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Lotte Minck (* 1960) ist von Geburt halb Ruhrpottgöre, halb Nordseekrabbe. Nach 50 Jahren im Ruhrgebiet und etlichen Jobs in der Veranstaltungs- und Medienbranche entschied sie sich, an die Nordseeküste zu ziehen. Erst kürzlich überkam sie heftiges Heimweh nach dem Ruhrpott, als sie nach vier Jahren auf dem Land zum ersten Mal in einen echten Stau geriet, der aus mehr als sieben Autos vor einer Ampel bestand und sich diese Bezeichnung dank einer halben Stunde totalen Stillstands redlich verdient hatte. Ihre Heldin Loretta Luchs und alle Personen in Lorettas Universum sind eine liebevolle Huldigung an Lotte Mincks alte Heimat.

Lotte Minck

Radieschen von unten

Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs

Droste Verlag

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
 
 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© 2013 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf

Umschlaggestaltung und Satz: Droste Verlag unter Verwendung einer Illustration von Ommo Wille, Berlin

eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-7700-4113-8

 

www.drosteverlag.de

Kapitel 1

Wer die Hände in den Schoß legt, muss nicht untätig sein
(wie schon Casanova wusste)

»Uuuuuunnnnghhhhh«, machte der Mann.

Die allermeisten Männer machen uuuuunnnnghhh in diesem Moment der Erfüllung (oder Entleerung). Andere grunzen oder gurgeln oder stammeln unartikulierte Wortfetzen, manche rufen nach ihrer Mama. Doch, tatsächlich – nach ihrer Mama. Auch der liebe Gott im Himmel wird zuweilen bemüht, vielleicht aus Dankbarkeit oder in nachgerade religiöser Ekstase, keine Ahnung. Ich hatte mir schon oft vorgenommen, eine Strichliste zu führen, vergesse es aber immer wieder.

Was aber feststeht, ist, dass uuuuunnnnghhh die Charts unangefochten anführen wird.

Todsicher.

Auf das uuuuunnnnghhh folgt traditionell Stille. Tiefe, erschöpfte, im Optimalfall zufriedene Stille. Dann hatte ich meine Sache gut gemacht.

So wie jetzt. Ich musste einfach abwarten, dass er wieder zu Sinnen kommen würde, und blätterte derweil müßig in dem zerlesenen Klatschblättchen, das über der Tastatur lag. Ich hatte jede Menge Zeit, die Uhr tickte ja weiter.

Sieh da, dieses frisch getrennte internationale Topmodel hat also angeblich einen Neuen, ist ja interessant … Ich studierte die Hochglanzfotos der spektakulär geschminkten Stabheuschrecke – eine andere Bezeichnung für dieses klapperdürre pseudoweibliche Wesen fiel mir beim besten Willen nicht ein –, die mit gelangweiltem Gesichtsausdruck sündhaft teure Kleider vorführte. Bevor ich mich in den mehrseitigen Artikel, der bestimmt ein Musterbeispiel für investigativen Journalismus und eines Pulitzer-Preises würdig sein würde, vertiefen konnte, hatte die Stille ein Ende und der Mann meldete sich wieder zu Wort.

»Du bist die Beste, Ludmilla«, sagte er. »War es für dich auch so schön?«

Klassiker: War es für dich auch so schön? Aber sicher, Schatz, was sonst? Hast du das denn nicht gemerkt? Ehrlich – hätte man mir für jedes War es für dich auch so schön?, das ich hier zu hören bekam, stattdessen einen Fünfer gegeben, würde ich Ferrari fahren, in einem Schloss wohnen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Oh, ihr armen Naiven …

»Natürlich, das weißt du doch, Liebling«, gurrte ich mit schwerem russischen Akzent, »du machst mich immer ganz verrückt.«

Der Mann lachte geschmeichelt. »Dann bis morgen. Wir haben einen Termin, meine Süße.«

Mit der genau richtigen – weil nur dann überzeugenden – Dosis Enthusiasmus und Vorfreude in der Stimme säuselte ich: »Ich freue mich schon.«

Der Mann legte auf, und ich drückte die Pausentaste des Telefons. Ludmilla, die rassige Russin, brauchte dringend mal ein paar Minuten für sich. Ich nahm mein Headset ab und wurde von einer vielstimmigen Woge aus Stöhnen, Liebesgesäusel und herrisch gebellten Befehlen überschwemmt.

In der Kabine links neben mir schlug Diana mit einem Holzlineal rhythmisch auf ihren Tisch, hörte dann plötzlich damit auf und schrie: »Erst morgen kriegst du mehr, verstanden? Heute bist du mir nicht dankbar genug!«

Genau wie ich nahm sie ihr Headset ab und klinkte sich aus der Leitung aus. Dann drehte sie sich zu mir um, zog eine Grimasse und sagte: »Echt zum Abgewöhnen, diese Luschen. Kleine Pause?«

Wir setzten uns auf die Bank vor dem Gebäude. Diana steckte sich sofort eine Zigarette an. Sie blinzelte in die Sonne und inhalierte tief. Dann sagte sie: »Gibt noch Regen heute. Macht aber nix. Hab ja jetzt ein Dach über der Terrasse.«

»Dank Frank.«

»Genau. Dank Frank.« Sie rauchte ein paar Züge. »Und sonz? Du warst heute Morgen zu spät.«

»Ach was? Hab ich gar nicht gemerkt.«

»Ärger zu Hause?«

»Und wenn?«

Sie musterte mich aufmerksam von der Seite, während ich stur geradeaus starrte und vorgab, der vergebliche Einparkversuch einer Frau mit einem viel zu großen Auto auf dem Supermarktparkplatz gegenüber beanspruche meine gesamte Aufmerksamkeit. Einscheren, zurücksetzen, Gang nicht finden, krrrrrrcks, Gang finden, aufheulender Motor, wieder vor, wieder zurück … Alles höhnisch kommentiert von einer Horde halbwüchsiger Bengel mit Skateboards, die das Drama mit ihren Handys filmten. Bei ihrer ersten Fahrstunde, die noch einige Jahre in der Zukunft lag, würden sie bestimmt reichlich doof gucken, wenn sie einparken sollten – aber für den Moment ging es ihnen nur um gutes Material fürs Internet. Schließlich gab die Frau entnervt auf und fuhr zu einer anderen Parklücke, bei der das Spielchen wieder von vorn begann. Die Bengel klatschten sich feixend ab, stiegen auf ihre Boards und rollten ihr hinterher.

