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Mein Leben mit Psychose

Christine Kuhn

Mein Leben mit Psychose

Der Seiltanz zwischen Dunkel und Licht

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Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-95894-016-1 (Print) / 978-3-95894-017-8 (E-Book)
© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2016
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, Vorbehalten.
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Widmung

Dieses Buch widme ich allen Menschen, die durch psychische Krankheit an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

Ich widme es jenen Menschen, die das Anders-Sein auf existentielle Weise erleiden und keine Worte finden, ihr wahres Wesen zu zeigen, da viele Vorurteile die Kommunikation verunmöglichen.

Ich spreche auch jene Menschen an, denen Außenstehende ihre Beeinträchtigung nicht ansehen und deren täglicher Kampf gegen die Windmühlen fehlender Anerkennung sie in ein Gefühl von Ohnmacht und Resignation treibt.

Außerdem widme ich die Zeilen ihn diesem Buch jenen Menschen, die ihre Innenwelt verleugnen, da sie schon zu oft gehört haben, ihre Seelenqualen und ihre eigene Wahrnehmung ihres Anders-Seins sei nur Einbildung. Allen diesen Menschen wünsche ich, dass die Zeilen dieses Buches ihnen Mut und Kraft geben, neue Wege oder alternative Türen zu entdecken, welche lebenswert sind und neue Horizonte eröffnen.

Inhalt

Danksagung

1. Kapitel: Von dunklen Dämonen bedrängt

2. Kapitel: Erstarrte Muttergefühle

3. Kapitel: Medikamente vertreiben die Dämonen

4. Kapitel: Auf Umwegen zu einer rettenden

5. Kapitel: Die Trennung von meiner Familie

6. Kapitel: Langsamer Weg zu neuem Leben

7. Kapitel: Ringen zwischen Einsamkeit und Freizeitgestaltung

8. Kapitel: Sonnenstrahlen zwischen Gewitterwolken

9. Kapitel: Positive Weichen für Andreas aber Stürme im Lebensmeer

10. Kapitel: Ein klarer Abschied und verloren auf dem falschen Planeten

11. Kapitel: Annäherung zwischen Kerzenschein und gemeinsamen Ferien

12. Kapitel: Humor als Gratwanderung und befreiende Ruhe

13. Kapitel: Ein Kreisverkehr ohne rettende Ausfahrt

14. Kapitel: Schweigende Gleichgesinnte und Fremdheit der Nachbarn

15. Kapitel: Veränderte Aufgaben und überlagerte Welten

16. Kapitel: Auftanken in stillen Oasen und gegensätzliche Pole

17. Kapitel: Zwei Menschen auf verschiedenen Planeten

18. Kapitel: Eine klare Diagnose ohne Abklärung

19. Kapitel: Gemeinsame Ferien und unerhörte Schubladisierung

20. Kapitel: Improvisiertes Leben und klare Wege unserer Kinder

21. Kapitel: Neue Gleise der Hoffnung

Über dieses Buch

Anhang: Gedichte in der Dunkelheit

Zur Autorin

Danksagung

Mein Dank gilt vor allem jenen Menschen, die mich durch meine schwierige Zeit von 2004 bis heute hindurch begleitet haben, eine Zeit, in der ich an einer Psychose erkrankte, die mein ganzes Leben veränderte.

Zu zuallererst danke ich dem langjährigen Leiter der Kreativwerkstatt des Bürgerspital Basel, der inzwischen pensioniert worden ist. Er hat mich in unzähligen einfühlsamen Gesprächen begleitet und immer wieder versucht, meiner Seele Boden zu geben. Trotz der großen Dunkelheit, die er bei meinem Eintritt im Jahre 2004 in meiner Seele gespürt hat, war er so mutig, mich als Mitarbeiterin anzustellen. Ich danke auch allen Betreuerinnen und Betreuern der Werkstatt, die mir in diesen 11 Jahren in schwierigen Momenten zugehört, mich verstanden, mich künstlerisch beraten oder mich in meinen Fähigkeiten unterstützt und gefördert haben.

