Göttin der Finsternis
Mara Laue
© 2011 by Verlag Torsten Low,
Rössle-Ring 22, 86405 Meitingen/Erlingen
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung:
Michael Sagenhorn
Lektorat und Korrektorat:
M. Low, F. Low, T. Low
eBook-Produktion:
Cumedio Publishing Services - www.cumedio.de
ISBN (Buch) 978-3-940036-13-1
ISBN (mobi) 978-3-940036-95-7
ISBN (ePub) 978-3-940036-83-4
Inhalt
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1
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3
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Epilog
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Die Autorin
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Lesetipps
1
ie hatten beschlossen,
dass der Hirsch nur noch wenige Minuten leben sollte. Er äste in der Dämmerung
des frühen Abends auf einer vollmondbeschienenen Lichtung im Cuyahoga Valley
National Park und ahnte noch nichts von der Gefahr, die unaufhaltsam näher kam.
Ein verletztes Bein behinderte ihn. Die Wunde hatte sich entzündet, und er
würde in absehbarer Zeit an einer Blutvergiftung qualvoll sterben. Damit war er
legitime Beute für die neun Wölfe, die sich gegen den Wind an ihn anschlichen.
Ein junger Rüde drängte sich ungeduldig ein Stück vor.
Ein Zweig knackte unter seinen Pfoten. Sofort fuhr der braune Leitwolf
zähnefletschend zu ihm herum und knurrte so leise, dass der Hirsch es nicht
hören konnte, der wachsam den Kopf gehoben hatte und in ihre Richtung blickte.
Der junge Wolf senkte den Blick, um seinem Rudelführer keinen Grund zu geben,
ihn zu disziplinieren.
Da die Wölfe tief an den Boden geduckt regungslos
verharrten, konnte der Hirsch sie in der fast vollständig hereingebrochenen
Dunkelheit nicht sehen. Selbst die sandfarbene, beinahe blonde Alphawölfin,
deren Fell sich deutlich von der Umgebung abhob, nahm er nur als hellen Fleck
wahr. Als er keine Gefahr erkennen konnte, äste er nach einer Weile weiter.
Die Wölfe schlichen vorwärts. Der Leitwolf, die
Alphawölfin und ein großer schwarzer Rüde umgingen im Schutz der Bäume die
Lichtung und schnitten dem Hirsch den Fluchtweg ab. Drei Wölfe näherten sich
ihm von hinten, während die drei übrigen die Flanke sicherten. An der anderen
Seite verhinderte dichtes Unterholz, dass der Hirsch in dieser Richtung entkam.
Als die Wölfe in Position waren, stürzten die drei Treiber
auf ihn zu. Wie erwartet wollte er zur Seite ausbrechen und quer über die
Lichtung in den Wald flüchten. Als er sah, dass auch dort Wölfe lauerten,
rannte er hinkend am Rand der Lichtung entlang – direkt in die Fänge des
Leitwolfs. Der große Rüde sprang ihm an die Kehle und tötete ihn mit einem
einzigen kräftigen Biss.
Die Wölfe heulten ihren Triumph hinaus, ehe sie sich
daran machten, sich am Fleisch des Hirsches gütlich zu tun. Wieder drängte sich
der ungestüme junge Wolf vor. Der Leitwolf fuhr grollend zu ihm herum, warf ihn
mit einem Stoß um, packte ihn an der Kehle und knurrte wütend.
Das reicht, Patrick. Deine
Disziplinlosigkeit hätte uns beinahe den Jagderfolg gekostet. Jetzt erdreistest
du dich auch noch, dich vorzudrängeln. Ich glaube, ich muss dir mal wieder
nachdrücklich zeigen, wo dein Platz im Rudel ist. Er biss zu.
Der junge Wolf fiepte erschrocken, als ein paar
Blutstropfen aus seinem Hals quollen. Tut mir leid, Vin, ich wollte doch nur
…
Du hast nichts zu wollen, sondern mir
zu gehorchen.Vin fletschte die Zähne und starrte dem Jungwolf
herausfordernd in die Augen.
Der senkte den Blick und nahm Demutshaltung ein. Vin ließ
mit einem letzten drohenden Knurren von ihm ab und wandte sich dem Kadaver zu,
aus dessen Flanke er ein großes Stück Fleisch herausbiss. Die Alphawölfin tat
es ihm nach. Patrick trat mit eingekniffenem Schwanz ein paar Schritte zurück.
Der schwarze Wolf packte ihn grob am Genick, schüttelte ihn durch wie einen
Welpen und schleuderte ihn mit einer verächtlichen Kopfbewegung durch die Luft.
Patrick segelte jaulend mehrere Yards weit, ehe er gegen einen Baumstamm
prallte und daran zu Boden sackte. Bevor er wieder auf die Pfoten kommen
konnte, war der schwarze Wolf über ihm und deutete knurrend einen Kehlbiss an.
Nur zur Erinnerung, Patrick: Dein Platz
ist immer noch hinter mir. Also akzeptiere endlichdeinen
dir zustehenden dritten Rang oder verlass das Rudel. Vin und ich werden
jedenfalls nicht länger dulden, dass du immer wieder den Rudelfrieden störst.
Kapiert?
Ja, Nick.
Patrick drückte sich gegen den Boden und vermied
jeglichen Blickkontakt mit dem Stellvertreter des Rudelführers. Vin ließ
manchmal noch eine gewisse Nachsicht walten. Nick dagegen unterdrückte
unnachgiebig jede Auflehnung gegen seine Stellung. Patrick hatte Nick nur ein
einziges Mal herausgefordert. Mit dem Ergebnis, dass der ältere Wolf ihn nach
wenigen Sekunden vernichtend besiegt hatte. So wenig es ihm auch gefiel, nur
den dritten Rang im Rudel innezuhaben, solange Nick und Vin da waren, hatten er
nicht den Hauch einer Chance, Betawolf zu werden, geschweige denn zum
Rudelführer aufzusteigen. Und er war noch lange nicht stark genug, ein eigenes
Rudel zu gründen, würde es vielleicht nie sein.
Vin und Sheila, die Alphawölfin, räumten den Platz am
Kadaver des Hirschs.
Kommt, Kinder, lasst es euch schmecken,
forderte Vin die restlichen Wölfe auf, die geduldig gewartet hatten, dass ihre
Anführer sich zuerst sättigten.
Ein warnender Blick von Nick ließ Patrick bleiben, wo er
war und abwarten, bis der Betawolf seinen Hunger gestillt hatte. Chris, der
vierte Rüde und Omegawolf des Rudels, seufzte ergeben und wartete notgedrungen
ebenfalls ab. Nick hätte ihn zwar am Kadaver geduldet, Patrick aber nicht. Der
brauchte das Gefühl, wenigstens einem männlichen Rudelmitglied überlegen zu
sein. Deshalb hackte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Chris herum,
der ihm aus dem Weg ging, so gut er konnte. Während der fünfundzwanzig Tage, in
denen sie alle bis auf Nick ausschließlich in ihrer menschlichen Gestalt
herumliefen und weitgehend ihre eigenen Wege gingen, klappte das problemlos.
Doch während der drei Nächte des Vollmonds, in denen sie sich in Wölfe
verwandelten, blieb das Rudel zusammen.
Die vier übrigen Wölfinnen warteten, dass Nick ihnen
erlaubte, ebenfalls zu fressen. Doch er stutzte und hob witternd die Schnauze.
