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© Querverlag GmbH, Berlin 2010

Lektorat: Regina Nössler

Erste Auflage März 2010

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von Hanno Meier

ISBN 978--3-89656-606-5

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Prolog

Dunkelgraue Wassermassen zogen von Westen her über den See, der Wind nahm zu und die Wellen schlugen hart gegen das Boot. Mit aller Kraft zog die junge Frau das Paddel durch das Wasser, um den schwankenden Kajak gerade zu halten. Doch die nächste Böe ließ ihn wieder wie eine Nussschale auf dem See tanzen.

Eine Weile kämpfte die Frau gegen den heraufziehenden Sturm an. Es begann zu regnen. Mit dem nassen Unterarm wischte sie sich über die Augen, obwohl sie die Orientierung längst verloren hatte. Die tiefen Wolken und der aufgewühlte See kesselten sie ein. Das Wasser hatte mörderische Kräfte.

Der nächste Windstoß brachte sie so in Bedrängnis, dass sie mit dem Paddel eingreifen musste, um sich über Wasser zu halten. Ihr Puls raste und die Muskeln an ihren Oberarmen verkrampften sich. Wenn das noch lange weiterginge, würde sie ins Wasser fallen und ertrinken. Verzweifelt holte sie weiter aus und steuerte auf eine dunkle Wolkenwand zu. Aber es war sinnlos. Noch nie war sie in so einer bedrohlichen Lage gewesen.

Als sie das Paddel sinken ließ, legte sich das Boot sofort in eine gefährliche Schieflage. Kaltes Wasser schwappte über ihre Hände. Wenn sie heil davonkäme, würde sie nie mehr aufbrechen, ohne den Wetterbericht zu kennen. Und nie mehr ohne Schwimmweste auf das Wasser gehen. Alles tat ihr weh, aber sie fuhr so lange weiter, bis sie nicht mehr konnte.

Dann wurde ihr klar, dass sich der Sturm allmählich beruhigte. Zu ihrer Rechten tauchte ein grüner Streifen auf. Das Ufer, da musste das Ufer sein. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und sie paddelte in diese Richtung weiter. Doch der grüne Landstreifen verschwand genauso schnell, wie er aufgetaucht war.

Ihr Magen zog sich zu einem Knoten zusammen. Der Wind frischte auf und sie musste erneut gegen eine starke Böe ankämpfen. Im letzten Moment gelang es ihr, den Kajak in eine stabile Lage zu bringen. Kurze Zeit später sah sie auf und kniff die Augen zusammen. Da war es wieder, das Ufer. So zügig wie möglich fuhr sie auf das dunkle Grün zu und zählte jeden Schlag mit. Einundsechzig, zweiundsechzig, dreiundsechzig, vierundsechzig, fünfundsechzig. Endlich. Während sie mit klammen, zitternden Fingern die Schlaufe und die Spritzdecke des Kajaks löste, zog die Strömung das Boot wieder hinaus auf den See. Das Wasser spielte ein heimtückisches Spiel mit ihr.

Die junge Frau fixierte einen Baum, streckte den Rücken durch und holte aus. So kurz vor dem Ziel durfte sie nicht aufgeben. Mit endlos vielen Schlägen fuhr sie zum Ufer zurück, legte das Paddel quer über das Boot auf die Böschung und schob das rechte Bein hinaus. Als sie das linke Bein nachziehen wollte, rutschte sie aus und fiel in den See. Den Kajak konnte sie noch am Süllrand festhalten, aber ein heftiger Schmerz zog sich durch die Finger ihrer linken Hand. Mit letzter Kraft rappelte sie sich auf, zerrte das Boot an Land und ließ sich auf den Boden fallen.

Nach einer Weile hob sie den Kopf und untersuchte ihre Finger. Die Nägel am linken Ring- und Mittelfinger waren abgerissen. Es blutete. Das Paddel war weg. Und sie war vollkommen erschöpft, nass bis auf die Haut und wusste nicht, wo sie war. Mitten in dieser finnischen Wildnis.

Aber bald war ihr so kalt, dass sie sich zwang, aufzustehen und dem schmalen Pfad zu folgen, der am See entlanglief. Wo ein Weg ist, da müssen auch Menschen sein. Hinter der nächsten Biegung stolperte sie über eine Baumwurzel und schlug der Länge nach hin. Der rechte Knöchel pochte. Nachdem sie einige Male ein- und ausgeatmet hatte, tastete sie den Fuß vorsichtig ab. Wenn sie nicht mehr laufen konnte, dann war alles aus. Hier war kein Mensch unterwegs, schon gar nicht bei diesem Wetter. Es gab nur den verfluchten See, Birken, von denen der Regen tropfte, Heidelbeersträucher und Mücken.

