Cover

Jan Fleischhauer

Der schwarze Kanal

Was Sie schon immer von Linken ahnten, aber nicht zu sagen wagten

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Jan Fleischhauer

Jan Fleischhauer, geboren 1962 in Hamburg, Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie, danach Besuch der Henri-Nannen-Schule von Gruner+Jahr. Seit 1989 Redakteur beim SPIEGEL in wechselnden Funktionen, darunter stellvertreternder Leiter des Wirtschaftsressorts und stellvertetender Leiter des Hauptstadtbüros. Von 2001 bis 2005 Wirtschaftskorrespondent in New York. Seit September 2008 Autor des SPIEGEL in Berlin. Sein Buch «Unter Linken» wurde zum Bestseller. Er bloggt unter www.unterlinken.de.

Über dieses Buch

Niemand in Deutschland vermag es, die linken Lebenswelten so boshaft-elegant zu sezieren wie Jan Fleischhauer. Diesmal nimmt er sich einige der wichtigsten Themen der aktuellen Politik vor: Plagiatsaffären und Eurokrise, Rabattpräsidenten und Pressemacht, Gleichstellung und Atomausstieg. Mit der ihm eigenen Spottlust wendet er sich dabei gegen die Mehrheitsmeinung in den Medien und die Dauermoralisierung von Politik. Ein ebenso geistreiches wie provozierendes Buch!

 

Mit Zeichnungen von Greser & Lenz

 

«Es ist ein Genuss, Fleischhauer zu lesen – so viel kluge Bosheit kommt selten so leichtfüßig daher.» Henryk M. Broder

Impressum

Die Texte in diesem Band sind zuerst unter dem Titel «S.P.O.N. – Der schwarze Kanal» bei SPIEGEL ONLINE erschienen und wurden für den Druck leicht überarbeitet.

 

Die Zeichnungen von Greser & Lenz sind zuerst in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und im «Stern» erschienen.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

© SPIEGEL ONLINE GmbH, Hamburg 2012

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

(Umschlagabbildung: © FinePic, München)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-62975-4 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-46241-0

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-46241-0

Vorwort zum Geleit

Neulich erreichte mich über Facebook die Zuschrift des Lesers Mick Jelnikow. «Die absolut widerwärtige Grütze, die Sie regelmäßig bei SPIEGEL ONLINE veröffentlichen müssen, können Sie sich in Ihre öligen Haare schmieren», schrieb er mir. «Der Gipfel der Unverschämtheit ist Ihr heutiger Erguss ‹Lichterkette für Guttenberg›. Sie sind ein total kaputter Typ.»

Eine wöchentliche Kolumne ist eine wunderbare Sache. Welcher Journalist träumt nicht davon, regelmäßig das Tagesgeschehen kommentieren zu dürfen? Man bekommt auch ein schönes Foto und gelegentlich Einladungen in Talkshows. Nur sollte man nicht erwarten, dass einen die Leute ins Herz schließen, zumindest dann nicht, wenn man solche Sachen schreibt wie ich. Die Wahrheit ist: Mick Jelnikow ist nicht der Einzige, der mich für einen total kaputten Typen hält. Tatsächlich scheint es sogar ziemlich viele Menschen zu geben, die so denken wie er.

Wenn es einen Preis für die meistgehasste Kolumne in Deutschland gäbe – ich glaube, ich hätte gute Aussichten, ihn zu gewinnen. Ich will mich nicht beklagen. Wer unter seinem Namen Meinungsbeiträge veröffentlicht, sucht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit; deshalb sollte er auch nicht zu empfindlich sein, wenn es Widerspruch gibt. Trotzdem stelle ich mir natürlich hin und wieder die Frage, warum sich viele Leser durch den «Schwarzen Kanal» so provoziert fühlen, dass sie den Deutschen Presserat anrufen oder Aufrufe für ein sofortiges Publikationsverbot ins Netz stellen. Ich bemühe mich um einen heiteren Ton, selbst wenn die Umstände ernst sind. Ich beleidige niemanden, rufe nicht zu unüberlegten Handlungen auf und mache auch keine abfälligen Kommentare über irgendwelche Randgruppen. Ich habe sogar aufgehört, weiter böse Sachen über Claudia Roth zu verbreiten. Aber all das ändert nichts daran, dass ich als jemand gelte, der von «Demokratie, Rechtsstaat und fairem Journalismus» keine Ahnung hat, wie es ein Leser im «Forum» bei SPIEGEL ONLINE formulierte. Um von bestimmten Leuten für schwer gestört gehalten zu werden, reicht es offenbar, dass man sich nicht ganz doll vor dem nächsten Atomunfall fürchtet, Datenschutz für eine deutsche Marotte hält, der Marktwirtschaft trotz aller Turbulenzen die Daumen drückt und generell nichts Schlimmes dabei findet, wenn die Regierung in der Euro-Krise versucht, das Geld der Bürger vor dem Zugriff der Nachbarn zu schützen. Mit anderen Worten: wenn man die Dinge so sieht wie eine große Zahl von Menschen in Deutschland.