»Wieso müssen diese blondierten Tussen eigentlich in der Stadt einen Geländewagen fahren?«, nörgelte ich um des Nörgelns willen. »Den sie zudem nicht im Griff haben? Könnte mir das bitte mal jemand erklären?«

»Ruf doch die Auskunft an und frag.«

»Super Tipp. Danke. Du bist echt die Allerklügste.«

Diana atmete geräuschvoll aus. »Willst du mir mit deiner schlechten Laune die hart verdiente Pause vermiesen? Ist es das? Lass deinen Frust nicht an mir aus, Loretta. Wirf den Knallkopp endlich raus.«

»Leichter gesagt als getan.«

»Falsch. Ganz leicht: Du gehst zu ihm und sagst: Zieh aus, du dämlicher Knallkopp.«

»Nach sieben Jahren geht man doch nicht einfach zu seinem Freund und …«

»Erzähl mir nicht, du liebst ihn noch«, unterbrach sie mich, was ich ziemlich unhöflich fand. Das gehörte sich einfach nicht. Nicht die Tatsache, dass sie meine Liebe zu Tom infrage stellte, sondern dass sie mir so rüde ins Wort fiel.

»Natürlich liebe ich … äh, also wirklich …«, stammelte ich los, aber dann gingen mir abrupt die Worte aus. Konnte ich wirklich behaupten, meinen Lebensgefährten noch zu lieben? Tat ich das tatsächlich? Verdammt.

Dankenswerterweise bohrte Diana nicht weiter nach.

Bis sie die Zigarette aufgeraucht hatte und wir für die letzten zwei Stunden unserer Schicht wieder hineingingen, saßen wir schweigend nebeneinander und vertrieben uns mit dem noch immer andauernden Drama auf dem Parkplatz gegenüber die Zeit.

Mein Arbeitsplatz war eine Kabine mit Wänden aus Plexiglas, in einem großen Raum, in dem zwanzig solcher Kabinen standen. In jeder saß eine Frau oder ein Mann mit einem Headset auf dem Kopf vor einem Computermonitor. Frauen und Männer jeglichen Alters, darunter Hausfrauen, Studentinnen, arbeitslose Akademiker, Lehrerinnen oder gelernte Fleischereifachverkäuferinnen, auch einige Rentnerinnen. Es waren deutlich mehr Frauen als Männer, denn es riefen deutlich mehr Männer bei unserer Hotline an – und die wenigsten davon waren schwul.

Die älteste Kollegin war Doris, 72. Sie hatte eine Stimme wie ein junges Mädchen und einen Wortschatz wie eine heruntergekommene Hafennutte. Ihr grellrot gefärbter Bubikopf strahlte wie das nächtliche Signalfeuer eines Leuchtturms. Bei ihrer Vorliebe für Modeschmuck, den sie massenhaft trug, wunderte ich mich immer wieder, dass sie nicht stets von Elstern verfolgt wurde, die ihr das glitzernde Geschmeide vom Leib klauen wollten. Ich war schon nicht die Größte, aber sie ging mir nur bis zum Kinn. Doris war so etwas wie die Mutter der Kompanie, hörte sich unsere Sorgen an und versorgte uns mit selbst gebackenem Kuchen. Ihre Qualitäten als Lebensberaterin waren legendär. Außer Diana war sie die Einzige, die von meinen Problemen in meiner Beziehung wusste.

Aber sie und mich verband mehr als der gleiche Job – durch sie war ich überhaupt erst hier gelandet. Als wir uns begegneten, arbeitete ich in einem Jeansladen, in dem Doris regelmäßig Kundin war. Irgendwann kamen wir ins Gespräch und sie fragte mich: »Was verdienen Sie hier eigentlich?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Reichtümer, aber ich komme klar.«

»Sie haben eine wunderbare Stimme«, sagte sie, »und wir sollten uns mal unterhalten. Sie sind doch nicht … spießig, oder?« Sie lachte, und ihre langen Halsketten klimperten mit ihren Ohrringen um die Wette.

»Ich denke nicht«, erwiderte ich.

Sie bat mich um einen Notizzettel und schrieb ihre Telefonnummer darauf. »Rufen Sie mich an, Kindchen.«

Zwei Tage später saß ich auf ihrer Veranda, stopfte mich zum ersten von vielen Malen mit ihrem selbst gebackenen Kuchen voll und hörte staunend zu, während sie mir von ihrem Job erzählte. Vielleicht lag es an ihrem Alter, dass eventuell in mir schlummernde Vorurteile gegenüber dieser Art der Hotline-Arbeit erst gar nicht erwachen konnten. Vier Tage später fand mein Vorstellungsgespräch statt; das war jetzt knapp sechs Jahre her.

 

Doris pflegte schrillfarbene Strampler für ihren jüngst geborenen Urenkel zu stricken, während sie telefonierte. Andere lasen dicke Romane, lernten für die Uni, lösten Kreuzworträtsel oder schrieben die Einkaufsliste für die geplante Wohnzimmerrenovierung – was man halt so alles macht, um sich zu beschäftigen.

Ich hatte in meinem Leben schon blöde, langweilige Jobs gehabt. Notlösungen, um Geld zu verdienen, wie besagter Jeansladen. Mein Studium hatte ich abgebrochen, danach zehn Jahre in der Gastronomie gearbeitet. Der Traumjob in einer Veranstaltungsagentur funktionierte einige Jahre, dann machte die Firma Pleite. Und ohne abgeschlossene Ausbildung blieben ab einem gewissen Alter halt nur Notlösungen übrig, wie ich rasch feststellte.

An meiner jetzigen Arbeit schätzte ich besonders, dass es vollkommen egal war, wie ich aussah, wenn ich mein Headset aufsetzte. Selbst in dem dämlichen Jeansladen hatte es einen Dresscode gegeben, denn von uns wurde erwartet, dass wir uns aus dem Sortiment einkleideten. Dadurch war ich manchmal gezwungen, Klamotten zu tragen, die ich so potthässlich fand, dass ich in ihnen nicht einmal tot über dem Zaun hängen wollte. Anfangs hatte ich versucht, mich mit schlichten Jeans und Halstüchern durchzumogeln, aber es kam bei der Teamleitung leider nicht gut an, dass Kundinnen mich häufig fragten, wo im Laden sie mein schönes Oberteil finden konnten – das ich selbstverständlich bei der Konkurrenz gekauft hatte. Ich musste dann sagen, das Teil sei aus einer alten Kollektion, was ich aber nur dann tat, wenn die Teamleiterin in Hörweite war.

Ohne direkten Kundenkontakt ist nicht nur die Kleidung wurscht, sondern auch die Frage, wann die letzte Maniküre war oder ob ich Augenringe hatte – und meinen Kunden am Telefon konnte ich schließlich erzählen, was ich wollte.

