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Über dieses Buch:

Bei dem Versuch, die rätselhafte alte Uhr von Kims Großvater in Gang zu setzen, werden Kim, Lisa und Dennis plötzlich von einem seltsamen Wirbelsturm erfasst ... Plötzlich finden sich die drei Freunde im Jahr 1762 wieder, auf einem Segelschiff mitten im Atlantischen Ozean, das in einer besonderen Mission unterwegs ist: Es soll eine neue Methode erprobt werden, mit der man exakt den Längengrad bestimmen kann. Wer wird das Rennen machen: die Astronomen mit ihren komplizierten Berechnungen oder John Harrison mit seinem Chronometer? Als die Freunde einer Sabotage auf die Spur kommen, lässt Kim sich dazu überreden, die magische Uhr und damit ihre Rückkehr aufs Spiel zu setzen ...

Fesselnd und voller Spannung erzählt Eva Maaser von einem historischen Abenteuer, das die Seefahrt im 18. Jahrhundert revolutionierte.

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher, historische Romane und Krimis veröffentlicht.

Ebenfalls bei dotbooks erschienen Eva Maasers Kinderbücher Kim und die Verschwörung am Königshof, Kim und das Rätsel der fünften Tulpe, Leon und der falsche Abt, Leon und die Geisel, Leon und die Teufelsschmiede und Leon und der Schatz der Ranen.

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Neuausgabe Mai 2013

Copyright © der Originalausgabe 2008 Coppenrath, Münster

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: Sotheby's/akg-images; akg-images/De Agostini Pict.Lib.

ISBN 978-3-95520-267-5

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Eva Maaser

Kim und die Seefahrt ins Ungewisse

Band 2

dotbooks.

1. Ist Dennis noch zu retten?

„Das ist peinlich, wenn du den Vermittler für einen Fiesling wie Latte spielst, Dennis.“ Lisas Stimme triefte vor Verachtung. „Wo bleibt eigentlich dein Schamgefühl? Und was ist mit deinem Verstand? Ich dachte immer, du bist schlau. Und jetzt begreifst du nicht mal ...“

Dennis musste genau wissen, wie sehr Lisa Latte verabscheute, den größten Rüpel der Schule, der mit Kim und Lisa in die siebte Klasse ging. Staunend, fast schon ehrfürchtig hörte Kim zu. Er bewunderte Lisa restlos, wie sie dastand, den Kopf mit den wundervollen roten Locken hocherhoben, während sie aus ihren jadegrünen Augen ein Feuerwerk vernichtender Blicke auf den armen dicken Dennis abschoss. Lisa machte ihren kleinen Bruder gekonnt zur Schnecke. Dabei sprach sie nicht einmal besonders laut. Nur klar und deutlich genug, um auch in der Ecke des Schulhofs gehört zu werden, in der sich Latte mit seinem bulligen Kumpel Bobo aufgebaut hatte. Unverhohlen starrte er Lisa an. 

Latte hatte Dennis beauftragt, für den Nachmittag eine Einladung ins chicste Café von Münster zu übermitteln. Lisa würde sich auf seine Kosten bestellen können, was immer sie wollte: Schwarzwälder Kirschtorte, Sahnebaiser, Schokoladenkuchen, Nussecken, Milchshake, Cola ... Mit seltsamer Verzweiflung hatte Dennis alle möglichen Köstlichkeiten heruntergebetet. Dabei war schon vorher glasklar gewesen, was Lisa von diesem Angebot halten musste. Und jetzt schrumpfte Dennis sichtlich zusammen. Seine Schultern hingen herab, er wurde langsam blass und schaute immer unglücklicher und furchtsamer drein.

Wieso eigentlich furchtsam? fragte sich Kim. Dennis hatte doch sonst keine Angst vor seiner zwei Jahre älteren Schwester. Und ihr ganzes hochtrabendes Gerede bedeutete nur eins: Sie wollte nicht, fertig aus!

Dennis verhielt sich mehr als merkwürdig, denn er gab auch jetzt nicht auf und  machte sich für Latte weiter zum Affen. Kim zuckte die Schultern. Ihn ging das alles gar nichts an. Trotzdem hörte er zu und amüsierte sich über das Theater, das die Geschwister aufführten.