Weiters danke ich meinem Therapeuten, der mich mittlerweile 13 Jahre geduldig und verständnisvoll durch Höhen, Tiefen und Engpässe hindurch begleitet und auch heute gemeinsam mit mir Wege sucht, um die Dämonen zu bannen oder in Partnergesprächen mit meinem Mann Lösungen sucht, um diesen irdischen, oft recht steinigen Weg weiter zu gehen.

Ich danke jener Frau, zu der beide Kinder seit 2004 in 14-täglichen Abständen zu therapeutisch-kreativen Sitzungen gehen und in einfühlsamen Gesprächen oder auf spielerische Weise Freude, Sorge und Leid verarbeiten können.

Ich danke allen Menschen, die mich gestärkt, begleitet oder inspiriert haben und so meinen Weg gekreuzt oder bereichert haben.

Nicht zuletzt danke ich Thomas, meinem Mann, der seit 2004 für die Kinder da ist und für sie durch Stürme und Unwegsamkeiten geht. Außerdem danke ich ihm, dass er immer wieder mein Anders-Sein akzeptiert und durch geduldiges Lesen des Manuskripts sowie dem Ergänzen fehlender Jahreszahlen zur Veröffentlichung dieses Buches beigetragen hat.

1. Kapitel: Von dunklen Dämonen bedrängt

Wenn ich an die tiefe Verbundenheit zurückdenke, die zwischen meinem Sohn Johannes und mir bestand, dann ist das Leben für mich immer wieder ein großes, mysteriöses Geheimnis. Mein Sohn wurde 1997 geboren und diese Verbundenheit, die ich mit einer Blumenwiese vergleichen möchte, dauerte etwa zwei Jahre an. In diese große, sensible und liebevolle Nähe drängte sich damals meine Krankheit, die Vision und der große Wunsch, Märchenerzählerin zu werden. Bis zum 6. Monat der Schwangerschaft hatte ich in einer anthroposophischen Klinik gearbeitet, in die mich mein ehemaliger Beruf als Krankenschwester geführt hatte.

Diese Vision kam nicht von ungefähr. Wenn ich zurückblicke, hat diese Vision ihre eigene Geschichte. Schon als Kind war ich der Märchenwelt näher als der alltäglichen Welt. Nun wollte ich diese Welt zu einem Lebenspfeiler werden lassen. Verbinden wollte ich diesen Traum mit dem Beruf der Sterbebegleiterin und Musiktherapeutin, da ich mich der reinen Seelsorge viel näher fühlte als dem Beruf der Krankenschwester.

Als Johannes etwa zwei Jahre alt war, begann dieser Wunsch durch ein Telefonat mit dem Leiter einer Märchenstiftung Realität zu werden. Ich erhielt einen Platz für ein Märchenwochenende in Lützelflüh, von dem ich in einer Zeitung gelesen hatte. Schon am ersten Tag war ich davon begeistert. Der Leiter des Seminars erzählte das Märchen der „Sieben Raben” der Brüder Grimm, das ich auch heute noch liebe. Ich erfuhr auch, dass in dieser Märchenstiftung eine Ausbildung zur Märchenerzählerin möglich war. Märchen waren und sind für mich heute noch Seelenbegleiter. Sie erzählen durch die Bilder ihrer Handlung von allen Prüfungen, Irrungen und Wirrungen, die das Leben bereit hält. Ebenso kommt die Erfüllung, wenn die Prüfungen bestanden sind.

Zurück zu Hause, in Muttenz, erzählte ich Thomas von meinem großen Wunsch, in diesem Märchenstift die Ausbildung zur Märchenerzählerin zu machen. In seinem Basler Humor sagte Thomas nur: „das brauchst Du nicht”. Ich war damals nicht fähig, für mich selber zu bestimmen, dass ich diese Ausbildung auf jeden Fall machen wollte. Viel eher fühlte ich, dass durch diesen Satz eine Türe vor meiner Nase zugeschlagen wurde.