Der Wind, der aus Richtung Cleveland herüber wehte, trug einen Geruch in sich,
der ihm vertraut war. Sein Nackenfell sträubte sich.
Gefahr!
Augenblicklich rottete sich das Rudel verteidigungsbereit
zusammen. Vin witterte ebenfalls in die Richtung, in die Nick seine Nase
streckte.
Doch die Angreifer waren so schnell heran, dass nur Nick
rechtzeitig reagieren konnte. Fünf Wesen, die wie Menschen aussahen, kamen
buchstäblich aus der Luft und stürzten sich auf die Werwölfe. Die Wucht des
Aufpralls warf sie zu Boden. Die Angreifer nagelten sie mit großer Kraft dort
fest und schlugen ihre Reißzähne in deren Schlagadern.
Vampire! Nicks Warnung
klang hasserfüllt.
Mit einer geschickten Drehung seines Körpers wich er dem
Vampir aus, der sich ihn als Ziel ausgesucht hatte. Bevor der herumfahren und
ihn erneut angreifen konnte, hatte der Werwolf zugeschnappt und biss ihm einen
Arm ab. Der Vampir schrie auf, doch sein Schrei brach mit einem gurgelnden Laut
ab, als Nicks Kiefer sich um seinen Hals schlossen, gnadenlos zudrückten und
ihm mit einem gewaltigen Ruck den Kopf abrissen. Der Kopf flog für einen Moment
durch die Luft, ehe er wie der Rest des Vampirs zu Staub zerfiel.
Beißt ihnen die Köpfe ab! Das ist die
einzige Möglichkeit für uns, sie zu töten.
Ohne eine Reaktion abzuwarten, stürzte er sich auf den
Vampir, der Chris gerade die Zähne in den Hals geschlagen hatte. Der Aufprall
seines schweren Wolfskörpers riss den Vampir von ihm weg, wobei eine gehörige
Portion Fleisch des jungen Werwolfs zwischen den Vampirzähnen hängen blieb.
Chris heulte auf. Das Blut strömte aus seiner zerfetzten Schlagader und tränkte
den Waldboden.
Konzentrier dich auf deine
Selbstheilungskräfte, wies Nick ihn ungerührt an. An
so einem Kratzer stirbst du nicht.
Der Vampir, den er gerade zu Boden gestoßen hatte,
versuchte zu entkommen. Doch Nick war nicht nur ein erfahrener Werwolf, er
hatte in der Vergangenheit schon oft gegen Vampire gekämpft und kannte ihr
Verhalten. Er hatte den Angreifer am Genick gepackt und es durchgebissen, ehe
der sich durch einen Sprung in die Luft in Sicherheit bringen konnte. Ein
zweiter Biss trennte auch diesem Vampir den Kopf ab.
Chris lag immer noch röchelnd am Boden. Nick stellte sich
schützend über ihn und stieß ihn mit der Schnauze an.
Konzentrier dich und dann hoch mit dir,
Junge. Die anderen brauchen uns.
Kim?
Ja, Kim. Und die anderen. Also los!
Die Sorge um seine Freundin gab dem jungen Werwolf die
Kraft und die Motivation, die er brauchte. Innerhalb von Sekunden begann seine
Wunde zu heilen und die zerfetzte Schlagader sich wieder zusammenzufügen. Chris
kam auf die Beine. Obwohl er nicht gerade der Mutigste war und gewöhnlich jedem
Streit aus dem Weg ging, stürzte er sich jetzt an Nicks Seite in den Kampf.
Vin hatte dem Vampir, der Sheila angegriffen hatte, einen
Arm abgebissen. Dafür hatte der Vampir ihn jetzt mit der anderen Hand an der
Kehle gepackt und versuchte, den Werwolf zu erwürgen. Sheila verbiss sich in
eine Seite des Feindes und fetzte ein großes Stück Fleisch heraus. Im nächsten
Moment prallte Nick von hinten gegen ihn und biss zu. Sekunden später zerfiel
auch dieser Vampir zu Staub.
Ich hab doch gesagt, Kopf ab!
Die beiden noch lebenden Vampire hätten eigentlich ihr Heil
in der Flucht suchen müssen, denn es war selbst für den stursten und
selbstsichersten Vampir ersichtlich, dass sie nicht mal zu zweit eine Chance
gegen neun Werwölfe hatten. Doch sie verhielten sich völlig unvernünftig und
griffen immer weiter an. Als stünden sie unter einem Bann.
Einer von ihnen hatte tatsächlich Kim angegriffen, saugte
geräuschvoll ihr Blut und ignorierte, dass sich jetzt drei andere Wölfe in
seinen Körper verbissen und ihn von ihr wegzuzerren versuchten. Doch die jungen
Werwölfe waren bis auf Nick und Vin keine Kämpfer und hatten außer Tieren noch
niemanden getötet. Erst recht nicht auf eine so brachiale Weise, wie Nick es
vorgeschlagen hatte. Deshalb scheuten sie sich, den tödlichen Biss anzubringen.
Zum Erstaunen aller war es ausgerechnet Chris, der sich
mit wütendem Knurren auf den Vampir stürzte und ihm nach Nicks Vorbild den Kopf
abbiss. Vin machte mit dem letzten Vampir ebenso kurzen Prozess. Aufmerksam sah
er sich um und witterte in alle Richtungen, doch er konnte keinen weiteren
Vampir riechen oder eine andere Bedrohung entdecken.
Chris leckte zärtlich Kims Wunden, die sich schon wieder
zu schließen begannen. Auch die Verletzungen, die die anderen davongetragen
hatten, waren schon fast wieder verheilt. In dieser Hinsicht war es von
unschätzbarem Vorteil, ein Werwolf zu sein.
Zurück zum Haus!,befahl
Vin, als alle wieder auf den Beinen waren.
Das Rudel rannte los. Vin und Sheila voran, Patrick und
Chris deckten die Flanken, und Nick bildete die Nachhut. Bevor sie eine halbe
Stunde später ihr Haus 674 Canyon View Road am Rand des Cuyahoga Valleys durch
die Hundeklappe betraten, vergewisserten sie sich, dass es niemand in der
Zwischenzeit betreten hatte oder sich Vampire in der Umgebung aufhielten. Doch
alles war ruhig.
Sekunden nachdem die Mauern des Hauses und die
geschlossenen Jalousien die Werwölfe vor dem Kuss des Mondlichts schützten,
begannen sich ihre Körper zu verwandeln. Knochen und Sehnen verformten sich in
einem schmerzhaften, sich über Minuten hinziehenden Prozess, bis anstelle der
Wölfe nackte Menschen auf Händen und Knien hockten und sich langsam
aufrichteten, nachdem die Schmerzen abgeebbt waren.
Lediglich Nick schaffte die Verwandlung innerhalb von nur
zwei Sekunden. Er war mit 332 Jahren der Älteste von ihnen und ein geborener
Werwolf, während die restlichen Mitglieder des Rudels erst vor zweieinhalb
Jahren verwandelt worden waren. Nick war auch nicht mehr vom Mondlicht
abhängig, sondern konnte sich jederzeit nach seinem Willen verwandeln, selbst
bei Tageslicht, und wenn er wollte unbegrenzt lange ein Wolf bleiben.