Bei uns anzurufen war nicht gerade kostengünstig, aber dafür wurde der Kunde auch individuell betreut – im Gegensatz zu diesen Billig-Flatrate-Hotlines, für die nachts im Fernsehen inflationär geworben wird. Das Geld, das unsere Kunden zu zahlen hatten, wurde von einer Firma namens Service Hotline Karger abgebucht – neutraler ging es kaum. Das gab den Herren die Möglichkeit, ihren Gattinnen gegenüber zu behaupten, sie hätten wegen eines defekten Handys oder der dringend benötigten Unterstützung bei der Installation eines neuen Computerprogramms für ihren Laptop bei uns angerufen. Aber – um ehrlich zu sein – mir war völlig egal, was sie ihren Gattinnen erzählten.

Unsere 20 Telefonplätze waren rund um die Uhr besetzt. Das konnte unkonventionelle Arbeitszeiten bedeuten – wenn man wollte. Ich wollte. Zurzeit war ich für die Tagschicht eingeteilt, aber ich arbeitete ebenso gern nachts – dann musste ich das Elend zu Hause wenigstens nicht sehen.

Wenn ich an meinem Tisch saß und den Kopfhörer trug, hörte ich nichts von der Kakofonie der anderen 19 Stimmen, die ihren Anrufern gerade alle möglichen sexuellen Wünsche und Fantasien erfüllten. Beinahe jeder im Raum spielte mehrere Rollen für die Kunden.

Diana war eine Ausnahme, sie arbeitete ausschließlich als Domina. Bei einer Domina denkt man automatisch an eine strenge Schönheit in Lack und Leder, mit knallroten Lippen und straff zum Nackenknoten frisierten Haaren, und Diana konnte dieses Bild allein über ihre Stimme entstehen lassen. Ihre wahre Erscheinung war Universen von diesem Klischee entfernt: Blonde Naturlocken umrahmten ein weiches, vollkommen ungeschminktes Gesicht und ihr Hang zu geblümten, fließenden Gewändern ließ sie aussehen, als hätte sie gestern erst in Woodstock Jimi Hendrix zugejubelt. Und dann packte sie das Holzlineal aus und machte Männer zur Schnecke … manchmal fragte ich mich, wie die wohl reagieren würden, könnten sie Diana sehen.

Aber so funktionierte unser Geschäft: Wir schufen Illusionen. Immer wollten die Herren zuerst wissen, wie wir aussahen, logisch.

Ich hatte Spaß daran, ganz unterschiedliche Damen darzustellen. Als Teenager hatte ich davon geträumt, eine berühmte Schauspielerin zu werden, und hier war meine ganze darstellerische Fantasie gefordert. Ludmilla, die rassige Russin, ellenlange schwarze Haare und biegsamer Körper einer Ballerina. Dann gab es noch Mandy, das verdorbene Schulmädchen (unartiges, frühreifes Früchtchen, mit allen Wassern gewaschen, blonde Rattenschwänze), Fräulein Schulze, die spröde, aber sexy Sekretärin (enger Rock, Haare hochgesteckt und Brille, aber unter der hochgeschlossenen Bluse lauert eine Wildkatze), Uschi, die unausgelastete Hausfrau (ihr Mann bringt es nicht und sie braucht es ganz dringend), Nanette, das freche französische Zimmermädchen (kurzes Röckchen, kleines Schürzchen und für alles aufgeschlossen …) und schließlich Carmelita, die heißblütige Südamerikanerin (oooooh, Señor, ich liiiiebe Liebe machen mit Ihnen, ay caramba!). Und während Carmelita leidenschaftlich ihre wilden Locken schüttelte und endlich ihren Samba-Fransen-Bikini fallen ließ oder Nanette ihr kurzes Röckchen lüpfte, spiegelte sich bei Nachtschichten im Plexiglas meiner Kabine eine dunkle Hornbrille unter schwarzen, kurzen, zerzausten Haaren. Ay caramba!

Damit verdiente ich nicht schlecht. Wir bekamen ein Grundgehalt und Bonuszahlungen pro Anruf und ich war bei den Anrufern beliebt. »Deine Stimme ist Gold wert«, sagte Dennis, mein Chef, immer. Stimmt, ich habe eine schöne Stimme, dunkel und ein wenig rauchig. Ich konnte sie nach Belieben verstellen und hatte ein paar ausländische Akzente drauf: englisch, französisch, russisch und irgendwie südamerikanisch. Wie sich das in Wirklichkeit anhören musste, wussten die Anrufer meist sowieso nicht, also kam ich bestens damit durch.

Einmal hatte ich einen echten Franzosen in der Leitung, und der lachte sich über den pseudo-französischen Akzent meiner Nanette derart schief, dass seine sexuelle Erfüllung dabei auf der Strecke blieb. Nichtsdestotrotz habe er sich blendend mit mir amüsiert, und das sei jeden einzelnen Euro wert gewesen, wie er mir prustend versicherte, bevor er – auf gänzlich andere Art und Weise befriedigt als geplant – auflegte.

Mittlerweile hatte ich jede Menge Stammkunden, mit denen ich feste Verabredungen traf. An manchen Tagen war mein Terminkalender randvoll, sodass ich dann nicht in die offene Leitung geschaltet war. Obwohl das nicht ganz richtig ist, denn eigentlich waren es ja Ludmilla, Mandy, Fräulein Schulze, Uschi, Nanette und Carmelita, die von ihren Stammkunden angerufen wurden.

Wer aus der illustren Damenriege jeweils gewünscht war, wenn mein Telefon klingelte, erfuhr ich vom Monitor, denn jedes der Mädels hatte eine eigene Telefonnummer. Meine Kunden verliehen sich selbst ein Pseudonym, und mit der Zeit wurden sie mir vertraut. Ich wusste, was Hengst1952 wollte, wenn er anrief, oder SuperLover oder HerrMeier und wie sie alle hießen.

Ob der Job mein Liebesleben negativ beeinflusste?

Nein, überhaupt nicht.

Tom hatte kein Problem damit, von Anfang an nicht. Außerdem verdiente ich tatsächlich mehr als doppelt so viel wie im Jeansladen, und dagegen hätte er wohl als Letzter protestiert. Unsere Urlaube wurden deutlich luxuriöser, der Kühlschrank war immer voll, der altersschwache Computer flog zugunsten eines neuen auf den Müll. Und weil wir schon einmal dabei waren, gab es noch ein Laptop obendrauf.

Tom brüllte vor Lachen, wenn ich ihm ab und zu eines meiner Gespräche vorspielte. Er hatte für die – wie er es nannte – armen Würstchen, die es nötig hätten, bei einer Sexhotline anzurufen, nur Bedauern übrig.