Ich muss hier bemerken, dass ich noch nie eine bodenständige Verbindung zur Erde in mir gespürt habe. Das Leben war für mich keine Selbstverständlichkeit, viel eher sehnte ich mich als Kind schon nach dem jenseitigen Leben. In der Zeit meiner Tätigkeit in den anthroposophischen Kliniken hatte ich den Boden in mir verloren und mich viel eher in der Engelswelt aufgelöst, die in der anthroposophischen Welt sehr stark thematisiert wird. Ich hing daher über einem Abgrund und klammerte mich an meinen großen Wunsch, den Märchen ganz nahe zu sein und mich mit ihnen durch die Ausbildung ganz zu verbinden. Ich kann mich noch erinnern, dass ich zu einem Seelsorger ging, von dem ich wusste, dass er eine 9-monatige Ausbildung als Sterbebegleiterin anbot. Der Seelsorger spürte im Gespräch sehr bald, dass ich mich nach dem jenseitigen Leben sehnte. Er sagte mir ganz klar, es sei ein Missbrauch, Sterbende zu begleiten, um am jenseitigen Leben zu schnuppern.

Durch den Spruch meines Mannes fühlte ich mich wie in ein Gefängnis eingesperrt. Ab diesem Moment begann in mir eine dunkle, ungesunde Kraft zu wachsen. Es war wie ein Tsunami, der als kleine unheilverheißende Welle in der Seele begann, sich schleichend vergrößerte und wie eine Riesenwelle mein ganzes Sein bedrohte und verschlang. Es war ein beängstigender und ungesunder Prozess, der mich in immer größere Einsamkeit drängte und mich den Menschen entfremdete. Ich geriet in eine dunkle Zwischenwelt. Ich war nicht mehr fähig, auf Nachbarn oder auf andere Mütter zuzugehen. Die alltäglichen Gesprächsthemen berührten mich nicht. Die Dämonen, die mich wie ein dunkler Nebel immer dichter ausfüllten und umgaben, gaukelten mir vor, mein Rückzug von den Menschen sei der einzig rechte Weg. Ich fühlte mich erlöst, nicht mehr auf die Menschen zugehen zu müssen.

Die Geburt meiner Tochter Katharina im Jahre 2000 vertiefte dieses Abgeschottetsein von den Menschen. Ich war nur noch alleine zu Hause und hatte Angst vor den dunklen Wellen, die immer wieder meine Seele ergriffen und sich als dunkle Dämonen in mir aufrichteten.

Ich kann mich auch noch erinnern, dass mich diese düstere, beängstigende Zwischenwelt dermaßen umhüllte, dass ich mir gar nicht bewusst war, dass unser Garten auch gepflegt werden musste. Das Unkraut überwucherte die Rosenstöcke und ich sah es nicht. Ich verlor das Gefühl für die Zeit, sie verschmolz in mir, verschmolz mit dem vulkanartigen Geschehen, das sich wie eine Riesenwelle in jede meiner Zellen fraß und Angst, Panik, Einsamkeit wie ein Ungeheuer in mir immer größer wurde. Es war eine schwere Psychose, die ich durchlitt, ein Orkan dunkler Kräfte, der den Kompass meiner Seele zerstörte.

