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Ein Paradies aus Nichts – Geschichten vom Leben in der Wüste – Aus dem Arabischen von Edward Badeen, Petra Becker, Hartmut Fähndrich, Regina Karachouli, Doris Kilias und Kristina Stock – Lenos Verlag

E-Book-Ausgabe 2015

Inhalt

Ibrahim al-Koni: Der gescheckte Mehri

Dschabra Ibrahim Dschabra: Aufstieg zum Paradies

Baha Taher: Pater Bischai

Ibrahim al-Koni: Als die Dschinnen die Grossmutter entführten

Edwar al-Charrat: Der alte Beduine

Alaa al-Aswani: Durst nach Rache

Tajjib Salich: Der Ursprung des Feuers

Hassan Nasr: Fern vom Lärm der Welt

Sabri Mussa: Der weisse Berg

Muhammad Mustagab: Blutbrennen

Asmi Bischara: Im Checkpointland

Ghassan Kanafani: Unterwegs

Abdalrachman Munif: »Bringt uns Assâf, tot oder lebendig!«

Ibrahim al-Koni: Nahe beim Tor des Himmels

Die Autoren

Anmerkung

Ibrahim al-Koni

Der gescheckte Mehri

Es war nicht das erste Mal. Zuvor schon hatte er ihn einmal in eine noch peinlichere, noch skandalösere Situation gebracht.

Immer wieder zog Uchaijid auf seinem Schecken zu nächtlichen Romanzen in die benachbarten Lager hinaus. Nach Sonnenuntergang sattelte er ihn und ritt zu den Behausungen seiner Auserwählten, wo er nach Mitternacht eintraf. Er band den Hengst im nächstgelegenen Wadi fest und schlich sich in der Finsternis zu den Zelten der Schönen. Dort tändelte und plauderte er und stibitzte sich Küsse, bis am Horizont das erste Licht durchbrach. Dann schlich er ins Wadi, schwang sich in den Sattel und kehrte zurück.

Diese Ausritte wiederholten sich, bis er entdeckte, dass sein schmucker Schecke sich in eine schöne Kamelstute verliebt hatte, die einem Stamm gehörte, der den Frühling allemal im Wadi M’gharghir verbrachte, während er einer reizenden Tochter dieses noblen Stammes seine Aufwartung machte. Er liess ihn, zusammen mit den anderen Kamelen, auf dem Grund des Wadis grasen und begab sich zu seinem Mädchen. Er war genau im Bild über die Gefühle seines Mehri, hatte schon bei seinem ersten Besuch dessen Leidenschaft für die weisse Kamelstute bemerkt und wurde dessen noch sicherer, als er sah, wie der Schecke ins Wadi M’gharghir flog und sich in Sehnsucht nach der nächtlichen Reise verzehrte.

»Warum machst du ein Geheimnis daraus?« meinte er da boshaft. »Gib doch zu, dass du so dahinfliegst, weil es zu deiner, nicht weil es zu meiner Geliebten geht. Gib doch zu, dass dein rascher Schritt nicht dein Verdienst ist! Das Weib ist die Ursache! Immer ist das Weib die Ursache.«

»U-a-a-a!« erwiderte er und wiegte sich hin und her, und Schaum verspritzend und am Halfter kauend trabte er glücklich dahin. Uchaijid lachte und hänselte ihn weiter.

Doch dann kam der Tag, an dem die wehmutweckenden Ginsterblüten aufbrachen. Er band ihn im Wadi fest, liess ihn neben dem duftenden Ginster weiden und hatte ganz vergessen, dass sich mit den Ginsterblüten der Frühling auf den weiten Ebenen der Wüste niederlässt. Wenn aber der Frühling als Gast einkehrt, kommt für die Kamele die Zeit der Fruchtbarkeit und der Zeugung, und der Wahnsinn packt sie.

So auch an jenem Tag.

Schon einige Zeit hatte er dem Mädchen ins Ohr geflüstert, als er das Gebrüll des erregten Tieres hörte. Zunächst glaubte er, es sei fernes Donnergrollen, und liess sich bei seinen Liebkosungen und Tändeleien nicht stören. Doch das Gebrüll kam wieder, lauter, brutal, wahnsinnig. Er lief aus dem Zelt und rannte zum Wadi. Dort war der Schecke mit einem hässlich aschgrauen Kamelhengst in den erbarmungslosesten und zugleich edelsten Kampf verwickelt – sie kämpften um die Kamelstute. Am Horizont brach gerade das erste Morgenlicht durch. Im Dämmer wurde die Verletzung des Mehri sichtbar. Sein Rivale hatte ihm sowohl am Hals und am Kiefer als auch an der linken Flanke mit den Zähnen tiefe Wunden gerissen. Doch auch sein abscheulicher Gegner war nicht unversehrt geblieben. Er wies zahlreiche Schrammen auf, und sein ganzer Körper war blutverschmiert. Der Lärm hatte die Leute geweckt. Die Hirten rannten, mit Stöcken bewaffnet, ins Wadi, und nach langem Kampf gelang es ihnen, die beiden Streitenden zu trennen.