Dass es um mein Liebesleben momentan nicht zum Besten stand, hatte nicht mehr mit meinem Job zu tun, als würde ich im Supermarkt an der Kasse sitzen oder immer noch Jeans verkaufen.

Ich ging in meine Kabine, setzte den Kopfhörer auf und loggte mich am Telefon ein, das umgehend klingelte. Ein Blick auf den Monitor sagte mir, was mich erwartete.

Es war Zeit für Fräulein Schulze, sich von Generaldirektor1961 mal wieder ein paar Runden um seinen Schreibtisch jagen zu lassen.

Kapitel 2

Die Würde des Häuptlings ist unantastbar

So ganz allmählich kriegte ich die Wut.

Seit Minuten drückte ich jetzt schon auf die Klingel, um Tom darauf aufmerksam zu machen, dass ich mit dem Wocheneinkauf unten im Hausflur stand. Eine Kiste Mineralwasser, eine Kiste Bier und zwei prall gefüllte Einkaufstaschen hatte ich bereits aus dem Kofferraum gewuchtet und ins Haus getragen. Wir hatten morgens abgemacht, dass er bei meinem Klingeln herunterkommt – wenn ich schon den Einkauf alleine erledigen musste. Das war auch der Grund, weshalb ich mich auf der Arbeit verspätet hatte: Es dauerte eine geschlagene Viertelstunde, bis ich ihn so weit wach und bei Sinnen hatte, dass wir diese Vereinbarung treffen konnten.

Erinnerte er sich vielleicht nicht mehr daran?

Hatte sein Hirn noch im Tiefschlaf gelegen, während er mit mir – wenn auch mit deutlichem Unwillen – geredet hatte?

Oder hoffte er jetzt, ich würde die Geduld verlieren und alles ohne seine Hilfe in den zweiten Stock schleifen?

Stell dich tot, und dann erledigt sich alles von alleine?

Nicht mit mir.

Inzwischen bearbeitete ich den Klingelknopf im Stakkato-Rhythmus. Leider beherrschte ich das Morsealphabet nicht, sonst würde ich Schaff endlich deinen Arsch hier runter, du fauler Penner! nach oben funken. Obwohl das natürlich vorausgesetzt hätte, dass er imstande war, die gemorste Botschaft zu entschlüsseln. War er nicht, wie ich wusste.

Oben flog die Wohnungstür auf und knallte mit Getöse gegen die Wand. »Loretta, bist du das? Willst du mich irremachen? Hör gefälligst auf damit!«, brüllte Tom wütend.

»Sobald du endlich deinen Hintern aus der Wohnung bewegst!«

»Spinnst du jetzt völlig?!«

»Hilf mir gefälligst mit den Einkäufen«, rief ich zurück.

Er fluchte unflätig und kam die Treppe herabgepoltert, tobte auf mich zu und schrie: »Deinetwegen sterben jetzt zwei Leute! Ich bin Heiler!!!«

Ich schwöre, er brüllte drei Ausrufezeichen. Minimum.

An dieser Stelle sei mir ein Wort der Erklärung gestattet.

Es war nicht etwa so, dass Tom Notarzt oder Gehirnchirurg wäre und ich ihn gerade bei einer lebensrettenden Operation an zwei offenen Herzen gleichzeitig oder einer Gehirntransplantation von einem Schädel in einen anderen unterbrochen hätte, die in unserer Küche stattfand. Das wäre ja auch sehr seltsam gewesen. Auf wie vielen Küchentischen finden schon derartige Operationen statt? Wir waren ja nicht im Urwald oder in irgendeiner endlosen Wüste, wo die nächstbeste Klinik mindestens drei Tagesreisen per Kamel (oder Elefant) entfernt wäre und wo der Chirurg mit dem vorliebnehmen musste, was zur Verfügung stand! Küchentische, rostige Messer, ein Holzhammer für die Narkose und dergleichen.

Nein, wir befanden uns mitten in der zivilisierten Welt. Na ja, im Ruhrgebiet.

Stattdessen war Tom seit knapp einem Jahr arbeitslos und verbrachte seine Tage und Nächte damit, einen Bart und parallel dazu eine Wampe zu züchten. Außerdem marodierte er als virtuelles Zauberwesen durch eine virtuelle Welt und vollbrachte Heldentaten. Natürlich nicht so banale Heldentaten wie seiner Freundin dabei zu helfen, den Wocheneinkauf in die Wohnung zu tragen – oh nein.

Er machte echt wichtige Sachen. Andere virtuelle Wesen heilen, die sonst sterben, zum Beispiel.

Er befehligte seinen eigenen Trupp von Fabelwesen. Sein Fähnlein Fieselschweif, wie ich die Bande nach der Pfadfindergruppe von Donald Ducks Neffen zu nennen pflegte. Das fand Tom überhaupt nicht lustig, denn er lebte seine virtuelle Existenz mit derart heiligem Ernst, dass für Selbstironie kein Platz blieb. Hinter jedem Fabelwesen steckte ein realer Mensch, der – genau wie Tom – irgendwo in Deutschland oder sonst wo auf der Welt an seinem Computer saß und die Realität gegen ein Alternativ-Entenhausen eingetauscht hatte, das mit geflügelten Dämonen, gefährlichen Säbelzahntigern, vollbusigen Amazonen, mächtigen Zauberern, Feuer speienden Drachen, bösartigen Zwergen und sonstigem bizarren Gesocks bevölkert war.

Ja – Gesocks. Mittlerweile hasste ich diese virtuelle Welt, in der mein Lebensgefährte immer mehr verschwand. Ich hasste diese Leute, mit denen er tagtäglich über Kopfhörer verbunden war und krauses Zeug laberte. Natürlich hatte jeder einen – aus meiner Sicht – höchst albernen Fantasienamen. Tom, der Anführer, war Graubuckel, der Mächtige. Es gab für ihn so viel zu tun in dieser Fantasiewelt, dass für das reale Leben einfach keine Zeit mehr übrig war. Ständig mussten Festungen gestürmt und Kämpfe mit anderen Trupps ausgefochten werden. Und zu diesen Schlachten, die Stunden oder gar Tage dauern konnten, wurde sich dann verabredet.

Bei den kriegerischen Auseinandersetzungen gab es – wie im echten Leben – natürlich jede Menge Tote und Verletzte. Abgetrennte virtuelle Gliedmaßen oder Köpfe flogen en masse, virtuelles Blut floss in Strömen. Wenn der Heiler und Anführer dann zu niederen und unwürdigen Arbeiten wie Bierkistenschleppen gezwungen wurde, statt seine Leute mittels irgendwelcher magischer Gimmicks aus dem Reich der Toten zurückzuholen … dumm gelaufen.

