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INHALT

 

 

 

DENKEN

Das Handwerk des Denkens

Worauf gründet unser Verstand? Wie entsteht Logik? Und woher kommen Geistesblitze? Philosophen und Hirnforscher sind diesen Rätseln auf der Spur.

INTERVIEW

»Wir haben Zugang zu den Dingen an sich«

Der Philosoph Markus Gabriel plädiert für einen »Neuen Realismus« in der Erkenntnistheorie.

Eine Klasse für sich

Ein Plädoyer für die Einzigartigkeit des menschlichen Geistes.

INTERVIEW

Gewusst warum

Die Psychologin Tania Lombrozo erforscht, warum wir süchtig nach Erklärungen sind.

Irren ist … sinnvoll!

Illusionen und Verzerrungen sind ein unentbehrlicher Teil unseres Selbstbilds, erklären die Philosophen Albert Newen und Gottfried Vosgerau.

NEUROPHILOSOPHIE

Das Labor im Geist

2000 Jahre Philosophiegeschichte haben eine Fülle klassischer Gedankenexperimente hervorgebracht. GuG stellt einige der wichtigsten vor – und erläutert Chancen und Grenzen der »virtuellen Nagelproben«.

Forscher beim Wort-TÜV

Neurowissenschaftler sprechen vom Gehirn oft wie von einer Person, die Reize verarbeitet, entscheidet und für geistige Leistungen verantwortlich ist. Viele Philosophen halten diese Redeweise allerdings für gefährlich! Eine Sprachkritik der Hirnforschung.

INTERVIEW

»Ein Organ allein denkt nicht«

Der Berliner Philosoph Jan Slaby über die Fallstricke des Neuroreduktionismus.

EMBODIMENT

Nimm’s nicht so wörtlich

Unsere Sprache ist getränkt mit Metaphern, Bildern und Vergleichen. Aus gutem Grund: Laut Kognitionsforschern ist die figurative Redeweise ein wichtiges Instrument des Geistes.

Im Bann der Bilder

Die Analogie zum sinnlich Wahrnehmbaren macht selbst abstrakte Konzepte begreifbar.

Die Intelligenz des Körpers

Schwere Kladden fördern »gewichtige« Argumente, Armschwünge und hohe Decken die Kreativität: Wie Psychologen berichten, sind Motorik und Sensorik eng mit geistigen Prozessen verflochten. Kann diese Erkenntnis auch das Lernen erleichtern?

HIRNFORSCHUNG

Wettstreit der Metaphern

Vom Seelenapparat bis zum neuronalen Netzwerk – der jeweilige Zeitgeist einer Epoche produziert nicht nur eingängige Gehirnmetaphern. Tatsächlich wirken solche Beschreibungen tief in unser Selbstverständnis hinein.

INFOGRAFIK

Neurobiologie des Gesprächs

Auf einen Blick: Was im Kopf passiert, wenn wir selbst sprechen und anderen zuhören.

Das Hypothesen testende Gehirn

Unser Denkorgan stellt laufend Vermutungen über zukünftige Ereignisse an. Anders könnte es den Herausforderungen des Lebens gar nicht gerecht werden.

SPRACHE

Die Gabe der Sprache

Was macht die menschliche Sprache so außergewöhnlich? Offenbar weniger, als Forscher lange Zeit glaubten.

Gedacht wie gesprochen

Auch die Linguistik hat ihre »Relativitätstheorie« – doch galt sie lange als widerlegt. Neue kulturvergleichende Studien offenbaren nun, auf welch subtile Weise die Konventionen der Sprache unser Denken beeinflussen.

INTERVIEW

»Die Funktion liegt im Netzwerk«

Die Neurolinguistin Angela Friederici über die verschlungenen Pfade der Sprachverarbeitung im Gehirn.

Sag’s einfach!

Klar und wirkungsvoll formulieren ist oft schwieriger, als es klingt. Die besten Tipps aus den Labors der Sprachforscher.

EDITORIAL

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Steve Ayan
Redakteur bei GuG
ayan@spektrum.de

Gestatten: Der Mensch

Es gibt Fragen, die bleiben. Sie begleiten uns schon, solange wir denken können, und jede Generation findet neue, oft überraschende Antworten darauf. Einigen dieser großen Fragen widmen wir unsere neue Sonderheftreihe »Rätsel Mensch«, deren ersten Teil Sie in den Händen halten.