Ich kann mich noch erinnern, dass eine Stimme wie eine dämonische Einflüsterung in mir wach wurde, eine Stimme, die sich einschmeichelte, meine gesunden Seelenanteile besetzte und mich immer mehr in eine Zwischenwelt, eine Scheinwelt zog. Anstatt auf meine gesunde Intuition zu hören, vertraute ich in der großen Einsamkeit immer mehr dieser befehlenden Stimme, die ich aber wie einen Gesprächspartner wahrnahm. Es war wie eine dunkle Seifenblase, die mich immer mehr einschloss und mein Bewusstsein für Zeit, und lebendigen Austausch langsam auflöste. Mit der Zeit begannen mehrere Stimmen mein Sein zu bestimmen. Sie flüsterten mir ein, mein Leben sei so schlecht gewesen, dass ich mein Leben beenden müsse, um als Engel auf der Erde weiter leben zu können. Das war doch eine willkommene Einladung für mich, sehnte ich mich doch schon als Kind nach dem Jenseits. Je größer diese dunkle Welle der Psychose wurde, um so mehr entstand ein Kampf zwischen den Stimmen und mir, die mir versprachen, mich von dieser Welt zu erlösen, wenn ich gewisse Aufgaben ausführte und sie fehlerfrei schaffte. So musste ich mit den Schneidezähnen auf die Zunge beißen und durfte die Zunge dabei nicht bewegen. Bestand ich diese oder andere Aufgaben nicht, beschimpften mich die Stimmen. Es war immer wieder ein Verhandeln, ob ich diese Welt verlassen durfte oder nicht. Ich hatte immer wieder das Gefühl, vor einer hauchdünnen Membran zu stehen, hinter der das Jenseits war. Ich hätte nur einen Schritt machen müssen, dann wäre ich erlöst gewesen. Dieser Schritt war mir aber nicht möglich und ich weinte immer wieder unendlich. Ich konnte nicht verstehen, warum ich in dieser unendlichen Einsamkeit in diesem Erdendasein ausharren musste. Ich erinnere mich noch an eine Tramfahrt, bei der alle Stimmen – ich kann nicht mehr rekonstruieren, ab wann es mehrere Stimmen waren, die mich beherrschten und wie lange dies in mir tobten – wie im Chor riefen: „Herzinfarkt – Herzinfarkt – Herzinfarkt”. Ich weiß noch, dass ich mich zusammen krümmte, um diesen qualvollen, bedrohlichen Stimmen zu entgehen. Ich kann mich noch erinnern, dass ich eines Tages zu einem Arzt in Muttenz ging und ihm erzählte, dass ich Stimmen hörte. Ich weiß nicht mehr, ob mir dieser Arzt helfen konnte.

Eines Abends befahlen mir die Stimmen, mich auf den Boden zu legen, denn mein Leben sei in wenigen Sekunden vorbei. Ich legte mich wirklich auf den Boden und wartete, dass nun der Augenblick kam, in dem ich sterben und als Engel auf Erden weiter leben würde. Doch die Stimmen entschieden sich dann doch anders und befahlen mir, heißes Badewasser in die Badewanne einlaufen zu lassen, ein Messer mitzunehmen und mir unter Wasser die Pulsadern aufzuschneiden. Sie erklärten mir, dass nun der ideale Zeitpunkt sei, mein Leben zu beenden und als Engel auf Erden weiter zu leben. Ich gehorchte, füllte die Badewanne mit heißem Wasser, setzte mich hinein und wollte mir wirklich die Pulsadern durchschneiden. Plötzlich realisierte ich mit Schrecken: „was Du da machen möchtest, ist Selbstmord.” Thomas hatte erkannt, dass ich mein Leben beenden wollte und versuchte mir zuzureden, dass die Kinder mich noch ganz fest brauchten. Für mich waren diese Worte wie ein Hohn. Er wollte mich den Kindern näher bringen und ich wehrte mich gegen diese Nähe. Ich war in dem Teufelskreis gefangen und fand keine rettende Türe, die diesen Albtraum beendete. Erst die Einweisung in die Psychiatrie sollte mich retten.

2. Kapitel: Erstarrte Muttergefühle

Eine liebevolle Mutter liest ihren Kindern vor, erzählt ihnen Märchen, singt und spielt mit ihnen und tauscht sich mit anderen Müttern aus. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit Johannes gesungen oder gespielt zu haben. Obwohl es mein großer Wunsch war, Märchenerzählerin zu werden, las ich ihm keine Märchen vor. Es war eher ein schweigendes Einverständnis zwischen uns. Ich ging mit Johannes spazieren, nahm ihn an den Händen und führte ihn vor mir her, wir waren intuitiv miteinander verbunden. Johannes war eher auf sich selber angewiesen. Während er für sich spielte, las ich in Büchern nach, was ein Kind braucht und was eine Mutter mit ihrem Kind macht. Eigentlich fehlte das Muttergefühl in mir von Anfang an. Ich war mehr in meinen eigenen Welten. Johannes lernte selber Stiegen steigen, versuchte Schlüssel in Schlüssellöcher zu stecken, er versuchte sich im Alleingang mit der Umwelt zu verbinden und sie zu entdecken. Eine dunkle dämonische Kraft hatte die Blumenwiese, die anfangs zwischen Johannes und mir wuchs, langsam, schleichend zerstört. Aus Verbundenheit wurde Bedrängtwerden und Angst, dass die dunklen Kräfte aus meiner Seele auf die Kinder, vor allem auf Johannes übergriffen. Es war für mich grauenhaft zu spüren, dass der verzweifelte Versuch, meine Aufgabe als Mutter zu erfüllen, immer wieder und immer öfter zerbrach durch Attacken von Gewalt, denen ich immer stärker ausgeliefert war.