Geriet der Thron des Großen Häuptlings womöglich dadurch gerade ins Wanken? Der König ist tot – es lebe der König?

Mir doch egal.

»Wir müssen reden, Tom«, sagte ich, nachdem wir den Einkauf in die Wohnung geschafft hatten. Auf dem Weg nach oben hatte er ununterbrochen geflucht.

Wir müssen reden ist natürlich genauso ein Klassiker wie War es für dich auch so schön?, wie jeder weiß. Bei Wir müssen reden steht traditionell Ärger ins Haus. Wenn es schon nicht um sofortige Trennung geht, dann doch wenigstens um ein Beziehungsgespräch, an anderer Stelle vielleicht um ein Entlassungsgespräch mit dem Vorgesetzten oder ein Gespräch mit dem Nachbarn, weil deine Katze immer in sein geliebtes Rosenbeet kackt.

Auf jeden Fall wird es unangenehm – zumal dann, wenn man aus heiterem Himmel zu diesem Gespräch aufgefordert wird. Denn das bedeutet automatisch, dass man selbst diesen Gesprächsbedarf bisher noch gar nicht wahrgenommen hat, stimmt’s? Niemand springt vor Begeisterung schier aus dem Hemd, wenn er von seinem Partner Wir müssen reden hört.

Dieser Satz fühlt sich verdammt noch mal an wie ein Tritt in den Magen, wie die plötzliche Erkenntnis, dass man nicht wirklich an türkisblauem Wasser auf einem weißen Sandstrand unter im milden Südseewind sanft raschelnden Palmen liegt, sondern vor einer billigen Fototapete, die bereits von der Wand blättert.

Der Satz bedeutet klassischerweise Vorwürfe, Anklagen, Streit, Ich-habe-sowas-von-die-Schnauze-voll, Tränen, Wutausbrüche, Was-ich-dir-immer-schon-mal-sagen-wollte, Trennung.

»Wir müssen reden«, sagte ich also.

Tom, der bereits wieder vor seinem Laptop am Küchentisch saß, holte hörbar Luft. Erstaunlich, wie viel Genervtsein in so einem banalen, wenn auch hörbaren Luftholen liegen konnte.

»Muss das ausgerechnet jetzt sein?«, fauchte er dann.

Er wollte nicht etwa wissen, worüber ich reden möchte oder ob ich etwas auf dem Herzen habe, oh nein. Das interessierte ihn nicht die Bohne (wir wollen ja nicht vergessen, dass meinetwegen gerade zwei Leute gestorben waren, nicht wahr?). Mein lästiges Ansinnen störte ihn schlicht bei seinen Heiler- und Anführerpflichten, die er schon viel zu lange (fünf Minuten, vielleicht?) vernachlässigt hatte. Immerhin waren seine virtuellen Untertanen ohne seine Alphamännchen-Qualitäten völlig hilflos!

Dass ich das aber auch partout nicht verstehen wollte!

Seiner Ansicht nach lag das übrigens vor allem daran, dass ich mich strikt weigerte, ebenfalls eine virtuelle Persönlichkeit zu erfinden und gemeinsam mit ihm durch die Täler und über die kargen Anhöhen von World of Wasweißich zu latschen und wahnsinnig aufregende Abenteuer zu bestehen. Mehrmals hatte ich ihm klipp und klar gesagt, dass ich mir lieber die Haare anzünden wollte, als das zu tun. Nichts, aber auch gar nichts, reizte mich an dieser Art von Computerspiel.

Wenn ich mehr Zeit mit ihm verbringen wolle, so hatte er einmal gesagt, könne ich das gern tun, und zwar so viel ich wollte – in dieser World of Wasweißich, natürlich. Tatsächlich versuchte er, mich mit dem Versprechen zu ködern, er würde mich dort zu seiner offiziellen Gefährtin machen. Wow, wenn das kein attraktives Angebot war, in einer virtuellen Welt die virtuelle Gefährtin eines virtuellen Häuptlings zu werden. Er war damals echt überrascht, dass ich weder vor Rührung heulte noch ihm glücklich um den Hals fiel. Oder noch besser beides. In seiner Welt war dieses Angebot vielleicht mindestens so etwas wie ein Heiratsantrag, in meiner eine Frechheit.

»Ja, das muss jetzt sein«, fauchte ich zurück.

Ich war wild entschlossen, mich nicht abwimmeln zu lassen. Mir war komplett egal, welche Festung es gerade zu schleifen oder welchen Drachen es zu erlegen galt. Oder wie viele Leute mehr jetzt meinetwegen zum Tode verurteilt waren. Sollten sie mich doch in ihrer World of Wasweißich als größte Massenmörderin ihres virtuellen Universums verdammen und ihren Anführer via DSL-Leitung dafür bedauern, dass er in der echten Welt mit einer dämlichen Kuh wie mir geschlagen war, die für sein harmloses kleines Hobby so überhaupt kein Verständnis hatte. War mir so wurscht wie nur was.

Tom verdrehte die Augen und stöhnte. »Bin kurz offline«, bellte er ins Mikro seines absurd großen Kopfhörers.

»Kurz? Ich hör wohl schlecht«, sagte ich entrüstet. »Wie viele Minuten Audienz gewähren mir Ihro Gnaden denn?«

Wieder ein Stöhnen. »Bringen wir es hinter uns, okay? Was hast du mir denn so Wichtiges mitzuteilen, das keine Sekunde mehr warten kann?«

Ich rang um Fassung und zählte innerlich bis zehn, um nicht sein Laptop auf den Boden zu werfen und wie eine Besessene darauf herumzutrampeln.

Das dauerte ihm schon zu lange.

»Was denn jetzt?«, nörgelte er prompt. »Ich dachte, du wolltest mir etwas sagen.«

»Ich will mit dir reden, Tom. So geht es nicht mehr weiter. Ich habe so was von die Schnauze voll. Mich nervt total, dass du …«

Ich brach ab, weil ich seine Aufmerksamkeit schon wieder an den Monitor verloren hatte, auf dem kleine Gestalten in bekloppten Outfits, winzige Sprechblasen über ihren Köpfen, ungeduldig vor sich hin zappelten.

»Tom!«

Er zuckte zusammen und riss widerwillig seinen Blick vom Bildschirm los. »Die warten auf mich, Loretta. Verdammt, können wir denn nicht ein anderes Mal reden?«

Und was tat ich?

Was ich immer tat, wenn ich mich beruhigen wollte: Kochen.

