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J O H A N N A   K L Ö P P E R

LEBEN
ist das neue
Sterben

Der Tod, der Herr Jesus,
die Liebe und ich

ISBN 978-3-7751-7302-5 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2015

Umschlaggestaltung und Illustrationen:

»Live life.

Live life like you’re gonna die.

Because you’re gonna.

I hate to be the bearer of bad news – but you’re gonna die.«

William Shatner in seinem Lied »You’ll have time«

Inhalt

Inhalt

Vorwort

Intro

Meine Damen und Herren, liebe Sterbende

Warum in die Angst reisen?

Ich nun wieder

1. Der Aufbruch

2. Eine echt atheistische Trauerfeier – oder wie?

Harry

Was unter dem Baum geschah

3. Das, was hier und jetzt noch stimmt

Die Tür

4. … aber nicht allein

Die Kunst des Unterlassens

5. Hiob und der innere Karfreitag

Herzliche Einladung zum Wut-Gottesdienst

Gott

Erste Mutationen

6. Abschiedsgroßzügigkeit

Neulich im Hospiz

Erziehung an meiner Umwelt

7. Mal angenommen …

David und Anni

Heimweg und Heimweh

8. Die Versionen meiner selbst

Was willst du denn mal werden, wenn du du bist?

Andie und die Stickersammlung

9. Stille Post, heilige Post

Weil

Mein kleines Unglaubensbekenntnis

10. »Ich war hier!«

Petunie oder Pyramide?

Außen lahm, doch innen bunt

11. Abend

Don‘t explain

Müde

Die Argumente dafür

12. Fragen am Wegesrand

Um die Kurve mit John Scofield

13. Licht (der Welt) an – Licht (der Welt) aus?

Der Mann mit den bunten Klamotten

Gottes Kompliment

14. Du nicht! Bitte …

Alex, der nicht zum Arbeiten hier ist

Falsch

Sich »Profi« nennen, ist nicht schwer …

15. Und wenn ich dann noch traurig bin …?

Suche ein Trauertutorial – biete verquollene Augen

Greifen und Begreifen

Der Weg ist nicht immer das Ziel, sondern zunächst mal der Weg

16. Leib, Seele und Coldplay

Falsche Kandidatin

Schwester

Steffi und die weichen Knie

17. Weil es nichts nützt

Schlaue Angst und dumme Angst

Der Gegenimpuls zum menschlichen Durchdrehen

18. Wenn und dann

Die Reisegruppe und das Poesiealbum

Das Ziel und Benedict Cumberbatch

Das Gepäck und das Loslassen

Julia und das Tanztheater

19. Leben ist das neue Sterben

Der Satz

Einladung

20. Angekommen. Oder doch nicht.

21. Vom Ein- und Ausatmen

Begreifen

Der Weg

Mein Weg

22. Nach Hause

Geborgenheitsvorrat

Das Ende

Quellennachweis

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Vorwort

Willkommen in diesem wunderbar-ehrlichen, zärtlichen, offenherzigen, poetischen, kleinen, großen Buch von Johanna Klöpper. Als sie mich um dieses Vorwort bat, zögerte ich nicht lange. Nicht nur, weil ich – wie wohl die Autorin selbst – dazu neige, mich Themen, die als zumindest schwierig gelten, mit gewisser Unerschrockenheit zu nähern, sondern auch, weil es mir ja eigentlich schon lebenslang mit einer gewissen, womöglich pathologisch-leichtfüßigen Freude gelingt, meine Schuhe in den Fettnäpfen dieser Welt zu parken. Kurzum: Trotz oder besser noch gerade wegen der Schwere des Themas wage ich diese Zeilen gern. Und hoffe, dass sie Ihnen, hochverehrte Lesende, hier einen guten, dabei möglichst sanften Einstieg ins Thema ermöglichen mögen.