Die Themen, die renommierte Forscher und Journalisten hier behandeln, waren lange Zeit die Domäne von Philosophen: Wie hängen Sprache und Denken zusammen? Was ist Bewusstsein? Gibt es einen freien Willen? Und worauf beruhen Ethik und Moral? All diese Fragen beleuchten unsere Autoren auch auf Basis neuester Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie. Denn nur die Zusammenschau verschiedener Perspektiven – inklusive der philosophischen – lässt ein halbwegs umfassendes Bild des Menschen entstehen.

Im ersten Band unserer neuen Sonderheftreihe geht es um das, was die Spezies Homo sapiens von allen anderen Arten unterscheidet: die Fähigkeit zu komplexen logischen Abwägungen sowie die Gabe der Sprache. Beides ist eng miteinander verflochten. So besitzen Metaphern und bildhafte Vergleiche oft erstaunliche Macht über unser Denken und wirken tief in unser Selbstbild hinein. Wie leicht uns ein übertragener Sprachgebrauch – etwa bei der Personifizierung des Gehirns – allerdings auch auf Abwege führen kann, erläutert der Artikel »Wettstreit mit Metaphern«.

Ihr besonderes Augenmerk möchte ich noch auf ein druckfrisches Interview in diesem Heft lenken: über den Reiz von Erklärungen. Ich führte sie mit der Philosophin und Psychologin Tania Lombrozo während eines Aufenthalts an der Berkeley University in Kalifornien, einem Mekka der Neurophilosophie.

Zum Heftausklang gibt Thomas Reiter dann neurowissenschaftlich fundierten Rat für gutes Formulieren, und unsere Rezensionen laden zum selbst Weiterdenken ein. So schließt sich der Bogen von der Theorie zur Praxis.

Spannende Erkenntnisse wünscht Ihr

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DENKEN KOGNITIONSFORSCHUNG

Das Handwerk des Denkens

Kühle Logik und Abstraktion gelten als Säulen eines klaren Verstands. Doch Kognitionsforscher entdeckten, dass wir oft konkreter und sinnlicher denken als angenommen. Dieses Wissen gibt uns sogar nützliche Denkwerkzeuge an die Hand.

VON STEVE AYAN

AUF EINEN BLICK

Sinn und Sinnlichkeit

1 Neben logischem Schlussfolgern und Urteilen gibt es noch viele andere Denkformen – sprachliche und nichtsprachliche, analytische und intuitive.

2 Es gibt kein »Denkareal« im Gehirn, aber verschiedene neuronale Netzwerke, die häufig an kognitiven Prozessen beteiligt sind.

3 Die neue Theorie des Embodiment betrachtet Denken als Probehandeln.

H omo sapiens – der »weise Mensch« – ist ein stolzer Name. Wir haben ihn uns verliehen, weil wir die Fähigkeit zu denken, also vom konkret Gegebenen zu abstrahieren und logische Zusammenhänge herzustellen, für unser größtes Talent halten. Und doch bereitet es uns im Alltag oft Probleme. Wie etwa in diesem Fall: Ein Tischtennisset aus Schläger und Ball kostet elf Euro. Der Schläger ist zehn Euro teurer als der Ball. Wie viel kostet der Ball? Wenn Sie nun spontan »ein Euro« denken, erliegen Sie einem typischen Denkfehler. (Die richtige Lösung steht ganz unten auf Seite 19.)

Anderes Beispiel: Vier Spielkarten sind auf der einen Seite jeweils mit einem Buchstaben, auf der anderen mit einer Zahl beschriftet. Angeblich gilt: »Wenn vorn ein S steht, steht hinten eine 3.« Welche der folgenden Karten muss man umdrehen, um die Regel zu überprüfen?

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Die meisten von uns tendieren dazu, die erste und die dritte Karte aufzudecken. Die erste ist richtig, denn wenn auf der Rückseite keine 3 steht, ist die Regel verletzt. Was jedoch auf der Karte mit der 3 steht, ist egal – es kann jeder beliebige Buchstabe sein, denn die Regel besagt ja nicht umgekehrt »Wenn 3, dann S«! Die zweite Karte ist ebenso irrelevant, anders als die vierte: Stoßen wir beim Umdrehen auf ein S, ist unsere Regel futsch.

