Thomas Lang

Bulle & Bär

Der Ponzi-Trick

Wirtschaftsthriller

Für meinen Vater

Prolog

In Norman Gerbers Stimme schwang Panik mit: „Echo-Charlie-Alfa-Lima-Kilo ruft Flughafen Sud Corse in Figari! Bitte kommen!”

Es dauerte einen Moment, bis das Funkgerät reagierte.

„Figari Flugkontrolle ruft Delta-Golf-Alfa-Lima-Kilo. Identifizieren Sie Ihren Kurs!“

Norman Gerber räusperte sich.

„Echo-Charlie-Alfa-Lima-Kilo. Ich bin mit meiner Piper auf dem Weg von Palma de Mallorca nach Figari. Ich kann der Sturmfront auf meinem Kurs nicht ausweichen. Mein Steuerbordmotor verliert permanent an Drehzahl.“

Die Stimme im Funkgerät schwieg für einige Sekunden. So lange wie ein korsischer Fluglotse benötigte, um einen offensichtlich komplett Übergeschnappten zu identifizieren. Und den Kopf darüber zu schütteln: Dieser Kamikaze steuerte mit seiner kleinen Kiste direkt in einen Sturm, der inzwischen den gesamten Süden der Insel bis weit auf das Tyrrhenische Meer im Westen hinaus verschluckt hatte und die Scheiben des Kontrollturms wie eine bis zum Anschlag aufgedrehte Dusche wässerte.

„Wir haben Sie auf dem Radar. Sie steuern direkt in das Zentrum der Sturmfront. Ich rate Ihnen dringend, nach Süden auszuweichen. Mit etwas Glück, können Sie Olbia noch erreichen.“

„HAST DU TOMATEN AUF DEN OHREN, DU KORSISCHER ESELFICKER? Ich habe steuerbord kaum mehr Motorleistung und verliere ständig an Höhe.“

Die Stimme aus dem Funkgerät verlor schlagartig ihre förmlich gelangweilte Ruhe und schlug in Wut um.

„Mann, versuchen Sie es! Der Sturm erreicht in seinem Zentrum Windgeschwindigkeiten von bis zu 160 km/h! Das kann Ihre Kiste kaum überstehen!“

In Norman Gerbers Stimme mischte sich Verzweiflung.

„Jetzt ist das Steuerbord-Triebwerk ganz ausgefallen!“, schrie er in sein Mikrofon. „Ich kann den Kurs nicht länger halten und verliere beständig an Höhe. Es sind nur noch 1800 Fuß! … 1750! … 1700!“

Norman Gerber beobachtete abwechselnd den hektischen Zeiger des Höhenmessers und die nunmehr schwarze, von weißer Gischt durchzogene Wasseroberfläche, die sich rasch näherte. Er versuchte die Panik in seiner Stimme unter Kontrolle zu bringen. Was ihm nicht gelang.

„Ändern Sie Ihren Kurs! Ändern Sie Ihren Kurs! Verdammt noch mal! Drehen Sie auf Süd!“, schrie die Stimme aus dem Funkgerät, die nun mindestens so panisch klang wie die des Piloten.

Die Flughöhe betrug inzwischen nur noch 600 Fuß. Tendenz schnell fallend. Der Pilot umklammerte die Griffhörner des Steuers fest, bis die Knöchel auf seinen Handrücken weiß hervorstanden. Es war so gut wie unmöglich, das Flugzeug stabil zu halten. Er begann immer stärker zu schwitzen.

„Ich schaffe es nicht“, brüllte Norman Gerber in sein Mikrofon. Die Flughöhe war auf 350 Fuß gesunken. Die Oberfläche der See hatte sich in eine geifernde Monstrosität verwandelt, die tobend nach allem gierte, was nicht genügend Kraft aufbringen konnte, um sich in Sicherheit zu bringen.

Die Stimme aus dem Funkgerät war zu einem unverständlichen Stammeln zerfallen. Der Lotse im Tower des Flughafens Sud Corse starrte auf seinen Kontrollschirm und verfolgte den hellen Punkt, den das Flugzeug mit spanischer Kennung auf der schwarzen Fläche seines Kontrollschirms hinterließ. Der Akzent des Piloten deutete auf einen Deutschen hin. Auch wenn er ein ausgezeichnetes Englisch sprach. Ein besseres als der korsische Fluglotse. Der vergaß, einen Blick auf die große Uhr zu werfen, die über dem Kontrollpult hing, und konnte somit nicht nachvollziehen, wie lange es nach dem letzten verzweifelten Schrei des Piloten noch gedauert hatte, bis der Punkt auf dem Schirm etwa 30 Kilometer vor der Küstenlinie erloschen war.

Es schien eine Ewigkeit gedauert zu haben. Dann straffte sich der Lotse und löste Alarm aus.

Vorausgesetzt, es wäre Norman Gerber im Moment seines Aufpralls auf die Wasseroberfläche noch möglich gewesen, einen letzten Blick auf seine Uhr zu werfen, hätte sie ihm 17.01 Uhr angezeigt.

10. April 2014, 9.30 Uhr

Die Akte klatschte auf die Tischplatte und rutsche noch ein Stück weiter, bevor sie unmittelbar vor einem Paar gefalteter Hände zur Ruhe kam. Rufus Kowalski senkte den Blick auf das Konvolut. Er schätzte die Stärke auf mindestens fünf Fingerbreit. Sein Chef hatte ihm den Vorgang über den Besprechungstisch hinweg zugeschoben, an dem sie Platz genommen hatten.