„Du könntest ihm wenigstens mal `ne Chance geben“, heulte Dennis auf und hielt sich krampfhaft das linke Handgelenk. Tatsächlich umklammerte er seine neue Armbanduhr, ein Geschenk zu seinem elften Geburtstag vor einer Woche. Eine protzige Taucheruhr, die er sich sehnlichst gewünscht hatte.

Dennis und tauchen? Der Junge war das unsportlichste Geschöpf, das Kim kannte. Schon beim bloßen Gedanken an Handstand oder Hürdenlauf musste bei Dennis das Herz aussetzen.

„Armleuchter!“ zischte Lisa.

Bedauernd schüttelte Kim den Kopf. Lisas Schatz an Flüchen und unflätigen Ausdrücken war nicht nur sehr beschränkt, sondern auch ausgesprochen fantasielos. Das war schade, er hatte mehr von ihr erwartet. Aber vielleicht war ja die deutsche Sprache hier etwas armselig. Die chinesische kannte etwa hunderttausend verschiedene Flüche, eine wertvolle Hilfe in allen Stresssituationen.

Kim war Halbchinese und lebte noch nicht lange in Deutschland. Vor etwas mehr als fünf Wochen hatte ihn sein Vater Lutz Reimer bei Großtante Betty in Drensteinfurt abgeliefert, einem Dorf nicht weit von Münster, wo Kim inzwischen aufs Gymnasium ging. Ein halbes Jahr zuvor war Kims chinesische Mutter gestorben, und sein Vater hatte beschlossen, China den Rücken zu kehren und wieder in Deutschland zu leben. Seit fünf Wochen nun hockte Kim in Großtante Bettys gruftartigem Haus und sehnte sich nach Shanghai zurück, nach der strahlenden Metropole am Meer.

Einen Augenblick hatte er sich in wehmütige Erinnerungen verloren.

Lisa schaute ihn an. „Was sagst du dazu? Ist das zu fassen? Ist er nicht dämlich?“

Lisa und Dennis Wagner wohnten im Nachbarhaus und waren in den vergangenen vier Wochen seine Freunde geworden.

Kim hob die Hände und klatschte bedächtig Beifall.

„Bis auf Armleuchter und Fiesling war alles großartig, was du gesagt hast. Vor allem die Art, wie du Dennis runtergeputzt hast, hatte richtig Stil. Nur diese Schimpfwörter sind einfältig. Has du nichts Besseres auf Lager? Wenn nicht: Kannst du alles heute Nachmittag wiederholen? Dann nehme ich`s auf CD auf und wir arbeiten es durch.“

Entgeistert schauten ihn Dennis und Lisa an.

„Idiot!“ zischte Lisa außer sich und ließ ihn stehen. Es hatte gerade zur ersten Stunde geschellt.

Dennis trottete hinter seiner Schwester her, nachdem er einen verwirrten, nein, einen verschreckten Blick über die Schulter zurück in die Schulhofecke geworfen hatte. Neugierig schaute sich Kim um.

Latte stand breitbeinig, massig und riesig mit in die Seiten gestemmten Händen da. Jetzt hob er drohend eine Faust und umfasste mit einer zackigen Bewegung sein Handgelenk.

Komische Geste, fand Kim und dachte an Dennis. Flüchtig überkam ihn Besorgnis, die er rasch loszuwerden trachtete, um sich auf Mathe zu konzentrieren.

In der großen Pause war Lisa im Klassenzimmer geblieben. Es war ihr, hatte sie behauptet, zu kalt auf dem Schulhof. Nieselregen hatte eingesetzt, auch so eine westfälische Eigenart, für die Kim nichts übrig hatte. Typisches Novemberwetter. Deprimierend. Fröstelnd zog er den Reißverschluss seiner Jacke zu und ließ den Blick über den Hof schweifen. Von Dennis keine Spur, wahrscheinlich hatte er keine Lust, sich durchweichen zu lassen. Auch Latte war nirgends zu sehen, obwohl er das Klassenzimmer beim Läuten sofort verlassen hatte. Kim gab es auf, sich über die beiden Gedanken zu machen und verzog sich schaudernd ins Schulgebäude.