Die Kälte fraß sich wie ein Bandwurm in ihre Eingeweide hin­ein. Worauf wartete sie noch. Es gab zwei Möglichkeiten: liegen bleiben oder weitergehen. Immerhin konnte sie den Knöchel vorsichtig bewegen. Mit den Unterarmen stemmte sie sich hoch, belastete den Fuß und zog ihn schnell wieder zurück. Es war sehr schmerzhaft. An einem rauen Birkenstamm stützte sie sich ab und schloss die Augen. Wenn sie nur etwas hätte, womit sie den Fuß bandagieren könnte. Aber das Verbandszeug, die Wasserflasche und der Proviant lagen im Boot.

Hilf dir selbst, so hilft dir Gott, pflegte Großmutter zu sagen. Die junge Frau stöhnte auf. Wie tief diese alten Sprüche saßen. Dabei wäre es viel einfacher, hier zu bleiben und zu warten, bis sie jemand finden würde. Oder bis sie sich eine Lungenentzündung holte. Hilf dir selbst, das hieß aufstehen, weitergehen, egal wie sehr der Knöchel schmerzte, ein Haus finden und Menschen, die ihr trockene Kleider, heißen Tee und einen warmen Platz am Ofen gaben.

Nach einem tiefen Atemzug biss sie sich auf die Lippen und setzte einen Fuß vor den anderen. Es war so anstrengend, dass sie nicht einschätzen konnte, wie lang ihre Kraft auf dem unebenen Pfad reichen würde. Immer wieder hielt sie inne und tastete den Knöchel ab, der in der Zwischenzeit so dick wie ein Tennisball geworden war.

Plötzlich stutzte sie. Da war Rauch, der sich mit der feuchten, erdigen Waldluft mischte. Bewusst sog sie die Luft noch einmal tief ein und sah sich um. Da war nur der Wald mit seinem endlosen Grün. Aber der Rauch stammte eindeutig von einem Holzfeuer und der Regen drückte ihn nach unten. Außerdem wurde der Weg breiter und führte an einem Holzsteg vorbei landeinwärts. Hoffentlich täuschte sie sich nicht, aber der Weg kam ihr bekannt vor.

Nach der nächsten Biegung blieb sie stehen und fuhr sich über das nasse Gesicht. Dem Himmel sei Dank. Da vorne auf der Lichtung stand das Holzhaus, das sie zusammen mit ihrer Freundin für den Urlaub gemietet hatte. Die blau gestrichene Sitzbank vor dem Haus war unverkennbar, obwohl der Regen alles mit einem grauen Schleier überzogen hatte. Auf den letzten Metern spürte die junge Frau nichts mehr, sie öffnete die Haustür und stolperte in den großen Wohnraum hinein.

Die Freundin sprang auf, stürzte auf sie zu und zog sie an sich. „Gott sei Dank. Bist du verletzt? Tut dir etwas weh? Was ist passiert? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Du blutest ja.“

„Das sind nur abgerissene Fingernägel. Mein Knöchel ist verletzt. Und mir ist kalt.“

„Setz dich hierher. Ich helfe dir. Du musst so schnell wie möglich aus den nassen Kleidern raus. Um deinen Fuß kümmere ich mich gleich.“

Obwohl sie bald trockene Kleider anhatte und unter mehreren Decken lag, ging es der jungen Frau nicht besser. Die Wärme des Holzofens drang nicht zu ihr durch und die heiße Wärmflasche an ihren Füßen erreichte nur die äußerste Hautschicht. Alles tat ihr weh. Die nasse Kälte hatte sich so tief in ihren Körper gebohrt, dass das Zittern erst nachließ, als sich die Freundin zu ihr legte und sie wärmte.

Später pochte der Knöchel und die beiden Fingerkuppen brannten wie Feuer. Nachdem ihr die Freundin Tee eingeflößt und den Knöchel in ein feuchtes Tuch gewickelt hatte, fiel die junge Frau in einen unruhigen Schlaf.