„Norman Gerber“ stand in großen Buchstaben auf dem Deckel. Darunter, in kleinen Lettern, die Nummer der Akte und der Strafsache, in der gegen Herrn Gerber ermittelt wurde. Eines ist sicher, dachte Kowalski, wenn das Landeskriminalamt eine Akte Gerber zusammengestellt hat, die nun dick wie das Telefonbuch einer Großstadt vor mir liegt, ist das ein untrügliches Indiz dafür, dass sich Herr Gerber schlimmerer Missetaten schuldig gemacht hat, als sein Fahrzeug in einer Feuerwehrzufahrt abzustellen. Je älter er wurde, desto weniger gab sich Rufus Kowalski Mühe, seinen eingefleischten Sarkasmus im Zaum zu halten. Er zog die Brauen hoch und musterte sein Gegenüber. Dessen Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er kurz vor einer extrem unfrohen Reaktion stand.

„Muss ich das Kerlchen kennen?“, fragte Kowalski und unternahm dabei keine Anstrengungen, das Desinteresse in seiner Stimme zu übertünchen. Er fixierte seinen Gesprächspartner. Rufus Kowalski hatte erst vor drei Tagen seinen Dienst im Dezernat 12 des Landeskriminalamts angetreten, für die er sich weiß Gott nicht freiwillig beworben hatte. Wirtschaft und das damit verbundene kriminelle Umfeld interessierten ihn „weniger als die Eier vom Papst“, wie er in solchen Fällen zu betonen pflegte. Nicht einmal getreu seinem persönlichen Motto man sollte alles einmal im Leben versucht haben. Mit Ausnahme von Inzest und Volkstanz hatte er seinen Frieden mit dieser Versetzung schließen können. Auf der anderen Seite war er klug genug, die berufliche Alternativlosigkeit seiner Situation zu akzeptieren. Angesichts seiner privaten Vergangenheit und des riesigen Mists, den er zuletzt im Job gebaut hatte.

Viktor Korschinek belohnte den unwirschen Unterton in Kowalskis Antwort mit einem milden Lächeln und fixierte seinen Gast: Mitte 50, schlank, durchtrainiert, ein wenig nachlässig aber sauber gekleidet, mit langen grauen Haaren, die zurückgekämmt bis weit über den Kragen fielen. Kowalski erinnerte ihn stets an Jeff Bridges in dem Film „The Big Lebowski“. Deshalb sprach er den Freund und Mitarbeiter in aufgeräumter Stimmung als „Dude“ an. Der Kriminaloberrat, Leiter des Dezernats 12 „Ermittlung von Wirtschafts- und Computerkriminalität“ beim Landeskriminalamt, kannte den Ersten Hauptkommissar und jüngsten Zugang seiner Abteilung nunmehr seit fast drei Jahrzehnten. Seit Rufus Kowalski seine Ausbildung an der Polizeifachhochschule begonnen hatte.

Viktor Korschinek war damals sein Ausbilder gewesen. Er hatte bei Kowalski schnell einen ambivalenten Charakter erkannt. Hochintelligent, enorm begabt, aber leider auch faul. Bis an eine Grenze, an der sich das Attribut „stinkend“ zwingend aufdrängte. Auf der anderen Seite eigenwillig, unbeugsam und ohne jede Einschränkung loyal. Loyalität erachtete Viktor Korschinek als charakterliche Königsdisziplin. Wenn Kowalski zudem den Entschluss gefasst hatte, einen Fall zu lösen, begann er mit Akribie zu recherchieren, Spuren zu verfolgen und sich Verdächtigen an die Fersen zu heften, bis der Täter gefasst war. Bis jetzt hatte jeder Mörder, den Kowalski überführte, angesichts der erdrückenden Indizien, auch ein Geständnis abgelegt. Für einen Polizisten war das Geständnis des Täters das Ziel einer erfolgreichen Ermittlung. Einmal in Fahrt gebracht, scheute Kowalski keine Mühen und Anstrengungen, bis eine wasserdichte Lösung vorlag und sich ein weiterer schlechter Mensch für Jahre, wenn nicht gar für den Rest seines Lebens, kein Kopfzerbrechen mehr über die freie Wahl seines Aufenthaltsortes bereiten musste.

Im Alltag gebärdete sich Rufus Kowalski eher mürrisch und verschlossen. Insbesondere seitdem er private Schicksalsschläge zu bewältigen hatte, die niemand seinem Todfeind wünschte.

Dem Hauptkommissar haftete laut Personalakte der mehrfach fixierte Makel an, nicht gerade ein Teamspieler zu sein. Trotzdem sollte er künftig als Kommissionsleiter des Dezernats 12 einen Stellvertreter und mindestens vier Mitarbeiter führen. Was seinem neuen Vorgesetzten zum aktuellen Zeitpunkt Kopfschmerzen bereitete. Wenn es nach dem Oberstaatsanwalt gegangen wäre, hätte Kowalski froh sein können, wenn er als uniformierter Beamter in städtischen Anlagen den Leinenzwang für Hundehalter kontrollieren durfte. Aber aufgrund der Dienstzeit, seines Rangs und der Verdienste, die sich der Hauptkommissar in seinen Jahren als Mordermittler erworben hatte, durfte er seine „Bewährungsstrafe“ als Kommissionsleiter bei der „Ermittlung von Wirtschafts- und Computerkriminalität“ antreten. Nicht zuletzt hatten Kowalskis Ermittlungserfolge den Oberstaatsanwalt mehr als einmal gut aussehen lassen. Und das war genau die Karte gewesen, die Korschinek schlussendlich zum Schutz seines Freundes erfolgreich ausgespielt hatte.