Nach der letzten Stunde, auf dem Weg zur Schulbushaltestelle gesellte sich Dennis wieder zu ihnen und drängte sich neben Lisa.

„Weißt du, wie ich das sehe?“ fragte er forsch. Auf seiner linken Wange, dicht unter dem Auge, zeichnete sich eine dunkle Stelle ab.

„Was?“ gab Lisa knurrig zurück. Anscheinend war sie auf ihren Bruder noch schlecht zu sprechen.

Kim ahnte, worauf Dennis hinauswollte, schon bevor dieser loslegte, während er den Weg zurück spähte. Ja, tatsächlich, hinter ihnen tauchte Latte mit Bobo auf und kam unauffällig näher.

„Ich weiß ja, dass Latte ein Stinkstiefel ist“, begann Dennis hastig. „Beinahe jeder weiß das, aber das ist ja das Problem. Hast du dich mal gefragt, warum er so ist?“

„Nein!“ schnauzte Lisa. „Und ich will´s auch nicht wissen.“

„Siehst du! Er ist so, weil ihm niemand Gelegenheit gibt, sich von einer netten Seite zu zeigen. Niemand liebt ihn, selbst die, die ihn gar nicht näher kennen, meckern über ihn. Da ist doch klar, dass er ...“

„Sein Gorilla Bobo liebt ihn, er leckt ihm die Stiefel, das müsste reichen“, fiel ihm Lisa höhnisch ins Wort und strich sich eine rote Locke hinters Ohr.

„Du bist ungerecht und voreingenommen wie alle anderen“, entgegnete Dennis heftig. „Dabei hat er dir nie was getan! Du hältst doch sonst so viel von unabhängiger Meinung, jetzt beweise sie mal.“

„Wegen Latte? Ich bin doch nicht meschugge.“

„Meschugge?“ hakte Kim höflich ein.

„Halt die Klappe, ja?“ fuhr ihn Dennis an und wandte sich wieder an Lisa.  „Wenn du ihm nur eine klitzekleine Chance einräumen würdest.“

„Eine Heldentat für die ganze Schule“, murmelte Kim unterwürfig. „Im Handumdrehen würdest du aus einer Klapperschlange ein rosiges, zärtliches Kaninchen machen, das wir alle liebhaben könnten. Nie wieder würde Latte jüngeren Schülern die Zähne einschlagen.“

„Genau“, hakte Dennis verzweifelt ein. Er wollte wohl den ironischen Ton nicht hören. „Gib ihm eine halbe Stunde im Café, eine Viertelstunde, zehn Minuten ...“, bettelte er mit ersterbender Stimme.

Mittlerweile hatten sie die Bushaltestelle erreicht. Latte und Bobo waren jetzt auf Hörweite herangekommen. Sie blieben stehen, obwohl Latte nicht auf den Bus zu warten brauchte, denn er wohnte nur zwei Straßen weiter.

„Wenn ich mich mit so einem Ekelpaket an einen Tisch setze, wird mir übel. Ich müsste alles auskotzen, was ich in den letzten drei Jahren gegessen habe. Am Ende wäre ich richtig hohl innen“, sagte Lisa mit erhobener Stimme, „du kannst nicht so bekloppt sein, auch nur im entferntesten anzunehmen ...“

„Bekloppt und meschugge, ist das das gleiche?“ fragte Kim freundlich. Dennis puffte ihn in die Seite.

„Aber Latte verehrt dich, Lisa, er himmelt dich an ...“

Dennis Augen sahen entschieden klein und verquollen aus.

„Ist mir egal“, fertigte ihn Lisa ab. „Ich muss ihn schon jeden Tag in der Klasse ertragen – das reicht. Hörst du? Ein Treffen kommt nicht in Frage, nicht mal über meine Leiche oder deine.“

„Sag nicht so was“, presste Dennis hervor.

