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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Mein Dank gilt

Über das Buch

Der Autor

Impressum






Für Gisela









Things they do look awful cold

I hope I die before I get old

Talkin' 'bout my generation

Pete Townshend (The Who), »My Generation«

1

Sie traten aus dem Haus Kettengasse 25. Drei hatten sich eingehakt, einer ging vorneweg zu einem VW-Käfer, der um die Ecke im Unteren Faulen Pelz stand, an der Mauer des Gefängnisses. Über ihnen hing der Vollmond hinter Stacheldraht.

Sie sagten kein Wort. Der Mann, der eng zwischen zwei anderen ging, schien unwillig zu sein. Er drehte zwei- oder dreimal den Kopf zurück, als wollte er bleiben. Dabei fielen ihm lange braune Locken ins Gesicht, sodass er den Kopf schüttelte, um etwas sehen zu können. Es wirkte, als wollte er nein sagen. Doch er wehrte sich nicht.

Sie mussten alle auf der Fahrerseite einsteigen, so dicht stand der Wagen an der Mauer. Der Mann, der vorne gegangen war, klappte den Fahrersitz vor, dann schob sich einer der beiden, die den Langhaarigen eingehakt hatten, auf die Rückbank. Er trug einen roten Vollbart. Die beiden anderen drückten den Langhaarigen hinein, dann quetschte sich der andere Begleiter daneben. Er hatte ein hageres Gesicht mit hervorstehendem Kinn. »Was soll das?«, sagte der Langhaarige in einem Ton, in dem Ungläubigkeit mitschwang.

Sie hatten geklingelt in der Wohnung im Dachgeschoss und ihn gleich herausgezerrt, als er die Tür geöffnet hatte. Woher hatten sie gewusst, dass er allein war? Marianne und Ingo waren noch nicht zurück vom Kino. Was hatten sie vor? Er spürte die Angst, aber dann sagte er sich, sie wollten ihn nur erschrecken. Die tun keinem was, die nicht.

»Wirst schon sehen«, sagte der Mann, der sich hinters Steuer gesetzt hatte.

Da schüttelte sich der Langhaarige, er drängte zur Tür, wollte den Fahrersitz nach vorn drücken, aber die beiden neben ihm hatten keine Mühe, ihn zu halten.

»Lass den Quatsch«, sagte der mit dem Kinn, der links vom Langhaarigen saß.

Der Langhaarige fiel zurück auf die Bank.

Der Motor startete erst nach dem vierten Versuch. Der Fahrer gab zu viel Gas, dann nahm er den Fuß abrupt vom Pedal, stieg auf die Bremse und würgte den Motor ab. Die Insassen wurden durchgeschüttelt. »Reiß dich zusammen!«, brüllte der Vollbart auf der Rückbank. »Kannst du nicht mehr fahren, oder was?«

Der Fahrer antwortete nicht. Er startete den Motor erneut, trat die Kupplung und legte den ersten Gang ein. Der Motor heulte kurz auf, dann beschleunigte der Wagen ruckartig, hätte fast ein parkendes Auto gerammt, und endlich wurde die Fahrt ruhiger.

Sie fuhren langsam die Friedrich-Ebert-Anlage hinunter. An der großen Kreuzung ging es rechts ab in die Sofienstraße, dann über die Brücke nach Neuenheim. In Handschuhsheim bog der Wagen wieder rechts ab, den Hang hinauf; der Weg wurde immer kurviger. Die Scheinwerfer tanzten die Böschung entlang, Büsche und Bäume trugen noch kein Laub. War der Langhaarige erst überrascht, dann erstaunt gewesen, so griff jetzt wieder die Angst nach ihm, langsam und von unten. Der Darm wurde unruhig, dann der Magen, schließlich kam der Schweiß, und er fragte: »Was habt ihr vor?«

»Mach dir nicht ins Hemd«, sagte der Mann mit dem Kinn neben ihm, ohne ihn anzusehen.

Schweigend fuhren sie in den Wald. Der Langhaarige kannte die Gegend, grau ragte die Ruine des St.-Michaels-Klosters im Mondlicht. Hier hatten sie im letzten Sommer unter Bäumen gesessen, Joints geraucht und Bier getrunken. Aber jetzt war hier niemand, die Kneipe noch nicht geöffnet. Der Fahrer steuerte den Käfer auf den großen Parkplatz hinter der Gaststätte. Sie waren die Einzigen. Dann stiegen sie aus, und die beiden von der Rückbank hakten den Langhaarigen wieder unter. Der ließ sich mitziehen, er war allein, die waren zu dritt. Sie führten ihn weg von der Gaststätte weiter in den Wald hinein. Sie näherten sich der rund gemauerten Bühne der Thingstätte von hinten. Die beiden führten den Langhaarigen durch den Eingang zwischen den beiden Flügeln, dann sah er die Treppen und Sitzreihen aus Stein, die sich steil nach oben streckten. Irgendwo schrie ein Kauz. Geraschel im Wald, der Langhaarige spürte, wie der Vollbart rechts neben ihm zuckte. Erst jetzt entdeckte der Langhaarige den langen, dicken Gegenstand in der Hand des Fahrers. Sie näherten sich der Stahlgittertür des linken Bühnenflügels, von den Sitzreihen aus gesehen. Das lange Ding entpuppte sich als Bolzenschneider mit Hebelgriffen. Der Fahrer setzte die Zange an den Bügel des Vorhängeschlosses, drückte die Griffe zusammen und zog sie auseinander. Das wiederholte er an einer zweiten Stelle des Schlossbügels, und mit einem Klacken fiel das Schloss auf den Steinboden. Dann hatte der Fahrer eine Taschenlampe in der Hand. Er öffnete die Gittertür, leuchtete in den Raum hinein und sagte: »Los!«