Viktor Korschinek schätzte die Geradlinigkeit und Unbeugsamkeit Kowalskis, die nicht zuletzt Brücken zu seinem eigenen Charakter schlugen. Wie Kowalski zählte Viktor Korschinek zu jenen Zeitgenossen, die niemals die gerade Linie verließen. Oder sich frei nach Shakespeares „es beuge sich des Knie’s Gelenke, wo Kriecherei Gewinn verspricht“ zu verhalten, um einen persönlichen Vorteil vor die eigene Überzeugung zu stellen. Darum hatte er als Kriminaloberrat die höchste Stufe seiner Laufbahn erreicht. Ein Superbulle wie Korschinek hätte es mit einer Prise Opportunismus, einem gelegentlichen Friedenspfeifchen und einer diplomatischen Vorgehensweise lässig zum Leiter eines LKAs oder gar zum Polizeipräsidenten bringen können.

Von Rufus Kowalski unterschied sich Viktor Korschinek allerdings durch sein grundsätzlich sonnigeres Gemüt. Er trat im direkten Umgang mit Kollegen, Untergebenen und Vorgesetzten meist jovial auf und agierte fröhlich und ausgleichend. Mit diesen Wesenszügen schaffte er es, seine Unbeugsamkeit und den diamantharten Dickkopf charmant zu bemänteln. Das deutliche „Ja!“ zur Lebensfreude des Kriminaloberrats hatte dabei ein Übriges geleistet, dass er mit nunmehr 63 Jahren – zwei Jahre vor der Pensionierung – eine Erscheinung bot, deren Linien ohne Zweifel ein gutes, sinnenfrohes Leben gezeichnet hatte. Ein dichter, fast weißer Haarschopf fiel ihm in natürlichen Wellen immer ein wenig zu weit über den Kragen. In Verbindung mit seinem Vollbart vermittelte der Oberkommissar einen altväterlichen, fast archaischen Eindruck. Nur Kollege Keller besaß die Chuzpe, seinen Chef gelegentlich als „Nikolausi“ anzusprechen. Aber „Mad Max“ war sowieso ein Sonderfall.

Über die gemeinsamen Jahre im Polizeidienst hatte Viktor Korschinek die Rolle eines Mentors in Kowalskis Dasein eingenommen und immer schützend die Hand über den Hauptkommissar gehalten. Vor allem wenn dieser wieder einmal Mist innerhalb oder außerhalb des Dienstes gebaut hatte. Besonders in den Jahren von Kowalskis Alkoholabhängigkeit.

Viktor Korschinek neigte seinen Oberkörper nach vorne, was den Nähten und Knöpfen seines blau-weiß gestreiften Hemds, das sich über seinen mächtigen Leib spannte, stumme Pein bereitete. Er verbreiterte für sein Gegenüber das nicht wirklich herzliche Lächeln.

„Es interessiert mich noch weniger als die Keimdrüsen des Pontifex Maximus, wie du in solchen Fällen gerne zu bemerken und wesentlich drastischer zu formulieren pflegst, ob du Norman Gerber kennst oder nicht. Wichtig ist nur: Du lernst ihn so schnell wie möglich kennen! Er ist nämlich dein erster Kunde in meinem Laden und ich empfehle dir gottverdammtem polnischen Dickschädel in aller Dringlichkeit, dich mit Herrn Gerber derart vertraut zu machen, dass du ihn in kürzester Zeit für deinen verdammten siamesischen Zwillingsbruder hältst. Ich habe es mir in meinen großen runden Kopf gesetzt, diese Schmierbacke in absehbarer Zeit an die Wand zu nageln und für mindestens ein Dutzend Sonntage hinter Gittern verschwinden zu lassen. Und zwar Ostersonntage“, erklärte er gefährlich leise.

Er deutete mit dem fleischigen Zeigefinger seiner rechten Pranke auf die Akte vor Kowalski. Als junger Mann war Viktor Korschinek einer der besten Freistilringer des Landes gewesen. Natürlich in der Gewichtsklasse Schwergewicht. Und noch jenseits der 40 hatte er bei bundesweiten Polizeimeisterschaften mit jedem Gegner die Matte gewischt.

„Das ist nur die gottverdammte Personalakte dieses Puffmusikers. Wenn du die Fallakte anforderst, brauchst du einen Möbeltransporter.“ Viktor Korschinek schätzte eine direkte Sprache. Seine Lebenserfahrung hatte ihn gelehrt, dass sich die Deutlichkeit einer Ansprache umgekehrt proportional zum Potenzial möglicher Missverständnisse verhielt.

Rufus Kowalski kannte seinen Freund und künftigen Chef gut genug, um zu wissen, wann dieser die Spaßebene verlassen hatte. Genau in diesem Moment beispielsweise. Vor allem wenn Korschinek zum Begriff „polnischer Dickschädel“ griff, war Vorsicht geboten. Kowalski hatte kein Problem damit, dass sein Name keinen Rückschluss auf eine Herkunft aus uraltem hanseatischen Geld- und Kaufmannsadels erlaubte. Sein Urururgroßvater Tadusz Kowalski war im späten 19. Jahrhundert der Armut und dem Hunger seiner polnischen Heimat entflohen, um im Kohlebergbau des Ruhrgebiets sein Auskommen zu finden. Er siedelte sich im Dortmunder Stadtteil Aplerbeck an, wo er eine Arbeit in der Zeche „Vereinigte Schürbank & Charlottenburg“ fand, sich dauerhaft niederließ und seine Familie gründete. Noch Großvater Lech Kowalski, so erinnerte sich Rufus, hatte seine liebe Mühe mit der deutschen Grammatik gehabt, wenn er nach dem fünften Pils seinen Unmut über einen verhassten Mitmenschen zum Ausdruck brachte: „Er für mich pampig? Ich’ne ein inne Fresse!“