Über das Sterben zu sprechen, zu schreiben, ist weiterhin eines der großen Tabus. Wir alle mögen uns dem vermeintlich Ultimativ-Schmerzhaften nicht freiwillig nähern. Und es ist schwer, den Tod auch nur zu denken – geschweige denn, diese möglichen Gedanken an ihn in unser Herz einzuladen, sie willkommen zu heißen, sie gar zu umarmen und zu liebkosen – als Vorboten eines großen geheimnisvollen, himmlischen Etwas, das ja nicht nur irgendwie, sondern gar umfassend mit unserem Leben zu tun hat. Doch dann andererseits: Warum sollten wir den Mut eigentlich nicht aufbringen? Was hält uns davon ab, die Schönheit des Sonnenaufgangs ebenso wie den Zauber des Sonnenuntergangs zu begrüßen, den Tag als heimlichen Liebhaber der Nacht zu denken, die Freude als Schwester des Leidens, die Triumphe als Brüder der Tragik? Ich persönlich glaube, dass uns diese Offenherzigkeit – wie eigentlich immer – nur bereichern kann. Doch vielleicht kann ausgerechnet ich diese Sätze nur wagen, weil ich vor einigen Jahren die Schwelle zum Sterben bereits betreten durfte. Ich stand an jenem für mich schicksalhaften Tag ausreichend lange im Türrahmen zwischen Leben und Tod und befand mich dabei gar in einem inneren Zustand, der mich beide möglichen Wege begrüßen ließ – den Richtung Tod womöglich sogar einen Hauch mehr als den Richtung Leben. Natürlich, ja, das ist sehr persönlich und etwas kryptisch – und wird es aufgrund der Kürze dieser Zeilen auch bleiben. Ich werde mich hier auch gewiss nicht als Fachmann aufspielen. Es ist wie Johanna es später schreiben wird: »Ein Sterbeexperte ist man wohl erst dann, wenn man gestorben ist, aber dann ist das mit dem Bücherschreiben ja so eine Sache.« Jedoch: Ich spürte den Tod. Es war verheißungsvoll. Und ich lebe. Und glaube seither aus tiefstem Herzen: Es ist eins. Und es ist: Geschenk. Beides. Eins.

Der Tod wird uns aber auf dieser Seite des Lebens weiter erschrecken, wahrscheinlich bis zu dem Tag, an dem er uns dann ereilt. Weil wir eben nur glauben, aber nichts über ihn wissen können. Sein Geheimnis zu entschlüsseln, ist seit jeher die Triebfeder jeder Philosophie, jeder Religion, jeder menschlichen Sinnsuche. So bleibt das Thema für alle menschliche Zeit zu groß für jedes noch so dicke Buch und für jede noch so dicke Lebenserfahrung. Es gibt irgendwo da draußen diese wunderschöne Geschichte von zwei ungeborenen Zwillingen, die sich im Mutterleib über das »Leben nach der Geburt« unterhalten (ich bitte um Verzeihung dafür, dass ich nicht weiß, wer sich das ausgedacht hat); da gibt es den kleinen Zweifler, der sicher zu sein glaubt, dass »wenn es so weit ist, bestimmt alles vorbei« sein wird –, und den anderen, der fest daran glaubt, dass sie beide auf ein wundervolles, neues Leben zuwachsen, in dem eine liebende, sorgende Mutter und eine wärmende Sonne warten.

Vielleicht ist dieser Unterschied in der subjektiven Betrachtungsweise der wichtigste Hinweis, den wir bekommen und im besten Fall im eigenen Herzen annehmen dürfen. Es mag mangels Beweisen sogar mutig sein, es so zu betrachten, aber in meiner Seele ist, gleich dem optimistischeren Ungeborenen, der Glaube gewachsen, dass diese Sonne, diese Mutter samt liebendem Vater, wenngleich zu Lebzeiten eben nur als Metapher oder Ahnung, uns alle dereinst erwarten werden. Und dass es tatsächlich einen Schlüssel gibt, unser aller Unwissenheit bis dahin zu begegnen: die Liebe. Sie im hoffnungsvollen Zuwachsen auf das große Geheimnis als das einzig wichtige Gepäckstück und die einzig schillernde Lebensblume zu betrachten. Sie zu suchen, sie zu feiern, sich in ihr finden zu lassen. Ganz besonders dann, wenn das Leben uns wehtut. Mag es auch nicht das Klügste sein, was es abschließend zu sagen gibt, aber wenn ich natürlich auch nicht mit letzter Gewissheit behaupten kann, dass es ein Leben nach dem Tod geben wird, so bin ich doch sicher, dass es nur im Zugehen auf die Liebe überhaupt ein sinnvolles Leben vor dem Tod geben kann.