Unter größtmöglichem Lärm packte ich die Einkaufstaschen aus, knallte mit Schranktüren und schepperte mit Küchenwerkzeug herum. Es dauerte nicht lange und Tom zog sich mit dem Laptop in ein anderes Zimmer zurück.

Ich sah ihm nach. Wo war der Mann, in den ich mich verliebt hatte? Nicht nur innerlich, auch äußerlich hatte er sich verändert. Da sich sein ganzes Leben im Internet abspielte, vernachlässigte er nicht nur mich, sondern auch sich selbst. Seine T-Shirts waren fleckig, seine Jogginghose ausgeleiert, Haare und Bart zottelig. Wie für mich in meinen Job galt auch für ihn: Es war egal, wie er aussah, solange er seiner virtuellen Gestalt alle Attribute strotzender Männlichkeit verleihen konnte, die er wollte. Sein Internet-Ich hatte schwellende Muskeln, ein Sixpack, einen knackigen Hintern und wallendes Blondhaar wie ein Wikinger in einem alten Hollywoodschinken. Conan, der Barbar, in Blond.

Und was hatte ich? Rasputin.

Während Nudeln in Muschelform für einen Salat kochten, tobte ich meine Wut an unschuldigen Hähnchenschenkeln aus. Das Hackmesser lag schwer in meiner Hand. Mit wuchtigen Schlägen ließ ich es herabsausen, um die Schenkel zu zerteilen. Bamm! – Oberschenkel, Unterschenkel. Und wieder: Bamm! Salz- und Pfeffermühle waren die nächste Station meines Anti-Aggressions-Workouts, krrrk, krrrk, krrrk, erst die Unterseite, dann die Hautseite der Hähnchenteile, die dann auf einem Backblech in den Ofen wanderten. Die Nudeln schüttete ich durch ein großes Sieb ab und fluchte lautstark, als der aufsteigende heiße Dampf meine Brillengläser beschlagen ließ. Auf dem großen Schneidebrett aus Holz zerhackte ich einen üppigen Bund glatte Petersilie und genoss den Lärm, den ich dabei machte. Ich ritzte Tomaten ein und blanchierte sie kurz in kochendem Wasser, um sie dann in eine Schüssel mit Eiswasser zu geben – danach ließ sich ihre Haut problemlos abziehen. Nachdem ich die Kerne entfernt hatte, schnitt ich die weichen Tomaten in feine Streifen, rührte eine deftige Vinaigrette mit Senf an und gab beides zu den Nudeln, die mittlerweile nur noch lauwarm waren. Dann verrührte ich Honig, Öl und Senf zu einer Marinade, um sie auf die fast fertigen Hähnchenteile zu streichen, die noch einmal für ein paar Minuten in den Backofen unter den Grill wanderten. Ich vermengte die Petersilie mit dem Salat und probierte: perfekt! Dann holte ich das Backblech aus dem Herd, inhalierte den pikanten Duft und … konnte wieder lächeln.

Milde gestimmt war mir nach Versöhnung mit Tom, also deckte ich den Tisch und rief nach ihm. Keine Antwort.

Er war natürlich in sein Spiel vertieft, als ich ihn im Wohnzimmer fand. Mit konzentriert gerunzelter Stirn starrte er auf den Monitor, aber schließlich bemerkte er mich.

»Ich habe für uns gekocht«, sagte ich sanft. »Lass uns zusammen essen. Kommst du?«

Er sah mich an, als wäre ich irre. Dann bellte er: »Sollen noch mehr Leute sterben? Nur, weil du irgendwas zusammengepanscht hast?«

Ich drehte mich um und ging.

Denn sonst wäre ein schreckliches Unglück passiert. Da ich nicht vorhatte, mich am nächsten Morgen auf der Titelseite der größten deutschen Tageszeitung wiederzufinden, weil ich meinen Lebensgefährten abgeschlachtet hatte, ging ich lieber.

Ich war wütend auf mich selbst, weil ich wieder einmal aufgegeben hatte, anstatt den Stier bei den Hörnern zu packen und endlich Tacheles zu reden. Man kann einen Menschen nicht ändern, das wusste ich. Mir blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich versöhnte mich mit der Situation oder ich musste mich trennen.

Natürlich könnte ich auch weiterhin darauf warten, dass Tom endlich aufwachte und sein Leben wieder in die Hand nahm. Aber ebenso gut konnte ich darauf warten, dass auf der Welt endlich Frieden herrschte. Oder dass die Spritpreise auf 10 Cent pro Liter sinken würden.

Ich musste mit jemandem reden, sonst platzte ich. Und ich wusste, wer das Ergebnis meiner Kochkünste nicht als Fraß bezeichnen würde. Der Salat kam in eine Plastikdose, die Hähnchenteile in eine weitere. Türenknallend verließ ich die Wohnung (Tom würde das durch das Gequake in seinem Kopfhörer nicht einmal hören, aber es musste sein) und fuhr quer durch die Stadt zu Diana.

Kapitel 3

»Narren hasten, Kluge warten, Weise gehen in den Garten«, sagte Tagore – wie gut, wenn man weise ist

Die Schrebergartenkolonie Saftiges Radieschen ist eine von sehr vielen dieser Art, die es im Ruhrgebiet gibt. In den dicht besiedelten Städten bleibt wenig Raum für Gärten, sodass die Menschen in diese grünen Oasen ausweichen, um sich dort ihr persönliches Paradies zu schaffen. Freie Parzellen sind rar und heiß begehrt.

Diana besaß eine davon. Sie hatte das Grundstück vor ein paar Monaten von ihrer Großtante übernommen, die mittlerweile in einem Pflegeheim lebte. »Geflügelhof« nannte Diana diese Kolonie, denn alle Wege hatten die Namen von Hühnervögeln. Natürlich verbrachte Diana jede freie Minute in ihrem Garten, also wusste ich, wo ich sie finden würde.

Ich parkte meinen Wagen und schnappte mir den Rotkäppchenkorb mit dem Essen und die Tüte mit den zwei Flaschen Wein, die ich unterwegs gekauft hatte. Mir war nach Alkohol, und davon am besten nicht zu wenig. Am liebsten hätte ich eine Flasche Wodka an den Hals gesetzt, um mich ins Gelobte Land des Gnädigen Vergessens zu katapultieren, aber für den Moment tat es auch eine Flasche Wein, denn der machte mich immerhin lustig. Außerdem hatte das Gelobte Land des Gnädigen Vergessens einen kapitalen Schönheitsfehler: Man wurde ausgewiesen, sobald man wieder nüchtern war. Ziemlich blöd. Also konnte ich auch gleich hier bleiben: im Land der Bitteren Realität.