Die beiden anderen führten den Langhaarigen in den Lichtkreis. Es roch nach Fäulnis. Eine Ratte huschte durch das Licht hinaus aus dem Raum. Einer schloss die Gittertür, dann sagte der Fahrer: »Knie dich hin!« Er leuchtete dem Langhaarigen ins Gesicht, dann fiel der Schein der Taschenlampe auf den Boden vor dem Langhaarigen. »Dahin!«

Der Langhaarige blieb stehen.

Der mit dem Kinn trat dem Langhaarigen in die rechte Kniekehle. Der schrie auf und sackte zu Boden. Dann kniete er. »Ihr seid wahnsinnig«, sagte er. Nun hatte er nur noch Angst.

»Du bist ein Verräter«, sagte der Fahrer.

Der Langhaarige starrte ihn an und schüttelte den Kopf. »Nein, nein!«

Dann hatte der Vollbart eine Pistole in der Hand, der Fahrer sah sie und fragte: »Was machst du?«

Der Langhaarige begann zu zittern.

Der Vollbart stellte sich hinter den Langhaarigen. Der mit dem Kinn schaute auf die Pistole, dann auf den Langhaarigen. Der Fahrer sagte: »Wir wollen alles wissen.« Auch er klang zittrig.

»Ich habe nichts verraten«, sagte der Langhaarige.

»Du kennst doch den Wieland«, sagte der Fahrer.

»Du hast ihn mir mal gezeigt, daher kenn ich ihn.«

»Du bist mit ihm gesehen worden.«

»Nein«, sagte der Langhaarige. »Doch, ich habe ihn mal um Feuer gebeten.« Er erzählte nicht, wie es ihn gereizt hatte, Wieland nahe zu kommen. So einen genau zu sehen.

»Er war bei dir zu Hause.«

»Er ist gekommen und hat mich bedrängt, mit ihm zu reden.« Das war Wochen, nachdem er ihn um Feuer gebeten hatte. Wieland schien ihn nicht wieder zu erkennen.

Der mit dem Kinn trat dem Langhaarigen ins Gesicht. »Sag die Wahrheit, du Schwein!«, brüllte er. Der Langhaarige fiel auf die Seite. »Los, hoch«, sagte der Fahrer. »Stell dich nicht so an.« Der Langhaarige stöhnte und hockte sich wieder auf die Knie. Er betastete die Stelle, wo ihn der Tritt getroffen hatte.

»Wenn uns jemand hört«, zischte der Vollbart.

»Um die Zeit, hier, bestimmt nicht«, sagte der Fahrer.

»Wegen diesem Schwein werden wir lebenslang Scherereien haben«, sagte der Fahrer. Der Vollbart drückte dem Langhaarigen die Pistole ins Genick.

»Wo hast du die her?«, fragte der mit dem Kinn. Er klang unsicher.

»Von meinem Alten, aus dem Krieg, ist eine 08, durchschlägt alles.« Der Vollbart war stolz.

Dann begannen sie wieder, den Langhaarigen zu befragen und zu quälen. Der aber bestritt alles. Die drei anderen erregten sich immer mehr. Sie fragten, schlugen und traten. Der Langhaarige fiel immer wieder um, die anderen zerrten ihn immer wieder auf die Knie. Längst blutete der Langhaarige aus Gesichtswunden. Er kniete im eigenen Urin.

»Die Flasche hat sich in die Hose gemacht, es stinkt!«, rief der Fahrer hysterisch.

»Bringen wir es zu Ende. Gestehst du deinen Verrat, dann geben wir dir eine Chance.« Der Vollbart trat dem Langhaarigen ins Kreuz, nicht fest, eher als Aufmunterung. Sie bauten ihm eine Brücke. Der Langhaarige schüttelte den Kopf, vielleicht weil er nichts mehr verstand, vielleicht weil er nein sagen wollte.