Vielleicht sollten wir uns einfach damit begnügen und im Frieden dieser beinahe unverschämten Leichtgläubigkeit zu ruhen beginnen. Und dann vielleicht noch als weiteres Indiz mit auf die Reise nehmen, dass wir ja alle definitiv zu Lebzeiten nicht »ankommen«.

Unsere Sehnsucht nach Geborgenheit ist Teil des Weges. Bleiben wir dabei doch einfach so dynamisch wie das Universum, wie alles in der großen Schöpfungsordnung. Bleiben wir in Bewegung. Denn wie schrieb schon Goethe mal so treffend: »Das Schöne am Reisen ist nicht das Ankommen, sondern das Reisen.« Und lassen wir uns überdies mit einer gewissen Heiterkeit, die ja glücklicherweise auch in diesem wundervollen Buch von Johanna immer wieder auftaucht, gemeinsam mit dem großartigen Liederschreiber Hank Williams lächelnd auf die Erkenntnis ein: »No matter how you struggle and strive – you’ll never get out of this world alive.«

Jens Böttcher
Schriftsteller, Musiker und Überlebenskünstler.
Alles über seine Werke und vielfältigen Aktivitäten findet sich recht leicht im Internet.

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Intro

Meine Damen und Herren, liebe Sterbende

Ja, ich meine uns alle.

Ich werde sterben, ihr werdet sterben – wir kommen nicht drum herum.

Bis es so weit ist, haben wir Zeit, um nach dem Glück, dem Sinn des Lebens oder nach Gott zu suchen. Wie erfolgreich diese Vorhaben in der Regel sind, ist diskutabel.

Wir halten uns als Menschheit für schlau – aber den Tod konnten wir bisher weder unterwerfen noch zähmen. Ich frage mich, ob wir wenigstens eine Chance haben, einen halbwegs vernünftigen Umgang mit ihm zu finden. Denn seine Bekanntschaft, das ist mal sicher, werden wir früher oder später ausnahmslos alle machen.

Es ist der Herbst des Jahres 2014 und ich hege einen Verdacht. Ich hege zunehmend den begründeten Verdacht, dass ich nicht für immer Mitte 30 und voll im Saft sein werde. Die Generationen lösen einander ab, Kinder werden groß, Große werden alt, Alte gehen irgendwann. Auch Schicksalsüberraschungen, die leider meistens böse sind, machen mich immer wieder nachdenklich. Und wenn dann auch noch der Herbst kommt und mich mit seiner befremdlichen Schönheit gleichzeitig sentimental und klar im Kopf werden lässt, dann ist vielleicht eine gute Zeit, um zu tun, was ich vorhabe.

Manches liegt schon hinter mir. Manches habe ich schon erlebt. Nicht alles, natürlich nicht. Noch nicht mal viel. Aber in 33 Lebensjahren kommt man um die eine oder andere Sorgenfalte wohl nicht herum.

Es liegt also schon manches hinter mir. Ich habe mehr Fragen als Antworten, glaube aber, dass das Stellen von Fragen an sich schon schlau ist.

Noch mehr liegt vor mir. Ich werde weitergehen auf meinem Weg. Dem Lebensweg. Und aktuell plane ich eine Reise. Eine Reise in die Angst. In meine eigene Angst. Ich werde die Konfrontation mit meinen größten Befürchtungen suchen.

Und wenn ich schon mal da bin, werde ich dort auch ein paar meiner Freunde besuchen. Und vielleicht auch neue Freunde finden.

Warum in die Angst reisen?

Teneriffa soll ja auch ganz schön sein. Hm. Ja, warum?

Ich kann aus ehrlichem Herzen sagen, dass es nicht der Voyeurismus ist, der mich lockt. Voyeurismus wäre, katastrophengeil mit dem Finger zu zeigen, laut zu blöken und dumm zu sein. Zumindest meiner persönlichen Definition nach. Ich will und kann mich nicht von allem Schlechten freisprechen, aber in diesem Fall ist die Interessenlage ehrlich woanders.