Bei einer Kolumne, die «Der schwarze Kanal» heißt, liegt die Vermutung nahe, dass die schärfsten Kritiker aus der linken Glaubenswelt stammen. Gelassenheit ist in diesem Milieu keine besonders ausgeprägte Tugend, wie ich schon an anderer Stelle feststellen konnte. Tatsächlich reagieren gerade Linke sehr aufgeregt, wenn sie mit Anschauungen konfrontiert werden, die ihren eigenen Überzeugungen widersprechen. Das mag auch damit zusammenhängen, dass sich Linke am liebsten unter ihresgleichen aufhalten, allen Beschwörungen des Multikultilarismus zum Trotz. Sie sind es einfach nicht gewohnt, auf abweichende Meinungen zu stoßen, schon gar nicht in einem Medium, das für viele seiner Leser dort zu stehen hat, wo sie selber stehen. Wenn es doch passiert, und dazu noch an einer so prominenten Stelle wie einer Kolumne, sind sie verständlicherweise irritiert. Vielleicht sollte man den Leuten raten, mehr aus sich herauszugehen. Die Begegnung mit Andersdenkenden kann durchaus bereichernd sein, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Wirklich.

Die Idee zu der kolumnistischen Plattform auf SPIEGEL ONLINE entstand im Herbst 2010 bei einem Mittagessen mit dem Verleger Jakob Augstein. Es gibt nicht viele Plätze im deutschen Journalismus, wo man im Prinzip machen kann, was man will. So einen Platz für jeden Wochentag zu etablieren schien uns ein lohnendes Ziel. Sieben Tage, sieben Köpfe – mit diesem Prinzip hatte schließlich schon RTL Erfolg gehabt. Wir waren uns auch sofort einig, dass so eine Unternehmung nur im Internet eine Chance haben würde. Augstein erschien mir für das Vorhaben der ideale Partner. Er ist trotz seines Vermögens sehr links (eine Kombination, die nicht ganz so selten ist, wie man vermuten sollte), und er ist erfreulich furchtlos (was ihn nun wiederum von vielen seiner Glaubensgenossen eindeutig unterscheidet). Außerdem gehört er zu den wenigen Linken, die sich über Widerspruch freuen, ja, diesen geradezu herausfordern. «Natürlich wieder großer Unsinn, was Du geschrieben hast, aber sehr lustig», lautet eine typische Aufmunterungs-Mail von ihm.

Als ich mit dem «Schwarzen Kanal» anfing, hatte ich Angst, mir würden die Themen ausgehen. Man will sich ja nicht ständig wiederholen. Wie sich herausstellte, waren meine Sorgen umsonst. Vor ein paar Jahren hat der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurter ein Buch vorgelegt, das der Frage nachgeht, warum es so viel Bullshit in der Welt gibt. 27 Wochen hielt sich seine Abhandlung auf der Bestsellerliste der «New York Times», was zeigt, dass die Frage offenbar eine Menge Menschen bewegt. Leider gibt es für Bullshit kein gutes deutsches Wort. Humbug wäre eines, aber es trifft nicht wirklich das Wesen dieser nahezu allgegenwärtigen Form des Blödsinns. Das politische Leben ist eine schier unerschöpfliche Quelle von Bullshit. In kaum einem anderen Berufsfeld trifft man so viele Menschen, die mit todernster Miene den größten Schmonzes von sich geben, obwohl man meinen sollte, sie müssten sofort in schallendes Gelächter ausbrechen.