Den Schuss hörte er nicht mehr. Die Neunmillimeterkugel aus dem letzten Krieg drang in seinen Hinterkopf ein und ließ das Gesicht nach vorne platzen. Dann drang der Knall durch die Gittertür aus dem Raum, raste die steinernen Sitzreihen und Treppen hoch und verlor sich im Wald. Mit einem Ächzen sank der Langhaarige zur Seite. Die drei standen erstarrt vor der Leiche. Der mit dem Kinn übergab sich.

2

Es war die Erleuchtung. Sie blendete ihn, doch bescherte sie ihm ein Glücksgefühl, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Endlich kam sie. Sie wollte ihm irgendetwas sagen, etwas Wichtiges. Gewiss, dass er bald den Durchbruch erleben würde, dass nur wenige Schritte fehlten dazu. Ein bisschen musste er sich noch anstrengen, aber es war schon fast alles fertig. Die Erleuchtung rückte ihm näher und gleißte immer heller. Dann spürte er sie, sie war warm, schön warm. Dann wurde sie heiß. Sie kam noch dichter heran. Nun schmerzte sie, er kreuzte die Arme vor seinem Gesicht. Brandblasen wuchsen auf seinen Händen und Armen. Gleich würde die Erleuchtung ihm die Hände wegbrennen, dann die Arme, dann den Kopf. Die Schmerzen waren höllisch.

Er schrie vor Angst und Schmerz. Dann schlug er die Augen auf. Vorsichtig starrte er in die Dunkelheit. Bald sah er Umrisse des Schranks, daneben das alte Bücherregal, in dem sie Bücher aufbewahrte, die er längst zum Altpapiercontainer getragen hätte. Sie hustete, ohne aufzuwachen. Er sah nur den Schattenriss ihres Gesichts im Dämmerlicht, das die Straßenlaterne warf. Sie atmete langsam und gleichmäßig. Er mühte sich, den Schmerz im Rücken zu besänftigen, indem er seinen Körper vorsichtig hin- und herschob auf der Matratze. Es half wenig, er stand auf.

Er tastete sich zur Tür, trat auf etwas Hartes, einen Bleistift vielleicht, und stöhnte auf. Als er im Flur stand und die Schlafzimmertür geschlossen hatte, drehte er das Licht an. Er setzte sich aufs Klo, pinkelte, wusch und trocknete sich die Hände. Dann ging er in die Küche. Die Uhr zeigte halb vier. Er goss sich ein Glas mit Wasser ein und trank es aus. Er setzte sich an den Tisch, blätterte im Hamburger Abendblatt, eine Gerichtsreportage, da fiel ihm Ines ein. Der Prozess war vorbei, er würde sie nie wieder sehen. Er dachte an die Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, die Erinnerung reizte ihn. Er schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie Ines aussah. Aber die Konturen verschwammen. Dann blätterte er weiter, ohne recht zu verstehen, was er überflog.

Die Küchentür öffnete sich. Anne blieb im Türrahmen stehen: »Was ist? Schmerzen?«

»Ja, auch.«

»Auch?«

»Mich hat die Erleuchtung geweckt«, sagte Stachelmann.

Sie starrte ihn ungläubig an. »Aber sonst geht es dir gut?« Sie trat in die Küche und schloss die Tür. »Wir wecken noch Felix.« Sie gähnte. »Und wie sieht die aus, die Erleuchtung?«

»Hell natürlich, sie blendet. Und sie verbrennt einem erst Hände und Arme, dann den Rest.«

Sie ließ ihre Augen über seine Hände und Arme wandern und schüttelte den Kopf. »Und dir geht es wirklich gut, bis auf die Schmerzen?«

Er nickte. »Warum bist du aufgewacht?«

Sie stellte sich hinter einen Küchenstuhl und stützte die Hände auf dessen Lehne. »Ich habe einen Mist geträumt.«

Er schaute ihr fragend in die Augen.

»Na ja, dass du schon wieder den Detektiv spielst, und diesmal geht es schief.« Sie lachte müde.

Er grinste sie an. »Nein, zweimal reicht. Wirklich. Beim ersten Mal war ich zu neugierig, mein Fehler. Beim zweiten Mal hatte ich keine Wahl. Und damit hat es sich.«

Sie setzte sich auf den Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hände. »Hast du denn auch über die andere Sache nachgedacht?«

»Die andere Sache? Ach so. Ja, natürlich.«

»Und was ist das Ergebnis?«

»Es gibt keines, noch nicht.«

»Du machst es uns schwer, Josef, immer so schwer. Warum nur?«

»Ich nehme es ernst, das ist was anderes. Komm, geh schlafen, solche Nachtdiskussionen bringen uns nicht weiter.«

»Die am Tag aber auch nicht.« Sie stand auf und schaute ihn zärtlich an. »Versuch doch auch zu schlafen. Sonst bist du morgen, nee, heute wieder so zerschlagen.«

»Mal sehen, nachher.«

Sie verließ die Küche und schloss die Tür. Er starrte auf die Tür, als könnte er hindurchsehen. Ihr Streit, wann hatte er begonnen? Und um was ging es eigentlich? War Streit überhaupt das richtige Wort? Seit Wochen lief es so, und es zerrte an beider Nerven.