Ich kann mich an einen Wutanfall erinnern, in dem ich realisierte, dass ich den ganzen Tag alleine für Johannes da war. Ich nahm die Stühle, die um unseren Esstisch herum standen und schleuderte sie mit voller Gewalt zu Boden. Es war wie eine Ersatzhandlung, um meinen Zorn auf das Leben, das mir ein Kind beschert hatte, zu entladen. Johannes war im selben Raum. Er sah alles und ahmte mich nach, indem er ein Blatt Papier nahm und dieses auf den Boden warf. Meine Vorbildfunktion war destruktiv. Johannes lernte von mir nichts, was er im Leben hätte brauchen können.

Der Tsunami, diese immer größer werdende dunkle Welle, veränderte das wortlose Miteinander der ersten Zeit in Fremdheit. Mein Dasein bestand für mich immer mehr in der Angst, von der dunklen Kraft verschluckt zu werden und dem Bewusstsein, dass die Kinder mir den Platz wegnahmen, den ich eigentlich für mich brauchte. Niemand war da, der diese Negativspirale durchbrechen konnte und sich zwischen die dunkle Kraft und mich stellte.Vor allem bei den Kontrollterminen beim Kinderarzt wurde sehr deutlich, dass ich mit Johannes weder sprach noch spielte. Musste er kleine Tätigkeiten machen, die seinem Alter entsprechend waren, war er dazu nicht fähig. Dann fiel es mir jedes Mal wie Schuppen von den Augen. Ich war Mutter und es wäre meine Aufgabe gewesen, Johannes zu fördern, Kinderbücher mit ihm zu lesen, mit ihm zu spielen und den Tag auf gesunde Weise zu gestalten. Während die Kinderärztin Johannes auf die Fähigkeiten seines Alters testete, erschrak ich und mir wurde bewusst, dass dort, wo eine Mutter-Kind-Beziehung sein sollte, Leere war, dass die Dämonen meine Seele im Griff hatten und ich mich von der Negativspirale der Einsamkeit, Angst und dem Bedrängt-sein als Mutter immer mehr in einen ungesunden, lebensfeindlichen Bereich hinunter ziehen ließ. Ich war diesem Teufelskreis immer mehr ausgeliefert. Sie umgab mich wie eine dunkle Seifenblase. Mir wurde dies aber erst dann bewusst, wenn ich unter Menschen war und beobachtete, wie andere Mütter mit ihren Kindern umgingen.

War Thomas am Abend oder an den Wochenenden zu Hause, so bildete er in diesen Momenten ein Gegengewicht. Ich war in diesen Augenblicken froh, dass jemand um mich herum war, auch wenn ich gar nicht mit Thomas über die Dämonen, die das Leben für mich und die Kinder zur Hölle werden ließen, sprechen konnte. Hier muss ich betonen, dass Thomas sich immer schon Kinder gewünscht hatte. Ich kann mich noch an einen Abend erinnern, als ich versuchte, diese riesige Last der Dunkelheit und die Gewalt die dadurch auf die Kinder überging, Thomas zu erzählen und unter Tränen gestand. Er konnte dies gar nicht glauben. Wenn ich nachts wach lag und mir bewusst wurde, was ich den Kindern zufügte, dann lag diese grauenhafte Last auf mir und erstickte mich beinahe. Die Tatsache, dass ich Mutter war, für die Kinder aber nicht in positiver Weise da sein konnte, bedrückte mich, als hätte eine Lawine mich mit ihrer Schneelast zugedeckt.