Den »Wason-Kartentest« (von dem Psychologen Peter Wason bereits in den 1960er Jahren ersonnen) bestehen die meisten von uns leichter, wenn er anschauliche Begriffe enthält. Probieren Sie es etwa mit dieser analogen Regel: »Wer Auto fährt, ist mindestens 18!« Welche dieser Karten gehören nun umgedreht, will man herausfinden, ob das stimmt?

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Auch 19-Jährige fahren mal Bus, klar! So wie hier füllen wir die Lücken unserer Alltagslogik häufig mit Wissen und Erfahrung.

Vinod Goel von der York University in Toronto (Kanada) fand in Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren heraus, dass formallogische Operationen sogar andere Hirnareale aktivieren als anschauliches Denken. Während beim Schlussfolgern mittels abstrakter Symbole stärker parietal, das heißt zum Scheitel hin gelegene Abschnitte der Großhirnrinde involviert sind, wird das konkrete Denken von einem frontotemporalen Netzwerk gesteuert (siehe Bild).

Das logische Urteilen und Abstraktionsvermögen standen zwar traditionell im Fokus der Kognitionsforschung, doch wird das der Realität nicht unbedingt gerecht. Denn sie sind bei Weitem nicht die einzigen Denkformen, wie schon die Fülle der Synonyme nahelegt: annehmen, vermuten, erschließen, begreifen, brüten, planen, grübeln und tüfteln sind nur einige Beispiele.

Um dieses weite Feld ein wenig zu ordnen, kann man drei Aspekte des Begriffs »Denken« unterscheiden: Erstens bezeichnen wir damit bestimmte mentale Ereignisse wie Ideen und Eingebungen. Zweitens geht es dabei um die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und weitergehende Schlüsse daraus zu ziehen. Und drittens handelt es sich um eine regelgeleitete geistige Tätigkeit. Einfall, Können und Tun – all das können wir meinen, wenn wir vom Denken sprechen. Aber wie denken wir überhaupt?

Das hängt zunächst vom Gegenstand ab. Wir denken mal sprachlich, mal räumlich, mal bildhaft oder musikalisch, wir denken in Formeln oder Farben, in Vergleichen und Metaphern, wir versetzen uns denkend in andere hinein, blicken in die Zukunft oder stellen uns eine Welt vor, die es nicht gibt. Dabei spielen stets verschiedene Leistungen zusammen; Denken ist kein einheitlicher Prozess.

Erinnern, imaginieren und geistig »präsent halten«

Angenommen Sie überlegen, wohin Sie im Sommer in Urlaub fahren sollen. Als Erstes fällt Ihnen wohl so manche frühere Reise ein; Sie aktivieren also autobiografische Erinnerungen. Dann versetzen Sie sich im Geist an verschiedene Orte und stellen sich vor, wie gut Sie dort Erholung fänden. Mit Hilfe solcher Szenarien entscheiden Sie dann: In die Berge oder ans Meer? Exotisch oder heimatnah? Per Ausschlussverfahren erledigt sich manches von selbst – ein langer Flug kommt nicht in Frage, und mehr als 1000 Euro soll der Spaß auch nicht kosten. Sobald Sie dann konkrete Angebote sichten, läuft Ihr Arbeitsgedächtnis auf Hochtouren, denn nun gilt es viele Faktoren abzuwägen, die Sie geistig präsent halten müssen: All-inclusive ist bequem, aber teuer; ein Campingurlaub günstig, aber nicht so komfortabel. Brauchen Sie einen Mietwagen? Was gibt es am Urlaubsort zu sehen? Wie ist das Wetter dort? Und ganz am Ende wirft ein Geistesblitz womöglich alles über den Haufen: Frühling auf Madeira – das ist es!

Der Abruf vorhandenen Wissens, Imaginationskraft und ein Arbeitsgedächtnis, auf dessen »Benutzeroberfläche« wir beides miteinander kombinieren, das sind wesentliche Bausteine des Denkens. Wie es neuronal organisiert ist, offenbaren zum Beispiel Studien an hirngeschädigten Menschen. Bei Demenzpatienten führt das massenhafte Absterben von Neuronen nicht etwa dazu, dass die geistige Landschaft weiße Flecken bekäme – es verschwinden also nicht der Reihe nach einzelne geistige Inhalte, sondern die Betroffenen verlieren auf breiter Front den Überblick. Neuropsychologen schlossen daraus, dass mentale Repräsentationen von Wissen nicht an die Aktivität einzelner Neurone oder kleiner Ensembles gebunden sind. Würde eine Information nur von einer oder wenigen Nervenzellen kodiert, wie es etwa die Theorie der »Großmutter-Zelle« besagt, verschwände mit dem Tod derselben (der Zelle, nicht der Großmutter!) auch das betreffende Konzept.