Kowalski zog die Akte näher zu sich heran und schlug sie auf. Obenauf lagen ein Personalbogen und eine farbige Fotografie Gerbers im Format DIN-A4. Sie zeigte einen gutaussehenden Mann, Ende Dreißig, Anfang Vierzig. Seine Gesichtszüge kennzeichneten markante Wangenknochen und ein ausgeprägtes Kinn. Die vollen dunklen Haare waren akkurat geschnitten und nach hinten gegeelt. Gerber erinnerte Kowalski auf den ersten Blick ein bisschen an Errol Flynn. Allerdings ohne Oberlippenbärtchen. Eine verträgliche Prise vom Gecken begleitete die Ausstrahlung des Mannes, dessen Physiognomie ein auf den ersten Blick unbestimmtes Element aufwies, das einen erfahrenen Ermittler wie Rufus Kowalski daran hinderte, sie mit einem sympathischen Menschen in Verbindung zu bringen. Er konzentrierte sich auf die dunklen Augen und konnte dieses Element plötzlich eindeutig bestimmen. Gerbers Augen blickten deutlich kälter, als es zum Lächeln des Gesichts gepasst hätte. Die Augen verströmten nicht den geringsten Hauch von Fröhlichkeit. Vielmehr vermittelten sie den Eindruck eines Raubtiers auf der Lauer.

Der Abgebildete trug ein bordeauxrotes Polohemd von Lacoste und eine maisfarbene Bundfaltenhose aus Cord. Die Slipper hatten den gleichen Farbton wie das Polohemd, über die Schultern war ein weißer Tennispullover gelegt. Bevor Rufus Kowalski die Prüfung der Fotografie beendete, fiel ihm die dicke goldene Armbanduhr am linken Handgelenk Gerbers auf. Er tippte auf eine Rolex und war bereit, einen hohen Betrag darauf zu setzen, dass es sich dabei um eine Daytona handelte: Der Penner war ein Daytona-Mann. Der Wecker war gelbgold mit schwarzem Ziffernblatt und die Lieblingsuhr so vieler wohlhabender Kurzschwänzchen mit Ego-Defiziten.

Rufus Kowalski hob den Blick wieder in Richtung seines Vorgesetzten, der sich eine Zigarre angezündet hatte. Genauer gesagt die Hälfte einer Zigarre. Viktor Korschinek rauchte bevorzugt italienische Toscani. Schwarz, stark und für einen „geheilten“ Ex-Raucher wie Kowalski stinkend wie verbrannte Autoreifen. So kurz vor der Rente kümmerte Viktor Korschinek das generelle, strenge Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden einen Dreck. Auf eine missbilligende Bemerkung des Leiters der Behörde hatte der Kriminaloberrat vor einiger Zeit mit dem Hinweis gekontert: „Sollten Sie Probleme damit haben, dass ich in meinem Büro gelegentlich eine qualme, dürfen Sie mir gerne bei vollem Pensionsanspruch einen Tritt in meinen breiten Hintern verpassen!“ Kowalski hasste vor allem den abgestandenen Geruch des kalten Dampfs. Er hatte sich im Laufe der Zeit förmlich in den Raum und dessen Inventar gekrallt und sich über die Jahre wie eine Kruste über das Büro gelegt. Freilich ließ er sich aus Respekt vor dem Freund nie etwas anmerken. Kowalski hielt den Zeitpunkt für günstig, das Schweigen zu beenden.

„Was hat Herr Gerber denn so Böses angestellt, dass er unsere geschätzte Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat? Mundraub? Wildpinkeln? Ich gehe sogar so weit, auf einen illegalen Handel mit klingonischen Disruptoren zu tippen. Ohne das Wissen der Admiralität der Sternenflotte?“

„Oh, viel, viel besser“, grinste Korschinek. „Du wirst Meister Gerber lieben. Eine richtige kleine Raupe Nimmersatt. Rund 30.000 Anlegern hat er innerhalb von knapp sechs Jahren mindestens 900 Millionen Löcher in den Sparstrumpf gerissen, wenn ich das einmal so blumig umschreiben darf. Herr Gerber hat einen verdammt erfolgreichen Ponzi-Trick durchgezogen.“

„What the fuck is a Ponzi-Trick?“

„Ein Betrugsmodell nach dem Schneeballsystem. Benannt nach dessen Erfinder, Charles Ponzi.“

„Muss ich den kennen?“

Viktor Korschinek bescherte der unverändert maulig-freche Auftritt seines Mitarbeiters empfindliche Verluste seiner Contenance. Obwohl er in Kowalski einen Freund sah, konnte dessen Abwehrhaltung den Oberkriminalrat bis zur Weißglut reizen. Er legte deutlich mehr Verärgerung und Nachdruck in seine Stimme.

„Den MUSST du kennen, wie du noch sehr viel mehr in ganz kurzer Zeit kennenlernen MUSST. Bei mir läuft keine Micky-Maus-Nummer mit drei Monaten Probezeit. Nicht einmal drei Minuten. Genauso wenig verlebst du hier in meinem Dezernat einen überbezahlten Urlaub auf dem Ponyhof. Zumindest nicht, solange dieser Laden noch unter meinen Fittichen steht. Und dein Fleißkärtchenkasten ist im Moment leerer als die griechische Staatskasse. Also, erledige deine verdammten Hausaufgaben in den mannigfaltigen Künsten der Wirtschaftskriminalität so schnell wie möglich und vor allen Dingen gründlich.