Den Weg zu Diana kannte ich im Schlaf: Wachtelweg, links in den Birkhuhnweg, dann rechts in den Perlhuhnweg, eine kurze Sackgasse mit zwölf Grundstücken, sechs auf jeder Seite. Dianas war die letzte Parzelle rechts, die Nummer 11. Wie Diana vorhergesagt hatte, regnete es mittlerweile. Der sommerliche Nieselregen passte perfekt zu meiner miesen Stimmung. Schönes Wetter konnte ich einfach nicht ertragen, wenn ich schlecht drauf war, das machte mich nur noch aggressiver. Wenn mir Leute sagten, dass sich ihre Laune bei Sonnenschein sofort besserte, hatte ich keinen Schimmer, wovon sie redeten.

Zu meiner Erleichterung begegnete ich niemandem, den ich hätte grüßen müssen, auch die Parzellen im Perlhuhnweg wirkten verlassen. Ihre Besitzer waren wegen des Wetters entweder nach Hause gefahren oder hatten sich in ihre Hütten, wahlweise auf ihre blickgeschützten Veranden zurückgezogen. Im Vorbeigehen hörte ich auf Parzelle 8 einen Mann und eine Frau miteinander streiten, ohne dass ich verstehen konnte, worum es ging. Die meisten Leute im Perlhuhnweg kannte ich ohnehin nur vom Sehen und von dem, was Diana mir über sie erzählt hatte.

Nur Frank von Parzelle 5 hatte ich schon persönlich kennengelernt, als er Diana beim Bau der Überdachung für die Terrasse vor ihrer Holzhütte half. Er war nicht sehr groß und liebte es, seine tätowierten Muskeln zu zeigen – man konnte schon von Glück sagen, wenn er wenigstens einigermaßen vernünftige Shorts oder Bermudas trug, denn Oberteile schien er nicht zu besitzen. Zumindest hatte ich noch nie eines an ihm gesehen, egal bei welchem Wetter und egal welche Arbeit er gerade bei sich oder bei anderen verrichtete. Eigentlich hielt er sich sogar eher selten in seiner eigenen Parzelle auf, wenn ich ihn sah. Meist war er bei einem seiner Nachbarn, um bei irgendetwas zu helfen. Nachbarinnen, sollte ich wohl eher sagen: Frank fällte einen Baum oder schnitt eine Hecke, während die jeweilige Dame des Hauses danebenstand und ihn mit lecker Frikadellchen oder Pülleken Bier versorgte – und vom jeweiligen Ehemann weit und breit nichts zu sehen war.

Mir war rasch klar, dass er sich für Gottes größtes Geschenk an die Damenwelt hielt, denn er flirtete mit Diana und mir, als wären wir die letzten Frauen auf Erden. Mit uns beiden gleichzeitig, wohlgemerkt. Ohnehin quatschte er beinahe ununterbrochen. Natürlich geizte er nicht mit Andeutungen, seine Manneskraft und seine schier unendliche Ausdauer betreffend.

Nachdem die Arbeit beendet war und wir ihn partout nicht anflehen wollten, uns doch bittebitte noch Gesellschaft zu leisten, trollte er sich schließlich. Kaum hatte er den Garten verlassen, fragte ich Diana, wie sie es bloß geschafft hatte, diesen Plapperheini tagelang auszuhalten.

Sie zuckte mit den Schultern und sagte: »Frank hat mein Dach gebaut – dafür kann er dummes Zeug labern und sich für den Tollsten halten, solange er will. Und soweit ich weiß, landet er mit dieser Tour tatsächlich den einen oder anderen Treffer hier in der Kolonie …« Sie zwinkerte vielsagend.

Aber auch von Frank war weit und breit nichts zu sehen, als ich den Perlhuhnweg entlang lief. Beim Öffnen stieß das Tor zu Dianas Parzelle das vertraute Quietschen aus, das hervorragend als Klingelersatz diente und sie bei jedem Besuch vorwarnte.

»Rotkäppchen bringt Essen und guten Wein!«, rief ich schon, bevor ich um die Bambushecke bog, die Dianas Terrasse vor ungewollten Blicken schützte.

Wie ich es erwartet hatte, lag meine Freundin in einem Liegestuhl und las ein Buch. »Allerdings sieht Rotkäppchen aus, als hätte der böse Wolf sie ziemlich sauer gemacht«, sagte sie und musterte mich. »Und der böse Wolf heißt Tom, möchte ich wetten.«

»Hör bloß auf. Hast du Eiswürfel? Der Wein ist so warm wie das Wasser in einem Kinderschwimmbecken.«

Sie deutete mit dem Daumen hinter sich. »Du kennst dich ja aus. Mir ist heute nicht nach perfekter Gastgeberin, bin zu faul.«

»Ist dein gutes Recht. Immerhin hast du heute schon gearbeitet.«

»Ui, ui, ui …« Sie feixte. »Wieder mal Gewitterwolken im Paradies? Ich freue mich auf eine gute Geschichte bei einem schönen kühlen Glas Wein. Und leckerem Essen. Was gibt es denn?«

»Lass dich überraschen.«

»Von dir immer gern.«

Sie streckte sich genüsslich.

Mit zwei gefüllten Gläsern, in denen Eiswürfel lustig klimperten, kam ich wieder aus der Hütte. Ich ließ mich in den bequemen Rattansessel neben ihrer Liege fallen.

Diana setzte sich erwartungsvoll auf und runzelte die Stirn. »Wo ist das Essen?«

»Im Backofen. Zum Teil jedenfalls. Die Hähnchenteile …«

»Quatsch«, unterbrach sie mich. »Die müssen nicht heiß sein. Her damit.«

Sie hievte sich von der Liege und begleitete mich hinein. Nachdem sie die mitgebrachten Köstlichkeiten ausgiebig beschnüffelt hatte, wurden diese mit jeder Menge enthusiastischer Vorschuss-»Hmmm!«s bedacht, während wir zwei Teller füllten.

Wir setzten uns nach draußen und aßen schweigend, bis sie sich nach einem dezenten Rülpser satt und zufrieden zurücklehnte. Sie zündete sich eine Zigarette an und fragte: »Also, was war los?«

Sie hörte mir zu, und als ich berichtete, dass ich die brutale und verdammenswerte Mörderin zweier virtueller Gestalten war, verschluckte sie sich prompt am Zigarettenrauch. Es folgte ein Hustenanfall, der in hysterisches Lachen mündete. Als sie sich wieder beruhigt hatte, erzählte ich weiter.