Gedanken sind … dezentral!

Neuroimaging-Experimente mit gesunden Probanden zeigen zudem, dass sich Denkprozesse kaum an einem festen Ort im Gehirn lokalisieren lassen. Das unterscheidet Gedanken von der Sinneswahrnehmung, Sprache oder Gedächtnis, für die es durchaus neuronale Zentren gibt: Bis heute kennt man kein »Denk-Areal«, in dem jeweils relevante Daten zusammenlaufen und weiterverarbeitet würden.

Allerdings haben Forscher grob drei verschiedene Netzwerke identifiziert, die beim Denken häufig etwas beizutragen haben: Da wäre das erwähnte frontotemporale Netzwerk, welches vor allem bei Abwägung und Auswahl zwischen verschiedenen Optionen aktiv wird. Der superiore temporale Sulcus – die obere Furche des Schläfenlappens – steuert Wissen bei, das wir aus dem Gedächtnis abrufen. Und weiter parietal, also zum Scheitel hin gelegene Abschnitte der Großhirnrinde sind beim Vorstellen und Generieren kreativer Einfälle beteiligt (siehe Bild). Von Denkaufgabe zu Denkaufgabe unterscheiden sich die gemessenen Aktivitätsmuster im Gehirn allerdings oft stark.

Dennoch erweist sich regelmäßig der präfrontale Kortex (PFC) als wichtig. Dieser Teil des Stirnlappens fällt im Verhältnis zum Gesamthirn beim Menschen größer aus als bei anderen Spezies und ist an vielen kognitiven Prozessen beteiligt. Der britische Psychologe Bill Faw bezeichnete ihn daher als neuronales »Exekutivkomitee«.

Im Räderwerk des Geistes

Steigt man tiefer ins Räderwerk des Geistes hinab, landet man rasch bei den molekularen Abläufen an den Synapsen, den Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen. Neurobiologen um Amy Arnstein von der Yale Medical School in New Haven (USA) beschrieben 2012 die kurzfristige Modulation solcher neuronalen Kontakte im präfrontalen Kortex als Grundlage des Denkens. Wären wir beim geistigen Tun darauf angewiesen, neue Verknüpfungen zwischen Zellen aufzubauen, würde es Stunden bis Tage dauern, um auch nur einen simplen Schluss zu ziehen. Laut Arnstein sind vielmehr schnelle Veränderungen der Übertragungsstärke an den Synapsen entscheidend dafür, dass wir die in den Signalmustern repräsentierten Konzepte miteinander kombinieren können. Die Forscher sprechen hierbei von »dynamic network connectivity« (dynamische Netzwerk-Konnektivität), kurz DNC.

Eine Hauptrolle spielen dabei Kanalproteine, die das Einströmen elektrisch geladener Ionen an der Membran der Zellen regulieren und damit das Tor zur Erregungsübertragung zwischen den Neuronen öffnen oder schließen. Im hohen Alter oder auch bei Denkstörungen etwa bei einer Schizophrenie haken diese molekularen Schalter. Dadurch wird das Arbeitsgedächtnis geschwächt, und die gedankliche Flexibilität lässt nach.

Trotz dieser Einblicke ist die Mechanik des Denkens noch längst nicht verstanden. Nach wie vor gilt, was der Psychologe Steven Pinker von der Harvard University 1997 in seinen Bestseller »How the Mind Works« gestand: »Wir wissen nicht, wie das Denken im Kopf entsteht – jedenfalls nicht annähernd so genau, wie wir über die Funktionen unseres Körpers Bescheid wissen.«

Kein Neurowissenschaftler hat je einen Gedanken beobachtet oder konnte ihn anhand der Hirnaktivität nachvollziehen – auch wenn man inzwischen Computer darauf trainiert, exakt definierte geistige Operationen wie das Subtrahieren zweier Zahlen von anderen, etwa dem Addieren, zu unterscheiden. Wann und wie neuronale Aktivität aber so etwas wie Einsicht und Verstehen produziert, ist bis heute rätselhaft.