Die Werwölfe wickelten sich in die Bademäntel, die sie im
»Verwandlungsraum« bereithielten, denn nach der Jagd gingen sie erst einmal
alle unter die Dusche. Zum Glück war das Haus sehr geräumig, sodass jeder von
ihnen darin nicht nur ein eigenes Apartment, sondern auch ein eigenes Bad
besaß. Bis auf Nick. Er wohnte in Cleveland und kam an den drei Vollmondtagen
vorbei, um mit dem Rudel zu jagen oder streifte zu anderen Zeiten allein durch
das einundfünfzig Quadratmeilen große Gebiet des Nationalparks. Dass er sich
jetzt im Gegensatz zu den anderen keinen Bademantel anzog, zeigte, dass er
später wieder nach draußen gehen würde.
Sheila, kaum dass sie sich ihren Bademantel übergeworfen
hatte, flüchtete in Vins Arme und weinte an seiner Schulter. Auch die vier
anderen Werwölfinnen weinten und drängten sich wie verängstigte Kinder
zusammen. Sogar Patrick und Chris waren verstört. Kein Wunder, denn keiner von
ihnen war älter als dreiundzwanzig.
Vin streichelte Sheila beruhigend den Rücken. Als Police
Lieutenant bei Clevelands Homicide Department mit über zwanzigjähriger
Berufserfahrung war er mit Gewalt und Tod vertraut und deshalb nicht ganz so
mitgenommen wie seine jungen Rudelmitglieder. Er blickte Nick dankbar an.
»Ich wage nicht mir auszumalen, was passiert wäre, wenn
du uns nicht rechtzeitig gewarnt hättest.«
Nick zuckte mit den Schultern. »Ihr hättet es überlebt,
selbst wenn die Vampire jeden von euch komplett ausgesaugt hätten.«
Kim schüttelte sich und wischte sich die Tränen aus dem
Gesicht. »Das ist ekelhaft! Pervers! Wie eine
Vergewaltigung! Gegen meinen Willen einfach ein Stück von mir zu nehmen – mein
Blut – um sich davon zu ernähren. Das ist ...«
Chris nahm sie tröstend in die Arme und blickte Nick an.
»Wir haben doch keine Feindschaft mit den Vampiren. Oder?«
Nick schüttelte den Kopf.
»Warum haben die das dann getan?«
»Keine Ahnung. Sie schienen mir nicht bei Verstand zu
sein. Seit die Wächter unserer beiden Spezies die bis dahin herrschende
Blutfehde mit einem Friedenspakt beendeten, ist so was nicht mehr vorgekommen.
Natürlich hat es immer mal wieder Individuen und auch Gruppen auf beiden Seiten
gegeben, die den Pakt gebrochen haben, aber während der letzten fast
zweihundert Jahre hat es keinen derart massiven Angriff mehr gegeben. Außerdem
waren sie zwar eindeutig darauf aus, uns zu töten, hatten aber keine Waffen
dabei, mit denen sie das hätten bewerkstelligen können. Sie haben nicht mal
versucht, uns die Köpfe abzureißen. Ich würde auf die Wirkung einer Droge
tippen, aber danach haben sie weder gerochen noch geschmeckt.« Er schüttelte
den Kopf. »Ich kann mir das nicht erklären. Du solltest die Wächter darüber
informieren, Vin.«
»Das habe ich vor.«
»Werden die wiederkommen? Uns noch mal angreifen?« Sheila
klang besorgt, aber nicht übermäßig ängstlich. In ihrer Stimme lag ein
stählerner Unterton, der signalisierte, dass sie in dem Fall bereit war, ihr
Rudel zu verteidigen.
Nick grinste. »Diese Vampire sind ein für
alle Mal tot und kommen garantiert nie wieder.« Er wurde wieder ernst. »Aber wo
fünf Vampire durchdrehen, können das auch andere tun. Ihr solltet morgen Nacht
im Haus bleiben und die Alarmanlagen eingeschaltet lassen. Dass Vampire
angeblich nur Häuser betreten können, in die man sie hereingebeten hat, ist ein
Märchen. Die Typen können wie jeder profane Einbrecher in jede Wohnung rein,
die nicht entsprechend gesichert ist. Da ihr euch noch nicht schnell genug
verwandeln könnt, um euch als Wölfe gegen sie wehren zu können, müsst ihr die
herkömmlichen Methoden anwenden: Holzpfeile, Silberkugeln und alle scharfen
Waffen, die aus Silber oder mit Silber überzogen sind. Feuer tut es natürlich
auch. Am besten bittet ihr Sam, euch einen ausreichenden Vorrat solcher Waffen
zu besorgen.« Nick streckte sich gemütlich. »Für heute Nacht haben wir
wahrscheinlich Ruhe. Aber ich bleibe für die nächste Zeit draußen im Wald und
sichere das Territorium, falls sich noch Vampire darin aufhalten sollten.«
»Allein?« Vin schüttelte den Kopf. »Mann, deine Nerven
möchte ich haben.«
Nick warf ihm einen Blick zu, der signalisierte, dass
diese Bemerkung seiner Meinung nach Vins Autorität untergrub. »Die hast du
doch. Schließlich bist du der Rudelführer, nicht ich.«
Was Vin, wie sie beide wussten, nur deshalb war, weil
Nick auf die Führerschaft verzichtet hatte und sich freiwillig mit dem Platz
als Betawolf begnügte. Hätte er es darauf angelegt, er hätte Vin die Führung
des Rudels in weniger als einer Minute abgerungen. Genau genommen war Nick der
rechtmäßige Rudelführer. Doch er hatte diese Stellung aus persönlichen Gründen
an Vin abgetreten. Das Rudel brauchte Stabilität und für die nächsten Jahre ein
festes Territorium. Beides hätte Nick ihm mit seiner Rastlosigkeit nicht geben
können, obwohl er während des letzten Jahres schon deutlich ruhiger geworden
war, seit er sich entschieden hatte, bei seiner Seelengefährtin Sam Tyler in
Cleveland zu leben. Vin fand immer noch, dass eine Dämonin und ein Werwolf als
Paar eine äußerst ungewöhnliche und explosive Mischung darstellten. Doch es funktionierte
hervorragend, da die beiden einander die notwendigen Freiräume ließen.
Nick zwinkerte ihm zu, machte einen Satz zur Hundeklappe
hin und rannte im nächsten Moment als Wolf hinaus in die Dunkelheit. Vin
seufzte mit einem Anflug von Neid. Bis er und die anderen ihre Verwandlung
ebenso willkürlich steuern konnten und darin nicht mehr vom Vollmondlicht
abhängig sein würden, dauerte es noch mindestens hundert Jahre oder länger.
Er verriegelte die Klappe und wandte sich an die jungen
Werwölfe. Da er mindestens zwanzig Jahre älter war als jeder von ihnen, nahm er
für die meisten auch die Stellung einer Vaterfigur ein.