Wenn das alles hier zu hoch für dich ist, dich zu überfordern droht oder am Ende sogar langweilen sollte, dann stehst du auf Zehenspitzen so tief in der Scheiße, bis sie Oberkante Unterlippe schwappt. Eine Sekunde bevor das Signal zum Hinsetzen kommt. Dann war’s das mit der Bullerei für dich und du bekommst nicht einmal mehr die Chance, wenigstens Knöllchen hinter die Scheibenwischer falsch geparkter Autos auf der Königsallee zu pinnen. Ich kann und will deinen Arsch nicht länger retten. Ganz abgesehen davon endet mein Dauerdienst als Schutzengel für einen hirtenblöden Hund wie dich in knapp zwei Jahren sowieso, wenn ich in Rente gehe. Haben wir uns richtig verstanden? Rekrut? Und das erste und letzte Wort, das ich ab sofort aus den dreckigen Mäulern von euch Maden hören möchte, ist ‚Sir‘!“

„Sir, jawohl, Sir“, rief Kowalski mit lauter Stimme. Wenn einer von ihnen ein unangenehmes Gesprächsthema mit einer Anspielung aus dem Bereich ihrer gemeinsamen Leidenschaft für Filme entschärfte, verzogen sich augenblicklich Gram, Hader und Zwist. „Full Metall Jacket“ war einer von Korschineks Lieblingsfilmen. Besonders den ersten Teil über die Grundausbildung der Rekruten bei den Marines liebte der Kriminaloberrat.

Kowalski blickte seinen Vorgesetzten erwartungsvoll an. Der erwiderte den Blick.

„Was?“

„Herr Ponzi. Ich freue mich wie Bolle darauf, dass du mir seine Geschichte erzählst.“

Dabei klimperte er verführerisch mit den Wimpern. Viktor Korschinek fuhr seine Laune weiter herunter.

„Ich kann mich nicht erinnern, eine Märchenstunde auf den Dienstplan gesetzt zu haben. Verzieh dich gefälligst an deinen schönen neuen Arbeitsplatz, der den Steuerzahler ein kleines Vermögen gekostet hat, und lies die Geschichte selbst nach. Ich habe der Gerber-Akte eine Kopie der Ponzi-Story beigefügt.“

Rufus Kowalski stand mit einem militärisch-zackigen Ruck von seinem Stuhl auf, griff die Unterlagen, klemmte sie sich unter den rechten Arm und wandte sich zum Gehen. Dann entschloss er sich spontan, seinen Chef und Freund mit einem passenden Film-Zitat zu ehren. Er sprang auf den Tisch, salutierte und rief: „Oh Käpt’n, mein Käpt’n!“

Als er allein war, kehrte Viktor Korschinek vom Besprechungstisch zu seinem Schreibtisch zurück, nahm in seinem Bürosessel Platz und öffnete das Schubfach auf der rechten Seite. Mit der gleichen grimmigen Entschlossenheit, mit der er das allgemeine Rauchverbot in seinem Büro ignorierte, strafte er den Erlass des Behördenleiters mit Missachtung, der den Mitarbeitern des LKAs den Genuss von alkoholischen Getränken am Arbeitsplatz untersagte. Auf dem Boden des Schubfachs standen eine Flasche Calvados und ein halbes Dutzend Schwenker. Viktor Korschinek füllte einen davon mit einem knappen Fingerbreit des Apfelbrandes. Nur einen wänzigen Schlock, dachte er und nippte an dem Glas, während er sich zufrieden und genießerisch zurücklehnte und die Augen schloss.

Rückblende: März 2008

Bigelow Tanner III. erhob sich mit der majestätischen Schwerfälligkeit eines saturierten älteren Mannes aus dem gewaltigen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch. Dabei schloss er reflexartig den goldenen Knopf seines mitternachtsblauen Blazers. Er beugte sich über seinen riesigen Schreibtisch, um seinem Gast die Hand zu reichen. So reflexartig das Schließen des Knopfs ausgefallen war, so automatisch hatte er in diesem Augenblick sein synthetisches Standardlächeln für alle wesentlichen Herausforderungen des Geschäftsbetriebs aufgesetzt.

Der junge Mann, dem der Geschäftsführer der europäischen Dependance von „Korman, Oggelthorpe & Finch est. 1782“ die Hand zum Gruß anbot, war gut einen Meter achtzig groß, sportlich und schlank. Regelmäßiges Krafttraining hatte seine Schultern geformt. Er trug einen maßgeschneiderten Zweireiher aus dunkelgrauem Wollstoff. Die Töne des hellblauen Hemds und der dunkelblauen Seidenkrawatte waren perfekt aufeinander abgestimmt. Bigelow Tanner registrierte wohlwollend den makellosen Sitz des Krawattenknotens. Er hasste schiefe oder schlecht geknüpfte Binder beinahe noch mehr als einen Fehlbetrag nach Kassenschluss.

Während er sich wieder in seinen Sessel sinken ließ, wies er seinem Gast mit einer knappen Geste der Rechten den Besucherstuhl an. Er räusperte sich.

„Sie sind also Norman Gerber?“

Sein Gegenüber nickte mit einem gewinnenden, breiten Lächeln, dem ein makelloser Zahnstand in blendendem Weiß Wertigkeit verlieh. Norman Gerber hatte eine Maske aufmerksamer Freundlichkeit aufgesetzt, die er in zahllosen Stunden vor dem Badezimmerspiegel seines Appartements perfektioniert hatte. Für Bigelow Tanner hatte er tatsächlich nichts als Verachtung übrig. Der Druck der weichen kraftlosen Hand, deren Fläche zudem ungebührlich feucht gewesen war, erfüllte ihn mit anhaltendem Ekel. Aber der Ami, der die Sechzig lange überschritten haben musste, war nun einmal sein Boss. Und nicht nur das, er war auch der Schwager von Burlington M. Hayes, dem amtierenden CEO und Hauptaktionär der mehr als 200 Jahre alten amerikanischen Privatbank, für die Norman Gerber seit fast sechs Jahren arbeitete.