Im Traum trieb sie auf einem breiten Gewässer und schaffte es nicht, sich über Wasser zu halten. Aber sie war keine erwachsene Frau, sondern ein kleines Mädchen, das nicht schwimmen konnte. Es zog das Kind hinunter, immer tiefer hinunter. Das Ufer war weit weg. Das Mädchen war mutterseelenallein, es strampelte und sank immer weiter hinab. Wie in Zeitlupe. Und bald hörte es auf, sich gegen den Abwärtssog zu wehren. Unten auf dem sandigen Grund wartete ein alter Mann auf sie und starrte sie aus kalten Fischaugen an. Algen klebten an seinem Kopf, sein Gesicht war bleich und aufgequollen. So wie er aussah, musste er schon lange hier unten leben. Sein zahnloser Mund öffnete sich mechanisch wie bei einem Skelett in einem Zeichentrickfilm. Luftblasen stiegen auf, kleine schimmernde Fische schwammen in seine Mundhöhle. Schimpfend spuckte er sie aus und verscheuchte sie. Mit seinen knochigen langen Fingern deutete er auf das Mädchen und fragte vorwurfsvoll, wieso es ihn nicht begrüßte. Er sei schließlich der Großvater.

Die junge Frau wachte auf und öffnete die Augen. Es dämmerte, der Wind rüttelte leise an den Fensterläden. Die Freundin steckte die Decken fest, wischte ihr mit einem Waschlappen über die Stirn und schob ihr ein Fieberthermometer in den Mund.

Mehrere Tage und Nächte verbrachte die junge Frau in einem fiebrigen Dämmerzustand, schwer atmend, die Bronchien voller Schleim. Im Nachhinein erinnerte sie sich nur daran, wie ihr die Freundin Medizin gegeben, kalte Wickel gemacht und die durchgeschwitzten T-Shirts oder die Bettwäsche gewechselt hatte. Und dass ihr jemand hin und wieder die Brust abgehört hatte. Ihr war klar, dass das ein Arzt gewesen sein musste, aber sie verstand nicht, was er sagte. Als der Mann einmal versuchte, das Pflaster von den blutverkrusteten Fingerkuppen zu ziehen und ihren Knöchel abzutasten, entzog sie sich, drehte sich auf die andere Seite und tauchte wieder in ihre Fieberwelt ein.

In einem dieser Träume war sie acht oder neun Jahre alt. Ein wildes Mädchen, das Abenteuer- und Piratengeschichten verschlang und es liebte, wenn der Vater abends im Bett bei schummrigem Licht aus solchen Büchern vorlas. Je heftiger die Stürme waren, in die die Seeleute und Piraten gerieten, desto besser gefiel es der Kleinen.

„Warum dürfen die Piraten das?“, wollte sie eines Abends von ihrem Vater wissen.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an, blätterte um und las weiter.

„Warum dürfen Piraten anderen Leuten die Schiffe und Schätze wegnehmen? Und warum dürfen sie Leute gefangen nehmen?“

„In den Büchern ist das eben so. Piraten kapern Schiffe, sonst wären sie keine echten Piraten“, sagte er leise und strich ihr über den Kopf.

„Und wieso darf ich dann meiner Schwester nichts wegnehmen?“

„Wir sind eine Familie. Wir halten zusammen, Mama, deine Schwester, du und ich, und natürlich deine Großmutter. Egal, was passiert.“

„Und meiner Freundin? Darf ich der etwas wegnehmen, wenn ich eine Piratin bin“, fragte sie und setzte sich auf.

„Du bist keine Piratin, du bist mein Mädchen.“

„Haben die Piraten meinen Großvater mitgenommen?“

„Dein Großvater ist schon lange tot. Und du musst jetzt schlafen. Es ist spät. Wir lesen morgen weiter.“ Ihr Vater klappte das Buch zu und legte es auf den Boden.

„Warum ist Großvater tot?“

„Genug für heute. Es ist höchste Zeit. Schlaf gut.“ Mit einem Kuss auf ihre Stirn verabschiedete er sich und zog die Bettdecke hoch.

„Immer hörst du auf, wenn es wirklich spannend ist“, schrie sie und warf sich auf die Seite.

„Schlaf gut, mein Schatz.“ Ihr Vater löschte das Licht und verließ das Zimmer.

Die Kleine setzte sich auf und hielt sich das linke Auge zu. Das war ihre schwarze Augenklappe. Alle zitterten vor ihr, denn sie war der gefährlichste Pirat auf der ganzen Welt. Mit ihrem Krummsäbel hatte sie alle im Griff. Freund und Feind. Vater, Mutter, die große Schwester, Großmutter und sogar den fiesen Meier.