»Falls einer von euch mit mir reden will, bin ich
jederzeit für euch da.« Er blickte Chris an, der wie ein Häufchen Elend an der
Wand lehnte und unglücklich zu Boden starrte. »Chris, du kommst zu mir, sobald
du dich frisch gemacht hast, damit wir reden können.«
»Aber ich habe doch gar nichts getan!«
Vin lächelte beruhigend. »Ich habe auch nicht vor, dir
eine Standpauke zu halten.« Er warf Patrick einen eisigen Blick zu. »Die
bekommt jemand anderes. Du hast dich im Gegenteil hervorragend gehalten. Aber
ich weiß aus Erfahrung, dass man es nicht einfach so wegsteckt, wenn man zum
ersten Mal jemanden tötet. Falls dir buchstäblich zum Kotzen ist – nur zu. Das
ist eine ganz normale Reaktion. Wir sehen uns nachher.«
Auch die anderen Werwölfe werteten das als Aufforderung,
sich zurückzuziehen und gingen in ihre Apartments. Vin tat es ihnen nach, duschte
und ging anschließend in sein Arbeitszimmer, um ein paar Anrufe zu tätigen. Als
Erstes informierte er Brian Wolfheart, den in Standing Rock lebenden Wächter
der Werwölfe über das, was vorgefallen war. Brian war besorgt, denn der Angriff
auf Vins Rudel war nicht der erste, der von Vampiren begangen worden war. Es
hatte bereits zwei ähnliche Vorfälle an anderen Orten gegeben.
Sheila gesellte sich zu ihm, als er das Gespräch beendet
hatte. Er streckte ihr einladend einen Arm entgegen. Sie rannte zu ihm und
wickelte sich in seine Arme ein. Er streichelte ihr Haar und gab ihr einen
sanften Kuss auf die Stirn.
»Ich habe Angst, Vin«, gestand sie leise und klammerte
sich an ihn.
Er drückte sie liebevoll an sich. Was als eine
instinktbedingte Partnerschaft zwischen ihnen begonnen hatte, da Werwölfe noch
mehr als ihre tierischen Geschwister der Prämisse folgten, dass die Alphawölfin
innerhalb des Rudels nur mit dem Rudelführer ein Paar bildete, hatte sich schon
nach kurzer Zeit zu einer echten Liebesbeziehung entwickelt. Am Anfang hatten
die zweiundzwanzig Jahre Altersunterschied Vin etwas zu schaffen gemacht. Als
er Sheila kennenlernte, war sie eine neunzehnjährige Biologiestudentin im
ersten Semester gewesen und er ein einundvierzigjähriger Police Detective. Jetzt,
zweieinhalb Jahre später, war das bedeutungslos geworden.
Wie manches andere auch. Sogar sein ursprünglicher Name
Kevin, mit dem er sich sein Leben lang wohlgefühlt hatte, passte nicht mehr zu
dem Mann, vielmehr dem Werwolf, der er heute war. Deshalb hatte er ihn kürzlich
in Vin geändert. Unter anderem, weil Sheila ihn von Anfang an so genannt hatte.
Er streichelte ihren Rücken. »Ich habe auch Angst,
Sheila. Um dich und euch alle. Und deshalb werde ich Maßnahmen ergreifen, um
euch zu schützen.«
Er nahm das Telefon und drückte die Kurzwahltaste, unter
der er Sams Nummer gespeichert hatte. Die Dämonin arbeitete in Cleveland als
Privatermittlerin, Bodyguard und Security-Spezialistin und hatte Vin schon oft
geholfen, einen Mordverdächtigten zu überführen oder dessen Unschuld zu
beweisen. Außerdem hatte sie ihn und sein junges Rudel nach der unfreiwilligen
Verwandlung in Werwölfe immer wieder unterstützt, schon lange bevor sie mit
Nick zusammen war. Es gab deshalb kein Wesen, dem er mehr vertraute als Sam.
»Was ist bei euch los, Vin?«, fragte sie, noch ehe er
sich melden konnte. »Geht es euch gut?«
»Ja, Nick geht es bestens.«
»Ich habe nicht nach Nick gefragt, Junge, sondern nach eurem
Befinden. Dass es ihm bestens geht, weiß ich. Ich bin schließlich seine Seelengefährtin.
Dass du mich um diese Zeit anrufst, wo der Mond noch lange nicht untergegangen
ist, sagt mir, dass irgendwas passiert ist. Braucht ihr Hilfe?«
»Nick riet uns zu Vampirvernichtungswaffen und meinte,
dass du sie uns beschaffen könntest.«
Er zuckte zusammen, als Sam plötzlich neben ihm stand.
Einerseits beneidete er die schwarzhaarige Schöne um diese Möglichkeit der
Fortbewegung, andererseits ging sie ihm auf die Nerven, wenn er mit ihr ohne
Vorwarnung konfrontiert wurde. Sam ließ sich mit unnachahmlicher Anmut in
seinen Lesesessel fallen und schlug die Beine übereinander in einer Art, die
unglaublich sexy wirkte. Außerdem war sie ständig von einem verführerischen
Duft nach Sex umgeben, der die feine Nase des Werwolfs kitzelte und
augenblicklich seine Lust weckte.
Sam war ein Sukkubus, eine Dämonin, die sich
ausschließlich vom Sex ernähren konnte und ihr natürlicher Duft das Mittel, mit
dem ihr Körper dafür sorgte, dass sie diese Nahrung in ausreichendem Maß
erhielt. Allerdings war Vin inzwischen an diese Nebenwirkung gewöhnt, die seine
Nähe zu ihr jedes Mal auslöste und hatte gelernt, seine Begierde zu
beherrschen.
»Vampirvernichtungswaffen«, wiederholte sie. »Was ist
passiert?«
Vin berichtete ihr von dem unerwarteten Angriff der
Vampire. Er hatte kaum geendet, als Sam ihr Handy vom Gürtel nahm und eine
Nummer wählte.
»Kanzlei Weston, Kruger und Goldstein«, hörten die
Werwölfe gleich darauf eine männliche Stimme. »Sie sprechen mit Juniorpartner
Shiva Ramajeetha. Was kann ich für Sie tun?«
»Sam hier. Shiva, gibt es neue Vampire in der Stadt? Vins
Rudel wurde vor knapp einer Stunde von fünf Vampiren angegriffen, die seiner
und Nicks Einschätzung nach eindeutig auf Mord aus waren. Unnötig zu erwähnen,
dass die Angreifer tot sind.«
Der Inder war nicht nur ebenfalls ein Vampir, er war auch
ein Wächter und Oberhaupt der nur zwölfköpfigen Vampirgemeinde von Cleveland.
»Wie geht es dem Rudel?«, fragte er besorgt.
»Unsere Nerven haben ein bisschen gelitten, ein paar von
uns haben einen Schock, ansonsten sind wir alle wohlauf«, antwortete Vin. »Aber
Sams Frage ist berechtigt. Gibt es neue Vampire in der Stadt, die noch nichts
von euren strengen Gesetzen gehört haben?«
Shiva schwieg einen Moment. »Nein. Wir scheinen ein
ernstes Problem zu haben. Es häufen sich die Meldungen, dass bislang
unbescholtene Vampire plötzlich Menschen angreifen und sogar töten. Und zwar
weltweit. Und der Angriff auf euer Rudel ist nicht der einzige, der sich gegen
Werwölfe richtet. Es hat sogar schon etliche Verwandlungen von Menschen gegeben
in einem Ausmaß, das weit – sehr weit über die normale
Statistik dieses Verbrechens hinausgeht. Wir Wächter sind hinter den Schurken
natürlich her, aber das Ganze ist sehr mysteriös. Der Wächterrat tagt deswegen
in fünf Stunden per Videokonferenz. Jedenfalls gibt es keine neuen Vampire in
der Stadt – noch nicht. Das heißt, eure Angreifer gehörten eindeutig zu meinen
Schützlingen. Und das begreife ich einfach nicht. Abgesehen davon, dass ich für
mein strenges Regiment berüchtigt bin, ist kein Einziger unter ihnen, der in
irgendeiner Form zur Aggressivität neigt. Geneigt hat.«
»Ist vielleicht eine neue Droge auf eurem Schwarzmarkt
aufgetaucht?«, vermutete Sam.