Während Tanner seinen Blick von seinem Gast abwandte, um sich zu sammeln, ließ Gerber den Blick über den Schreibtisch gleiten, dessen Anfertigung den Mahagonibaum an den Rand der Aufnahme in die Liste bedrohter Arten geführt haben musste. Die polierte Oberfläche von der Größe einer Tischtennisplatte glänzte makellos wie eine Glasscheibe und war praktisch leer. Direkt vor Tanner breitete sich eine Schreibunterlage aus dunkelgrünem Leder mit einer golden geprägten Einfassung aus. In zwei Zentimeter Abstand von der oberen Kante der Schreibtischunterlage ruhte ein schwarzer Füllfederhalter mit fein ziselierten Verzierungen aus Gold. Eines jener Modelle von Montblanc, mit denen Präsidenten, Potentaten und Diktatoren Kriegserklärungen und Befehle zum Völkermord zu unterzeichnen pflegten. Links von Tanner hatte die Telefonanlage ihren Platz, dahinter ein Flachbildschirm mit 24 Zoll Bilddiagonale, der deaktiviert war. Auf der anderen Seite des Tischs standen mehrere Art Déco-Bilderrahmen aus massivem Neusilber von grenzwertigem Geschmack. Keine Originale, wie Gerber mit sicherem Blick erkannte. Die Bilder, soweit sie der Gast von seiner Sitzposition aus einsehen konnte, zeigten 25 Jahre jüngere Ausgaben von Bigelow Tanner III., Burlington M. Hayes und Ronald Reagan beim freundschaftlichen Händedruck vor einer amerikanischen Flagge im Oval Office des Weißen Hauses. Daneben erkannte Gerber das schwarzweiße Halbportrait einer älteren Frau mit weißen, im Stil der Sechziger hoch toupierten Haaren. Sie trug eine weiße Bluse unter einer dunklen Kostümjacke und eine Kette aus Perlen um den Hals, die den Durchmesser von Murmeln aufwiesen, mit denen er als Kind gespielt hatte. Der Gesichtsausdruck der Frau, bei der es sich um Abigail Tanner, die Gattin seines Chefs handeln musste, belegte, dass sie bei der Erfindung des heißen Wassers unter keinen Umständen den entscheidenden Impuls geliefert hatte.

Rechts davon, für den Gast gut einsehbar, umrahmte das gediegene Silber die steinerweichend gestellte Porträtaufnahme einer jungen Frau, Ende Zwanzig bis Anfang Dreißig. Das Menschenkind erschien Gerber derart unattraktiv, ja hässlich, dass es jedem heterosexuell orientierten Mann die Zehennägel aufrollen musste. Bei der Abgebildeten handelte es sich unzweifelhaft um Priscilla Tanner, einziges und unverheiratetes Kind von Bigelow und Abigail Tanner. Was für ein abgehängtes Karussell, dachte Norman Gerber.

Tanner sprach ein beinahe akzentfreies Deutsch und genoss in der Brache einen tadellosen Ruf als seriöser Banker alter Schule. Aus dem Umstand, dass der Amerikaner mit seinem vollen weißen Haar einen Blazer trug und statt einer Krawatte ein goldgelbes Seidentuch mit dunklen Punkten zum weißen Hemd, schloss Norman Gerber, dass der Boss von „Korman, Oggelthorpe & Finch est. 1782, Europe“ heute keinen weiteren Kunden mehr empfangen würde.

Dem jungen Mann gelang es erfolgreich sein Unbehagen zu verbergen. Es hatte ihn in dem Moment beschlichen, als Frau Rademacher, die Sekretärin Tanners, ihn telefonisch einberufen hatte. Derart knapp formuliert, war die Anweisung eher einem militärischen Einsatzbefehl nahegekommen. Gerber hatte keine Ahnung, warum der Vorstandsvorsitzende ihn so spät am Nachmittag sehen wollte. Vor seinem inneren Auge ließ er die letzten Monate Revue passieren und hoffte, einen Fehler zu entdecken, der ihm unterlaufen war, um gegen eventuelle Vorwürfe noch entsprechende Ausflüchte formulieren zu können. Ein erfolgloses Unterfangen, das Gerbers Unruhe verstärkt hatte.

Tanner drückte auf den Knopf seiner Sprechanlage. Sekunden später schwebte Frau Rademacher in ihrer unnahbaren Alterslosigkeit sowie gedecktem Schneiderkostüm auf gleichermaßen teurem wie bequemem Schuhwerk in den Raum.

„Margarete, würden Sie uns bitte einen Kaffee bringen?“

Bigelow Tanner wandte sich an Norman Gerber, nachdem er die Bitte an seine Sekretärin geäußert hatte.

„Sie nehmen doch einen Kaffee?“

Norman Gerber nickte mit einem verbindlichen Lächeln.

„Bitte schwarz. Ohne Milch und Zucker. Vielen Dank.“

„Wunderbar. Meinen wie üblich. Vielen Dank, Frau Rademacher.“

Koffeinfrei, lauwarm, läpprig, mit viel Milch und Zucker, schoss es Norman Gerber sarkastisch durch den Kopf. Und mit einem Nougat-Igelchen auf der Untertasse. Für später. Als Belohnung für das kleine Mädchen auf dem Spielplatz. Wenn es lieb zum Zauberer gewesen ist. Und versprochen hat, sein Geheimnis nicht zu verraten.