Die Sonne brach hervor, und plötzlich wurde Uchaijid sich bewusst, dass man ihn nackt überrascht hatte. Als die jungen Männer des Stammes kamen, sah er Missbilligung in ihren Blicken. Ihre Augen verrieten, dass sie alles wussten. Sie führten ihn zum Stammesscheich, einem grossgewachsenen, hageren alten Mann, der einen eleganten, mit feinziselierten Lederringen geschmückten Stock aus dem Holz des Lotosstrauchs in der Hand hielt. Über seine Stirn zogen sich tiefe Falten, aber in seinem Blick lagen Spontaneität, Vitalität und eine seltsame Heiterkeit. Er liess Tee bringen und lud ihn ein, es sich auf dem Kelim im Zelt bequem zu machen.

»Es entehrt keinen edlen Mann«, erklärte er würdevoll und drehte den Stock in den Händen, »sich zu verlieben oder zu einem Stelldichein auszureiten. Aber was schadet es uns, wenn wir gemäss dem Gesetz der Muslime handeln und durch die Tür eintreten?« Dann lächelte er und fuhr fort: »Es freut uns, den Sohn des Scheichs der Amnaghasten bei uns zu empfangen, des Mannes, dem die Ehre gebührt, die fremden Angreifer abgewiesen und ihr Eindringen in die Wüste verhindert zu haben.«

Uchaijid begriff, dass der weise Scheich nur die jungen Männer besänftigen und beruhigen wollte und deshalb über amouröse Abenteuer sprach und auf die Rolle seines Vaters beim Widerstand gegen die Eindringlinge in die Wüste hinwies.

Stammesscheichs sagen kein Wort unüberlegt, und sie sprechen gern in Andeutungen.

Einer der Männer führte den mit tiefen Wunden gezeichneten Schecken heran. Er war völlig verschmiert mit Blut, Schaum, Schweiss und Staub.

»Mein Gott, was ist denn das?« rief der weise Scheich seinen Männern zu. »Warum habt ihr mir denn nicht gesagt, dass unser Gast ein solches Prunkstück von einem Mehri sein eigen nennt? Einen gescheckten Mehri, grazil wie eine Gazelle. Das ist eine Rasse, die in der Wüste vor hundert Jahren ausgestorben ist. Bei Gott, woher hast du ihn?«

»Vom Oberhaupt der Ahaggâr-Stämme«, erwiderte Uchaijid und versuchte, seine Nacktheit zu verbergen. »Ein Geschenk, als ich volljährig wurde.«

»So, vom Oberhaupt der Ahaggâr-Stämme, Ibrahîm Bakda. Eine Art, die zu Helden seinesgleichen passt. Niemand sonst könnte ein Geschenk wie dieses machen. Die altehrwürdigen Stämme sind immer gut für Überraschungen und verfügen noch immer über Geheimnisse. Bei uns«, fuhr er dann fort, als Uchaijid schwieg, »sagt man, der Mehri sei der Spiegel des Reiters. Wenn du die Geheimnisse eines Reiters erfahren möchtest, nimm sein Pferd, sein Kamel in Augenschein. Ja, ans Kamel musst du dich halten, wenn du den Reiter kennenlernen willst. Jetzt kann ich guten Gewissens erklären, dass du ein junger Mann bist, dem es nicht an Vollkommenheit mangelt. Wer einen Mehri wie diesen Schecken da sein eigen nennt, dem gebricht es nicht an edlen Werten. Deine Anwesenheit ehrt unsere Wohnstätten, edler junger Mann, Spross der Edlen. Doch bedauerlicherweise sind deine Chancen, nach deinem Vater die Führung des Stammes zu übernehmen, gering, hat doch der Scheich meines Wissens drei Neffen, drei Schwestersöhne mit berechtigtem Anspruch. Aber wer weiss, vielleicht geschieht ja noch ein Wunder. Das Tor der Wunder steht immer offen.«

Ein hünenhafter junger Mann mit strenger Miene und groben Händen erhob sich, um die erste Runde Tee zu servieren. Der Scheich schlürfte die Schaumkappe und stellte dann das Glas auf die Erde. »Unser Gast möge uns erlauben«, sagte er, »auch seinen Mehri zu ehren. Denn auch wenn der Reiter es verschmäht, bei uns durch die Tür einzutreten, so spricht doch nichts dagegen, dass sein Mehri es tut.« Er lächelte, und die meisten Anwesenden taten es ihm nach. Uchaijid verstand die Anspielung nicht und begriff nicht, was der Scheich meinte.

»Wenn der Reiter«, erklärte der alte Mann, »den Schönen des Stammes entschlüpft, muss der seltene Mehri nicht notwendig den Kamelstuten des Stammes entkommen. Diese interessieren sich offenbar durchaus für ihn. Wir wünschen Nachkommenschaft von dieser ausgestorbenen Rasse. Um Schecken unter unseren Kamelen würden uns alle Stämme beneiden. Die Rasse neu zu beleben und vor dem Aussterben zu bewahren ist unsere Pflicht. Was meint unser Gast dazu?« Er wartete dessen Meinung nicht ab, sondern befahl, dem Mehri eine Kamelstute zu besorgen, und so wurde Uchaijid an jenem Tag zum ersten Mal Zeuge der Kopulation von Kamelen.