Dann fuhr er zusammen, als hätte ein Blitz ihn getroffen. Es war die Klingel. Einmal, zweimal, dreimal schrillte sie durch die Wohnung. Da sprang er auf, der Stuhl fiel nach hinten um und schlug laut auf den Linoleumboden. Als er die Küchentür aufriss, hörte er Felix weinen.

Anne kam aus dem Schlafzimmer. »Das kann nur ein Besoffener sein, verdammt.« Sie verschwand in Felix' Zimmer. Stachelmann fragte zornig in die Gegensprechanlage: »Sind Sie verrückt?«

»Polizei«, sagte eine leise Frauenstimme. »Machen Sie auf, bitte.«

Die Stimme berührte etwas in ihm. Er hatte sie schon einmal gehört, irgendwann. Stachelmann drückte auf den Knopf, der die Haustür öffnete. Dann eilte er ins Badezimmer, zog sich den Bademantel an, trat zurück in den Flur und wartete. Die Schritte auf der Treppe näherten sich rasch. Es waren leise, schnelle Schritte. Dann sah er sie. Natürlich, er kannte sie. Das war doch Ossis Kollegin. Wie hieß sie nochmal? Sie war klein und hatte kurze schwarze Haare. Sie ähnelt Anne, dachte Stachelmann, nicht nur der Haare wegen. Etwas zierlicher. Sie hatte rote Augen, als wäre sie erkältet. Oder als hätte sie geweint.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Es ist früh.« Ihre Augen sagten: Ich kann nicht anders.

Stachelmann führte sie in die Küche, füllte Kaffeepulver in einen Filter und Wasser in die Maschine, dann schaltete er die Kaffeemaschine ein. Die Polizistin setzte sich auf einen Stuhl und nestelte an ihrem Pullover, den sie unter dem Anorak trug. Warum ist sie gekommen? Bestimmt nicht wegen mir oder Anne. Sie war fertig mit den Nerven und würde etwas sagen, wenn sie es für richtig hielt. Wenn seiner Mutter etwas passiert war? Ein Verbrechen? Aber sie will doch zu Anne, woher sollte sie wissen, dass du hier bist? Es beruhigte ihn ein wenig. Aber wenn Annes Mutter etwas geschehen war? Furchtbar, wo sich doch der Vater schon erschossen hatte, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Er spürte, wie die Ungewissheit ihn zu quälen begann. Er stellte drei Kaffeebecher sowie Zucker und Milch auf den Tisch. Die Polizistin schien es nicht zu bemerken. Sie nestelte am Ausschnitt des Pullovers und starrte auf die Tischplatte. Dann schluckte sie zweimal und sagte: »Wir kennen uns.«

Stachelmann nickte. Er setzte sich ihr gegenüber.

Dann sagte sie: »Ossi ist tot. Heute Nacht.«

Er schaute sie streng an, als vermutete er einen geschmacklosen Scherz. Dann fiel ihm ein: »Sie sind Frau Nebel.«

»Hebel«, sagte sie. »Carmen Hebel. Nennen Sie mich Carmen, das hat Ossi auch getan.«

Ossi war tot. »Tot?«

Sie nickte. Eine Träne lief vom Auge über den Wangenknochen und den Mundwinkel bis zum Kinn, dort blieb sie hängen.

Stachelmann starrte die Träne an. Er hörte Felix schreien.

»Als wir einmal hier vorbeigefahren sind, hat Ossi mir erzählt, dass Sie manchmal bei Ihrer Freundin wohnen. Er hat ein bisschen geschwärmt von Ihrer Freundin, hatte sogar ihren Namen in sein Adressbuch geschrieben. Und einmal haben wir Sie hier vorbeigebracht, Sie haben es gewiss vergessen.« Er hatte es nicht vergessen.

Die Kaffeemaschine spotzte leise, dann zischte und fauchte sie.

Er wollte fragen, wie es geschehen war, spürte aber, es war besser, sie erzählen zu lassen, auch wenn seine Ungeduld ihn plagte.

Anne trat ein, Felix schrie nicht mehr. Sie stellte sich hinter Stachelmann und legte ihre Hände auf seine Schultern. Sie fragte nicht, sondern schaute Carmen an.