Bigelow Tanner warf einen Blick auf seine Uhr, die sein Mitarbeiter als Kenner sofort als „Lange 1 Zeitzone“ aus Platin identifizierte: Die Zwiebel musste mindestens 30.000 Euronen gekostet haben. Tanner lächelte seinem Gast zu und strengte sich dabei redlich an, seiner mimischen Bemühung einen Anflug von Konspiration zu verleihen.

„Es ist fast 17 Uhr. Da könnten wir uns vielleicht noch einen kleinen Cognac zu unserem Kaffee gönnen. Was meinen Sie, Norman? Ich darf Sie doch Norman nennen?“

Gerber entspannte sich und nickte erleichtert. Wenn Tanner mich mit Vornamen ansprechen und mit mir einen Gebäudereiniger bröseln will, habe ich mit Sicherheit keinen Mist gebaut. Er nickte seinem Boss zu.

Nachdem der Kaffee serviert war, drehte sich Bigelow Tanner mit seinem Stuhl zu einem Schränkchen in seinem Rücken um, das Gerber aus der Epoche des Louis-seize identifizierte. Er stammte aus gutem Hause und war entsprechend bewandert in Details materieller Wertigkeiten und ihrer Herkunft aus den unterschiedlichen Stilepochen. Nicht zuletzt deshalb hatte er sich dazu entschlossen, nach seiner Bundeswehrdienstzeit seine Laufbahn in Richtung Bankgewerbe zu lenken. Sie schien die einzige, die ihm die Chancen bieten konnte, reich zu werden, die Schmach der Pleite seines Vaters zu tilgen und an all die Dinge im Leben zu gelangen, die schön und teuer waren. Dazu zählte Norman Gerber: Goldene sportliche Uhren, antike Möbel, edle Getränke, vielgängige Menüfolgen in Sterne-Restaurants, maßgeschneiderte Kleidung, handgefertigte Budapester aus Pferdeleder und Sportwagen. Am besten von Porsche. Und natürlich jede Menge unersättliche Muschis, schloss Gerber seine Gedanken.

Sein Vorgesetzter hatte das Schränkchen, das ihm als Bar diente, geöffnet, zwei Flaschen herausgenommen und so vor Norman Gerber auf dem Schreibtisch aufgebaut, dass dieser die Etiketten erkennen konnte. „Vom wirklich Allerfeinsten“, stellte der junge Mann fest. Links sah er einen „Alambic Classique“ von 1953. Ein Cuvée aus mehreren Grand Champagne Cognacs mit 45,5 Umdrehungen. Rechts entdeckte er eine echte Rakete: Einen „A.E.DOR Vieille Reserve No 10“, Jahrgang 1922. 41,5 Umdrehungen. Wenn Gott am sechsten Schöpfungstag ein besserer Job geglückt wäre, hätte er sein Werk mit diesem Tropfen angemessen feierlich begießen können, schoss es Gerber durch den Kopf.

Während Norman Gerber die Flaschen prüfte, kam er einmal mehr zu dem Schluss, dass Tanner ein verdammter Schmock war. Einer, der unverhüllt mit Reichtum und dessen Insignien protzte, indem er einem kleinen, vor zwei Stunden noch gänzlich anonymen Angestellten diese Buddeln vor die Nase setzte. Gerber legte die Quote einer Wette mit sich selbst auf 50:1 fest, Tanner als Hochleistungs-Schmock entlarvt zu haben. Ein Connaisseur mit Stil hätte den Cognac in Kristallkaraffen anonymisiert. Während Gerber die Flaschen betrachtete, ihren Wert treffsicher auf 350, beziehungsweise knapp 1000 Euro taxierte, hatte sich Bigelow Tanner erhoben und aus einem Sideboard an der rechten Wand des Büros die größten Glasschwenker entnommen, die Norman Gerber je gesehen hatte.

„Von welchem darf ich Ihnen einschenken?“, fragte Tanner mit der Jovialität eines guten Onkels, der sich einem kleinen blondbezopften Mädchen mit einer Tüte Nougat-Igeln näherte. Bischt du der Zauberer?, dachte Norman Gerber und grinste innerlich, während sich sein Chef vor seinem inneren Auge in Gerd Fröbe verwandelte, der den Kindermörder in „Es geschah am helllichten Tag“ so unnachahmlich pervers verkörpert hatte. In der Bank kursierten eindeutige Gerüchte über Tanners Hang zu kleinen Mädchen und Jungs. In Norman Gerbers Agenda seiner Karriereplanung waren entsprechende Recherchen fest eingeplant, um diese Gerüchte mit Fakten zu untermauern. Solches Wissen verhielt sich zu künftiger Macht und Einfluss wie Materie zu Energie. Frei nach Albert Einsteins Relativitätstheorie.

„Bitte, treffen Sie die Entscheidung, Sir. Ich bin Ihr Gast.“ Norman Gerber lächelte so herzlich wie ein Staubsaugervertreter, nachdem die Hausfrau die Tür geöffnet hatte.

„Wie Sie meinen, Norman.“ Tanner griff zum 22er und ließ zwei ordentliche Portionen über den Rand in die Gläser gleiten, der dünn wie ein Insektenflügel schimmerte. Auf dieses Wahlergebnis hätte ich meinen Arsch verwettet, grinste Gerber innerlich.

„Kennen Sie sich ein wenig mit Cognac aus?“, fragte Tanner.

Darauf kannst du Zement scheißen, du Schwanzlurch, dachte Norman Gerber. Was glaubst du, mit was sich meine Alten ihr Hirn und unser Vermögen weggesoffen haben?