Der Bus kroch um eine Straßenbiegung. Plötzlich packte Lisa Dennis am Arm, so dass der Ärmel seines Anoraks ein Stück hinaufrutschte und sein Handgelenk freigab, ein recht schmales, nacktes Handgelenk. „Was hat Latte dir für den Versuch, mich herum zu kriegen gegeben? Wieviel? Oder gibt es nur ein Erfolgshonorar?“

Dennis winselte etwas Unverständliches.

Zufällig sah , wie Latte etwas aus der Hosentasche zog und auf das Pflaster fallen ließ. Betont langsam trat er mit seinem Stiefel darauf und drehte den Absatz ausgiebig hin und her. Unwillkürlich sträubten sich Kim für einen Moment die Nackenhaare. Aus den paar Metern Entfernung meinte er, etwas Metallisches knirschen zu hören, während Latte grimmig lächelte.

Kims Blick flog zu den Geschwistern und zu Dennis Handgelenk zurück, das jetzt noch nackter wirkte.

Der Bus hielt, die ersten Kinder drängelten hinein, um nur rasch aus dem Nieselregen zu kommen. Als Dennis an der Reihe war, wandte er Kim das Profil zu. Die dunkle Stelle auf der Wange, kurz unter dem Auge, war wohl doch ein blauer Fleck.

Durch das Rückfenster beobachtete Kim Latte, der finster dem Bus nachstarrte. Dann, im letzten Augenblick, fegte er mit einer wütenden Bewegung mit dem Stiefel etwas Blinkendes in den Rinnstein.

„Kim?“ meldete sich Dennis kläglich. „Können wir heute Nachmittag noch mal versuchen, Großvater Kaos Uhr in Gang zu setzen? Ich hab eine neue Idee.“

„Nein“, antwortete Kim rasch. Großvater Kaos Reiseuhr war allein seine Angelegenheit. Ein Abschiedsgeschenk, als er bedrückt und traurig auf dem Flughafen von Shanghai auf das Flugzeug gewartet hatte, das ihn aus seinem bisherigen, sehr glücklichen Leben entführen sollte. Wie ein zu jahrzehntelangem Exil Verurteilter war er sich vorgekommen, dabei traf ihn doch gar keine Schuld. Und da hatte Großvater Kao, der schon so viele Existenzen geführt hatte – auch eine als tibetischer Mönch tief im Himalaja – ihm einen schäbigen, achteckigen Holzkasten in die Hand gedrückt. Den Kasten mit der Reiseuhr. Eine Uhr, die man nicht einfach auf Reisen mitnahm, sondern mit deren Hilfe man reiste – wie andere mit dem Flugzeug, dem Auto, der Bahn. Oder doch nicht ganz so. Beim ersten Versuch, mit der Uhr nach Hause zu reisen, war Kim zusammen mit Dennis, Lisa und Lisas Hund Willie statt in Shanghai in Paris gelandet. Genauer gesagt im Pariser Louvre im Jahr 1617. Das war eine abenteuerliche und höchst gefährliche Geschichte gewesen, da sie sofort in eine Verschwörung gegen den französischen König verwickelt worden waren.

Um nicht noch einmal so eine Panne zu erleben, versuchte Kim seitdem mit äußerster Vorsicht, das Geheimnis der Uhr zu ergründen, beziehungsweise, wie sie funktionierte. Leider ohne Erfolg. Denn seit jener Reise in den Louvre tat sich gar nichts mehr an der Uhr. Nichts bewegte sich, als wäre der gesamte Mechanismus eingerostet. Möglicherweise war sie ja gleich beim ersten Mal beschädigt worden. Aber das konnte Kim nur vermuten. Zweimal hatte er Dennis erlaubt, sich unter seiner Aufsicht die Uhr anzusehen, sie zu fotografieren und Zeichnungen davon anzufertigen. Nur berühren hatte er sie nicht dürfen.

Alle paar Tage kam Dennis herüber und bestürmte Kim mit einer neuen waghalsigen Theorie über die Uhr. Standhaft hatte sich Kim bisher geweigert, auch nur eine davon auszuprobieren - zumindest in Gegenwart von Dennis. Viel zu gefährlich, hatte er jedesmal sorgenvoll erklärt. Tatsächlich aber hatte er sich allein daran gemacht, die Uhr in Gang zu setzen. Denn er war fest entschlossen, ohne Dennis nach Shanghai zu reisen, zu Großvater Kao in dessen Haus, das direkt aufs Meer blickte.