Aber die sah es nicht, hatte offenbar nicht einmal bemerkt, dass Anne in die Küche gekommen war. Carmen starrte aus feuchten Augen immer nur auf die Tischplatte. »Er sitzt da an seinem Schreibtisch ... sein Kopf auf der Schreibtischplatte ... auf einem Stapel Papier, einer Art Akte, in der er vor seinem Tod vielleicht gelesen hat.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er ist jetzt in der Rechtsmedizin, und sie haben ihn vielleicht schon aufgeschnitten.« Sie schüttelte wieder den Kopf. Dann sagte sie noch leiser: »Und wenn er sich umgebracht hat? Warum? Und wenn ihn jemand ermordet hat? Warum? Ich verstehe es nicht.«

Stachelmann spürte, wie Annes Hände seine Schultern fester drückten. Carmens Gesicht hob sich, sie schaute Anne an aus nassen Augen. Die drehte sich weg zur Kaffeemaschine, zog die Kanne heraus und goss ein in die drei Becher auf dem Tisch. Dann setzte sie sich an den Tisch, rührte in ihrem Becher, obwohl sie weder Zucker noch Sahne hineingegeben hatte. Der Löffel kratzte am Becherrand, Stachelmann schaute kurz hin, ärgerte sich einen Augenblick, aber dann war es ihm egal.

»Ich habe ihn gefunden«, sagte Carmen. »So gegen Mitternacht oder kurz danach. Ich kam aus dem Präsidium ...« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Wir waren befreundet.« Sie trank hastig mehrere Schlucke. »Es war eigentlich schön, aber auch nicht leicht. Und da gab es dieses Problem, das er vor aller Welt versteckt hat.«

»Welches Problem?«, fragte Anne sanft.

»Alkohol«, erwiderte Carmen. »Ich hab versucht, ihn davon abzubringen. Manchmal hab ich geglaubt, es sei geglückt. Aber dann habe ich wieder eine Flasche gefunden. Wissen Sie, er hat sie versteckt, wenn er wusste, dass ich kam. Zwei- oder dreimal in der Woche. Zusammenziehen wollte ich nicht mit ihm.« Es klang, als machte sie sich einen Vorwurf. Als hätte sie seinen Tod verhindern können, wenn sie mit ihm zusammengezogen wäre.

Stachelmann versank noch tiefer in sich. Er musste nichts sagen oder fragen. Anne würde es tun, und er würde zuhören und nachdenken. Er dachte an die Szene am Flughafen, als er fast erschossen worden wäre und Ossi ihn gerettet hatte. Ossi, der mal die Revolution herbeigesehnt hatte und dann doch Polizist geworden war. Wie er Stachelmann anrief, nachdem er in der Zeitung gelesen hatte von einem Vortrag, den Stachelmann gehalten hatte. Wie er Stachelmann half, sich vom Mordverdacht zu befreien. Ines tauchte wieder auf in seinen Gedanken. Sie hatte Ossi auch gekannt. Natürlich hatte der so getan, als wollte er mit ihr anbändeln. Ossi konnte nicht anders. Er war ein Angeber gewesen, doch dahinter steckte einer, der nicht nur geprotzt hatte. Der seine Unsicherheit versteckte. Aber der war nun tot, vielleicht hatte er sich umgebracht.

»Woran ist er gestorben?«, fragte Anne. Stachelmann hörte es wie hinter einer Wand.

»Er hat wohl Gift geschluckt«, sagte Carmen mit monotoner Stimme. »Der Arzt schließt aus, dass er einen Herzinfarkt oder so was bekommen hat. Er saß auf einem Stuhl, der Oberkörper lag auf der Schreibtischplatte. Er ist nicht auf die Platte gefallen, dann hätte man eine Verletzung gefunden. Ich stelle mir vor, er ist vornüber gesunken. Und die Akten haben den Kopf geschützt, wie ein Polster. Komische Akten, Flugblätter, irgendwas aus Heidelberg, altes Zeug. Ihr Name taucht darin auch auf, gleich auf dem ersten Blatt.« Sie hob kurz ihren Kopf, um Stachelmann anzusehen. Der las in ihren Augen Trauer, aber auch Angst. Vor was hatte sie Angst?

Stachelmann versuchte sich vorzustellen, wie Ossi tot am Schreibtisch gesessen hatte. Aber er bekam das Bild nicht in den Kopf. Was er da hörte und sah, schien ihm weit weg zu sein, wie verschleiert durch eine Nebelwolke.

»Ich habe zuerst die Kollegen gerufen, den Rechtsmediziner. Ich habe der Spurensicherung geholfen, Taut kam sogar, der Hauptkommissar verlässt ungern sein Büro. Schon gar nicht sein Bett.« Ein Lächeln lief über ihr Gesicht und verschwand. »Dann wollte ich mit Ihnen sprechen.« Sie hob wieder den Kopf und schaute Stachelmann kurz ins Gesicht. Dann starrte sie erneut auf die Platte. »Aber Sie sind nicht ans Telefon gegangen. Dann fiel mir ein ...« Sie warf einen Blick auf Anne, um gleich wieder ihre vorherige Haltung einzunehmen. »Ich hab's nicht ausgehalten. Wo sollte ich hin?«

Stachelmann griff über den Tisch und nahm ihre Hand. Sie hatte feingliedrige Finger. Stachelmann drückte die Hand, dann ließ er sie los. »Das war ganz richtig«, sagte er. »Ich war sowieso wach ... wir waren sowieso wach.«