Eindeutig bullshitfördernd ist dabei die Tendenz, aus jeder politischen Entscheidung eine moralische Frage zu machen. Politik bedeutet zunächst die Abwägung von Interessen, nicht von moralischen Gütern, aber das gerät im modernen Vollzug oft in Vergessenheit. Wo alles zu einer Wahl zwischen Gut und Böse gerät, kann es nicht ausbleiben, dass die Proportionen verschwimmen und der Realitätsbezug leidet. So kommt es, dass wegen fünf Euro Hartz IV die soziale Eiszeit droht und eine stümperhafte Doktorarbeit das Land gleich auf den Weg in «eine andere Republik» führt. Ein Nebeneffekt der Moralisierung von Politik ist der völlige Verlust von Ironie. Tatsächlich ist das Moralische dezidiert ironiefeindlich, da sich in der Ironie eine Distanz verrät, die antipathetisch wirkt. Ohne Pathos aber ist Moral nicht zu haben, schon gar nicht die «Moralhypertrophie» (Arnold Gehlen) der politisch motivierten Gesinnungsethik.

Es gibt bessere und schlechtere Tage für einen politischen Kolumnisten. Am schönsten sind natürlich die Wochen, in denen sich das Land in einen kollektiven Erregungszustand hineinredet (haben wir wirklich über zwei Monate mit der Wulff-Affäre zugebracht?). Aber auch in den eher flauen fällt genug ab. Versuchen Sie mal, einem Außenstehenden zu erklären, warum wir Deutsche kein Problem haben, uns mit anderen nackt in die Sauna zu setzen, aber sofort unsere Privatsphäre verletzt sehen, wenn jemand unser Haus fotografiert. Das Land steckt voller Widersprüche.

Keine Frage, es gäbe genug Gründe, sich nicht nur über die linke Seite des politischen Spektrums lustig zu machen. Auch die Konservativen haben ihre Obsessionen, die aufzuspießen sich lohnt. Mein Eindruck ist nur: Dies Geschäft besorgen schon genug Leute. Wo ist der Witz, als zweiundachtzigste Stimme in den Guttenberg-Verdammungschor einzufallen? Wenn mir eines an der Linken immer gefallen hat, dann ist es ihr Eintreten für Minderheiten. In diesem Sinn ließe sich also sagen: Der «Schwarze Kanal» steht verlässlich auf Seite derjenigen, auf die das Schwert der öffentlichen Meinung niedergeht, ohne dass sich eine Hand zu ihrer Verteidigung rührt. Der Kollege Alan Posener von der «Welt» hat mir kürzlich vorgehalten, ich würde ja nur die «Süddeutsche Zeitung» lesen und dann einfach das Gegenteil behaupten. Wenn es bloß so einfach wäre. Unvorhersehbarkeit beweist sich nicht nur, indem man laufend seine Meinung wechselt; manchmal kann die Originalität gerade darin bestehen, dass man seinem Standpunkt treu bleibt. Außerdem gibt es wirklich schwierige Mandanten. Rupert Murdoch war kein einfacher Fall, wie ich in aller Bescheidenheit sagen darf, und auch der Freiherr zu Guttenberg hat es einem im letzten Jahr nicht immer leichtgemacht.

Wenn ich die Haltung beschreiben sollte, aus der heraus die in diesem Band versammelten Kolumnen entstanden sind, dann würde ich sie als heiteren Pessimismus bezeichnen. Ich bin nicht der Meinung, dass die Linken an allem Schuld sind (außer vielleicht am Verfall der Tischmanieren, den trage ich ihnen wirklich nach). Ich glaube auch nicht, dass unser Land dem Untergang geweiht ist, wenn sie wieder die Macht übernehmen sollten, wie ich überhaupt ziemlich immun gegen Untergangsängste bin. Ob die Welt danach allerdings ein besserer Platz wäre, wie vielfach behauptet, scheint mir doch eher fraglich. Ansonsten halte ich mich an den Satz von Karl Kraus: «Was trifft, trifft auch zu.» Daran gemessen kann nicht alles verkehrt sein, was sich im Folgenden an Texten findet – das ist jedenfalls die Hoffnung, an der ich mich festhalte.