Gerade ratterte der Bus stadtauswärts am Aasee vorbei. Nicht mehr als eine braune Pfütze, dachte Kim verächtlich. Das Wasser sah genauso einladend wie geschmolzenes Blei aus. Dagegen dehnte sich das Meer vor Großvater Kaos Haus tiefblau und unendlich weit bis zum Horizont aus, und war mit schimmernden weißen Schaumkronen besetzt. Kim fragte sich, wie er es auch nur einen Tag ohne das Meer aushalten konnte. Ohne schwimmen, surfen oder segeln auf einer kleinen chinesischen Dschunke ...

Dennis zupfte ihn am Ärmel. „Warum nicht?“ fragte er mit erstickter Stimme.

Kim hatte keine große Lust, sich auf Mitleid einzulassen, wo er doch selbst gerade dabei war, ein bisschen Trübsal zu blasen.

„Ich dachte, du bist mein Freund“, winselte Dennis.

„Freundschaften muss man sich sehr genau überlegen“, sagte Kim abweisend.

„Da hörst du`s, du Nervensäge“, schaltete sich Lisa ein. „Hör auf, Kim zu belästigen. Außerdem hat er heute Nachmittag sowieso keine Zeit für dich. Wir müssen für die Mathearbeit morgen pauken.“

Ein kleiner Alpdruck legte sich Kim aufs Herz. Jetzt fühlte er sich annähernd so unglücklich wie der arme Dennis.

2. Dennis auf der Flucht

Seit zwei Stunden verhakelten sich in Kims Hirn algebraische Formeln, die Lisa unerbittlich für ihn zu entwirren suchte. Sie bestand darauf, ihm etwas zu erklären, was er eigentlich nicht erklärt haben wollte. Wieder einmal war er in Gedanken in Shanghai, in seiner alten Schule, in der er in keinem Fach nennenswerte Schwierigkeiten gehabt hatte. Hier, in Westfalen, hatte ihm der Nebel zwischen Drensteinfurt und Münster das Gehirn verkleistert, und er wartete nur darauf, seinem Vater klarzumachen, dass seine Zukunft nur in Shanghai liegen konnte. Jedenfalls wollte er keinesfalls als Schafskopf in Stewert, wie das Kaff für die Einheimischen hieß, enden.

Seit über fünf Wochen war sein Vater damit beschäftigt, in Shanghai letzte berufliche Angelegenheiten zu regeln, viel zu lange für Kims Ungeduld.

Zusammen mit Lisa saß er im oberen Stockwerk in seinem Zimmer. Sie hatten das Licht einschalten müssen, so düster war es im Raum. Mitten auf dem Fransenteppich lag Willie, Lisas kleiner Hund, und sah mit seinem hellen Wuschelfell selbst wie ein Stück Fransenteppich aus.

Auf einmal hob er den Kopf.

Kim nahm an, dass es der Kopf war, denn vorn und hinten ließ sich bei Willie schlecht unterscheiden. Jetzt blitzten die dunklen Knopfaugen durch den Behang auf Willies Stirn. Wieso starrte Willie die hässliche braune Holzdecke an? Nicht einmal eine Spinne hing von ihr herab. Und über ihnen gab es nur noch den großen dunklen Dachboden voller altem Gerümpel, den Tante Betty wegen irgendwelcher Papiere ihres längst verstorbenen Bruders, Kims deutschem Großvater, stets verschlossen hielt.

Nun streckte Willie die Hinterpfoten aus, machte sich lang, gähnte und blaffte kurz.

„Kusch!“ sagte Lisa streng. „Und du passt nicht auf, du träumst schon wieder“, herrschte sie Kim an. „Warum gebe ich mich mit dir Trantüte bloß ab?“

Verärgert schüttelte Kim den Kopf. Er träumte nicht, er lauschte. Da war ein sehr leises Knarren über ihnen zu hören. Jemand schlich mit äußerster Vorsicht auf dem Dachboden herum.