»Nicht dass ich wüsste. Und glaub mir, Sam, an diese
Möglichkeit haben wir zu allererst gedacht und sind dabei, das gründlichst zu
prüfen. Ich werde mir meine restlichen sechs Schäfchen noch heute Nacht zur
Brust nehmen und sehen, ob sie was wissen. Ich informiere dich, falls ich was
rausfinde.«
»Na so was«, spottete sie gutmütig. »Du informierst mich?
Habt ihr Vampire tatsächlich dazugelernt? Sonst hieß es doch immer, dass
Vampirangelegenheiten und vor allem Wächterangelegenheiten uns gewöhnliche
Anderswesen nichts angingen.«
»Ja, diese Einstellung haben wir in der Tat revidiert.
Seit dem Beinahe-Desaster mit Morton Phelps letztes Jahr haben wir unsere
Abschottungspolitik aufgegeben und arbeiten mit allen Wächtern der anderen
Spezies weltweit zusammen. Und natürlich mit Leuten wie dir, denen wir
vertrauen können.«
»Die ihr für eure Zwecke benutzen könnt, wenn’s euch in
den Kram passt«, brachte Sam es auf den Punkt. »Was habt ihr doch für ein
Glück, dass ich ein Faible für Vampire habe.« Sie wurde wieder ernst. »Ich
werde Vins Haus in eine vampirsichere Festung mit tödlichen Fallen für
euresgleichen verwandeln. Also rate deinen Schäfchen möglichst nachdrücklich,
sich von seinem Rudel fern zu halten.«
»Worauf du dich verlassen kannst. Gute Nacht.«
Der Vampir unterbrach die Verbindung, und Sam hängte
nachdenklich ihr Handy wieder an den Gürtel.
»Kannst du unser Haus wirklich sicher machen?«, fragte
Sheila besorgt.
Die Dämonin schnippte lässig mit den Fingern. »Aber klar
doch. In euer Haus kommt ab sofort nichts und niemand mehr rein, der hier nichts
zu suchen hat und euch nicht willkommen ist. Nicht mal eine Mücke.« Sie zögerte
kurz. »Euer Einverständnis vorausgesetzt, bitte ich ein paar Feuerelementare,
jeden Vampir in Flammen aufgehen zu lassen, der einen von euch angreift.«
»Feuerelementare?« Sheila blickte Sam verständnislos an.
»Feuergeister. Sie existieren wie alle Elementargeister
überall unsichtbar um uns herum. Und Feuerelementare können alles in Brand
stecken, was brennbar ist. Vampire inbegriffen.« Sam grinste bösartig. »Die
verschaffen dann jedem Vampir, der euch angreift, ein wahrhaft flammendes
Inferno mit ihm selbst als Mittelpunkt.«
»Das wäre sehr hilfreich«, stimmte Vin zu. »Ich nehme an,
Nick hat schon lange so einen Schutz.«
Sam schnitt eine Grimasse. »Das hat sich dieser Sturkopf
nachdrücklich verbeten. Ein gestandener Werwolf wie er braucht doch keinen
magischen Schutz – meint er.« Sie zuckte mit den
Schultern. »Ich respektiere das, auch wenn es mir nicht gefällt, und verlasse
mich darauf, dass ich durch unseren Seelenbund rechtzeitig mitbekomme, wenn er
in einer Bredouille steckt, aus der er ohne meine Hilfe nicht mehr rauskäme.
Danach«, sie grinste schief, »wird er sich, statt sich für seine Rettung zu
bedanken, heftigst mit mir darüber streiten, dass ich mich eingemischt habe.«
Vin musste lachen. Was Sam beschrieb, deckte sich mit
dem, was er selbst schon oft an Nick beobachtete hatte. Trotz seiner Erfahrung
und seines Alters besaß der einen Hang zur Hitzköpfigkeit und einen unbeugsamen
Stolz, was ihm beides nicht immer gut tat.
Sam stimmte in sein Lachen ein und erhob sich. »Also, man
sieht sich, Leute.«
»Hey, was ist mit dem Schutz?«, fragte Sheila beinahe
erschrocken.
Die Dämonin grinste und zwinkerte ihr zu. »Der ist schon
längst an seinem Platz. Und die Feuerelementare schweben dienstbar um jeden von
euch herum.«
»Danke, Sam«, sagte Vin inbrünstig.
»Ich schreibe euch eine Rechnung«, versprach sie
scherzhaft und verschwand von einer Sekunde zur anderen wie sie gekommen war.
In dem Sessel, in dem sie gesessen hatte, lag ein Haufen von Armbrüsten,
Holzpfeilen, Messern mit Klingen aus Silber und Pistolen, die mit Silberkugeln
geladen waren sowie etliche gefüllte Ersatzmagazine.
Es verblüffte Vin immer wieder, über welche magische
Macht Sam verfügte. Sie benutzte sie zwar erstaunlich selten, und er hatte
keine Ahnung, wozu sie tatsächlich fähig war; aber diese Kräfte machten ihm
Angst, wenn er in welcher Weise auch immer mit ihnen konfrontiert wurde. Doch
wenn es darum ging, dass sein Rudel und vor allem Sheila geschützt wurde, waren
ihm die dazu erforderlichen Mittel herzlich gleichgültig.
Trotzdem würden sie alle morgen Nacht im Haus bleiben.
Nur für alle Fälle.
***
Ellis Island, New York. Eine Nacht
zuvor
Diana McAllister warf einen Blick aus dem Fenster des
Museums, ehe sie auf die Uhr sah und seufzte. Der Papierkram, den sie noch zu
erledigen gehabt hatte, war umfangreicher gewesen, als sie gedacht hatte. Jetzt
war es fast acht Uhr und draußen schon wieder dunkel. Obwohl es bereits Anfang
April war, ließ der Frühling dieses Jahr auf sich warten. Mancherorts lag noch
Schnee, und die Dämmerung brach früh herein. Diana sehnte sich nach Licht,
Sonne und Wärme. Wenn sie nach Hause kam, musste sie erst die Heizung
einschalten, und es würde über eine Stunde dauern, bis in der Wohnung eine
gemütliche Temperatur herrschte. Aber dann war es fast schon wieder Zeit, ins
Bett zu gehen.
Sie beneidete die Besucher, die sich längst zu Hause oder
anderswo einen gemütlichen Abend machten. Entschlossen schaltete sie den
Computer aus und räumte ihren Schreibtisch auf. Je schneller sie fertig wurde,
desto eher konnte sie nach Hause fahren.
Ein gurgelndes Geräusch, gefolgt von einem dumpfen
Poltern vor ihrer Tür ließ sieinnehalten. »Gary, sind Sie das?«
Solange noch jemand im Verwaltungsbereich arbeitete,
mussten auch ein paar Leute vom Wachpersonal anwesend sein, nicht nur die
übliche Nachtwache. Schließlich konnten die Alarmanlagen erst aktiviert werden,
wenn der letzte Mitarbeiter das Gebäude verlassen hatte. Heute war es die
Aufgabe von Gary Schuyler und seinem Partner Dave Cutter, mit ihr bis zum
bitteren Ende ihrer Arbeit auszuharren.