Utopie und Terror

Selbst in der eigenen Partei waren sie zuletzt etwas unglücklich über die Vorsitzende der Linken und ihr Bekenntnis zum Kommunismus. Allerdings weniger aus inhaltlichen Gründen, wie die halbherzigen Distanzierungen zeigten. In der Sache hatten dort nur die wenigsten an den Äußerungen von Gesine Lötzsch etwas auszusetzen. Man nahm ihr vor allem übel, dass sie den Leuten so direkt auf die Nase gebunden hatte, wohin die Reise mit der Linkspartei geht, sollte sie wieder an die Macht kommen.

Von einer «unglücklichen Formulierung» sprach Gregor Gysi entschuldigend; wer über Kommunismus rede, müsse damit rechnen, dass andere dabei auch an Stalin und die Mauer dächten. Ja, an was denn sonst? Etwa an die Segnungen der chinesischen Kulturrevolution, die vorbildlichen marxistischen Erziehungsexperimente in Kambodscha oder die Vorzüge der kleinen Dschungeldespotie auf Kuba?

Ihren Kinderglauben an die moralische Überlegenheit des Kommunismus hat sich die Linke in Deutschland bis heute nicht nehmen lassen, das gilt weit über die Linkspartei hinaus. Niemand klaren Verstandes käme auf die Idee, am Nationalsozialismus noch irgendetwas Gutes zu sehen; beim Kommunismus, der anderen mörderischen Großideologie des 20. Jahrhunderts, ist das selbstverständlich anders. Der Trick besteht darin, Idee und Ausführung zu trennen. Linke meinten mit Kommunismus etwas «sehr Edles», heißt es von Leuten wie Gysi in schöner Unschuld, nämlich eine «höchst gerechte und humane» Gesellschaft. Das Ideal ist nur ohne die entsprechende Praxis nicht zu haben.

Der Klassenwahn endet, konsequent zu Ende gedacht, nicht viel besser als der Rassenwahn. Es ist kein Zufall, dass überall dort, wo sich Revolutionäre daranmachten, die marxistische Idee in die Wirklichkeit zu überführen, als Erstes die Umerziehungslager eröffneten. Wer eine klassenlose Gesellschaft anstrebt, wird die Feinde dieser Gesellschaft aus dem Verkehr ziehen müssen. Die kommunistische Utopie, in der Gier und Egoismus ausgemerzt sind, setzt auf die Verbesserung des Menschengeschlechts, anders funktioniert es nicht. Weil man ewig darauf warten müsste, dass sich der Mensch von selber bessert, kommt man nicht umhin, von Staatswegen nachzuhelfen, daher immer auch der Terror.

Zu den Meinungen, mit denen man sich in Deutschland aus gutem Grund unmöglich macht, gehört die Verharmlosung der Nazi-Diktatur. Wer heute von den Opfern spräche, die «im Namen des Nationalsozialismus» ihr Leben ließen, hätte sich diskursmoralisch zu Recht disqualifiziert. Wenn umgekehrt die Abgeordnete Sahra Wagenknecht angesichts der 90 Millionen Toten, die auf das Konto des praktischen Marxismus gehen, von den Verbrechen spricht, «die im Namen des Kommunismus begangen wurden», findet komischerweise niemand etwas dabei.

Irgendwie gelten die Leichen, die der Kommunismus hinterlassen hat, immer noch als bedauerlicher, aber entschuldbarer Betriebsunfall der Geschichte. «Vertreibung der Kulaken durch Stalin» nannte Jürgen Habermas schon im berühmten Historikerstreit nonchalant, was mit schätzungsweise 10 Millionen Toten eine der größten Auslöschungsaktionen der Geschichte ist. Das «Schwarzbuch des Kommunismus», eine erste Aufzählung der in der Umsetzung der marxistischen Theorie verübten Verbrechen, wurde im deutschen Feuilleton vor allem unter der Frage diskutiert, ob man «roter Holocaust» sagen dürfe. Ansonsten galt das «Schwarzbuch» als «Tendenzhistorie» (Hans Mommsen), die auf «Pauschalverurteilungen statt Erklärungen» setze. Manchmal können Pauschalverurteilungen durchaus angezeigt sein.