Derweil behilft man sich mit Modellen: Laut der Computational Theory of Thought (CTT) gibt es einen neuronalen Kode, eine Art Gedankensprache, die auf den formalen Eigenschaften von Konzepten statt auf Bedeutungen beruht. Demnach wird Wissen in die abstrakten »Formeln« logischer Operatoren ähnlich den binären 0- und 1-Zuständen im Computer übersetzt.

Der US-Philosoph Hilary Putnam und sein Schüler Jerry Fodor brachten diese Idee bereits in den 1970er Jahren auf. Bald spekulierten Hirnforscher über den Hort dieses so genannten »Mentalesisch«: Es habe seinen Sitz im frontalen Pol des Temporallappen, an der Spitze des Schläfenlappens. Die Belege dafür sind allerdings eher dürftig.

Der Philosoph John Searle bezweifelt, dass unser Gehirn wie ein Computer denkt, und begründet das mit einem berühmten Gedankenexperiment: dem »chinesischen Zimmer«. Darin befindet sich ein Mann, dem jemand unter dem Türschlitz Papiere mit chinesischen Schriftzeichen zuschiebt. Der arme Kerl im Innern versteht zwar kein Chinesisch, findet im Zimmer aber ein dickes Buch, in dem jedes Schriftzeichen wiederum durch andere erklärt wird (so vermutet er). Er beginnt, die Briefe zu »beantworten«, indem er die Schriftzeichen aus dem Buch kopiert und die Bögen unter der Tür zurückschiebt.

Vorbild Computer

Die Frage lautet: Denkt der Mann im chinesischen Zimmer? Er produziert zwar sinnvollen Output (für alle, die des Chinesischen mächtig sind), doch versteht er selbst nicht das Geringste davon. Er verarbeitet Informationen, ohne eine Ahnung zu haben, was sie bedeuten. Laut Searle könne man solch blindes Kopistenwerk kaum als Denken bezeichnen – aber genau das tue die CTT. Ihr zufolge braucht man kein Verstehen, um Denken als das »regelhafte Verarbeiten von Informationen« zu beschreiben.

Würde die Computeranalogie stimmen, was wäre das menschliche Pendant zum binären Kode des Elektrodenhirns? Das ließ sich bislang nicht aufklären. Was allerdings auch daran lag, dass neuronale Netzwerke von einigen Tausend bis hin zu Millionen Nervenzellen kaum experimentell erforschbar waren. Doch ebendiese mittlere Ebene der Hirnphysiologie, irgendwo zwischen den Vorgängen an den Synapsen und den Aktivitätsmustern auf der Landkarte des Kortex, birgt vermutlich den Schlüssel zum Denken.

Seit einigen Jahren macht ein neuer Ansatz der rein informationsbasierten CTT Konkurrenz. Er besagt kurz: Denken ist Probehandeln. Nicht abstrakte Operatoren sind der Stoff, aus dem der Geist ist, sondern Sensorik und Motorik.

Ausgangspunkt hierfür war die Beobachtung, dass Denkprozesse im Gehirn eng an Wahrnehmen und Handeln geknüpft sind. Probanden im Hirnscanner aktiveren etwa auch dann Areale des motorischen Kortex, wenn sie an Begriffe wie »gehen« oder »stolpern« denken. Ausholende Armschwünge fördern in Experimenten kreative Ideen. Und selbst einfache Sinnesreize wie das Gewicht einer Schreibunterlage oder der Eindruck räumlicher Weite beeinflussen kognitive Prozesse.

Experten wie Andreas Engel von der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf rufen bereits eine »pragmatische Wende« der Kognitionsforschung aus: Das so genannte Embodiment oder »verkörperte Denken« könne erklären, warum Verstehen oft im wahrsten Sinn ein Begreifen ist. Je konkreter wir mit Konzepten hantieren, sei es, indem wir sie etwa in Metaphern übertragen oder schematische Skizzen entwerfen, desto besser kommen wir damit zurecht.