„Ein wenig, Sir.“ Dazu glückte ihm ein verbindliches, freundliches Lächeln frei von jeglichem Arg. „Diese wirklich bemerkenswerten Tropfen bewegen sich jedoch weit außerhalb meiner finanziellen Möglichkeit. Zumindest derzeit noch. Und zu meinem größten Bedauern, wie ich betonen möchte.“

Gerber bettete den Stil des Schwenkers, den ihm sein Vorgesetzter inzwischen gereicht hatte, zwischen Mittel- und Ringfinger der Linken und versetzte die dunkelbraune Flüssigkeit in eine sanfte Drehbewegung. Er schloss die Augen und hielt sich das Glas unter die Nase. Helm ab zum Gebet! Die voluminösen Aromen und die pralle Fülle des fast 90 Jahre alten Cognacs explodierten förmlich auf seinen Schleimhäuten. Darum geht es wirklich im Leben, schoss es ihm durch den Kopf. Er führte das Glas an seinen Mund und erlaubte dem Inhalt tropfenweise auf seine Zunge zu fallen. Er hob innerlich ab, als deren Geschmacksknospen ausflippten: Himmel, Arsch und Wolkenbruch. Von diesem Stoff bitte einen ganzen Anzug!

„Der Hinweis auf Ihre finanzielle Situation liefert einen vortrefflichen Einstieg in unser Gespräch, das nun einen durchaus offiziellen Charakter annehmen sollte. Sie traten im Juni 2002 bei uns ein und waren in den letzten beiden Jahren für das Haus als Finanzberater tätig. Für ein jährliches Salär von 55.000 Euro, wie ich Ihrer Personalakte entnommen habe. Zuzüglich Boni und Gratifikationen, die Ihnen im Schnitt noch einmal rund 40.000 Euro per Annum eingebracht haben. In Anbetracht Ihres Einsatzes und der daraus resultierenden respektablen Erfolge, halte ich es nunmehr für an der Zeit und für angemessen, Ihnen die entsprechende Wertschätzung von „Korman, Oggelthorpe & Finch“ für Ihr Engagement angedeihen zu lassen.“

Bigelow Tanner unterbrach seinen Monolog, um an seinem Cognac zu nippen.

„Wie Sie wissen, pflegt unser traditionsreiches Haus nicht die bedenklichen Gepflogenheiten der Branche, ihre Mitarbeiter in der Finanzdienstleistung gleich nach dem ersten Abschluss mit unangemessen hohen Boni in sechs- oder gar siebenstelliger Höhe zu überschütten. Wir sind der Meinung, ein solches Gebaren korrumpiert einen Mitarbeiter im Zweifelsfall viel zu leicht und verleitet ihn am Ende dazu, sein eigenes Interesse über das unserer Kunden zu stellen. Wer dagegen seine Bereitschaft unter Beweis stellt, sich für ein vergleichsweise bescheidenes Salär bei „Korman, Oggelthorpe & Finch“ ins Zeug zu legen, zeigt damit nicht zuletzt Loyalität und Weitblick. Wir sind in Ihrem Fall zu der Ansicht gelangt, dass die durch Ihr erfolgreiches Engagement belegte Loyalität mit einer deutlichen Verbesserung Ihres Einkommens vergütet werden sollte. Ab sofort verdoppeln sich Ihre jährlichen Bezüge auf 110.000 Euro.“

Tanner brach ab, um seine Worte wirken zu lassen. Norman Gerber hatte bei der Nennung der neuen Gehaltssumme sichtbar nach Luft geschnappt und einen ungebührlich großen Schluck seines Cognacs zu sich genommen. Er entschloss sich zu einem Strahlen, was ihm mit mehr Aufrichtigkeit gelang als alle anderen mimischen Anstrengungen geheuchelter Freundlichkeit, die er zur Schau getragen hatte, seit er dieses Büro betreten hatte.

„Was soll ich sagen, Sir? Ich bin sprachlos. Meinen aufrichtigen Dank. Ich werde als Gegenleistung meine Anstrengungen verdoppeln, um Sie nicht zu enttäuschen.“

„Das freut mich. Das freut mich. Sie werden sich künftig verstärkt dem Geschäft mit Derivaten widmen. Sie erhalten zu Ihrer Entlastung eine Gruppe von freischaffenden Untervermittlern für das Tagesgeschäft. Von deren Provisionen stehen Ihnen 30 Prozent zu. Ich müsste mich schwer in Ihnen täuschen, wenn es Ihnen nicht gelingen sollte, binnen Ihrer Jahresfrist ihr Einkommen zu verdreifachen.“

Die Männer standen auf, reichten sich die Hand und erhoben die Schwenker, die wie gläserne Luftballons über ihren linken Handflächen schwebten.

„Auf Ihren Erfolg und auf das weiterhin blühende Gedeihen unseres Hauses.“

Bigelow Tanner gelang es, Norman Gerber mit seiner pathetischen Stimmung anzustecken. Gerber hatte einen bedeutenden Schritt geschafft. Nicht nur wegen der erfreulichen Verbesserung seines Einkommens, sondern weil sich mit dem Einstieg in den Handel mit Derivaten neue Möglichkeiten boten, die er in jedem Falle nutzen wollte. Weniger zum Wohl von „Korman, Oggelthorpe & Finch“. Das ging ihm sonst wo vorbei. Bereits in jungen Jahren hatte Norman Gerber beschlossen, für den Rest seiner Tage ausschließlich das eigene Wohl im Auge zu behalten. Komme was da wolle. In dem Moment, als der letzte Tropfen des alten Cognacs seine Kehle hinabrann, bekräftige er den Vorsatz, diese Pläne konsequent in die Tat umzusetzen.