Wenn nicht Großvaters Kaos Uhr in einem alten Schrank dort oben stecken würde, hätte Kim das verstohlene Knarzen und Knarren egal sein können. Aber wegen der Uhr, seinem kostbarstem Besitz, war er ständig in Sorge, denn er befürchtete, dass Tante Betty eines Tages darauf stoßen würde. Mit einiger Wahrscheinlichkeit würde sie  den schäbigen Holzkasten direkt in den Müll werfen, ohne sich die Mühe zu machen, nachzusehen, was darin steckte. Und wenn doch, würde sie die Uhr auch wegschmeißen, weil sie allem Chinesischem gegenüber größtes Misstrauen hegte. Seit Wochen suchte Kim nach einem besseren Versteck, aber er hatte noch keins gefunden.

Jetzt wurde auch Lisa auf die Geräusche aufmerksam.

„Da ist wer auf dem Dachboden“, sagte sie.

„Hörst du’s auch?“ fragte Kim angespannt.

„Das ist Großtante Betty. Wahrscheinlich kramt sie in den Kisten herum. Also, ich hätte keine Lust, in lauter Spinnweben zu fassen. Können wir jetzt weitermachen?“

„Kim!“ rief Tante Betty von unten aus der Diele. „Bringst du mir bitte den Schlüssel zur Bodentreppe? Ich hab heute mittag ganz vergessen abzuschließen.“

Kim zuckte zusammen.

Also war Tante Betty nicht auf dem Dachboden! Aber wer dann? Rasch gesellte sich Ärger zu seinem Schreck. Jedesmal, wenn er sich mit der Uhr befassen wollte, musste er eine Gelegenheit abwarten, um unbemerkt an den Schlüssel zu gelangen. Diesmal hätte sich so eine Gelegenheit von selbst ergeben, und er hatte sie wegen ein paar läppischer algebraischer Formeln, die Lisa ihm einhämmern wollte, verpasst. Und jetzt trapste jemand fremdes in der Nähe der Uhr herum.

„Wenn Tante Betty nicht oben ist, wer ...“, begann Lisa, brach ab und starrte die Decke an.

Etwas scharrte dort oben.

„Ratten?“ fragte Lisa zaghaft.

Das waren bestimmt keine Ratten. Sondern Schlimmeres, schwante Kim.

Das Scharren war unheimlich. Besorgniserregend.

„Kim“, flüsterte Lisa, „das klingt gar nicht gut.“

„Ach was“, würgte Kim hervor. „Das ist dieses teuflische Novemberwetter draußen. Das macht einen kirre. Entschuldige mich einen Moment.“ Er schob den Stuhl zurück und stand auf. „Bin gleich wieder da. Dann rechnen wir das letzte noch mal nach, ja? Du kannst ja schon die nächste Gleichung vorbereiten.“ Hoffentlich ging sie darauf ein. Hoffentlich hielt ihr Ehrgeiz sie auf ihrem Stuhl fest. Am besten schmeichelte er ihr noch ein bisschen. „Ohne dich käme ich nie dahinter, du bist schon ein Ass in Mathe.“

„Ach nee!“ sagte sie eindeutig spöttisch und erhob sich.

Willie jaulte und kroch auf die Tür zu.

„Du bleibst hier“, befahl Lisa. „Wenn das da oben auf dem Dachboden Dennis, dieser Dämlack ist, kann er was erleben.“

Demnach hatte Lisa Kims Täuschungsmanöver mühelos durchschaut. Bestimmt dachte sie an die Unterhaltung mit Dennis im Bus und unweigerlich an Großvater Kaos Uhr. Die Uhr war der eigentliche Knackpunkt. Und Lisa wusste, wie besessen ihr Bruder von der Uhr war.

Kim stieß die Tür auf, zum Reden bleib keine Zeit, und es war auch überflüssig. Sie wussten ja beide, was auf dem Spiel stand. Nicht auszudenken, was Dennis gerade mit Großvater Kaos Uhr anstellte.

