
Der Fremde unter der Pappel.
Der Ast auf meinem Balkon.
Die plötzliche Lust, nach draußen zu gehen.
Und nun stand ich hier an der Kreuzung. Irritiert, verwirrt und irgendwie auch ein klein wenig ängstlich. Na gut, nicht nur ein klein wenig: Ich hatte die Hosen in Lichtgeschwindigkeit gestrichen voll. Es war alles so seltsam surreal, und doch schien sich auf einmal ein Gedankensplitter nahtlos an den nächsten zu fügen. Wie bei einem Puzzle, bei dem man mit dem Rahmen beginnt und nun das vierte Eckstück einsetzt. Die Frage war nur: Welches Bild würde entstehen?
Ich schüttelte den Kopf. Zu wenig konnte ich das alles rational erklären, zu sehr ängstigte mich das bisherige Gedankenspiel. Andererseits … Wenn ich mich schon mal hier befand, warum nicht mal zu meinem Lieblingsbaum fahren und nachsehen, ob der Fremde nicht zufällig auch da war? Oder eine weitere Botschaft hinterlassen hatte? Oh, Mann, ja klar, Aline, warum nicht auch gleich in der Psychiatrie anrufen und fragen, ob sie heute noch ein Bettchen für dich beziehen würden? Ich schalt mich lautstark fluchend wegen dieser abwegigen Gedanken und war froh, weit und breit keinen einzigen Menschen zu sehen. Meine Fantasie ging gerade ordentlich mit mir durch, und ich stellte erleichtert fest, dass sich irgendwo in meinem Hirn doch noch eine kleine, leise Stimme der Vernunft meldete, die mir zuflüsterte: „Was, wenn das alles ein riesengroßer Streich ist? Wenn dich jemand so richtig reinlegen will?“ Ja, da kamen sie wieder hoch, die längst vergraben geglaubten Erinnerungen …
Damals in der achten Klasse erhielt ich einen vermeintlichen Liebesbrief meines heimlichen Klassenschwarms. Er wolle sich nach der Schule mit mir hinter der Turnhalle treffen. Ich sollte doch bitte den beigelegten knallroten Lippenstift tragen, er fände das an Frauen so sexy.
Na, Sie können sich denken, was dann kam. Eine Horde lachender Teenies, zwei Eimer Wasser und eine besonders großzügige Demütigung hatten mir damals einen der schlimmsten Tage meiner Jugend beschert.
Doch jetzt war ich erwachsen, schlank und selbstbewusst und sah für meine Begriffe wirklich richtig gut aus. Nicht übermäßig spitze, aber durchaus vorzeigbar. Und egal, welchen Scherz sich dieser Kerl mit mir erlaubte – er würde keinen Spaß daran finden, sich ausgerechnet ein ehemaliges Klassenopfer zur Zielscheibe erkoren zu haben. Das würde er noch früh genug merken.
Mit einer guten Portion Wut trat ich in die Pedale, fuhr geradeaus über die Straße, mitten hinein in das dunkle Loch der Ungewissheit.