Dass der Körper mitdenkt, dürfte auch der Grund für ein verblüffendes Phänomen sein: Gedanken fliegen uns oft aus heiterem Himmel zu. Da fällt einem morgens beim Zähneputzen ein, wie das Softwareproblem im Büro zu knacken ist oder was den Chef zur Gehaltserhöhung bewegen kann. Solche Aha-Erlebnisse liefern meist Antworten auf Fragen, die schon lange in uns rumoren. Denken ist überraschend, unvorhersehbar – und auch etwas unheimlich. Wer würde es nicht lieber kontrollieren, statt davon übermannt zu werden? Besonders, wenn einen böse Gedanken plagen (»Wieso mache ich immer alles falsch?«). Die implizite Informationsverarbeitung, wie Psychologen das Unbewusste heute bezeichnen, hat auch ihr Gutes: Viele Ideen kommen einem, wenn man gar nicht damit rechnet.

»Es« denkt in uns – so könnte man die erste wichtige Erkenntnis von Kognitionsforschern zusammenfassen. Die zweite lautet: Denken braucht Werkzeuge. Das können Begriffe und Symbole sein, aber auch Analogien, Bilder oder Perspektivwechsel (siehe »Besser denken: 10 Tipps für helle Köpfe«, S. 10). Mit ihrer Hilfe finden wir heraus, was wirklich in uns steckt. Und das ist oft mehr, als wir denken.

Steve Ayan ist Psychologe und GuG-Redakteur. Bei der Arbeit an diesem Artikel lernte er, dass es mit dem Denken ist wie mit einer Sprache: Sie zu beherrschen und ihre Regeln zu kennen, sind zwei verschiedene Paar Stiefel.

Drei Hauptarten zu denken

S chlussfolgern: Klassisches Beispiel hierfür ist das logische Urteilen in Form eines Syllogismus: Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Ergo ist Sokrates sterblich. Doch wie sieht es hiermit aus: Obst ist gesund. Äpfel sind gesund. Äpfel sind Obst! Unser Weltwissen erschwert es zu erkennen, dass dieser Schluss logisch unzulässig ist. Ersetzen Sie Äpfel doch einfach durch Gurken!

Problemlösen: Das wohl am meisten untersuchte Problemlöseszenario ist der »Turm von Hanoi«. Übertragen Sie den Stapel aus verschieden großen Scheiben vom ersten auf den dritten Stift, wobei Sie bei jedem Zug nur eine Scheibe bewegen und nie eine große auf eine kleinere legen! Gar nicht so einfach, wie? Patienten mit geschädigtem Stirnhirn scheitern hieran regelmäßig; ihre geschwächte Exekutivfunktion vereitelt das schrittweise Lösen des Problems.

Assoziieren: Im Gegensatz zum »konvergenten«, auf ein Ziel gerichtetes Denken bezeichnen Psychologen das freie Assoziieren als »divergent«. Der Strom der Einfälle und Verknüpfungen, die wir ständig im Geist herstellen, ist vermutlich nur dem Menschen eigen. Diese Gedankentätigkeit setzt sich selbst im Schlaf fort, ist also nicht vom Wachbewusstsein abhängig.

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GEHIRN UND GEIST/MEGANIM [M]

Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst …
Konzepte und Gedanken sind nicht in genau fixierbaren Arealen repräsentiert, dazu ist das menschliche Denken zu facettenreich. Allerdings übernimmt der präfrontale Kortex als Teil des so genannten frontotemporalen Netzwerks (orange) häufig eine Hauptrolle bei der Steuerung des Arbeitsgedächtnisses. Der superiore temporale Sulcus (STS; weiß) ist am Abruf von vorhandenem Wissen beteiligt, und der parietale Kortex (grün) kommt vermehrt bei nichtsprachlichen, etwa räumlichen oder musikalischen, Vorstellungen zum Zug. Dies sind allerdings nur grobe Zuordnungen; die bei verschiedenen kognitiven Prozessen gemessenen Aktivierungen klaffen oft weit auseinander.

Besser denken: 10 Tipps für helle Köpfe

Die folgenden Ratschläge schärfen den gedanklichen Blick fürs Wesentliche und ersparen so manche mentalen Um- und Abwege.

 

Verzichte auf Ballast!

Das nach dem Scholastiker Wilhelm von Ockham (1288–1347) benannte Sparsamkeitsprinzip besagt: Bevorzuge

jene Erklärung für ein Phänomen, die mit den wenigsten Vorannahmen auskommt. »Ockhams Rasiermesser«, wie diese Maxime auch heißt, beugt Theorienwildwuchs vor.

 

Konzentriere dich aufs Wesentliche!