Mit Lisa zusammen rannte Kim über den Flur. Keiner von beiden verstand, was Tante Betty von unten rief, denn die Standuhr im Wohnzimmer begann gerade mächtig zu rasseln. Das war ihre übliche Ankündigung, bevor sie die Stunden schlug.

„Ich hol den Schüssel“, schrie Kim zur Vorsicht, während er mit Schwung die Tür zur Bodentreppe aufriss, „dauert nur eine Minute.“

Dumpf dröhnte der erste Schlag der Uhr durchs Haus.

An Kim vorbei wuselte etwas Weißes, Wuscheliges.

„Komm sofort zurück, Willie“, rief Lisa vergebens.

Kim hetzte hinter den beiden her. Um rascher voranzukommen, nahm er zwei Stufen auf einmal. Denn die Geräusche von oben wurden immer bedrohlicher. Da war die obere Tür. Kaum hatte er sie passiert, fiel sie zu, während der Dachboden in Dunkelheit versank. So gut wie nichts war jetzt noch zu erkennen. Durch die beiden Luken in den Stirnseiten fiel auch bei Sonnenschein wenig Licht.

Wo war der Schalter für die Beleuchtung? Keine Zeit, danach zu tasten. Plötzlich klatschte Kim etwas Helles, Nasses, Riesiges mitten ins Gesicht, umschlang ihn, hielt ihn fest, schnürte ihm die Luft ab. Lisa stöhnte schreckensvoll auf, und von Dennis hörte Kim einen unterdrückten Schrei.

Das Verhängnis war schon in vollem Gang.

Mit beiden Armen kämpfte Kim gegen die Umklammerung an und trat wild um sich. Kaum hatte er den Kopf wieder frei, fiel er lang hin. Als er weiterkroch, unter all den Bettlaken her, die Tante Betty wegen des Regens hier zum Trocknen aufhängt hatte, taten ihm die Knie weh.

Sobald er sich aufrichtete, wirbelte ihm noch ein Kopfkissenbezug um die Ohren, den er grimmig mit sich riss. Nur nicht mehr aufhalten lassen. Lisa hatte auch einen Lappen um den Kopf gewickelt, als sie den Schrank endlich erreichten. Den großen alten Schrank mit Großvater Kaos Uhr.

Ein kalter feuchter Wind brauste ihnen aus dem Schrank entgegen, ein ganz widersinniger Wind, der roch, als wenn er von weit her käme.

Dennis hockte zitternd auf ein paar Lumpen, den aufgeklappten achteckigen Holzkasten mit der Uhr hielt er mit beiden Händen.

„Ich kann sie nicht mehr stoppen“, flüsterte er und schaute kalkweiß zu Lisa und Kim auf. „Dabei habe ich gar nichts gemacht, sie hat sich von allein bewegt.“

Kim und Lisa drängten in den Schrank, zuletzt drückte sich Willie mit hinein, obwohl er offenkundig eine Todesangst ausstand. Aber allein draußen bleiben wollte er auch nicht. Gebannt und entsetzt starrten sie alle auf die Uhr. Sie konnten den Blick gar nicht mehr abwenden, während um sie herum der Wind heulte.

Zaghaft streckte Kim die Hand nach der Uhr aus. Sollte er wagen, sie anzutippen? Oder einen der Zeiger, die sich langsam drehten, festhalten? Ging das überhaupt? Mit den Kräften der Uhr war nicht zu spaßen. Vor verzweifelter Suche nach einem Ausweg wurde ihm flau im Magen.

Alles, was er, Lisa oder Dennis über Uhren wussten, gleich ob Standuhren, Tischuhren, Pendeluhren, Armband- Stopp- oder Taucheruhren nutzte ihnen überhaupt nichts, um diese Uhr zu verstehen. Sie hatte ihre eigenen Gesetze. Mit ihren vielen Zeigern und den neben- unter- und ineinander angeordneten Ziffernringen aus unterschiedlichen Metallen, den Zahnrädern, Achsen und Zapfen, von denen ein gut Teil zwischen den offenen Ringen zu erkennen war, sah sie äußerst verwirrend aus: ein hochkomplizierter Mechanismus. Außerdem waren auf den Ziffernringen keine Zahlen eingraviert, sondern chinesische Schriftzeichen. Kim kannte nur die dreitausend, die fürs Lesen gewöhnlicher Briefe, der Zeitung und fast aller Bücher reichten. Diese hier mussten zu den fünfundvierzigtausend gehören, die er nicht kannte, die auch sonst kaum jemand außer Großvater Kao beherrschte. Nur zwei hatte Kim identifiziert: das Zeichen für Mond und das für Wasser. In der Mitte der Uhr saß ein glasklarer Kristall, der sich langsam grün färbte, während zwei kleine Zeiger sich fast verstohlen bewegten – und zwar rückwärts.