Warum Grün nicht das neue Gelb ist

Zu den politischen Wieselwörtern, die derzeit in Mode sind, gehört das von den Grünen als «neuer FDP». Die Grünen, so heißt es, könnten dem liberalen Bürgertum, das sich von den Freidemokraten abwendet, eine neue Heimstatt bieten. In einem bemerkenswerten Interview mit dem «Handelsblatt», das marktwirtschaftlich denkenden Menschen naturgemäß besonders nahesteht, hat der Parteivorsitzende Cem Özdemir alle enttäuschten FDP-Wähler eingeladen, doch beim nächsten Mal grün zu wählen. «Unsere Arme sind weit geöffnet», erklärte er und setzte hinzu: «Der von mir sehr verehrte Ralf Dahrendorf würde sich heute (…) bei den Grünen wohler fühlen.»

Auf den ersten Blick spricht einiges für die Annahme, dass die Grünen die immer neuen Tiefständen entgegentaumelnde FDP beerben könnten. Ihre Anhänger rekrutieren sich in großer Zahl aus einem Milieu, das mit dem der Liberalen viele Gemeinsamkeiten aufweist: Sie sind wie diese überdurchschnittlich gebildet, überdurchschnittlich gut verdienend, auch ausgesprochen statusbewusst und politisch interessiert. Oft wohnen beide Wählergruppen sogar Tür an Tür, also in den durchgrünten Innenstadtlagen mit Altbaubestand, wo die ärgerlichen Begleiterscheinungen des Großstadtlebens in angenehmer Distanz bleiben.

Soweit mit dem Wort von der «neuen FDP» allerdings auch weltanschauliche Übereinstimmungen gemeint sind, könnte nichts von der Wirklichkeit weiter entfernt sein. Tatsächlich sind die Grünen in ihrem Wesenskern das genaue Gegenstück zu einer liberalen Partei. Von den fünf im Bundestag vertretenen politischen Organisationen ist die FDP heute die einzige, die sich einen Rest gesunder Staatsskepsis bewahrt hat, was mit der Soziologie der Anhängerschaft korrespondiert. Nur in ihr lebt noch der Gedanke fort, dass der Griff in die Tasche der Bürger zu begründen ist, nicht umgekehrt die Abstinenz davon.

Die Grünen hingegen sind ganz und gar Partei des öffentlichen Dienstes, er bildet ihr eigentliches Rückgrat, daher auch die ausufernden Sozialprogramme in ihrem Forderungskatalog, die ja nicht nur den Bedürftigen zugutekommen, sondern mindestens ebenso verlässlich den Agenten des Sozialstaats, die diese Programme exekutieren sollen. Ihre treueste Anhängerschaft hat die Ökopartei traditionell neben der BAT-Boheme in den Betreuungsberufen, also dem kaum noch zu überschauenden Heer der Sozialarbeiter und psychologisch geschulten Fachkräfte, die von den sozialstaatlichen Reparaturaufträgen leben.

Schon die Achtundsechziger, aus deren Reihen viele Frühgrüne stammten, waren ganz vernarrt in den Staatsdienst, allen anderslautenden Proklamationen zum Trotz. Nie wieder stieg die Zahl der öffentlich Beschäftigten schneller als zwischen 1968 und 1978. Die Linksavantgarde erkannte schnell, dass es sich von der Warte der kündigungssicheren Festanstellung mit dynamisiertem Rentenanspruch besser über das Elend der Gesellschaft philosophieren lässt als aus den zugigen Etagen des freien Unternehmertums oder der selbstfinanzierten Gegenwelt.

Für die Grünen ist die Begriffsverwirrung relativ gefahrlos. Ihre Anhänger wissen schon, was sie an ihnen haben, da machen ein paar Avancen ins andere Lager niemanden kirre. Bei den Wählern der FDP kann man da nicht so sicher sein. Insofern mag sich der Etikettenschwindel sogar auszahlen, jedenfalls so lange, bis dann die Rechnung präsentiert wird.

Sonnencreme und Kriegshandwerk

Die letzte Enthüllung über das Leben auf der Gorch Fock betraf ein paar Runden Wasserski auf offenem Meer, da war die Betroffenheit schon hinreichend groß. Von «unhaltbaren Zuständen» und «schikanösen Befehlen» war die Rede; solche Skandale, die in erster Linie Vorgesetzte zu verantworten haben, schaden dem Ansehen der Bundeswehr», erklärte der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Philipp Missfelder. Doch wo genau lag im Rückblick eigentlich der Skandal? In der rauen Behandlung an Bord, die aus Abiturienten Soldaten machen soll, oder nicht eher in der Wehleidigkeit der Marinekadetten, die den Kommandanten dazu veranlasste, sich über deren mangelnde körperliche Tüchtigkeit zu beklagen?

