Mami 1797 – Meine Freundin Taiga

Mami –1797–

Meine Freundin Taiga

Roman von Svanberg Susanne

  Der Busfahrer bremste abrupt. Die meisten Fahrgäste wurden unsanft nach vorn geschleudert. Eini-ge schrien erschrocken auf. Grund für dieses Manöver war ein klei-

nes Mädchen, das über die Straße rannte, ohne sich umzusehen. Autofahrer hupten empört, Radfah-

rer wichen mit kreischenden

Bremsen aus. Der Mann hinter

dem Steuer des Linienbusses fluchte.

  Jenny Holtorff bemerkte nichts von der Aufregung, die sie verursachte. Sie war selbst in heller Erregung und nahm ihre Umwelt deshalb kaum mehr wahr. Ohne sich umzusehen lief sie weiter. Der blonde Pferdeschwanz an ihrem Hinterkopf wippte. Die Strähnen, die sich daraus gelöst hatten, klebten feucht an Jennys rundlicher Kinderstirn. Obwohl sie ihre Sicht erheblich beeinträchtigten, strich das Mädchen sie nicht zurück.

  Nur eines hatte Jenny im Sinn: Sie wollte zu ihrer Mami und das so schnell wie möglich. Ihr wollte sie erzählen, was sie eben erfahren hatte. Es war eine schlimme Neuigkeit. Eine, die Jenny aufwühlte, entsetzte und ihre kleine heile Welt zusammenbrechen ließ.

  Ihre Mami mußte etwas dagegen tun, und Jenny war überzeugt davon, daß die Frau, der sie uneingeschränkt vertraute, keinen Moment zögern würde.

  Jenny erreichte die andere Straßenseite und hastete weiter. Ihr Herz schlug wie wild, und das schmerzhafte Stechen in ihrer Brust wurde immer schlimmer. Sie bekam fast keine Luft mehr, schnappte und keuchte. Doch sie biß auf die Zähne und rannte, als gelte es, sich vor einer Flutwelle in Sicherheit zu bringen.

  Völlig außer Atem erreichte Jenny das städtische Klinikum, in dem ihre Mutter als Nachtschwester arbeitete. Ausgerechnet heute hatte sie für eine Kollegin den Tagdienst übernommen.

  Der Krankenhauskomplex bestand aus mehreren großen Gebäuden, die sich um eine Parkanlage mit altem Baumbestand gruppierten. Ganz versteckt lagen die verschiedenen Blocks hinter dichtem Grün. Fremde mußten die Wegweiser beachten, um sich hier zurechtzufinden.

  Jenny brauchte das nicht. Sie kannte sich gut aus. Keuchend erreichte sie die Chirurgie, stürmte durch die sich automatisch öffnende Glastür und lief dann gebückt an dem Schalter vorbei, über dem »Anmeldung« stand.

  Hinter der Glasscheibe saß ein Mann, der immer ein paar Bonbons für Jenny hatte. Doch heute wollte sie nicht aufgehalten werden. Was sie mit ihrer Mami besprechen mußte, war dringend und duldete keinen Aufschub.

  Im Fahrstuhl, der glücklicherweise gleich zur Verfügung stand, schnappte Jenny erschöpft nach Luft. Ihr kleines hübsches Gesichtchen war rot und schweißbedeckt. Der sonst so strahlende Blick ihrer blauen Kinderaugen war traurig und sorgenvoll.

  Ohne zu zögern stürmte Jenny eine Minute später ins Schwesternzimmer. Sie hatte Glück. Anke Holtorff hielt sich am Schreibtisch auf, um dort die Patientenkartei auf den neuesten Stand zu bringen.

  Sie erschrak, als sie ihr Töchterchen sah. »Jenny, was ist?« murmelte sie und sprang auf. Dabei hatte sie ein schlechtes Gewissen dar-über, daß sie das Kind heute hatte allein lassen müssen. Normalerweise kam das nicht vor. Anke verließ die Wohnung abends, wenn Jenny schon schlief und kam vom Dienst zurück, noch bevor die Kleine erwachte. Wenn nachts etwas war, konnte sich Jenny an den Wohnungsnachbarn wenden, einen jungen, leider erfolglosen Grafiker, den sie beide gern mochten. Außerdem war Anke jederzeit telefonisch erreichbar.