Oft ist es hilfreich zu prüfen, ob eine Information im betreffenden Fall überhaupt relevant ist. Beispiel: Zwei Züge rasen auf einer 100 Kilometer langen Strecke aufeinander zu, der eine mit 40 km/h, der andere mit 60. Eine Vogel fliegt beim Start vom langsameren Zug zum schnellen, wieder zurück und immer hin und her – mit exakt 90 km/h. Wie weit fliegt er, bis die Züge kollidieren? Fangen Sie gar nicht erst an, die Einzelstrecken zu berechnen und zu addieren – die Lösung ist 90. Denn bis zum Crash vergeht exakt eine Stunde.

 

Mache Gedankenexperimente!

Die beliebteste Form des Gedankenexperiments ist die »reductio ad absurdum«. Galileo Galilei (1564–1642) folgerte mit Hilfe des »Widerspruchsbeweises«, dass Objekte verschiedenen Gewichts gleich schnell zu Boden fallen (den Luftwiderstand außer Acht gelassen). Würden sie verschieden schnell fallen, müsste der langsame den schnelleren abbremsen, wenn man sie zusammenbände. Gemeinsam wären beide aber schwerer, müssten also schneller fallen als allein. Die Prämisse führt zu zwei unvereinbaren Schlüssen, muss also falsch sein.

 

Ändere die Sichtweise!

Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777–1855) bekam zu seiner Schulzeit angeblich einmal die Aufgabe, alle Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Sein Lehrer hatte die Rechnung nur ohne »klein Carl« gemacht, der flugs auf die Lösung kam: 5050! Man muss dafür nur 50 mal 101 rechnen (1 + 100, 2 + 99, 3 + 93 und so weiter bis 50 + 51). Klar denken ist oft eine Frage des Blickwinkels.

 

Verwende Analogien und Vergleiche!

Um den Perspektivwechsel zu erleichtern, bietet es sich an, nach Analogien zu suchen. Ein berühmtes Beispiel lieferte der Chemiker August Kekulé (1829–1896), dem die Ringstruktur des Benzols im Traum erschien – als Schlange, die sich in den Schwanz biss.

 

Stelle Fragen!

Keine Antwort ohne Frage, das dachte sich schon der Philosoph René Descartes (1596–1650) und zog alles in Zweifel. Übrig blieb: die eigene Existenz. »Cogito ergo sum«, »Ich denke, also bin ich.« Das scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen, ist eine hohe (und nützliche) Kunst.

 

Führe Selbstgespräche!

Wer seine Gedanken laut artikuliert, hilft Studien zufolge dem Denken auf die Sprünge: Probanden, die beim Lösen verschiedener Knobelaufgaben mit sich selbst sprechen, kommen im Schnitt schneller ans Ziel als stumme Tüftler.

 

Verbildliche deine Gedanken!

Ob Grafik, Flussdiagramm oder Schemazeichnung: Viele Ideen sind einprägsamer, wenn man sie bildhaft umsetzt. Oder kann man das Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem sinnfälliger als so darstellen?

 

Keine Angst vor Fehlern!

Dass wir aus Fehlern lernen, ist ein Gemeinplatz. Aber es stimmt! Besonders produktiv sind Patzer, die uns verraten, ob eine Annahme falsch ist. Was man hingegen weder beweisen noch widerlegen kann (»Jeder Versprecher offenbart unbewusste Wünsche«), bleibt Glaubenssache.

 

Bedenke, wie du denkst!

Über das eigene Denken nachzudenken und es von höherer Warte zu betrachten, ist eine Spezialität des Menschen. Solche Metakognitionen können oft einen Weg aus geistigen Sackgassen weisen. So lässt sich die Paradoxie von Achilleus und der Schildkröte mit ihrer Hilfe auflösen: Während Achilleus zu dem Panzertier läuft, ist es immer schon ein Stück vorangekrochen; holt der griechische Held es also nie ein? Nur wenn sich Raum und Zeit aus unendlich vielen Einheiten zusammensetzten – doch das ist ein Denkfehler.

Eine kleine Warnung zum Schluss: Selbst das beste Denkwerkzeug sollte man nicht zur Allzweckwaffe erklären! »Wer nur einen Hammer hat«, so ein Sprichwort, »für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.« Manchmal entpuppt es sich dennoch als Schraube.

Ist sprechen gleich denken?