»Dave?«
Sie erhielt keine Antwort. Dafür rumpelte etwas durch den
Gang, gefolgt von einem erstickten Schrei. Bestimmt hatten die Reinigungskräfte
den Boden mal wieder zu gut gewienert und vergessen, ein Warnschild
aufzustellen. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand vom Personal oder ein
Besucher deswegen ausrutschte und stürzte.
Diana trat auf den Flur hinaus und stieß einen erstickten
Schrei aus, als sie sich unvermittelt einem Mann gegenüber sah, der nicht zum
Wachpersonal gehörte. Als sie in ihm den Arzt erkannte, der ihr vor ein paar
Wochen in der Notfallambulanz einen Schnitt am Arm genäht hatte, entspannte sie
sich.
Für eine Sekunde, denn der Mann hatte um diese Zeit hier
nichts zu suchen. Wie war er überhaupt hereingekommen? Als sie ihm in die Augen
sah, bekam sie Angst. Seine Augen waren über die gesamte sichtbare Fläche des
Augapfels pechschwarz. Zwar versuchte ihr Verstand, sie davon zu überzeugen,
dass der Arzt irgendeine Art von Kontaktlinsen trug, die diesen Effekt
erzeugten, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie in Gefahr war. Sie drehte sich
um und rannte.
Drei Schritte. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen und
starrte auf das nackte Grauen. Gary Schuyler und Dave Cutter lagen in
verrenkter Haltung zuckend am Boden. Zwei Männer knieten über ihnen. Jeder von
ihnen hatte sich in den Hals eines Wachpostens verbissen und saugte, von
knurrenden Lauten begleitet, dessen Blut.
Bevor Diana ihren Schock überwand, stand der Arzt vor ihr
und verzog den Mund zu einem bösartigen Grinsen, das zwei lange und spitze
Reißzähne entblößte. Die Zähne eines Raubtiers oder eines –
Vampirs.
Im nächsten Moment schlug er sie ihr brutal in den Hals
und riss ihr die Kehle heraus.
***
Sechzehn Stunden später
»Abscheulicher Mörder!«
Zwei Peitschenhiebe rissen Ashtons Haut auf und
hinterließen klaffende Wunden auf seiner Brust. Die Anklage brannte wie Salz
darin. Er ertrug den Schmerz und blickte seinem Ankläger in die Augen.
»Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid.«
Doch das ließ der Mann nicht als Entschuldigung gelten.
Zu Recht. Schließlich konnte Ashton die Toten nicht wieder lebendig machen.
Eine Frau kam gelaufen. »Mörder!« Sie spuckte ihn an.
Ein neuer Peitschenhieb. Noch eine brennende Wunde,
diesmal auf seinem Rücken. Weitere Gestalten erschienen und kreisten ihn ein.
»Mörder! Bestie! Widerlicher Verbrecher!«
Jedes Wort wurde von einem weiteren Hieb begleitet. Jede
Wunde verstärkte die Schmerzen und brannte nicht nur auf seinem Körper, sondern
noch heftiger in seiner Seele. Er schmeckte sein eigenes Blut und das Salz des
Schweißes, der ihm in Strömen über den Körper lief und auf dem rohen Fleisch
wie Säure brannte. Ashton biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Doch
es würde nicht mehr lange dauern, bis er seine Qual hinausbrüllte. Spätestens
wenn die Achtzehn vollzählig waren und sich auf ihn stürzten, um seinen Körper
mit bloßen Händen zu zerreißen.
Ashton war ein durchaus mutiger Mann, doch vor diesem entsetzlichen
Tod wäre er am liebsten davongerannt, obwohl er ihn seiner eigenen Überzeugung
nach durchaus verdient hatte. Er konnte sich jedoch nicht vom Fleck rühren. Das
durch ihn vergossene Blut klebte schwer an ihm und hielt ihn unnachgiebig fest.
Seine Ankläger näherten sich ihm mit ausgestreckten, zu Krallen gekrümmten
Fingern und entblößten Reißzähnen. Ashton hielt die Arme schützend vors Gesicht
und erwartete ihre fürchterliche Rache.
Sie blieb aus. Die Achtzehn erstarrten und lösten sich im
nächsten Moment auf wie Nebelschwaden. An ihrer Stelle stand die wohl schönste
Frau, die er je gesehen hatte. Rabenschwarze Locken mit bläulichen
Lichtreflexen fielen ihr bis zur Taille und ließen ihre alabasterweiße Haut
bleich wie der Mond erscheinen. Ihre vollen Lippen wirkten wie Linien aus Blut
in ihrem Gesicht.
Nur ein Detail störte das Bild vollkommener Schönheit:
ihre Augen. Sie waren pechschwarz über die gesamte sichtbare Oberfläche des
Augapfels. Nichts Weißes, nichts Farbiges unterbrach diese Schwärze. Es schien,
als würden sie jedes Licht in sich aufsaugen wie ein Schwarzes Loch. Der Blick
dieser Augen war kalt, mitleidlos und böse.
Die Frau lächelte ihm zu und kam mit wiegenden Schritten
näher. Sie machte eine lässige Handbewegung, und Ashtons Wunden waren
verschwunden. Ebenso das Blut auf seinem Körper und das Gefühl, mit
Stahlfesseln angekettet zu sein.
»Sie sind so dumm.« Ihre Stimme triefte vor Verachtung
für die verschwundenen Geister. »Aber ich weiß einen Mann wie dich zu
schätzen.«
Sie berührte seine Wange. Kalt. Eisig. Tödlich. Er fuhr
zurück, doch sie hatte ihn bereits gepackt und riss ihn mit unmenschlicher
Kraft zu sich heran. Ihre Arme umfingen ihn wie Stahlklammern. Sie entblößte
ihre spitzen Vampirzähne und schlug sie ihm in den Hals. Ein schwarzer Schatten
drang durch den Biss wie Gift in seine Seele. Er schrie und bäumte sich in
ihrer Umklammerung auf. Zu spät. Das Böse breitete sich bereits aus und
erstickte das Licht in ihm. Für immer.
***
Ashton fuhr mit einem wimmernden Ausruf hoch und fühlte
Frauenarme, die sich um seinen Körper legten. Reflexartig schlug er um sich.
»Ash! Ich bin’s: Stevie! Wach auf!«
Schwer atmend hielt er inne und brauchte einen Moment, um
sich seiner Umgebung bewusst zu werden. Er befand sich in seinem Haus in New York,
Brooklyn, 1197 East 39th Street, direkt gegenüber dem Amersfort Park. Er lag in
seinem Bett – unversehrt – und die Frau neben ihm war Stevie Price, seine
Lebensgefährtin, nicht die entsetzliche Dämonin aus seinem Traum. Sein Körper
brannte, als hätte er die Folter durch die Geister tatsächlich erlitten. Er war
in Schweiß gebadet, der das Bettzeug durchtränkt hatte. Trotzdem war ihm eisig
kalt.
Stevie strich ihm sanft über die Wange. »Ist ja gut, mein
Liebster. Ich bin bei dir. Alles wird gut.«
Ihre Nähe beruhigte ihn. Er nahm sie in die Arme, drückte
sie an sich und sog das Gefühl der Verbundenheit mit ihr in sich auf. Ihn und
Stevie einte nicht nur eine tiefe Liebe, sondern auch ein unauslöschlicher
Seelenbund, durch den er jetzt wieder Ruhe und vor allem ein mentales Licht in
sich strömen fühlte, das die schwarzen Schatten vertrieb, die der Biss der
dämonischen Vampirin in ihn gepflanzt hatte.