Sie brachten die schlohweisse Kamelstute heran und banden ihr die Vorder- und Hinterbeine fest. Dann führten sie den erregten Schecken zu ihr und scharten sich um die beiden. Er kniete in einer Weise auf sie, dass Uchaijid den Eindruck bekam, der armen Kamelstute würden die Rippen gebrochen. Sie schäumte, schrie um Hilfe und schleuderte Schaumfetzen aus. Der Schwanz verhinderte die Durchführung der Aufgabe. Einer der Umstehenden packte ihn und zog ihn hoch. Das Geheul brachte die Hütten zum Bersten. Kinder und Frauen kamen heraus. Dichtgedrängt standen sie da und schauten zu. Von Zeit zu Zeit lachte der Alte, fuchtelte mit dem Stock aus dem Holz des Lotosstrauchs in der Luft und wiederholte: »Wenn der Reiter entschlüpft, gilt das nicht auch notwendig für den Schecken.«

Es war ein scheusslicher Vorgang. Immer wenn Uchaijid sich daran erinnerte, spürte er Abscheu und Scham.

Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich

Dschabra Ibrahim Dschabra

Aufstieg zum Paradies

Einige Kilometer östlich von Bethlehem erhebt sich der Dschebel Charitûn, ein markanter Berg, den man von fast jeder Stelle des Ortes aus sehen kann. Von unserem Haus aus hatte man den Eindruck, er bilde genau die geheimnisvolle dunkle Mitte des Horizonts. Seinen Namen Charitûn, der Abgeflachte, hat man ihm vielleicht wegen seiner Form gegeben: ein violetter Kegel, dessen obere Hälfte abgeschnitten ist. Aus weiter Entfernung wirkte er wie ein grosser runder Backofen, und wenn die Sonne aufging, konnte man denken, sie käme aus seinem Inneren wie ein goldenes Fladenbrot.

Der Charitûn wurde auch Furdais, kleines Paradies, genannt. Ich stellte ihn mir wirklich wie das Paradies vor und bildete mir ein, dass jeder, der zu ihm käme, glücklich würde. Herr Fahîm, unser Lehrer, erklärte uns dann allerdings, dass der Berg schlicht und einfach ein erloschener Vulkan sei und dass man auf einer Seite ohne weiteres bis zu seinem Gipfel gelangen könne und von dort in sein Inneres, wo zwischen Lavagestein die Reste einer über zweitausend Jahre alten Burg zu sehen seien. Um Licht in die Angelegenheit zu bringen und das Geheimnis zu lüften, falls es überhaupt eines gab, würde er mit den Schülern der vierten Klasse am Freitag zum Charitûn wandern.

An dem bewussten Freitag erwachte ich vor lauter Aufregung schon beim Morgengrauen. Mutter hatte mir ein mit gekochten Eiern belegtes Brot und einen Rest vom Abendessen eingepackt und in meinen Schulbeutel gelegt. Diesen hängte ich mir um und lief zur Schule, wo wir uns alle treffen wollten.

Unter Führung des Lehrers wanderten wir, ungefähr dreissig Jungen, die Strasse entlang zuerst Richtung Bait Sâhur und dann immer weiter hinauf durch felsiges Gelände, wo es ausser ein paar Tierpfaden keinen Weg mehr gab. Und dann war es auch mit den Pfaden vorbei. Aus vereinzelt stehenden kümmerlichen Bäumen flogen hin und wieder ein, zwei Vögel auf, drehten eine Runde und landeten wieder. Zwischen den Felsen wuchsen hier und da ein paar Dornensträucher, deren Namen wir nicht kannten. Schliesslich war jegliche Vegetation verschwunden. Wir erblickten auch keinen einzigen Vogel mehr, sondern kämpften uns zwischen Geröll und Dornen vorwärts, die Sonne zunächst im Gesicht und dann mit unerbittlicher Kraft über unseren Köpfen. Herr Fahîm wurde nicht müde, uns mit seinen Kommentaren und Witzen aufzumuntern. Nur der Charitûn, das Paradies auf Erden, rückte in immer grössere Ferne, je länger wir liefen. So kam es uns zumindest vor, abgesehen vom Durst, der uns zunehmend plagte.

Einige Jungen hatten Feldflaschen in Filzbeuteln mitgebracht, die sie mit ihren jeweiligen Weggefährten nach und nach leerten. Ich verspürte zwar auch Durst, redete mir aber ein, nicht eher trinken zu müssen, als bis wir unser Ziel erreicht hätten. Unser Lehrer hatte versichert, dass es auf dem Berg einen Brunnen mit eiskaltem Wasser gab. So lange würde ich es noch aushalten.

Mit der Zeit wurden wir immer schweigsamer. Die Fröhlichkeit schwand. Dafür schwitzten wir immer mehr. Doch hier in dem Geröll gab es weder einen Baum noch einen Felsbrocken, der uns hätte Schatten spenden können. Unser Lehrer trieb uns zur Eile an und lief dabei unermüdlich zwischen der Spitze und dem Schluss hin und her und versuchte, uns mit seinen Spässen aufzuheitern.

Mein Freund Âdil al-Asli ging neben mir. »Was hast du in deinem Beutel?« fragte er auf einmal.

»Eier und Brot und …«

»Hast du keine Apfelsine?«

»Nein. Und du?«

»Ich habe eine. Hast du Durst?«

»Und wie!«

»Ich auch.« Er nahm eine grosse, glänzende Apfelsine aus seinem Beutel.