Auf ihrem Piratenschiff eroberte sie alle Weltmeere und eines Tages würde sie auch den Großvater befreien. Wer hatte ihn bloß in diesen Turm, in diese Zelle mit den vergitterten Fenstern gesperrt?

Die junge Frau schreckte hoch und wusste lange nicht, wo sie war. Eine weiche, warme Hand streichelte über ihr Gesicht. Alba, die Freundin, beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss. „Jo, wach auf. Es ist gut. Du bist über dem Berg. Das Fieber sinkt. Und vielleicht hast du ja bald Lust auf einen Blaubeerpfannkuchen.“

1

Drei Wochen später hatte Jo in München die ersten langen Arbeitstage hinter sich gebracht.

Auch heute war es wieder spät geworden. Natürlich hatte sich während ihres Urlaubs viel Arbeit auf dem Schreibtisch angesammelt und außerdem musste sie eine Kollegin vertreten, die im Urlaub war. Aber diese Überstunden verdankte sie auch der Tatsache, dass alles viel langsamer ging seit der finnischen Bronchitis.

So nannte sie die fiebrigen Tage, die sie im Bett des kleinen Holzhauses an einem karelischen See verbracht hatte. Gesund war sie noch nicht, denn sobald sie sich anstrengte, musste sie husten und es stach in der Brust. Der Knöchel war immer noch geschwollen und tat nach wenigen Schritten weh. Aber das alles wäre nicht wirklich schlimm gewesen, wenn nur endlich diese Alpträume aufgehört hätten. Vergeblich hatten erst Alba und dann auch Jakob, ihr bester Freund, versucht, sie davon zu überzeugen, mindestens noch eine Woche zu Hause im Bett zu bleiben.

Schnell speicherte sie die Tabelle ab, an der sie gearbeitet hatte, schaltete den Rechner aus und schob die Papiere zu einem Stapel zusammen. Dann holte sie ihren Rucksack und winkte den beiden Kollegen zu, die noch im Büro waren.

Draußen vor dem Verlagsgebäude war es stickig. Schwer atmend ging sie zu ihrem blauen Golf und holte den Schlüssel aus dem Rucksack. Dann klingelte das Handy.

„Alles in Ordnung bei dir? Bist du schon im Supermarkt?“, fragte Frieda. „Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass Mimi Thunfisch nicht mehr mag. Bitte bring etwas mit Huhn und Pute mit. Und Essigreiniger.“

„Wird gemacht. Ich gehe gerade erst los.“ Jo rieb sich die Stirn. Den Einkauf hätte sie beinahe vergessen. Die Liste musste vorne im Rucksack stecken, gestern Abend hatte sie alles notiert. Friedas Kühlschrank war leer und mit ihren Krücken konnte sie unmöglich einkaufen gehen. Dass ihr Sohn ausgerechnet jetzt verreisen musste! Außerdem schien es zurzeit nichts Wichtigeres zu geben als einen abwechslungsreichen Speiseplan für ihre Katze.

Eine Dreiviertelstunde später stand sie mit zwei großen Plastiktüten und einer Kiste Mineralwasser vor Friedas Wohnung in der Bauerstraße. Es dauerte eine Weile, bis die alte Dame an die Tür kam, und Jo erinnerte sich, wie sie hier vor mehr als zehn Jahren das erste Mal geklingelt und dann ein Jahr zur Untermiete gewohnt hatte.

Nach einer herzlichen Umarmung stellte sie die Einkäufe in der Küche ab, packte die Milchprodukte in den Kühlschrank und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen.

Frieda, die in der Zwischenzeit auch in die Küche gekommen war, stützte sich auf ihre Krücken und musterte sie. „Du meine Güte, Mädchen, du schnaufst wie eine Siebzigjährige. Und dünn bist du geworden. Hast du deine Lunge untersuchen lassen? Du hast mir versprochen, dass du zu einem Facharzt gehst. Mit so etwas darf man nicht leichtsinnig sein.“

„Ich geh schon noch zum Arzt. In der Urlaubszeit ist es schwierig, einen Termin zu bekommen.“