  »Mami, Mami, du mußt Taiga helfen!« Jenny stürzte sich in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter und schluchzte verzweifelt. Sie preßte ihr heißes Gesichtchen an den weißen Kittel, den Anke trug und der von dieser stürmischen Umarmung ein paar feuchte Flecken bekam.

  »Ist sie wieder krank?« forschte die dunkelblonde Frau bekümmert. Taiga war eine dreijährige Stute, die im Reiterhof untergebracht war, in dem Jenny zweimal in der Woche Voltigier-Unterricht bekam. Der Kleinen machte diese Sportart sehr viel Freude, weil sie nicht nur Geschicklichkeit in der Bewegung, sondern ganz besonders ein gutes Verhältnis zu den Pferden erforderte. Jenny liebte alle Tiere, Pferde aber ganz besonders, weshalb sie mit viel Begeisterung nachmittags zum Training ging.

  »Schlimmer, viel schlimmer«, ächzte die Achtjährige schnupfend.

  Zärtlich und tröstend strich Anke über das feuchte blonde Haar ihres Töchterchens. »Erzähl«, bat sie leise.

  Das wäre nicht nötig gewesen, denn jetzt brach es leidenschaftlich aus Jenny hervor: »Der Bernauer will sie töten lassen! Ich hab’ gehört, wie er es zum Gustl gesagt hat.« Jenny weinte lauter.

  Der Gustl war der Verwalter vom Reiterhof. Ein grober, aber gutmütiger Mann, der ein Herz für Kinder und auch für Pferde hatte. Der Bernauer dagegen war ein eiskalt rechnender Unternehmer, der die Stute Taiga angeschafft hatte, um Renngewinne mit ihr zu erzielen.

  »Taiga kann doch nichts dafür, daß sie immer wieder Husten hat und nicht starten kann. Und daß der Tierarzt so teuer ist, dafür kann sie auch nichts«, jammerte Jenny. »Jetzt sagt der Bernauer, daß er nur Kosten mit ihr hat und daß er sie auch nicht verkaufen kann, weil niemand die Taiga mag. Er hat es schon probiert. Aber immer, wenn jemand kommt, hat Taiga einen Hustenanfall. Und jetzt hat er genug, sagt der blöde Bernauer. Der ist ja so gemein! Taiga ist das liebste Pferd im Reiterhof. Aber das weiß der nicht einmal. Sie darf nicht sterben! Wir müssen ihr helfen, Mami. Sie ist doch erst drei Jahre alt. Du mußt ihn gleich anrufen, den Bernauer. Bitte, Mami. Die Taiga soll schon morgen eine Spritze bekommen. Dann schläft sie ein und wacht nie mehr auf. Nein, das darf er nicht tun! Das darf er nicht!« Jenny klammerte sich weinend an ihre Mutter.

  So gern Anke in diesem Fall geholfen hätte, sie sah keine Möglichkeit. Es fiel ihr schwer, das einzugestehen, denn sie würde Jenny damit unsagbar enttäuschen. Vorsichtig versuchte sie, das Kind darauf vorzubereiten.

  »Ich fürchte, Herr Bernauer wird auf mich nicht hören. Für ihn zählen nur die Kosten, die er mit Taiga hat. Pensionsgeld, Arztrechnungen, Auslagen für den Pfleger.«

  »Wir müssen ihm Taiga abkaufen.« Hoffnungsvoll sah Jenny zu ihrer Mutter hoch. Tränen glänzten in ihren Augen, ihre Lippen zuckten.

  In Gedanken überschlug Anke ihre kümmerlichen Ersparnisse. Viel war das nicht, was sie für einen geplanten Urlaub mit Jenny zur Seite legen konnte. Von ihrem Gehalt als Krankenschwester konnte sie zwar die laufenden Kosten bezahlen, aber Extrawünsche ließen sich nicht erfüllen.

  »Herr Bernauer wird mehr verlangen, als wir bezahlen können«, murmelte Anke und dachte gleichzeitig daran, daß auch der Unterhalt des Pferdes für sie vermutlich viel zu teuer war.