Ich habe aber festgestellt, dass man manches klarer sieht, wenn man mal von tief unten draufgeguckt hat. Oder es noch immer tut. Und ich weiß, dass man in schweren Zeiten ungeahnte Ressourcen entwickelt und Hilfe an Ecken findet, wo man sie kaum vermutet hätte. Und in solchen Zeiten bildet sich eine Art Essenz. Die Essenz von Freundschaft. Die Essenz des Wollens. Die Essenz des Glaubens. Und die interessiert mich. Ich will sie sehen und schmecken und begreifen. Auf das Drumherum verzichten. Was nicht tragen kann, soll es am besten gar nicht erst versuchen. Was nicht hilft, soll entlarvt werden und für immer die Klappe halten.

Es gibt diverse Auslöser für Angst und Unsicherheit, viele Ursachen für schwere Zeiten. Eine der einschneidensten ist dabei sicher der Tod. Der Blick auf den eigenen, der eines geliebten Menschen oder die menschliche Sterblichkeit an sich.

Der Tod ist mein Feind und ich will meine Waffen kennen. Oder prüfen, ob ich überhaupt Waffen brauche. Vielleicht gibt es ja Hilfsmittel und »Überlebens«-Strategien, die mir noch fremd sind.

Ich würde mit diesem großen Thema gern besser klarkommen, als ich es aktuell tue. Ich will wissen, was zu tun und was zu unterlassen ist, wenn ich einem todkranken oder einem trauernden Menschen gegenüberstehe. Und ich wünsche mir Himmelsrichtungen, in die ich gehen oder schauen kann, wenn ich selbst Besuch von der großen Todtraurigkeit bekomme.

Da liegt auch die zweite Frage, die ich mir stelle: Ich möchte wissen, wie Trauer und der Umgang mit dem Sterben heutzutage funktionieren dürfen und können.

Von früher oder auf dem Dorf kennt man das ja etwa so: Die alten Omas tragen, nachdem zum Beispiel ihr Mann gestorben ist, ein Jahr lang Schwarz, betreiben regelmäßige Grabpflege und verdrücken auch gern mal beim Kaffeeklatsch mit den Freundinnen ein Tränchen. Psychohygiene par excellence. Gesünder geht’s kaum. Noch immer vorbildlich.

Weil aber diese Trauerzutaten natürlich nicht für jeden und jede die richtigen sind, ist es klar, dass das heute nicht mehr überall der gängige Brauch ist.

Alte Sachen unterlassen, finde ich an sich immer erst mal gut. Das Problem ist bloß: Wie kann man heutzutage, zum Beispiel als hipper Großstädter Mitte dreißig, seiner Trauer Luft machen? Was bleibt uns zu tun in einer Gesellschaft, die »trauerentwöhnt« ist? Was kann helfen? Was ist praktikabel? Wohin mit dem ganzen Wust aus Tränen, Zorn, Bauchangst und Komischsein?

Diese Frage könnte die Strophe aus ’nem Worshipsong sein und im Refrain würde dann das mit Gott kommen, klar. Aber ich denke da erst einmal weniger theologisch als ganz praktisch (im besten Fall IST Theologie natürlich praktisch – aber das führt vielleicht zu weit vom eigentlichen Pfad und ich hab auch nicht viel Ahnung davon).

Ich bin ganz sicher, dass Glaube, Gott und die Gemeinschaft mit Gesinnungsgeschwistern tröstende Kraft haben – dazu später mehr –, aber geht Traurigkeit nur im Trostgottesdienst? Innerhalb eines festgesteckten und vorgeplanten Rahmens, wo dann auch keiner Angst kriegt, wenn der Sitznachbar mal heult?

Fragen über Fragen.