»Er hat viel von Ihnen erzählt. Über die Zeit in Heidelberg.«

Von einer anderen Zeit hätte er auch nichts erzählen können, da er Stachelmann davor nicht gekannt und danach lange Zeit nicht mehr gesehen hatte. Stachelmann ahnte, dass Ossi sich selbst nicht zu kurz hatte kommen lassen in seinen Berichten aus bewegter Zeit. Demonstrationen, Flugblätter verteilen, Seminare umfunktionieren oder sprengen, Prügeleien mit der Polizei. Manchmal war Stachelmann die Protzerei peinlich gewesen. Es fiel ihm ein, wie Ossi Anne und später Ines beeindrucken wollte, so aufdringlich, dass es niemanden beeindrucken könnte. Stachelmann nickte. »Ja, da haben wir manches miteinander erlebt.« Und damals war Ossi auch noch nicht so ein Angeber gewesen, vollendete er den Satz im Kopf. Er muss sich verändert haben, als es abwärts ging mit ihm. Als er nicht Anwalt wurde, als er seine Ideale verlor, als er Polizist wurde, was so ziemlich das Gegenteil war von dem Anwalt der Bewegung, der Revolutionäre vor dem Gericht des Klassenfeinds heraushaute oder wenigstens ihre Verurteilung in ein Fanal ummünzte. Und nun war er tot, vielleicht hatte er sich selbst getötet. Irgendwie wäre das konsequent. Stachelmann überlegte, wie Ossi sich gefühlt haben mochte in seinen letzten Stunden. An was hat er gedacht? Bestimmt an seine große Zeit, in Heidelberg, als Hinz und Kunz ihn kannten als den roten Ossi, und diesen Ehrennamen trug er nicht seiner Haarfarbe wegen.

»Er hat Sie beneidet«, sagte Carmen. »Sie haben es geschafft, er wurde Polizist. Verstehen Sie mich nicht falsch, er war ein guter Polizist. Und auch nicht der Einzige, der zu viel trank. Aber manchmal« – sie suchte nach einem Wort –, »manchmal war er so traurig. Und mir fiel auf, dann sprach er kaum. Wenn doch, machte er Andeutungen über die Zeit des Studiums, Satzfetzen, und Ihr Name fiel dann häufig.« Sie schüttelte den Kopf. »Und dann hat er den Kopf geschüttelt.« Sie schüttelte wieder ihren Kopf. »Und dann hat er gelacht, ein bisschen gequält, und so mit der Hand gewischt.« Sie wischte über den Tisch, als wollte sie Schmutz beseitigen. »Als würde er die Erinnerung wegwischen.« Ihre Hand bewegte sich noch einmal über den Tisch, langsam, vorsichtig, und sie schien einem Gedanken zu folgen.

Stachelmann drängte es, wieder ihre Hand zu nehmen. Doch er unterließ es.

»Er lebte in seiner Erinnerung. Sie quälte ihn und sie half ihm, auch wenn das jetzt komisch klingt.«

»Nein«, sagte Anne. »Das kann ich verstehen. Vielleicht weil Ossi früher mal was war und ihm das Selbstbewusstsein gab, aber wenn er schlecht drauf war, dann zeigte ihm die Erinnerung seinen Abstieg.« Sie setzte an, ihre Hand auf den Mund zu legen. »Er empfand es dann so, glaube ich. Dabei ist es doch kein Abstieg, wenn man Kriminalkommissar wird.«

»Wenn er daran gearbeitet hätte, wäre er längst Hauptkommissar geworden.« Carmen zog ein Taschentuch aus der Jeans und trocknete sich die Augen.

Stachelmann dachte an die Akten, auf denen Ossis Kopf gelegen hatte.

»Wollen Sie ihn noch einmal sehen?«, fragte Carmen.

Stachelmann überlegte, er stellte sich den Leichnam vor in der Rechtsmedizin, weiß, schlaff. »Nein, aber ich möchte gern in die Wohnung.«

Carmen überlegte. »Die ist versiegelt. Aber ich werde Taut fragen, der kennt Sie und macht vielleicht eine Ausnahme. Womöglich finden Sie etwas oder können was erklären. Ich fahre jetzt ins Präsidium und ruf Sie dann an.«

Stachelmann nannte ihr seine Nummer am Historischen Seminar. Carmen schrieb sich die Nummer auf, steckte ihren Notizblock in die Anoraktasche, dann verharrte sie einige Augenblicke. Sie stand auf, fasste an die Tischkante, als wollte sie sich festhalten, dann drehte sie sich weg. Sie murmelte etwas und verließ die Küche, Stachelmann hörte die Wohnungstür klacken.