Ich ging mit den Kindern in einsamen Wäldern spazieren und realisierte gar nicht, wie ich mich mehr und mehr vom alltäglichen Leben entfernte, in dem es eigentlich dazu gehörte, dass sich Mütter austauschen und die Kinder miteinander spielen. Ein grauenhafter Albtraum begann mich einzuhüllen. Auf dem Weg in die Wälder ging ich immer über eine Brücke. Unter dieser Brücke war eine Autobahn und die Gleise des Bahnhofs von Muttenz. Wenn ich mit Johannes über die Brücke ging und Katharina im Kinderwagen schob, bedrängten mich die düsteren Stimmen immer wieder, doch die Kinder über die Brücke auf die Autobahn zu werfen, um sie los zu werden und endlich mein eigenes Leben für mich leben zu können. Dies geschah jeden Tag. Ich musste mich extrem gegen den Sog wehren, der von diesen Befehlen ausging. Ich krampfte mich zusammen und konzentrierte mich auf jeden Schritt, den ich machte. Ich hielt ein unsichtbares Schild den Dämonen entgegen, aber sie drangen wie kalter Rauch in jede Zelle meines Körpers. Im Wald hatte ich das Gefühl, dass die dunklen Geister mich schon erwarteten. Ich versuchte mich zu schützen, indem ich positive Gedanken in mir wach werden ließ. Aber dann versiegte dieser positive Strom der Gedanken doch und die Dämonen ergriffen mich mit ihren Klauen und drängten mich, mit einem Stock auf Johannes einzuschlagen, der schützend seine Arme hob und weinend rief „Mami nit schlo – Johannes weh”. Als ich realisierte, dass die dunkle zerstörerische Macht aus mir selber heraus kam, weinte ich verzweifelt und wusste keinen Weg, aus diesem düsteren Kreis auszubrechen.

Zwischendurch gelang es mir, meine Verzweiflung und die dämonischen Attacken in Worte zu formen und ich schrieb „Gedichte an das Licht” oder „Gedichte in der Dunkelheit”. Dieser Balanceakt von heller und dunkler Kraft kippte ohne Vorbereitung und entlud sich wie unsichtbare Lava.

Das Bewusstsein, auf dieser Erde und in der Rolle als Mutter eingesperrt zu sein, war nun jeden Augenblick in meiner Seele als Last, die mir keine ruhige Nacht mehr gönnte. Ich ging zu Bett mit der Angst und dem Grauen vor der dunklen Übermacht, die mich unheilvoll bedrohte. Ich hatte Angst vor dem nächsten Morgen – ich fand keine Erholung mehr im Schlaf.

Es ist für mich ein Rätsel, wie ich es schaffte, meinen Kindern etwas zu kochen, für sie da zu sein. Manchmal schob sich der dunkle Vorhang, der mich vom realen Leben trennte, zurück und ich realisierte, dass es Mittagszeit war. Es gab Augenblicke, da saß ich mit Johannes am Klavier und spielte mit ihm eine Melodie. Auf einmal fing es in mir an zu brodeln, wie in einem Vulkan. Die Nähe meines Sohnes wurde für mich im Bruchteil einer Sekunde zur Bedrängnis und eine dunkle Welle kam über mich und ich stieß meinen Sohn von mir. Mein Mann bekam von diesen dämonischen Attacken gar nichts mit. Ich kann mich aber erinnern, dass Johannes, sobald Thomas nach Hause kam, zu ihm rannte und ihn Schutz suchend umarmte. Thomas fragte mich dann: „Ist irgendetwas geschehen?” In diesen Augenblicken fand ich keine Worte, um das Grauen zu definieren, das sich in mir zuspitzte.

Thomas drängte auf das zweite Kind, aber für mich war schon die Vorstellung zu viel, in dieser schwierigen Situation von zwei Kindern umgeben zu sein. Als ich einmal bei einem Spaziergang im Quartier eine ehemalige Arbeitskollegin antraf und wir auf meine Schwangerschaft zu sprechen kamen, sagte sie mir: ”Du musst Dich schon freuen”. Genau das war für mich der entscheidende Punkt. Von einer Mutter wurde erwartet, dass sie sich über das zweite Kind freute, das unter ihrem Herzen heran wuchs. Für mich war es in dieser Zeit meines Lebens eine unglaubliche Last, als Mutter ein zweites Kind zu erwarten und zu spüren, dass ich dieser Aufgabe niemals gerecht werden würde.