Was ich aber jetzt schon weiß, ist: Sie sind mitten unter uns. Die Sterbenden und die Traurigen. Und wir helfen weder ihnen noch uns selbst, indem wir die Augen vor ihnen verschließen. Oder gar Sachen sagen wie: »Kopf hoch, Unkraut vergeht nicht!«

Ich nun wieder

Ich bin keine Sozio-, Psycho- oder Theologin. Ich bin Industriekauffrau. Zumindest von Beruf. Ich wäre, selbst wenn ich es wollte, gar nicht in der Lage, ein wissenschaftliches Buch zu schreiben. Ob ich ein unwissenschaftliches Buch vollkriege, wird sich noch zeigen. Ich arbeite in Teilzeit, singe in meiner Freizeit manchmal, bin Mutter, Ehefrau und in erster Linie Mensch.

Was meine Reise und den damit geplanten Reisebericht angeht, bin ich selbst ziemlich gespannt. Ich hab keine Strategie, keine Vorgehensweise. Ich spüre mich so durch. So könnte man es wohl nennen.

Ich kriege Hunger. Im Kopf. Ich erahne leise Fragen, die in meinem Oberstübchen oder Herzen flüstern. Das ist mir schon ein paar Mal in unterschiedlichen Themenbereichen passiert. Und dann muss ich los. Ich muss reisen. In Bücher oder Vortragsreihen. In andere Länder, Sprachen und Religionen – zur Not theoretisch. Mit zwei kleinen Kindern geht das ja nicht immer alles so leicht.

Ich reise in Ideen hinein und träume Träume vor mich hin. Und ich reise in meine Angst. Dem Tod entgegen. Ja, so mach ich’s!

Herzliche Einladung an euch, mitzukommen.

Ich denke, wir werden dem Leid, Krankheiten, Verlusten und Tränen begegnen. Manchmal werden wir schlaue Menschen treffen und ehrliche Herzen. Ich für meinen Teil werde mitweinen, auch viel lachen, werde lieb haben und so schlimm wütend schimpfen, dass ich anschließend Mund und Tastatur mit Kernseife waschen muss. Und ich werde Gefühle im Herzen haben, deren Namen ich noch nicht kenne. Ich werde immer wieder fragende Blicke zu meinem Freund Gott werfen. Und vieles werde ich nicht wissen.

Ich mache mich auf die Reise in die Angst.

Was ich dort finden werde, weiß ich noch nicht. Wie es dort schmeckt und riecht und aussieht, kann ich noch nicht sagen. Aber wenn ich dort bin, sehe ich vielleicht etwas, das ermutigt, trägt oder tröstet. Hoffentlich. Und wenn ich so etwas oder jemanden sehe, sage ich euch, die ihr mit mir kommt, sofort Bescheid. Versprochen.

Ich kann und werde nicht versprechen, dass Gott die Antwort auf alle Fragen ist oder liefert. Das könnte ja höchstens er selbst und ich habe dazu noch nichts Konkretes von ihm gehört.

Mal sehen, wo wir landen.

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Der Aufbruch

Wir starten wilden Mutes und gehen dahin, wo viele Ängste ihr Zentrum haben. Möglichst nah ran ans Geschehen.

Ja, der Tod ist so ziemlich das Gruseligste, was es gibt. Für mich zumindest. Bei Omas, die kurz vor der 100 lebenssatt einschlafen, hält sich meine Angst noch in Grenzen. Die beerdigt man ja regelrecht gern. Aber der Tod kommt manchmal auch dahin, wo er nicht willkommen ist. Und das finde ich immer wieder aufs Neue schlimm.

Am liebsten ist er mir, wenn ich von ihm in der Zeitung lese oder so. Ich kann umblättern, ihn ad acta legen und bin fertig mit dem Thema. Aber während ich noch blättere, ahne ich, dass er das wohl nicht für immer mit sich machen lassen wird. Und das versetzt mich in eine latente, leise Alarmbereitschaft.

Das sieht man mir nicht an, ich bin eigentlich recht lebensfroh. Ich lache laut und gerne, genieße die schönen Dinge. Aber da ist dieses Monster unter meinem Bett, das diffus rumtönt, wenn es außen leise wird. Nicht laut, nicht brüllend und martialisch, aber dafür permanent und unglaublich nervtötend. Als der Leidensdruck endgültig hoch genug war und ich außerdem eine Art Zeitüberschuss hatte, habe ich beschlossen, endlich mit der Taschenlampe unters Bett zu leuchten. Ich habe im Hospiz angefangen.