Unser Lehrer bemerkte es zufällig und kam herbeigeeilt. »Warte, Âdil«, meinte er. »Wir haben noch eine tüchtige Strecke vor uns. Bald kommen wir zu einer Grotte. Heb dir deine Apfelsine noch so lange auf. Siehst du diesen Hügel da?« Uns war schon das Wasser im Munde zusammengelaufen, und nun mussten wir die Apfelsine wieder verschwinden lassen. Kein Wunder, dass unser Durst nun noch schlimmer wurde. Die Jungen fingen an zu jammern: »Wir haben Durst und kein Wasser weit und breit.«

Endlich erreichten wir die versprochene Grotte und setzten uns in den kühlen Schatten. Âdil holte seine Apfelsine hervor und schälte sie, während ich den belebenden Duft einsog, den die Schale verströmte. Ein paar Jungen gesellten sich in Erwartung ihres Anteils zu uns. Nachdem Âdil die Frucht zerlegt und verteilt hatte, blieb für uns beide je ein Stück übrig. Ich steckte meins in den Mund, zerquetschte es langsam zwischen den Zähnen und schluckte den Saft vorsichtig hinunter. Welch eine Köstlichkeit! Ich habe mein Lebtag keine wohlschmeckendere Frucht gegessen als dieses eine Stückchen duftende Apfelsine. Wir waren noch nicht viel weiter gelaufen, als ich begreifen musste, dass durch jene süsssaure Köstlichkeit, die ich tröpfchenweise hinuntergeschlürft hatte, mein Durst noch grösser geworden war. Während wir zwischen den Felsen umherstolperten, trockneten meine Kehle, meine Zunge und meine Lippen immer mehr aus. Auch die Hitze wurde immer unerträglicher. Drei schwarze Krähen erschienen am strahlenden Himmel, kamen auf uns zu, stiegen wieder auf und verschwanden schliesslich hinter uns.

Wir liefen schneller, soweit das überhaupt möglich war. »Bald geschafft, Kinder!« trieb uns der Lehrer an. »Komm, nicht aufgeben, Iljâs! Los, Schukri! Dschabra, zeig, was in dir steckt, Junge! Bald geschafft! Âdil, hast du nicht noch eine Apfelsine? Na ja, muss nicht sein. Kommt, durchhalten, Kinder! In der Ausdauer liegt die Kraft!« Âdil und ich tauschten Blicke aus. Ich stellte mir vor, wie wir dreissig Jungen in Kürze unter der Sonne Glut auf den spitzen Steinen zusammenbrechen und allmählich verdursten würden. Nirgendwo gab es eine Pflanze, nicht eine Blüte, die uns wieder etwas Mut spenden könnte. Kaum hatten wir eine Anhöhe erklommen, erhob sich schon die nächste vor uns. Felsbrocken türmten sich auf, so unwirtlich, als würden sie es darauf anlegen, dass wir hier nicht mehr herauskämen und schliesslich verdursteten. Schukri fing an zu weinen. »Ich hab Durst!« jammerte er. Ein zweiter stimmte ein und dann noch einer. Auch ich hätte am liebsten mitgeweint. Ich seufzte, während aus meinen brennenden Augen zwei Tränen rannen. Wir stolperten weiter, vollkommen erschöpft. Wir werden sterben, dachte ich, und unsere Eltern erfahren nie, was uns zugestossen ist, es sei denn, die Krähen brächten ihnen Nachricht von unserem Schicksal.

Da gab der Berg zwischen dem Geröll einen Abstieg frei. Noch nicht ganz unten angelangt, erblickten wir in einiger Entfernung einen kreisrunden Brunnen aus grobem Gestein mit einem rostigen Eisendeckel. Wir rannten los, hoben den Deckel und beugten uns über den Brunnenrand. Unser Lehrer bemühte sich, uns zu bändigen, damit keiner in den Brunnen fiel. »Einen Eimer, Kinder!« rief er. »Sucht einen Eimer!« Doch da war kein Eimer, und das Wasser befand sich in einer Tiefe von fast zwei Metern. Und wir am Verdursten! Aber unser Lehrer war ein einfallsreicher Mann. Er holte aus seinem Beutel ein Kochgeschirr hervor und sagte: »Jeder, der einen Gürtel hat, macht ihn mal ab!« Er sammelte die Gürtel ein, knotete sie fest zusammen, band das eine Ende um den Henkel eines der beiden Töpfchen seines Kochgeschirrs, liess das Ganze in den Brunnen hinab und holte Wasser herauf, wie er es uns in den qualvollen Stunden versprochen hatte. Wir tranken einer nach dem anderen und bildeten uns ein, den gesamten Brunnen leeren zu können. Obwohl das Wasser eiskalt war und ziemlich schmutzig aussah, war es geniessbar. Jedenfalls behauptete das unser Lehrer. Oder war es der Durst, der uns dies glauben liess?

Ringsherum erhoben sich riesige Felsen. Wir flüchteten in ihre Schatten, setzten uns auf den Erdboden und holten unseren Proviant hervor. Während wir assen und ein schwacher Windzug unsere Gesichter streifte, hatten wir endlich Gelegenheit, die Landschaft zu betrachten.