  »Dann fragen wir eben den Papi, ob er uns Taiga schenkt. Der Papi hat Geld genug.« Jenny schlang ihre Arme noch fester um Ankes Oberkörper.

  Die hübsche junge Frau zuckte merklich zusammen. Seit der Scheidung vor knapp zwei Jahren war sie darum bemüht, Julius Holtorff zu vergessen. Der Narkosearzt, mit dem sie sieben Jahre lang verheiratet gewesen war, hatte sie tief enttäuscht. Sie hatte ihn geliebt, hatte ihm vertraut, doch er belog und hinterging sie auf gemeine, verletzende Art. Jahrelang unterhielt er ein Verhältnis zu einer etwas älteren Kollegin, die eine gutgehende Praxis leitete und auch durch eine größere Erbschaft sehr vermögend war. Wenn er sie besuchte, sprach er Anke gegenüber von Kongressen, Tagungen und Weiterbildungskursen, bis diese Frau bei Anke auftauchte und alle Lügen widerlegte.

Anke hatte sich sofort von ihrem Mann getrennt und lehnte es ab, finanzielle Unterstützung von ihm anzunehmen. Das sollte sich auch nicht ändern. Niemals wollte sie Julius um etwas bitten, niemals wollte sie ihn wiedersehen. Nur durch Zufall hatte sie erfahren, daß er zu dieser Frau gezogen war und daß er sie inzwischen geheiratet hatte.

  »Nein«, antwortete Anke rasch und sehr bestimmt. Sie schlug ihrem Töchterchen normalerweise keinen Wunsch ab, doch in diesem Fall mußte sie es tun. »Du weißt doch, was wir uns vorgenommen haben. Wir beide schaffen es allein, ohne die Hilfe deines Vaters.«

  Anke hatte ihr Töchterchen soweit wie möglich aus der Scheidungssache herausgehalten und dem Kind damit bittere Erfahrungen erspart. Da sich Julius schon früher kaum mit Jenny befaßt hatte, vermißte die Kleine ihn auch nicht. Er war sofort damit einverstanden, daß Anke die Erziehung des gemeinsamen Kindes übernahm. Er legte auch keinen Wert darauf, Jenny zu sehen.

  Das kleine Mädchen schnupfte unglücklich. »Aber… aber wir können doch nicht zulassen, daß Taiga getötet wird. Mami, ich hab’ sie so lieb…«

  Anke drückte das Kind fest an sich und hoffte, daß in den nächsten Minuten niemand ins Schwesternzimmer kam. Kinder hatten hier nämlich keinen Zutritt. Daß dies ein Sonderfall war, würden wohl weder die Kolleginnen, noch die Ärzte verstehen. »Ich weiß, mein Schatz, wie liebevoll du dich um Taiga kümmerst, und ich will ja auch nicht, daß ihr etwas passiert. Vielleicht kann ich mit Herrn Bernauer reden. Umstimmen wird er sich nicht lassen, aber vielleicht überläßt er uns Taiga zu einem vernünftigen Preis.«

  Dankbar sah Jenny hoch. Sie wußte, daß alles gut werden würde, wenn sich ihre Mami um die Sache kümmerte. Ihre Mami würde den herzlosen, unsympathischen Bernauer schon umstimmen. Jenny war zuversichtlich.

  »Das ist gut«, seufzte sie erleichtert. »Aber du mußt gleich zu Bernauer gehen, bevor es zu spät ist.«

  »Gleich nach Dienstschluß«, versprach Anke, die vom Erfolg ihrer Mission nicht überzeugt war. »Ich komme also etwas später. Wenn du Langeweile hast, kannst du zu Marcel hinübergehen.«

  Jenny nickte getröstet. Sie wußte, daß sie jetzt wieder gehen mußte, denn die Mami hatte sich um ihre Arbeit zu kümmern. Auf dem Heimweg würde sie allerdings nicht so unvorsichtig die Straßen überqueren, denn jetzt war ja die Gefahr gebannt. Taiga würde überleben, und sie gehörte vielleicht schon bald ihr, Jenny. Was das bedeutete, daran wagte das kleine Mädchen noch gar nicht zu denken. Schon lange hatte sich Jenny ein eigenes Pferd gewünscht, allerdings nur heimlich, denn sie wußte ja, wie teuer so ein Tier war. Aber nun, nun ging ihr größter, ihr sehnlichster Wunsch vielleicht in Erfüllung. Sie würde das schönste und liebste Pferd bekommen, das es gab! Noch wagte sich Jenny nicht zu freuen. Aber schon der Gedanke allein machte sie schwindlig.