Sie saßen schweigend zusammen. Stachelmann schaute sich um, als säße er zum ersten Mal in Annes Küche. Anne trommelte lautlos mit den Fingern auf die Tischplatte. Stachelmann blickte zur Uhr an der Wand. Es war kurz nach sechs, draußen dämmerte der Morgen mit Streulicht.

»Hast du ihn gemocht?«

»Weiß nicht«, sagte Stachelmann.

»Das musst du doch wissen.«

»Na, ich habe ihn monatelang nicht treffen wollen.« Womöglich hätte ich es verhindern können, dachte er. Wenn er sich umgebracht hat, dann vielleicht weil er einsam war. Nein, das war er doch nicht. Er hatte was mit Carmen. Aber man kann etwas mit jemandem haben und trotzdem einsam sein. Er hat dich beneidet, obwohl es da nichts zu beneiden gab. Du hättest es ihm ausreden können. Manchmal reicht eine Kleinigkeit, um einem den Rest zu geben. Vielleicht war der Neid so eine Kleinigkeit. Er erinnerte sich, wie sie damals in dieser Kneipe, dem Tokaja, gesessen und über den Holler-Fall gesprochen hatten, über einen Serienmörder, der eine ganze Familie töten wollte, einen nach dem anderen, quasi im Jahrestakt. Im Tokaja hatte er dann auch mit Ines etwas angefangen, was er besser nie angefangen hätte. Er würde nie wieder in diese Gaststätte gehen. Immer wenn er dort war, wurde er in ein Verbrechen verwickelt. Damals, als er mit Ossi im Tokaja gewesen war, da hätte er merken können, wie neidisch Ossi war auf ihn. Er hätte energischer widersprechen müssen. »Er hat sich nicht zum Besseren entwickelt. Man soll ja nichts Schlechtes sagen über Tote, aber früher war er ein Kerl, hier in Hamburg, fast dreißig Jahre später, kam er mir manchmal vor wie ein Aufschneider, wie einer, der sich selbst belügt.«

»Er verbarg etwas Dunkles in sich. Ossi war nett, aber ein bisschen aufdringlich, gerade gegenüber Frauen. Er hat getrunken, na gut, da kenn ich noch ein paar andere, die deshalb nicht zu Bösewichten werden. Doch war da etwas, das mich abgestoßen hat. Etwas Klebriges. Vielleicht spinne ich ja.« Anne schaute Stachelmann in die Augen.

Der wich dem Blick aus. »Ossi war wichtig für mich, damals, als wir gemeinsam studiert haben. Mir kam das immer vor, als wären es viele Semester gewesen. Ich hab vorhin nachgezählt, es waren nur drei. Er war älter als ich, hat mich hin und wieder beschützt. Das rechne ich ihm hoch an, auch wenn er es weniger für mich getan hat als für sein Ego. Aber wenn man ein Vierteljahrhundert später immer noch an alten Geschichten hängt ...«

»Du bist ungerecht, das hat euch verbunden, und deswegen hat er mit den alten Geschichten angefangen. Alles andere wäre doch abwegig gewesen. Rate mal, worüber wir beim letzten Klassentreffen gesprochen haben.«

»Er hat in den alten Geschichten gelebt. Was für ein kleines Leben, ein paar Jahre, und seitdem ist alles Abstieg.«

Sie schwiegen. Stachelmann schenkte Anne und sich Kaffee nach. Ihr Löffel klang im Becher wie eine kleine Glocke fernab.

»Das bist du ihm schuldig.«

»Was?«

»Dass du in seine Wohnung gehst. Dir diese komischen Akten anschaust. Die sollen ja aus Heidelberg stammen.«

»Hm.«

»Das ist doch keine Sache. Schau sie dir an, dann erzähl der Polizei, was drinsteht und was sie bedeuten. Ich stell mir das so vor: Ossi hat in alten Akten, gewissermaßen in alten Zeiten geblättert, in großartigen Zeiten, wie er fand, dann hat ihn der Jammer gepackt, und er hat sich umgebracht, weil er nicht sehen konnte, wie es jemals wieder gut werden könnte.«

»Wenn es so wäre, wie du sagst, dann hätte er sich erschossen und nicht vergiftet. War es Freitod, dann offenbar mit Vorbereitung. Man hat normalerweise nicht genug Tabletten oder gar Gift im Haus, das muss man erst besorgen. Also war es eher so: Er will sich umbringen, aus welchem Grund auch immer, er bereitet alles vor, und bevor er die Tabletten schluckt, erinnert er sich noch einmal an die gute alte Zeit. Er will mit einer schönen Erinnerung abtreten. Vielleicht hat er Mist gebaut im Dienst und hat Angst, dass es rauskommt, vielleicht leidet er unter Depressionen, wundern würde es mich nicht, vielleicht hatte er einfach die Nase voll von einem beschissenen Leben.«

Sie schaute ihn fragend an. »Selbstmord ist schrecklich.«

»Keineswegs«, sagte er. »Freitod ist kein Mord, sondern jedermanns gutes Recht.«

Wieder ein langer Blick, traurig. Er sah, wie sie eine Frage stellen wollte, sie dann aber nicht aussprach. Sie sagte etwas anderes: »Du hast keine Depressionen?«

Die Frage erstaunte ihn. Was hatte er damit zu tun? Er war ja sonst bereit, alles auf sich zu beziehen, Schuld zu suchen, wo andere keine fanden. Sie kannte ihn doch, nein, er war manchmal niedergeschlagen, aber Depressionen sind was anders. Sie sind eine Krankheit.