Ganz in der Nähe konnte man so etwas wie einen Pfad erkennen, der im Laufe der Jahrhunderte getreten worden war und in Serpentinen bis auf den Gipfel des Charitûn führte. Die Burg hoch über unseren Köpfen war nicht weniger verlockend. Zwischen den Steinen, die, wie unser Lehrer erklärte, von der Erosion zu märchenhaften Skulpturen geformt worden waren, öffneten sich schlundartige Eingänge zu Grotten, gleichsam als Einladung, hinaufzusteigen und die dunklen Tiefen zu erforschen. Wir entdeckten einen Felsriss, durch den wir direkt bis zu einer der Öffnungen vordringen konnten. Dabei brauchten wir etwas Mut und Geschicklichkeit, weil wir über viele Spalten springen und uns beim Klettern an glattem Gestein festhalten mussten. Bei der Höhle angelangt, standen wir vor einem Eingang, der aussah wie eine in uralter Zeit von Menschenhand angelegte Arkade. Sie schien den Besucher zum Eintreten regelrecht aufzufordern. »Das ist das Tor zum Labyrinth!« verkündete einer der Jungen. »Mein Vater hat mir davon erzählt.«

Wir betraten die kalte Düsternis und stiessen im Inneren der Höhle abermals auf zwei bogenförmige Eingänge. Obwohl sich die meisten fürchteten weiterzugehen, nahmen einige Jungen, zu denen auch ich gehörte, den einen Eingang, ein paar andere den zweiten daneben. Hinter jeder Öffnung waren wieder Eingänge, die zu einer Kammer oder einem Gewölbe führten, von denen wieder »Türen« abgingen. Hier war offenbar ein merkwürdiges Spiel im Gange, und wir hatten nicht übel Lust mitzuspielen. Einige Jungen drangen in die immer dunkler werdenden Verästelungen vor und entfernten sich dadurch mehr und mehr voneinander. Zum Schluss war nur noch Âdil bei mir. Ganz allein, wie wir waren, wich unsere anfängliche Energie einem bedächtigen Vorantasten inmitten dieses finsteren Steindschungels, von einer Öffnung zur nächsten. Wir wollten gern noch weiter, mussten aber plötzlich feststellen, dass es immer feuchter und finsterer wurde und wir unsere Kameraden nicht einmal mehr hören konnten. Ausserdem schien aus den schwarzen Tiefen ein eigenartiges Brummen zu kommen, die Decke war jetzt ganz niedrig und voller Unebenheiten. Wir konnten nicht mehr erkennen, wogegen wir mit unseren Händen und Füssen stiessen. Dafür waren wir aber in einem echten Labyrinth! Âdil fasste mich bei der Schulter, wir fielen beide zu Boden und erschraken fürchterlich.

»Komm, wir kehren um!« rief er. »Das ist die Dämonengrotte. Wirklich!«

»Gut. Aber wie? Gib mir deine Hand!« Ich stand auf, zog Âdil hoch und drehte mich um in der Hoffnung, wenigstens einen kleinen Lichtschimmer zu erblicken, der uns die Richtung weisen könnte. Meine Angst wuchs, als ich nichts sah ausser pechschwarzer Nacht. Âdil klammerte sich fester an mich. Abermals war meine Kehle wie ausgetrocknet. Wir tasteten uns aufs Geratewohl vorwärts. Doch die Finsternis wollte nicht enden. Ich wurde immer unruhiger. »Entweder verdursten wir oder wir ersticken«, meinte ich.

Âdil wollte mir aber nicht recht geben und hielt sich weiter an mir fest.

»Wie du willst, aber bleib bei mir!« sagte ich.

Schliesslich kam es uns vor, als hätten wir tatsächlich den richtigen Weg gefunden. Allerdings schlüpften wir durch vollkommen andere Öffnungen als auf unserem Hinweg. Da erschien in der Ferne ein schwaches Licht. Wir liefen darauf zu. Hauptsache, wir nahmen nicht einen Gang, der uns wieder vom Ausgang entfernte. Doch schon hörten wir unsere Kameraden. Und endlich standen wir wieder im grellen Sonnenlicht. Die anderen erwarteten uns bereits in der »Eingangshalle«. Der Lehrer zählte mehrere Male durch, damit auch keiner im Labyrinth zurückblieb. Âdil und ich waren die letzten und wurden wegen unserer unnötigen Tollkühnheit ausgescholten. »Tollkühn?« fragte ich. »Wir wären beinah vor Angst gestorben!« Mein Herz schlug noch immer heftig. Ich konnte mich gar nicht beruhigen.

Nun ging’s rasch wieder hinunter. Wir schwatzten laut und liefen um die Wette, als wären wir einem schrecklichen Gefängnis entronnen. Nach unserem langen Leidensweg erschien uns der anschliessende Aufstieg zum Paradies kinderleicht. Oben angekommen, standen wir vor einem kreisrunden Krater, der sich gen Himmel öffnete. Um möglichst schnell in sein Inneres zu gelangen, bahnten wir uns den Weg zwischen Lavabrocken und riesigen behauenen Steinen, den Resten einer alten Burg, die nach den Worten unseres Lehrers einst von Herodes dem Grossen bewohnt worden war.