Mein Job dort ist gar nicht so mildtätig, wie er erst mal rüberkommt. In erster Linie profitiere ICH davon. Ja, ich arbeite im Hospiz. Vielleicht erklärt das, warum ich mir die Gedanken mache, die ich mir mache. Aber um ganz genau zu sein, waren die Gedanken zuerst da und der Job eine Art Antwortenlieferant. Zumindest zu Teilen. Ich glaube, dass man immer und überall etwas lernen kann.

Seit Anfang 2014 arbeite ich im Hospiz »Haus Emmaus« in Wetzlar, Hessen. Zunächst ehrenamtlich, mittlerweile bin ich angestellt. Denn wenn ich schon nach den großen Lebensfragen forsche, kann ich mich auch gleich nützlich machen.

Das alles begann so:

»Hospiz wie Hotel oder Hospiz wie Sterben?«

»Das mit dem Sterben.«

»Warum DAS denn?! Ich könnte das nicht.«

Na ja, ob ich das kann muss sich auch erst noch herausstellen …

Ich erinnere mich noch genau an meinen allerersten Tag im Hospiz. Mir war ein bisschen elend, während ich einen Parkplatz suchte. Zum »Schnuppern« hatte ich mich einladen lassen. Wie war ich noch mal hier gelandet? Ob ich jemals aufhören würde, mir ständig so einen Quatsch zu überlegen? Aber ich brauchte Antworten. Ich musste doch wissen, wie ein vernünftiger Umgang mit diesem ganzen Thema möglich ist. Wieso werden die Leute, die hier arbeiten, nicht reihenweise verrückt?

Ich war also mutig in Richtung Eingang unterwegs. Ich hatte mich mal sicherheitshalber schwarz angezogen. Der nette Mann vom Telefon erwartete mich schon am Empfang. Er trug so ziemlich alle Farben außer Schwarz. Aha.

Erste Lektion, die ich hier lernte: Die Bewohner des Hospizes werden ausschließlich »Gäste« genannt. Stimmt nicht. Meistens werden sie einfach mit ihrem Namen angesprochen. Aber »Patienten« heißen sie nicht. Sie sind nämlich eigentlich keine Patienten. Klar, Pflegepersonal, Ärzte, Medizin und alles gibt’s hier nicht zu knapp. Aber Heilung steht nicht mehr auf der Agenda. Hier werden »nur« noch Symptome bekämpft. Schmerzen gelindert und die größtmögliche Lebensqualität angepeilt.

Und wie das geht, merkte ich im Laufe der Zeit. Ich lernte eine ehrenamtliche Helferin kennen, die auf besonderen Wunsch »Handkäs’ mit Musik« (oder wahlweise Grießbrei nach böhmischem Oma-Rezept) kocht und zum Beispiel die richtige Sorte Weintrauben in der richtigen Farbe organisiert.

Ein Pfleger ergänzt die hauseigene Leih-Videothek regelmäßig mit Psychothrillern aus dem eigenen Bestand, was mir besonders zugutekommt.

Ich denke an die »Blumenfee«, wie ich sie nenne. Eine liebenswerte ältere Dame, die sich regelmäßig um alle Blumen im Haus kümmert. Und das sind nicht wenige. Sie spricht mit ihnen, droht mit der Biotonne bei ausbleibender Blütenpracht und begrüßt jeden mit freundlicher Ruf-Terz, während sie in ihrem Rollstuhl durchs Haus düst.

Da ist der charmante Herr um die 60, der, nach seinem Aufgabengebiet gefragt, antwortet: »Der Garten und alles, was noch so ist!« Oder die Mutter eines vor Jahren verstorbenen Gastes, die regelmäßig selbst gebackenen Kuchen vorbeibringt.

Diese Freiwilligkeit und diese Liebe zum Leben spürt man dem kompletten Haus ab. Vielleicht ist es das, was mich irgendwie gern hier sein lässt.