Der antike Philosoph Platon (428–348 v. Chr.)betrachtete das Denken als »inneres Gespräch der Seele mit sich selbst«. Es schien ihm schwer vorstellbar, dass man ohne Begriffe und Bedeutungen zu Einsichten gelangen könne. Wie wir heute wissen, sind aber auch Spezies, die von Natur aus gar keine Sprache besitzen, zu komplexen Denkleistungen fähig. Die alte Theorie, wonach Denken auf Sprache angewiesen ist, gilt als überholt – auch weil Sprache kreativ ist und laufend neue Ausdrucksformen erschafft. Wer (noch) nicht sagen kann, was sich denken lässt, der sagt es eben neu!

Dörner, D.: Sprache und Denken. In: Funke, J. (Hg.): Denken und Problemlösen. Enzyklopädie der Psychologie 8, Hogrefe, Göttingen 2006, S. 616–694

Wird man einmal Gedanken lesen können?

Forscher kennen keine neuronale Signatur, die bei einem Menschen, geschweige denn bei verschiedenen Individuen, fest mit bestimmten Gedanken verknüpft wäre. Offenbar realisiert das Gehirn kognitive Inhalte, so genannte Repräsentationen, auf flexible Weise. Wenn Gedanken derart einzigartig sind, dürfte es kaum möglich sein, sie aus der Hirnaktivität herauszulesen oder gar von Mensch zu Mensch zu übertragen.

Smith, K.: Reading Minds. In: Nature 502, S. 428–430, 2013

Gibt es Grenzen des Denkens?

Sicher, aber wer wollte sie bestimmen? Das Undenkbare denken – ein schöner Traum! Wir stoßen beim Denken schon kapazitätsmäßig an Grenzen und können zum Beispiel nicht in Dreierschritten rückwärtszählen, während wir den Satz des Pythagoras beweisen. Doch was wir oft für »unmögliche« Gedanken halten, sind tatsächlich nur »unwahre«. Was sich irgendwie denken lässt, ist damit ja bereits – gedacht.

Gabriel, M.: Warum es die Welt nicht gibt. Ullstein, Berlin 2013

Wie denken Tiere?

Tiere bilden keine Urteile und stellen sich keine Fragen, erklärt der Marburger Philosoph Reinhardt Brandt. Zwar zeigen höher entwickelte Arten wie Primaten, Elefanten oder Rabenvögel durchaus geistige Talente. Ihr Denken sei jedoch stets auf den Effekt, etwa eine Belohnung mit Fressen, ausgerichtet. Der freie Fluss der Gedanken sei allein dem Menschen eigen.

Brandt, R.: Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie. edition unseld, Frankfurt am Main 2009

Quellen

Arnstein, A. F. T. et al.: Neuromodulation of Thought: Flexibilities and Vulnerabilities in Prefrontal Cortical Network Synapses. In: Neuron 76, S. 223–229, 2012

Engel, A. K. et al.: Where is the Action? The Pragmatic Turn in Cognitive Science.

In: Trends in Cognitive Sciences 17, S. 202–209, 2013

LITERATURTIPP

Dennett, D.: Intuition Pumps and other Tools for Thinking. Norton, New York 2013

Der Philosoph Daniel Dennett setzt sich in diesem Buch ausführlich und sehr unterhaltsam mit den Werkzeugen des Denkens auseinander.

Mehr Literaturhinweise im Internet:

www.spektrum.de/artikel/1220528

Lösung: Der Tischtennisball kostet 50 Cent.

DENKEN ERKENNTNISPHILOSOPHIE

 

 

 

 

»Wir haben Zugang zu den Dingen an sich«

Gaukelt unser Denkapparat uns die Welt nur vor? Der Bonner Philosoph Markus Gabriel widerspricht einer alten Ansicht, wonach »alles« eine Konstruktion des Gehirns ist. Sein Gegenmodell heißt: Neuer Realismus.

Markus Gabriel

wurde 1980 in Remagen geboren. Er studierte Philosophie, Klassische Philologie und Germanistik in Hagen, Bonn und Heidelberg. Nach einer Assistenzprofessur an der New School of Social Research in New York erhielt er 2009 einen Ruf als Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Mit 29 Jahren war er damals jüngster Philosophieprofessor in Deutschland.

Herr Professor Gabriel, Denken ist das Metier von Philosophen. Was genau tun Sie, wenn Sie denken?

(lacht)