Herodes – die Römer hatten ihn dreiunddreissig Jahre vor Christi Geburt zum Herrscher über Palästina gemacht. Eines Tages vernahm er die Kunde von der Geburt in Bethlehem, konnte jedoch den Jesusknaben nicht finden, denn die Jungfrau Maria befand sich mit Josef auf der Flucht nach Ägypten. Alsdann befahl er, alle Neugeborenen in der Stadt töten zu lassen, und richtete ein grausames Blutbad an, das Massaker an den Unschuldigen Kindern. Er hoffte, auf diese Art und Weise auch das Kind zu töten, das nach den Prophezeiungen, sobald es heranwuchs, eine Gefahr für seine Herrschaft und sein Leben darstellen würde. Um seinen Thron zu retten, hatte er ohnehin schon viele Mitglieder seiner Familie, selbst einige seiner Söhne, umbringen lassen. Warum sollte er da nicht auch anderer Leute Söhne töten? Aber dann starb er noch im selben Jahr. Sein Spross Herodes Antipas wurde König. Er war es, der Johannes den Täufer enthaupten liess. Doch sein feister Leib wurde noch zu Lebzeiten von Würmern zerfressen, und der Gestank lockte Krähen von überall her an. Scharenweise liessen sich die krächzenden Vögel auf den Erkern, Fenstern und Türen seines Palastes nieder und lauerten auf das fette Totenbankett … das war allerdings nicht dieser Palast hier, der heute nur noch die Strahlen der Sonne beherbergt.

Als wir die Ruine wieder verliessen, war uns klar, dass wir einen Ausflug in die Geschichte gemacht hatten. Doch was für eine Geschichte! Lassen wir sie lieber schnell hinter uns! Noch einmal rannten wir zum Brunnen hinunter, schöpften Wasser und bereiteten uns zum Abmarsch vor.

Der Rückweg war erstaunlich einfach. Wir wählten eine andere Strecke als am Morgen, als wir einen falschen Weg eingeschlagen und uns verlaufen haben mussten. Nun jedoch war der Pfad klar erkennbar, es gab weniger Geröll und Steine. Wir brauchten nur die Hälfte der Zeit, und niemand bekam diesmal Durst.

Als ich nach Sonnenuntergang hungrig und erschöpft zu Hause eintraf, blickte ich noch einmal zum fernen Charitûn. Das Blau der Berge verschmolz am Horizont mit den letzten Farbtupfern der Abenddämmerung. In diesem Augenblick verspürte ich ein Glücksgefühl in mir aufsteigen. Ich konnte mich nicht satt sehen und versuchte zu begreifen, was plötzlich von meiner Seele Besitz ergriffen hatte: War es das Gefühl, nach einer qualvollen Reise das Paradies erblickt zu haben? Oder nach einem Besuch des Totenreiches gestärkt ins Leben zurückgekehrt zu sein? Waren Überlegungen wie diese etwa zu kompliziert für mein kindliches Gemüt? Eine Sache erkannte ich zu jenem Zeitpunkt jedenfalls noch nicht: dass die Erfahrung mit dem lebensgefährlichen Durst und mit dem angsteinflössenden Labyrinth tiefe Spuren in mir hinterlassen hatte, Spuren, die noch jahrelang in den verschiedensten Formen sichtbar sein würden.

Aus dem Arabischen von Kristina Stock

Baha Taher

Pater Bischai

Zu Fuss ist das Kloster ungefähr eine halbe Stunde vom letzten Haus unseres Dorfs entfernt. Reitet man auf einem Esel, braucht man natürlich viel weniger Zeit. Trotzdem ist es vom Dorf aus nirgendwo zu sehen, nicht einmal vom Dach unseres Hauses, das ganz hinten als letztes im Dorf steht. Wir nennen es einfach immer nur das »Ostkloster«, weil man, geht man in östlicher Richtung aus dem Dorf hinaus und den holperigen Weg durch die Wüste entlang, zum »Gebirge« kommt, jedenfalls nennen so die Dörfler die braunen Felshügel, und dort, mitten zwischen den drei Hügeln, steht das Kloster, umgeben von einer hohen Mauer, deren Farbe sich von den Felsen nicht unterscheidet.

Da sich unser Haus noch am ehesten in der Nähe des Klosters befand, betrachteten uns die Mönche sozusagen als ihre Nachbarn. Waren die Datteln reif, brachten sie uns welche. Nur die Palmen in den Gärten des Klosters trugen solch süsse Früchte, und der Kern war ungewöhnlich klein. Als ich noch ein kleiner Junge war, also vor mehr als dreissig Jahren, durfte ich meinen Vater am Palmsonntag und am siebenten Januar, dem koptischen Weihnachtsfest, ins Kloster begleiten, um den Mönchen zu gratulieren. Und feierten wir das Fastenbrechen, suchte Mutter aus der Menge der Gebäckschachteln die »Klosterschachtel« heraus und schickte mich damit zu den Mönchen. Wenn jemand während des Jahres neue Schuhe bekam, hob sie die weissen, länglichen Kartons sorgfältig auf, und wenn sich der Ramadan seinem Ende näherte, holte sie sie hervor, staubte sie ab und hielt sie für das Gebäck bereit. Brach der festtägliche Morgen an, schichtete sie das mit Zucker bestreute und mit zartem Blätterteig überzogene Gebäck in die Schachtel, nicht ohne zuvor in die Mitte jedes Kekses eine Gewürznelke gesteckt zu haben. Schliesslich legte sie einen Bogen durchsichtigen Papiers darüber, deckte die Schachtel zu und begann zu zählen: »Eine Schachtel für Tante Safîja, eine für deinen Grossvater Abu Rahâb, eine für deinen Onkel Abdalrahîm, eine für die …, eine für den … wen könnte ich noch vergessen haben?«

Mich interessierte nicht sonderlich, wen Mutter vergessen haben könnte. Wer auch immer von den entfernten Verwandten ihr jetzt, zu dieser frühen Stunde, noch einfallen mochte, dem würde eine meiner Schwestern einen grossen Teller bringen müssen. Die wirklich wichtigen Geschenke, die weissen Schachteln, die man mühelos mit einer Hand tragen konnte, die waren einzig und allein meine Aufgabe, da ich ja ein Mann war. Damit blieben mir die Gefahren erspart, denen meine Schwestern ausgesetzt waren. Wenn ihnen nämlich so ein Teller unterwegs hinunterfiel, das Gebäck zerbrach und im Sand landete und die Unglückliche weinend zurückkehrte, empfing Mutter sie mit Ohrfeigen und Fusstritten, nannte sie eine dumme Trine und beklagte ihr Unglück, mit Töchtern geschlagen zu sein.