Stevie sah ihn mitfühlend an. »Die Albträume vergehen mit
der Zeit. Glaub mir.«
Das hoffte er inständig; denn getreu dem Motto, dass ein
schlechtes Gewissen ein sehr schlechtes Ruhekissen war, suchten diese Albträume
ihn seit neun Monaten mindestens einmal die Woche heim. Und sein Gewissen war
verdammt schwer belastet und würde es wohl noch auf Jahrzehnte hinaus bleiben.
Vielleicht sogar bis ans Ende seines Lebens. Wobei dieses Ende
höchstwahrscheinlich erst in ein paar Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden
kommen würde; eine Aussicht, die ihn immer noch erschreckte. Aber Vampire
lebten nun mal ewig, sofern sie nicht eines gewaltsamen Todes starben.
Dieser Albtraum war jedoch anders gewesen als die
bisherigen. Normalerweise erwachte Ashton, wenn sich die Toten auf ihn stürzten
und ihn zu zerfetzen begannen. Noch nie zuvor war diese Frau aufgetaucht. Ihn
schauderte bei der Erinnerung an ihre unmenschlich kalten Augen. Sie hatten
etwas abgrundtief Böses, Dämonisches an sich. Besaßen Dämonen überhaupt solche
Augen? Die einzige Dämonin, der er bisher begegnet war, hatte normale grüne
Augen, die nur manchmal rot glühten, wenn sie wütend wurde.
Er seufzte, tat die Frau als eine neue Variante des
Albtraums ab und gab Stevie einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. »Schlaf
weiter, Stevie. Tut mir leid, dass ich dich mal wieder gestört habe. Ich sollte
besser im Gästezimmer übernachten.«
»Kommt nicht in Frage. Du willst doch nicht, dass ich
mich einsam fühle.« Sie küsste ihn verführerisch und ließ ihre Hände seinen
nackten Rücken hinab gleiten.
Doch Ashton stand nicht der Sinn nach Sex, so wunderbar
der mit Stevie jedes Mal war. »Ich muss eine Weile allein sein.«
Sanft wand er sich aus ihrer Umarmung und schwang sich
aus dem Bett. Er wusste aus Erfahrung, dass er nach so einem Traum nicht wieder
würde einschlafen können. Obwohl es im Schlafzimmer für menschliche Augen
völlig dunkel war und die Spezialjalousien vor den Fenstern keinen noch so
winzigen Lichtstrahl hereinließen, spürte Ashton mit dem sicheren Instinkt
eines Vampirs, dass es bereits früher Nachmittag und in ein paar Stunden
ohnehin Zeit zum Aufstehen war.
Er ging ins Bad und duschte ausgiebig. Das heiße Wasser
vertrieb die Kälte, die er immer noch in den Knochen spürte. Anschließend
fühlte er sich etwas besser. Dafür hatte er jetzt Hunger. Er ging in die Küche
und setzte einen wasserdünnen Kaffee auf, den ein Mensch kaum als Kaffee
bezeichnet hätte. Die Verwandlung in einen Vampir veränderte das
Geschmacksempfinden so vollständig, dass normale Speisen verwürzt, versalzen
oder widerlich süß und ganz und gar ungenießbar schmeckten. Ganz abgesehen
davon, dass Vampire sie sowieso nicht mehr verdauen konnten und sie
unverbraucht wieder ausschieden. Erst im Lauf der Zeit konnte ein neuer Vampir
im Zuge des Gewöhnungsprozesses lernen, einen normal starken Kaffee zu trinken,
ohne ihn wegen seiner Bitterkeit gleich wieder auszuspucken.
Allerdings war der Gewöhnungsprozess erforderlich für die
notwendige Tarnung als Mensch. Die Menschen liebten zwar ihre Film- und
Romanvampire, doch es wäre nicht ratsam, wenn sie erführen, dass diese Spezies
tatsächlich existierte und mitten unter ihnen lebte und arbeitete. Wie in den
Romanen wäre ein Teil der Menschen fasziniert von ihnen und würde alles
versuchen, um ebenfalls verwandelt zu werden. Andere würden in ihnen ein Gräuel
sehen, das gegen Gottes Plan verstieß und versuchen, sie zu vernichten.
Dasselbe Bestreben hätten auch diejenigen, die sich vor
der übermenschlichen Kraft und Schnelligkeit der Vampire fürchteten und davor,
dass die ihren natürlichen Hunger nach Blut an Menschen stillten. Dabei war Menschenblut
nach dem obersten Gesetz der Vampire absolut tabu. Wer dieses Gesetz brach,
wurde mit dem Tod bestraft. Selbst wenn der Mensch, dessen Blut er trank, ihm
das ausdrücklich gestattet hatte.
Ashton war erst seit neun Monaten ein Vampir und hatte sich
noch lange nicht daran gewöhnt. Immerhin erfüllte es ihn nicht mehr mit
Abscheu, dass er Blut als Nahrung brauchte. Er hatte sogar eine Lieblingssorte:
Pferdeblut, von dem er jetzt eine Literflasche aus dem Kühlschrank nahm und sie
in einem Wasserbad auf dem Herd auf Körpertemperatur erwärmte.
Während das Blut langsam warm wurde, ging er in sein
Arbeitszimmer. In einer durch einen Paravent abgetrennten Ecke stand ein Tisch
mit einer dicken Stumpenkerze darauf. Er zündete sie an. Neben ihr lagen auf
einem dunkelblauen Tuch achtzehn faustgroße Steine liebevoll in einem
Spiralmuster arrangiert. Alle wiesen eine besonders schöne Maserung auf, und
jeder von ihnen trug einen eingravierten Namen: Neferton Vincent
Cronos. Lisa Hamilton.
Shakti Surijam. Sawyer van Doren. Colin Ferguson. Jack Walsh. Sarina Marsdon.
Jim und Jerry Blackthorne. Kendra Coolridge. Leila Hamadi. Glen Singer. Aaron
Hawks. John Sachs. Ruby Oldfield. Hassan Aziz. Jenny
Brooks. Carl Walker.
Ashton hatte sie alle getötet, weil sie Vampire waren.
Das war damals sein Job als Vampirjäger gewesen. Seit er miterleben musste, wie
seine Frau Mary von einem Vampir ermordet wurde, widmete er sich zusammen mit
Gleichgesinnten der Aufgabe, die Menschen vor verbrecherischen Vampiren zu
schützen, die sie als billige Nahrungsquelle benutzten. Im Gegensatz zu den
restlichen vierundfünfzig Vampiren, die er in den zehn Jahren seiner Tätigkeit
zur Strecke gebracht hatte, waren diese achtzehn jedoch völlig unschuldig
gewesen. Was er damals nicht wusste. Davon abgesehen hatte er sie aus purer
Rachsucht ermordet. Zur Strafe dafür suchten sie ihn seitdem in seinen
Albträumen heim und nahmen auf diese Weise Rache an ihm.
Aston nahm den Cronos-Stein in die Hand. Er war der
schönste und größte von allen; denn Cronos’ Tod bedauerte Ashton am meisten.
Zehn Jahre war er überzeugt gewesen, dass Cronos Mary umgebracht hatte; ein
Irrtum, wie er erst viel zu spät erfahren hatte. Nicht Cronos hatte Mary
ermordet, sondern er hatte ihren Mörder hingerichtet. Doch als Ashton ihn über
die Leiche seiner Frau gebeugt sah, war er überzeugt, dass er sie getötet haben
musste. Weder Ashton noch die restlichen Jäger wussten damals, dass die Vampire
überhaupt Gesetze besaßen, geschweige denn, dass die »Wächter«, zu denen Cronos
gehört hatte, streng über deren Einhaltung wachten und jeden Verstoß
unnachsichtig ahndeten.