Mein liebes Fräulein Lilienthal ist im Gegensatz zu mir nicht so richtig freiwillig hier. Als ihr vor einigen Monaten Bauchspeicheldrüsenkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wurde, begann für sie ein Marathon aus Behandlungen, Hoffnung, Ernüchterung, Tränen, neuen Anläufen, wieder neuen Rückschlägen und unermesslicher Anstrengung.

Ich denke, dass sie so ungefähr um die vierzig sein müsste. Ihr Körper ist zart und zerbrechlich, ihre Augen sind müde, aber nicht unglücklich. Sie sagt, dass es ihr guttut, jetzt endlich Frieden und Gewissheit zu haben. Nicht mehr hoffen und bangen zu müssen, um dann enttäuscht zu werden.

Wenn ich ihr Versicherungskärtchen mit dem Passbild in der Hand halte, sehe ich eine andere Frau als diese zarte Person mit den müden Augen. Ich sehe eine Person, die mich an eine Version von meinem lieben Fräulein Lilienthal erinnert, wie ich sie zum Beispiel im Supermarkt treffen könnte. Eine Version von ihr, die sich fragt, wohin der Urlaub im nächsten Jahr gehen soll. Aber mein liebes Fräulein Lilienthal hier hat andere Fragen. Andere und insgesamt nicht besonders viele.

»Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben geben.« Darum bemühen sich alle, die hier arbeiten. Die Ärzte, indem sie höchst aufmerksam Schmerzzustände oder Unwohlsein erfragen und bestmöglich behandeln. Das Pflegepersonal, indem es geduldig und schnell auf Bitten und Anfragen aller Art reagiert. Ermöglicht durch eine hohe Personaldichte, die im normalen Krankenhausbetrieb nicht gegeben ist.

Die Ehrenamtler, indem sie auf kurzem Dienstweg Versicherungsunklarheiten klären, Unkraut zupfen, Füße massieren oder sich als Dolmetscher betätigen. Der Leitungskreis, der Spenden sammelt, öffentliche Aufmerksamkeit schafft, Werbung für diese wichtige Arbeit macht.

Im Zentrum dieser vielfältigen Arbeiten stehen der Gast und seine Angehörigen. Es geht darum, unnötige Ärgernisse zu beseitigen, zu unterstützen, wo es gewünscht ist. Und es geht vor allem um Aufmerksamkeit und Zuwendung.

Ich glaube, dass alles schlimmer ist, wenn man allein ist. Kann sein, dass das ein Mittel ist, mit dem man das Leid zumindest zu kleinen Teilen entschärfen kann: Aufmerksamkeit und ein ernst gemeintes »Wie geht’s?«. Ich musste mich anfangs ziemlich überwinden, Angehörige danach zu fragen, wie es ihnen geht. Ihnen dabei in die Augen zu schauen.

Meine Aufgaben spielen sich im Moment im Bereich Telefondienst, Sekretariat für die Chefin und Empfang von Besuchern, Lieferanten etc. ab.

»Sind Sie zum ersten Mal bei uns?«, »Würden Sie bitte Ihre Hände desinfizieren?«, »Kennen Sie den Weg?«, »Ich rufe schnell die Kollegin aus der Pflege an, die wird Sie dann mitnehmen …«.

Und eben das gruselige »Wie geht’s Ihnen heute?«.

Aber ich spüre regelmäßig ganz deutlich, wie unglaublich dankbar diese Mitmenschen reagieren, wenn sie alles noch mal in Ruhe erzählen können. Manchmal wiederholen sie sich oder holen kilometerweit aus. Und wenn sie fertig sind mit reden, schauen sie mich manchmal so an, als hätten sie vergessen, dass ich da bin. Dann bedanken sie sich von ganzem Herzen (fürs Dasitzen und Stillsein – wenn es nur das ist …). Und das Elend, das auch dann seinen Lauf nehmen würde, wenn ich nicht dabei wäre, ist vielleicht für einen kleinen Moment ein bisschen gemildert. Das war es wert. Die paar Minuten Zeit, die ich investiert habe, waren gut angelegt.

Zeit scheint ein größeres Thema zu sein, denke ich.

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