Für gewöhnlich trug ich alle Geschenkschachteln gleich nach dem Feiertagsgebet aus, nur die Schachtel fürs Kloster hob ich mir für den späten Vormittag auf – ich wollte mir Zeit gönnen können. An diesem Tag durfte ich auf unserem weissen Esel reiten, der ein schönes, weiches Fell hatte. Normalerweise stand der Esel nur Vater zur Verfügung. Kam ich vor dem Kloster an, öffnete Pater Bischai im Nu das niedrige Tor, das in der riesigen Mauer kaum auffiel, und begrüsste mich voller Freude. »Ein herzliches Willkommen dem trefflichen Schüler! Sei willkommen, Sohn des edlen Hagg! Gegrüsst seien solch liebe Nachbarn!«

Der Esel wurde nicht minder herzlich willkommen geheissen, eher noch freundlicher. Pater Bischai tätschelte ihm liebevoll den Hals, raunte ihm Liebkosungen ins Ohr und war nahe dran, ihn zu küssen. Als ich zum erstenmal allein zum Kloster kam, schaute ich reichlich verdutzt drein. Ich fragte den Pater, warum er den Esel so verwöhne. »Das fragst du mich, du, der doch in die Schule geht?« erwiderte er nicht ohne Vorwurf in der Stimme. »Ist nicht unser Erlöser auf solch einem Esel unter dem Jubel des Volks in Jerusalem eingezogen?«

Von dem ganzen Satz begriff ich damals nur ein Wort, nämlich »eingezogen«. Aber noch bevor ich etwas fragen konnte, gab er mir schon das zweite Rätsel auf. Er lächelte etwas verlegen, bedeckte mit der einen Hand seinen Mund, die andere lag auf dem Hals des Esels, und sagte: »Als ich nach Jerusalem pilgerte, mein Junge, wäre ich, statt den Zug nach Palästina zu nehmen, schrecklich gern auf einem Esel geritten, und zwar auf dem gleichen Weg, den unser Erlöser und die Heilige Familie genommen haben.« Plötzlich musste ihm etwas eingefallen sein, denn er liess den Esel los, runzelte die Stirn, strich sich über den Bart und murmelte, als rede er mit sich selbst: »Gott sei Dank bin ich nach Jerusalem gepilgert, bevor diese Verfluchten sich Palästina einverleibt haben. Hätte ich die Pilgerfahrt bis heute hinausgezögert, wäre ich weder mit dem Zug noch mit einem Esel hingekommen. Auf jeden Fall hätte ich den Weg über Transjordanien nehmen müssen.« Er schaute auf, hob das Gesicht und eine Hand gen Himmel und sprach freudig: »Möge Gott der Herr Gamal Abdel Nasser den Sieg gewähren, auf dass er sie aus Jerusalem vertreibe, wie er die Engländer aus Ägypten vertrieben hat.« Er drehte sich zu mir um und sagte: »Du musst nämlich wissen, mein Junge, dass Transjordanien sehr weit weg ist. Da muss man ein Flugzeug besteigen, und davor hat Onkel Bischai Angst.« Bei diesen Worten entspannte sich sein Gesicht, und auf einmal begann er laut loszulachen; eine ganze Salve ergoss sich über mich, wie das so seine Art war.

Ich war damals ungefähr zwölf Jahre alt. Und da ich die Grundschule schon beendet hatte und zur Mittelschule ging, war klar, dass ich alles verstanden haben musste. Deshalb hielt ich den Mund und stellte keine Fragen. Statt dessen erinnerte ich mich daran, wie die Leute aus dem Dorf Pater Bischai nannten, ja sogar die Mönche, wenn sie über ihn wütend waren – einen »Schwachkopf«. Trotzdem war er im Dorf von allen Mönchen der bekannteste, auch wenn wir nicht genau wussten, welchen Platz er im Kloster einnahm. Er trug zwar wie die anderen Mönche ein langes schwarzes Gewand, aber trotzdem unterschied er sich von ihnen. Auf den Kopf setzte er sich nämlich ein ganz normales Käppchen und keine Kapuze mit umgeklapptem Rand. Ausserdem verbrachte er nicht wie die anderen die meiste Zeit mit Beten in seinem kleinen Zimmer, das bei den Mönchen »Zelle« hiess. War er also ein Mönch auf Probe oder einfach nur ein Kirchendiener oder vielleicht der Landwirt des Klosters? Das wusste niemand, obwohl er bei uns und auch in den benachbarten Dörfern ein vertrautes Gesicht war. Er kannte alle Bewohner, und sie kannten ihn auch alle. Er war es, der einmal in der Woche am frühen Morgen nach Luxor aufbrach, und zwar meistens zu Fuss. Kehrte er abends zurück, trug er auf dem Rücken und unter den Armen Säcke mit Zucker, Reis, Tee, Kerosinkanister, Glühstrümpfe für die Gaslampen und all die anderen Sachen, die im Kloster gebraucht wurden.