Mit Ossis Abgang hatte er nichts zu schaffen. Obwohl, wenn er öfter mit ihm gesprochen hätte? Er wehrte den Gedanken ab. Aber der kam wieder. »Ich hätte mich öfter mit ihm treffen sollen. Seit dieser Geschichte mit Griesbach hab ich ihn nicht mehr gesehen. Obwohl er mir geholfen hat. Wir haben ein-, nein zweimal miteinander telefoniert, er hat angerufen, um zu quatschen.«

»Übertreib nicht«, sagte sie. »Als brächte sich jeder um, den du nicht mit deinem Besuch beglückst. Red dir das nicht ein.«

»Wenn ich doch nur eine Ahnung gehabt hätte. Eine Andeutung Ossis, das hätte genügt.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, die Kaffeebecher klapperten. Anne erschrak. Mit Ärger im Blick stand sie auf und verließ wortlos die Küche.

Stachelmann saß noch lange, trank einen weiteren Becher Kaffee, erinnerte sich. Und fragte sich, ob Ossi nicht Recht gehabt hatte, wenn er sich getötet hatte. Er überlegte, wie oft er mit dem Gedanken gespielt hatte abzutreten. Einfach so, ihr könnt mich alle mal. Der Gedanke reizte ihn. Wenn einem das Leben zur Qual wird, warum soll man es nicht beenden?

* * *

17. April 1978

Dieses Schwein. Verräter sind wie Wanzen. Die zerquetscht man auch. Obwohl, Wanzen können nicht wählen, ob sie Wanzen sein wollen. Also sind Verräter schlimmer. Den Feind sieht man klar vor Augen, und er sieht dich. Die Faschisten und ihre – naiven??? Sie müssten es doch wissen!!! Also wollen sie es!!! – Helfer bekämpfen uns mit allen Mitteln. Demokratie, dass ich nicht lache. Wenn die »Demokratie« die falschen Ergebnisse produziert, wird sie abgeschafft. Beispiel Pinochet. Aber ein Verräter ist doppelt gefährlich. Er zersetzt die eigenen Reihen, er verrät deine Taktik an den Feind. Wie viele Kriege wurden durch Verrat entschieden? Wir sind auch im Krieg. Sie töten uns. Und wir töten sie, wenn es notwendig ist. Ich will nicht töten, es ist eklig. Und hoffentlich muss ich es nicht. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre es gewesen, der das Schwein abgeknallt hat, ich müsste dauernd dran denken. Ich war sauer, als es passiert war, stinksauer. Mir hatte niemand was gesagt. Man will es doch vorher wissen, wenn man bei einer Hinrichtung mitmacht. Auch ein Revolutionär muss sich auf so was vorbereiten. Es hätte doch nichts gekostet, mir wenigstens was anzudeuten. Ich hätte trotzdem mitgemacht, oder? Doch, Verräter sind schlimmer als Wanzen.

Habe Angelika gesehen, zufällig, beim neuen Italiener in der Hauptstraße. Irgendwer hat gesagt, sie habe einen scharfen Hintern. Das stimmt. Ich glaube, sie hat mir zugelächelt. Zuletzt bei der Demo gegen die Fahrpreiserhöhungen sind wir eine Weile nebeneinander gelaufen. Sie hat mir erzählt vom Stress vor der Germanistikklausur. Und ich habe erzählt, ich hätte beim Studium ausgesetzt, eine revolutionäre Pause. Da hat sie gelacht, aber ich bilde mir ein, sie hat mich ein bisschen bewundert. Weil ich konsequent bin. Wenn wir nicht aufpassen, hat sie gesagt, dann sind bald die Faschisten am Drücker. Und dann schicken sie uns wieder nach Auschwitz. Das hat sie also verstanden.

Ich muss noch an mir arbeiten. Das mit dem Hintern ist sexistisch, würden die Genossinnen der Frauengruppe sagen. Die Frau reduziert auf ihre Geschlechtsmerkmale. Sie haben ja Recht. Und ich werde nichts sagen darüber. Meine Gedanken hinken den heutigen Anforderungen der Revolution hinterher. Im Kopf bin ich manchmal noch richtig reaktionär. Ich muss an mir arbeiten.

Wenn ich Angelika erzählen würde von der Hinrichtung, was würde sie sagen? Auch, dass es konsequent gewesen sei? Das war es doch.