Natürlich ist es nicht schön, von seinen Vorgesetzten angeherrscht oder angebrüllt zu werden, das hat niemand gerne, aber in einem normalen Unternehmen pfeifen einem auch keine Kugeln um die Ohren. Was die vielbeklagten Ekelrituale angeht, lässt sich nur sagen: Da ist man von jeder Folge «Dschungelcamp», an dem sich jedes Mal die halbe Nation weidet, Schlimmeres gewöhnt. Der Gewinner der letztjährigen Staffel, Peer Kusmagk, wäre froh gewesen, wenn er den Kopf nur in ein bisschen braune Pampe hätte stecken müssen. Der arme Kerl wurde zum Abschluss mit Ratten in einen Sarg gesteckt, so sieht Menschenschinderei aus!

Irgendwie scheint aus dem Blick geraten, dass die Kadetten, die sich beim Wehrbeauftragten über einen unerträglichen Druck an Bord beklagten, keine Rekruten waren, sondern Offiziersanwärter, also Männer und Frauen, von denen man erwartet, dass sie später im Gefecht einen kühlen Kopf bewahren und die richtigen Befehle geben. Unter Feindbeschuss kann man leider auch nicht mit dem Hinweis, man habe noch Sonnencreme an den Fingern, das Gewehr zur Seite legen.

Aber genau hier liegt möglicherweise das Missverständnis, das dem Fall solche Aufregung bescherte: Das Kriegshandwerk ist mit der Käßmann-Kultur, in der man anderen mit ganz viel Verständnis begegnet, nur bedingt kompatibel. Wir haben uns offenbar immer noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass die Bereitschaft zu töten im Krieg unabdingbar ist – was uns allerdings nicht daran hindert, gleichzeitig im Bundestag das Afghanistan-Mandat zu verlängern und damit weitere Soldaten einem erstaunlich rücksichtslos agierenden Feind entgegenzuschicken.

Der Tod der jungen Kadettin, die beim Aufentern den Halt verlor, ist tragisch und für die Eltern ein grausamer Verlust, aber der Alltag in einer Armee ist zwangsläufig mit besonderen Gefährdungen verbunden. Seit Indienstnahme der «Gorch Fock» als Marineschulschiff sind dort sechs junge Menschen ums Leben gekommen; jedes Jahr gibt es bei der Bundeswehr tödliche Unfälle, weil sich versehentlich ein Schuss löst oder jemand unter eine Panzerkette gerät. Wer sich für die Offizierslaufbahn entscheidet, weil er kostenlos Zahnmedizin oder Vergleichbares studieren will, dem kann man nur den Rat geben, dies an einer normalen Uni zu tun, das Militär ist dafür nicht der richtige Platz. Wo die Auszubildenden mit Waffen und scharfer Munition hantieren, wird es immer deutlich gefährlicher zugehen als in einem Labor oder Hörsaal.

Man kann nun eine Gleichstellungsbeauftragte an Bord schicken, wie es der Wehrbeauftragte empfohlen hat. Man kann neben der Kapitänskajüte auch eine Mobbingstelle einrichten und regelmäßige psychologische Schulungen für die Stammbesatzung abhalten. Aber all das wird nichts daran ändern, dass die genaue Kenntnis des Antidiskriminierungsgesetzes in kriegerischen Auseinandersetzungen nur bedingt weiterhilft. Wichtiger – und jedenfalls zum Überleben weit vorteilhafter – ist die zuvor erworbene Fähigkeit, sich unerschrocken seiner Haut zu erwehren. Daran wird auch die Aufregung über den großen «Gorch Fock»-Skandal in absehbarer Zeit nichts ändern.

Westerwelle: eine antizyklische Verteidigung

Es ist zugegeben ein heikles Unterfangen, Guido Westerwelle verteidigen zu wollen. Man setzt sich sofort der Gefahr aus, mit in den Verachtungsstrudel zu geraten, der ihn in die Tiefe gerissen hat. Aber es ist an der Zeit, ein gutes Wort für ihn einzulegen – schon aus Gründen der Fairness, die allen aufgeklärten Menschen angeblich so am Herzen liegt. Wenn es einen Fall gibt, wo das Antidiskriminierungsgesetz Anwendung finden sollte, dann doch wohl hier.