Der eine trug an der Spitze einen winzigen Mond, der andere etwas, das an Wasserwellen erinnerte. Furcht legte sich Kim wie ein schwerer nasser Sack auf die Brust, eine Furcht, die ihn direkt aus dem grünen, pulsierenden Zentrum ansprang.

Das grüne Licht im Kristall wand sich wie ein winziger tollwütiger Drache in Achterschleifen und schien die Zeiger, die immer mehr Fahrt aufnahmen, anzufeuern.

Kim begann es vor den Augen zu flimmern. Der Schrank bebte, ächzte und knarrte, als würde er gleich auseinander fallen. Aus dem Wind war längst ein Sturm geworden. Ein Wirbelsturm! Wie aus weiter Ferne hörte Kim Dennis und Lisa vor Angst schreien, sie klammerten sich alle drei aneinander, um nicht herausgeschleudert zu werden. Während sie gegen den ungeheuren Wirbel ankämpften, wurde jeder Ton unendlich gedehnt. Ihre Gesichter verzogen sich, lösten sich auf, sausten in langen nebelhaften Fetzen um die Uhr in ihrer Mitte herum. Dann erstarben die Geräusche, als würde Wachs oder Watte die Ohren verstopfen, und Kim sah und hörte nichts mehr.

Nur in seinem Kopf ging das furchtbare Kreiseln weiter, er spürte die Kräfte, die an ihm zerrten und zogen, als wollte man ihn in einer riesigen Zentrifuge zu Brei zerquetschen.

Als er dabei war, das Bewusstsein zu verlieren, barst mit einem Donnerschlag der Schrank und sie kugelten alle zusammen hinaus.

3. Unter Ratten

Um sie herum war es abgrundtief finster. Kim hatte nur einmal kurz die Augen aufgerissen, die tintenschwarze Dunkelheit erfasst und entsetzt die Lider wieder geschlossen. Noch wirkte der Drehschwindel nach, der sich nur sehr langsam legte. Das flaue Gefühl im Magen wollte überhaupt nicht aufhören.

„Ist mir schlecht!“ stöhnte Lisa.

Wo waren sie bloß gelandet? fragte sich Kim. Vorsichtig tastete er neben sich den Boden ab. Eindeutig Holz, Holzdielen. Die fassten sich irgendwie vertraut an. Und noch immer roch es nach feuchter Wäsche. Ganz behutsam gönnte er sich einen tiefen entspannenden Atemzug.

Glück gehabt. Nichts Ernsthaftes passiert. Höchstens die Sache mit dem kaputten Schrank. Hinter sich spürte er die aufgeklappte Tür und rutschte mit dem Hintern darüber, bis er den Schrank erreichte. Nachdem er ihn ein bisschen abgetastet hatte, nahm er an, dass er nur auf die Seite gefallen, aber nicht zerbrochen war. Alles halb so schlimm. Mit Dennis und Lisa zusammen würde er den Schrank wieder aufrichten. In Gedanken war er bereits bei der Arbeit.

„Wo sind wir?“ fragte Dennis mit zittriger Stimme. „Ich seh nichts.“

Kim hatte große Lust, Dennis im Unklaren zu lassen und ihm als Vergeltung für den Schlamassel, den er angerichtet hatte, ein bisschen einzuheizen. Vielleicht sollte er Dennis den Schrank allein aufrichten lassen und dabei zusehen, wie Lisas kleiner Bruder ins Schwitzen geriet.

„Ich seh auch nichts“, jammerte Lisa.

„Entspannt euch alle beide“„“