*

  Unendlich langsam stieg Anke aus ihrem Kleinwagen. Normalerweise konnte sie gar nicht schnell genug in die Dreizimmerwohnung im Hochhaus kommen, weil sie sich nach jeder kurzen Trennung auf das Wiedersehen mit ihrem Kind freute.

  Jenny bedeutete für sie Glück und Zufriedenheit. Das Kind half ihr, die schlimme Enttäuschung, die ihr Julius bereitet hatte, zu überwinden und wieder Zuversicht und Lebensfreude zu finden. Wenn Anke mit ihrem Töchterchen zusammen war, dachte sie nie an den untreuen Julius. Sie war sogar froh darüber, ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kind schenken zu können, ohne auch noch die Bedürfnisse und Interessen eines Ehemannes berücksichtigen zu müssen.

  Heute allerdings zögerte Anke das Zusammentreffen mit Jenny so lange wie möglich hinaus. Sie benutzte nicht den Lift, sondern stieg die Stufen hoch, obwohl sich ihre Wohnung in der zehnten Etage befand. Je weiter sie sich diesem Stockwerk näherte, um so langsamer wurde Anke. Immer wieder blieb sie stehen und überlegte, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Nein, sie konnte nicht anders handeln, als sie es getan hatte. Jenny würde das allerdings nicht verstehen, zumal ihr Anke nicht die Wahrheit sagen konnte. Mit acht Jahren war ein Kind noch nicht alt genug, um die oft hinterhältigen Gedanken der Erwachsenen zu begreifen. Anke hätte es auch gar nicht gewollt. Sie tat alles, um Jenny die kindliche Unbekümmertheit so lange wie möglich zu erhalten. Früh genug würde sie erfahren müssen, wie egoistisch und skrupellos die Erwachsenen waren.

  Wie Anke erwartet hatte, lief ihr das Kind freudig entgegen.

  »Was hat er gesagt, Mami?« war Jennys Frage. »Verkauft er Taiga?«

  Anke Holtorff schluckte. Sie hatte das Gefühl, daß da etwas war, das ihre Kehle zudrückte, so daß sie keinen Ton hervorbrachte. Traurig schüttelte sie den Kopf.

  Das Leuchten in Jennys großen blauen Augen erlosch schlagartig.

  »Nein?« fragte sie zweifelnd. Panik schwang in diesem einen kleinen Wort mit.

  Die Frau, die mühsam die letzte Stufe nahm, schluckte erneut.

  »Es… es tut mir leid, Jenny«, stotterte sie und wagte das Kind nicht anzusehen.

  »Er gibt Taiga nicht her? Will sie lieber töten?« vergewisserte sich das blonde Mädchen mit ängstlichem Blick.

  Anke nickte kaum merklich. Sie folgte Jenny in die Wohnung, schlüpfte im Flur aus der Jacke und hing sie umständlich über den Bügel. Irgendwie fürchtete sie sich davor, Jennys trauriges Gesichtchen sehen zu müssen.

  »Was hat er gesagt, der gemeine Bernauer?« Jenny schien noch immer Hoffnung zu haben.

  Es war Anke sofort klar gewesen, daß sie die Äußerung des Fabrikanten Bernauer nicht wiederholen konnte. Noch viel weniger konnte sie über sein beschämendes Verhalten reden. In einigen Jahren, wenn Jenny älter war, würde Anke ihr erzählen, wie verachtungswürdig dieser Mensch wirklich war. Anke mochte gar nicht daran denken, wie taxierend er sie betrachtet hatte. Mit Leuten, die eine Bitte an ihn hatten, verfuhr der arrogante Unternehmer Bernauer wohl immer so.