»Und deshalb bin ich jetzt hier«, schloss ich meine Leidensgeschichte, »zu Hause habe ich es einfach nicht ausgehalten.«

»Ich würde einfach den blöden Laptop zuknallen. Und zwar, wenn er die Finger auf der Tastatur hat. Vielleicht schaffst du es, ihm ein paar zu brechen«, sagte Diana. »Wie kannst du dich nur immer wieder abwimmeln lassen? Der weiß genau, was ihm blüht, deshalb stellt er sich doof.«

Ich schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Für Tom ist alles in Ordnung.«

»Quatsch. Nicht mal Tom ist so hohl in der Birne. Der weiß ganz genau, was los ist. Aber er hat sich gut eingerichtet – und du machst brav mit. Lässt ihn mit seinen Freunden spielen, kaufst ein, kochst Essen, verdienst Geld. Der wäre ja blöd, das aufzugeben. Klar, ab und zu nervst du ein bisschen. Und bringst ein paar von seinen Kumpels um.« Sie grinste. »Wozu ich dich übrigens von ganzem Herzen beglückwünsche. Gut gemacht. Ich finde, das solltest du öfter tun. In diesem Sinne …«

Sie hob ihr Glas und wir stießen an.

»Trotzdem, das kann so nicht weitergehen, Loretta. Wir sehen uns jeden Tag und du bist jeden Tag ein bisschen unglücklicher.«

»Das ist nur eine Phase.«

Diana verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Das mit der Phase dauerte jetzt schon mindestens ein Jahr, das wusste ich so gut wie sie. Wie lange wollte ich mir noch etwas vormachen?

»Du musst unbedingt mit ihm reden«, sagte Diana eindringlich. »Du musst ihm klarmachen, dass du ihn verlassen wirst, wenn sich nicht bald etwas ändert.« Sie seufzte. »Ich hasse es, solche fragwürdigen Tipps zu geben. Man sollte sich nicht in die Beziehungen anderer Leute einmischen.«

»Aber Tom und ich streiten nie.«

Sie stellte das Glas mit einem Knall auf den Tisch. »Das ist jetzt nicht dein Ernst! Ihr streitet nicht nur nie – ihr redet überhaupt nicht miteinander! Das könnte ich nicht aushalten, echt nicht! Wann hattet ihr zuletzt Sex, hm?«

»Er wollte letzte Nacht, aber ich …«

»Ha! Du wolltest nicht! Kein Wunder. Was an dem Kerl könntest du auch sexy finden? Sei froh, dass ihr getrennte Schlafzimmer habt.«

Zugegeben, das war ich in der Tat. Das mit den getrennten Schlafzimmern hatte angefangen, weil wir beide schnarchten und uns gegenseitig um den Schlaf brachten. Jeden Abend fand ein Wettrennen statt, wer als Erster einschlafen würde – derjenige hatte die erholsame Nachtruhe gewonnen. Der Verlierer wälzte sich schlaflos und verzweifelt von einer Seite auf die andere und hätte genauso gut zwischen zwei Bassboxen in einer Disco liegen können. Oder auf der Start- und Landebahn eines Flugplatzes. Meistens war ich die Verliererin. Mit der Zeit wuchsen meine Aggressionen, während ich alle Tricks versuchte, das infernalische, erstaunlich variantenreiche Schnarchkonzert neben mir wegzumeditieren. Auch Ohrstöpsel – ich testete verschiedene Modelle – nutzten nicht das Geringste. Irgendwann wollte ich ihm nur noch ein Kopfkissen aufs Gesicht drücken und ihn umbringen. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Ich wollte ihn wirklich und wahrhaftig killen – jedenfalls, solange er neben mir lag und schnarchte. Immer häufiger zog ich auf die Wohnzimmercouch um, und am nächsten Morgen war ich dann unausgeschlafen und hatte schlechte Laune.

Aber wie es der glückliche Umstand wollte, war unsere Wohnung riesig. Wir hatten insgesamt – ohne Küche und das Bad – vier Zimmer zur Verfügung, also Platz genug. Ein paar Tage lang räumten wir Möbel herum, dann wohnte ich im »Ostflügel« und er im »Westflügel«.

Anfangs genossen wir das Spiel, uns gegenseitig zu besuchen – besonders im Schlafzimmer. Wir machten richtige Dates daraus, was unser Liebesleben eine Zeit lang mächtig in Fahrt brachte. Nach dem Sex hatte jeder sein eigenes Bett, um dort in Ruhe zu schlafen. Wir hatten sowieso nie zu dieser Kuschelfraktion gehört, die eng umschlungen schlief. Im Gegenteil – ich brauchte ein wenig Platz, sonst bekam ich Beklemmungen. Es war wunderbar – bis er World of Wasweißich entdeckte und die Prioritäten in seinem Leben sich dramatisch veränderten.

Dramatisch für mich – er hatte jede Menge Spaß.

Plötzlich schmeckte mir der Wein nicht mehr.

Genau das war der Punkt: Tom hatte Spaß (oder das, was er dafür hielt) – und ich wurde immer unglücklicher. Diana hatte recht. So konnte und durfte es nicht weitergehen. Es wurde Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Nicht unbedingt gegen Tom, aber auf jeden Fall für mich.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte Diana: »Du musst mal in Ruhe nachdenken, Loretta, damit du wieder einen klaren Kopf bekommst.«

»Guter Plan, aber wie soll das gehen? Unsere Wohnung ist zwar groß, aber so groß nun auch wieder nicht, dass ich Toms Anwesenheit ignorieren könnte. Ich weiß, dass er da ist. Vor seinem blöden Computer.« Allein bei dem Gedanken traten mir Tränen in die Augen.

»Du kannst hier wohnen, wenn du willst. Hier hast du Ruhe.«

»Hier? Wie meinst du das?«

Sie setzte sich auf. Ihre Augen leuchteten. »Das ist doch überhaupt die Idee! Du packst ein paar Sachen ein und bringst sie morgen mit zur Arbeit. Und nach Feierabend ziehst du in meine Laube! Vor allem sagst du dem Kerl nicht, wo du bist.«

»Der wird nicht mal merken, dass ich nicht da bin«, brummte ich düster, aber ihr Vorschlag gefiel mir. Hier herrschte himmlische Ruhe, und Dianas Laube war mit allem ausgestattet, was ich brauchte: Es gab ein Klo mit Dusche, eine Küchenzeile mit allem Drum und Dran, ein bequemes Bett, Radio und Fernseher …

»Ist das denn überhaupt erlaubt?«, fragte ich.

»Hier zu übernachten? Klar! Das machen im Sommer ganz viele, besonders am Wochenende.«

»Dann nehme ich dein Angebot an. Vielen Dank.«