Ashtons Rachedurst hatte am Ende nicht nur ihn selbst
zerstört. Cronos Gefährtin hatte sich furchtbar an ihm gerächt und ihn
ebenfalls in einen Vampir verwandelt, ehe sie Selbstmord beging. In seiner
Verzweiflung und getrieben von seinem Hass auf Vampire, jagte er sie noch
unbarmherziger als zuvor und tötete jeden, der das Pech hatte, ihm über den Weg
zu laufen. Als es den Wächtern nach fünf Tagen endlich gelang, seinen Amoklauf
zu stoppen und ihn festzunehmen, hatte er bereits siebzehn harmlose und völlig
unschuldige Vampire vernichtet. Ashton Ryder, der Ex-Cop, Ex-Navy-SEAL,
Privatermittler und Jäger verbrecherischer Vampire, war zu einem Massenmörder
geworden.
Lediglich seine Unkenntnis der vampirischen Gesetze zum
Zeitpunkt dieser Verbrechen hatte ihn vor der sonst unweigerlich folgenden
Todesstrafe bewahrt und von jeglicher Schuld freigesprochen. Trotzdem oder
gerade deshalb fiel es ihm schwer, diese in seinen Augen unverdiente Gnade zu
akzeptieren. Es gab nur einen Weg für ihn, sich ihrer als würdig zu erweisen
und seine Schuld zu sühnen, da er die Toten nicht wieder lebendig machen
konnte. Er war ein Wächter geworden und hatte Cronos’ Platz in den Reihen der
Wächter eingenommen. Ein Teil von ihm konnte immer noch nicht fassen, dass sein
Amtseid nicht nur akzeptiert worden war, sondern dass die Höchsten Mächte –
Gott – ihm seine Schuld in vollem Umfang vergeben hatten.
Damit nicht genug hatte die New Yorker Vampirkolonie ihn auch
noch zu ihrem Oberhaupt gewählt – einstimmig. Obwohl er eben diese Kolonie
unmittelbar nach seiner Verwandlung an die Jäger verraten hatte.
Stevies Erklärung für diese Dinge lautete lapidar, dass
Vampire manche Dinge völlig anders beurteilten als Menschen und auch eine
andere Mentalität besaßen. Nicht nur sie war der Überzeugung, dass Ashton eines
Tages auch sich selbst würde vergeben können. Er war allerdings noch lange
nicht so weit und fühlte sich durch diese geballte Ladung Nachsicht, die ihm
gerade auch von Cronos’ Freunden entgegengebracht wurde, nur noch schuldiger.
Jedoch waren seine Schuldgefühle gleichzeitig seine Motivation, seinem Job als
Wächter und Präfekt der Kolonie bestmöglich gerecht zu werden.
Er strich mit den Fingerspitzen über den Cronos-Stein,
ehe er ihn wieder zurück auf den Tisch – den Altar – legte. Stevie hatte ihm
zwar davon abgeraten, diese Gedenkstätte in seinem Haus einzurichten, aber das
war ihm ein Bedürfnis. Wenn ein Vampir getötet wurde, zerfiel er zu Staub,
sodass nichts mehr von ihm übrig blieb, das man beerdigen konnte. Somit gab es
auch kein Grab, an dem man trauern konnte. Da außer Cronos noch fünf weitere
Vampire, die Ashton damals vernichtet hatte, Stevies Freunde und ehemalige
Schützlinge gewesen waren, wollte er ihr auf diese Weise einen Ort zum Trauern
und Gedenken geben. Auch wenn sie es bis jetzt nicht zugab, wusste er doch,
dass sie davon Gebrauch machte und regelmäßig an diesem Altar ein Gebet für die
Toten sprach.
Ashton betete nicht, aber er verneigte sich vor dem
Altar, ehe er die Kerze löschte und in die Küche zurückkehrte, wo das
Pferdeblut inzwischen die richtige Temperatur erreicht hatte.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken.
Da er normalerweise um diese Zeit noch schlief, sprang der Anrufbeantworter
sofort an. Obwohl das Gerät nahezu stumm geschaltet war, konnte Ashton mit
seinem sensiblen Gehör trotzdem jedes Wort verstehen.
»Hallo Ash«, sagte Harry Quinn, sein Vorgesetzter bei der
Detektei PROTECTOR, für die Ashton und Stevie arbeiteten. »Ich weiß, ihr liegt
um diese Zeit noch im Bett, aber ich glaube, wir haben ein ernstes Problem.
Meldet euch, sobald ihr wach seid.«
Ashton stand in weniger als einer Sekunde neben dem
Telefon und nahm den Hörer ab. »Ich bin schon wach, Harry. Was für ein Problem
gibt es?«
»Drei Leichen auf Ellis Island mit signifikanten
Bissmalen am Hals. Heute Morgen gefunden. Kann es sein, dass du seit Neuestem
ein faules Ei in deiner Kolonie hast?«
Harry Quinn gehörte ebenso wie zwölf weitere Frauen und
Männer zur Vampirjägertruppe von PROTECTOR. Die Detektei war nach außen hin
eine renommierte Privatermittlungsgruppe mit Zweigstellen im ganzen Land sowie
in Europa. Hinter dieser Fassade war es PROTECTORs erklärte Aufgabe, Menschen
vor Vampiren, Werwölfen, Dämonen, Hexen und ähnlichen unfreundlichen Leuten zu
schützen. Bis zu Ashtons Verwandlung hatten sie alle keine Ahnung davon gehabt,
dass jede dieser Spezies ihre eigene Polizei besaß und deshalb wahllos jeden
ihrer Vertreter getötet, den sie identifizieren konnten. Erst durch Ashtons
Intervention war es ihnen gelungen, eine Allianz zu schließen und
zusammenzuarbeiten statt gegeneinander.
Jedoch stand diese Allianz immer noch auf tönernen Füßen
und war die mit dem in London ansässigem Hauptquartier vereinbarte Probezeit
von fünf Jahren noch lange nicht abgelaufen. Ashton war sich durchaus bewusst,
dass jederzeit der alte Krieg zwischen menschlichen Jägern und Vampiren wieder
aufflammen konnte, sollte PROTECTOR zu dem Schluss kommen, dass die Wächter
nicht in der Lage wären, ihre Gesetze angemessen zum Schutz der Menschen
durchzusetzen. Wenigstens hier in New York würde niemand in der Hinsicht
voreilig handeln, denn Harry Quinn war seit fast elf Jahren Ashtons Freund.
Diese Freundschaft hatte letztendlich sogar die Zerreißprobe seiner Verwandlung
in einen Vampir unbeschadet überstanden.
»Nein, Harry, seit zwei Monaten sind keine neuen Leute in
die Kolonie gekommen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass einer der hier
Ansässigen dafür verantwortlich sein könnte. Was ich aber selbstverständlich
gründlich prüfen werde. Ich tippe auf einen Durchreisenden.« Dessen Anwesenheit
hätte er aber spüren müssen, kaum dass er die Stadtgrenze erreicht hätte. »Egal
wer dafür verantwortlich ist, wir kriegen ihn. Mein Wort drauf.« Er ballte die
Hand zur Faust.