Über keinen deutschen Politiker ist nach wie vor so viel Abträgliches im Umlauf wie über den ehemaligen Parteichef der FDP. Westerwelle kann machen, was er will, am nächsten Tag steht in den Zeitungen, warum es falsch war. Erst schreibt man ihn unisono herunter, dann nimmt man die sinkenden Sympathiewerte als Bestätigung, dass man mit seiner Einschätzung richtiglag, und setzt noch einen drauf. Nicht die Tatsache, dass nur noch 22 Prozent der Deutschen ihn sich als Außenminister wünschen, ist angesichts dieses medialen Abwertungsverfahrens die Nachricht. Die eigentliche Sensation ist, dass sich überhaupt noch so viele Menschen trauen, ihm auf Nachfrage ein positives Zeugnis auszustellen.

Sicher, Westerwelle ist ein politischer Freak, aber ist das Claudia Roth nicht auch? Seit sechs Jahren steht die ehemalige Bandmanagerin der «Ton Steine Scherben» als oberste Emotionalienhändlerin den Grünen vor, mit wöchentlich wechselnder Haarfarbe und stets griffbereitem Taschentuch, und trotzdem zieht nicht jeder über die arme Frau her, die Betroffenheit zum Wesensmerkmal guter Politik erklärt hat.

Es ließen sich leicht noch andere Beispiele für Mandatsträger finden, an deren Auftritten man Anstoß nehmen könnte. Wer einmal näher mit Oskar Lafontaine zu tun hatte, kann nur den Kopf über alle schütteln, die ihm seine öffentlich bekundete Sorge um die Minderbemittelten abnehmen. Aber nur bei Westerwelle ist sich die Klasse der Meinungsmacher so einig, dass er ein Wichtigtuer, ein Blender, kurz, ein Unglück für Deutschland sei. Man sollte erwarten, dass es irgendwann langweilig wird, immer den gleichen Sack zu prügeln. Beim Außenminister kennt der Spaß daran offenbar keine Grenzen.

Nicht einmal sein Bekenntnis zur Homosexualität hat ihm geholfen, dabei ist die Zugehörigkeit zu einer allgemein anerkannten Opfergruppe zumindest im linken Lager normalerweise ein verlässlicher Schutz gegen hässliche Bemerkungen, tragen sie einem doch sofort den Vorwurf ein, ein Rassist, Sexist oder Schlimmeres zu sein. Bei Westerwelle sind alle Schmähungsbarrieren außer Kraft gesetzt, was einen zu der Vermutung bringen kann, dass sich in Bezug auf seine Person Vorbehalte artikulieren, die man sonst in den progressiven Kreisen nicht zu äußern wagt. Zu den beliebtesten Verballhornungen seines Namens gehört, wie sollte es anders sein, das Wort «Schwesterwelle». Was bei jedem anderen sofort einen Strafbesuch in einem Gender-Seminar nach sich zöge, erzeugt in seinem Fall nur beifälliges Gelächter.

Westerwelle wird der Rollenerwartung nicht gerecht, die gerade in linken Vierteln an Homosexuelle gerichtet wird, das ist möglicherweise der tiefere Grund für die nahezu pathologische Abneigung, die ihm von dort entgegenschlägt. Schlimm genug, wenn ein Politiker gegen die Ausweitung von Hartz IV ist und den Sozialstaat insgesamt für zu groß und mächtig hält – aber ein Schwuler? Von den Angehörigen ehemals verfolgter Minderheiten wird eine besondere Sensibilität erwartet, wenn es um die sozialen Belange anderer Minderheiten geht, die noch um Anerkennung als Verfolgte ringen. Wer selber einmal ausgegrenzt war oder jedenfalls herkunftsmäßig dieses Schicksal teilt, wird automatisch zu den Anwälten der gemeinsamen Sache gezählt. Westerwelle ist so gesehen ein Verräter, er verweigert sich der geforderten Identitätspolitik. Das ist der Skandal, der ihm nun bodenlose Verachtung einträgt.

George Bushs linke Erben

Also: Der Westen ist schuld. Gut, dass dies schon mal geklärt wäre. Wo immer sich der Volkszorn entlädt, wie zuletzt in der arabischen Welt, darf der Verweis auf Amerika, den großen Satan, nicht fehlen. Die USA