Es passierte des öfteren, dass ihn unterwegs die Bauern anhielten und ihn wegen ihrer Pflanzen um Rat fragten, oder er blieb einfach stehen, wenn er ihnen seine Meinung sagen wollte. Lief er durch ein bewässertes Feld und sah, dass ein Bauer Linsen gesät hatte, obwohl der Boden zu nass war, hielt er inne und fragte vorwurfsvoll: »Warum hast du, mein Sohn, den Linsensamen so früh gestreut? Du musst aufpassen, wenn aus dem Samen was werden soll, darfst du den Boden nicht so oft wässern. Mal ja, mal nicht. Weisst du nicht, dass Linsen Wasser nicht mögen?«

Obwohl man ihn einen »Schwachkopf« nannte, war er für seine nützlichen Ratschläge bekannt – noch nie hatte er jemanden enttäuscht. Etliche waren überzeugt, dass er nur deshalb solch ein Geschick besass, weil er mit den Geistern in Verbindung stand, was man übrigens von allen behauptete, die anders sprachen oder sich anders benahmen. In solchen Fällen pflegten die Leute erschrocken zu murmeln: »Wieder so einer, Gott beschütze uns.« Einige dieser Spinner hatten sogar Angst, dass er ihre Pflanzen verhext hatte, weil alle seine Voraussagen in Erfüllung gingen.

Vater machte sich über solche Leute immer lustig und meinte, dass es ihnen wesentlich mehr an Verstand mangele als Pater Bischai. Er kenne sich einfach nur aus, sagte Vater, wisse, wie man mit dem sandigen, mageren Boden des Klosters umgehen müsse. Deshalb war Vater immer darauf bedacht, sich bei Pater Bischai Rat zu holen, bevor er etwas säte oder pflanzte. In dem Jahr, als in unserer Gegend der Baumwollrausch einsetzte und alle Bauern die kärglichen Gewinne aus der Linsenernte mit denen der Baumwollernte verglichen, sagte Pater Bischai lachend zu Vater: »Baumwolle? Hier, wo selbst die Malven den Geist aufgeben? Pflanz lieber Mais an, Hagg.«

Vater nahm den Rat nicht auf die leichte Schulter, und um ganz sicherzugehen, erkundigte er sich noch bei Harbi, der zu unserer engeren Verwandtschaft gehörte und einer der besten Landwirte war. »Hör nicht auf die Leute«, erklärte Harbi. »Baumwolle auf diesem Boden? Da wird eine Menge Papier auf die Reise gehen.«

Diese Redewendung gebrauchte man immer, wenn jemand in Schwierigkeiten geraten oder verrückt geworden war. Wer seine offiziellen Dokumente in die Hauptstadt schicken musste, den hatte ein grosses Unglück getroffen.

In der Tat erwies sich der Anbau von Baumwolle als Reinfall. Die kurzen Zweige vertrockneten, und die Kapseln waren kleiner als Kichererbsen. Wer auf die verlockenden Aussichten, die die Baumwollernte versprach, gesetzt hatte, der hätte sich nun am liebsten selbst geohrfeigt. Vater hingegen dankte und pries unseren Herrgott, dass er sich mit wenigem zufriedengegeben hatte und zur rechten Zeit einem weisen Rat gefolgt war.

Aber ich habe noch nicht erzählt, warum ich so froh war, am Festtag ganz allein zum Kloster reiten zu dürfen. Wie gesagt, ich besuchte ja schon die Mittelschule, und da galt ich als ein Mann, auf den man sich verlassen konnte. Zuallererst freute ich mich, allein zu sein. Denn wenn ich Vater begleitete, galt das unumstössliche Gesetz, dass ich den Mund zu halten hatte, während er mit den Mönchen sprach. Mehr noch, er überwachte aus den Augenwinkeln jede meiner Bewegungen. Beispielsweise musste ich das Glas mit dem honigsüssen Sirup, der uns im Kloster immer angeboten wurde, bis zur Neige austrinken, obwohl ich ihn nicht mochte. Und natürlich durfte ich beim Trinken kein Geräusch verursachen, aber auch meinen Vater nicht darauf aufmerksam machen, dass nicht nur er, sondern auch die Mönche vor jedem Schluck einen Ton von sich gaben, der sich wie Pfeifen anhörte. Hatte ich das Glas ausgetrunken, musste ich aufstehen, das Glas aufs Tablett stellen und laut »Danke!« sagen. Danach hatte ich wieder zu verstummen. Ich durfte mich erst von meinem Platz rühren, wenn mich Vater an die Hand nahm und mit mir aufbrach.

Aber am Festtag konnte ich, nachdem ich die Schachtel abgeliefert hatte, tun und lassen, was ich wollte. Erst nahm ich noch die guten Wünsche der Mönche entgegen, die ich Vater überbringen sollte, verbunden mit dem herzlichsten Dank für all seine Mühe, die doch gar nicht notwendig gewesen wäre, aber »unser Herrgott wird’s ihm lohnen und es ihm gutgehen lassen …« und so weiter und so weiter, und dann durfte ich endlich ganz nach Belieben im Kloster herumspazieren. Ich fand, dass es in gewissem Mass Ähnlichkeit mit unserem Dorf hatte