„Ich meine es nur gut, das weißt du.“

Jo nickte, stand auf und holte die Pfirsiche, den Salat und die Karotten aus der Einkaufstasche, aber die alte Dame unterbrach sie. „Bitte hör auf, das kann ich später machen. Was ich dir schon vor dem Urlaub sagen wollte, die längeren Haare stehen dir wirklich gut. Lass sie noch ein bisschen weiter wachsen. Mit dem Bubikopf warst du schon sehr burschikos.“

„Mal sehen. Kurze Haare sind viel praktischer. Und dein Dutt in Ehren, er ist wirklich schön, aber müssen denn jetzt alle Frauen wieder lange Haare tragen?“

Frieda setzte sich vorsichtig. „Nein, natürlich nicht. Aber es sieht besser aus als vorher. Und wie geht es dir? Kannst du wieder schlafen? Und was ist mit deinem Fuß?“

„Ich hätte nie gedacht, dass ein verstauchter Knöchel so lästig sein kann. Das Joggen kann ich erst mal vergessen“, sagte Jo und sah aus dem Fenster.

Draußen drückte die Schwüle auf die Stadt. Nichts rührte sich. Nicht einmal die Blätter der alten Linde. Beim Laufen würde sie sowieso nicht genügend Luft kriegen. Von den Alpträumen, die ihr seit dem Erlebnis auf dem See fast jede Nacht zu schaffen machten, hatte sie Frieda nichts erzählt. Die Arme war mit sich selbst und mit ihrer frisch operierten Hüfte beschäftigt.

„Und wie ist es bei dir, Frieda? Sind die Schmerzen noch schlimm?“

Die alte Dame verzog das Gesicht. „Manchmal tut die Narbe weh, vor allem nachts. Ich bin sehr dankbar, dass ich ab und zu eine Schmerztablette nehmen und mich entspannen kann.“

„Und Mimi? Wie ist ihre Pfote verheilt? Wir drei könnten ein Privatsanatorium aufmachen und eine Krankenschwester einstellen.“

„Eine gute Idee. Mir wäre allerdings ein Pfleger lieber. Und ich glaube, es wäre besser, wenn ich ihn aussuchen würde. Ich habe eindeutig mehr Erfahrung mit Pflegepersonal als du. Du warst doch noch nie in einem Krankenhaus.“

„Doch, bei meiner Geburt“, sagte Jo.

„Das ist dreißig Jahre her. Seitdem hat sich sehr viel geändert, das kannst du mir glauben.“

Als es an der Wohnungstür läutete, fragte Jo: „Erwartest du jemanden? Soll ich aufmachen?“

Im Hausflur stand eine zierliche Frau mit leuchtend roten Haaren und einer altmodischen Arzttasche, die sie wie ein Kind auf dem Arm hielt. „Guten Abend. Ich bin die Tierärztin und ich möchte nach Mimi sehen“, sagte sie resolut und ging zügig durch den Flur in Richtung Küche. Aber gehen war nicht das richtige Wort, vielmehr flog sie wie ein Komet durch die Altbauwohnung und alles wurde auf einmal größer, heller und klarer.

Jo schloss die Wohnungstür und wischte ihre feuchten Handflächen an der Hose ab.

In der Küche sagte Frieda: „Es wurde Zeit, dass ihr euch kennenlernt. Darf ich vorstellen? Doktor Elsa Beyer, unsere Tierärztin und Nachbarin. Und das ist meine Freundin, Johanna Richter, sie kümmert sich um mich, wenn mein Sohn nicht da ist. Dabei hat sie immer so viel zu tun, in ihrem Verlag.“

„Schön, Sie kennenzulernen.“ Die Tierärztin hatte einen erstaunlich festen Händedruck und sah Jo von oben bis unten an.

„Freut mich auch.“ Jo zog ihre Hand schnell zurück und machte einen Schritt nach hinten.

„Verzeihen Sie, dass ich Sie anstarre, aber Sie sind unglaublich groß.“ Elsa Beyer strich eine rote Haarsträhne hinter das Ohr und lächelte verlegen.

„Einsfünfundachtzig, falls Sie es genau wissen möchten.“ Jo schob ihre Schultern nach hinten und richtete sich auf. Es wäre ihr lieber, wenn sie nicht ständig wegen ihrer Größe auffiele, aber sie hatte sich damit abgefunden. Man könne sie einfach nicht übersehen, hatte Jakob einmal gesagt und sie musste irgendwann einsehen, dass er recht hatte.

„Genauso eigensinnig wie groß“, sagte Frieda und lehnte ihre Krücken an den Tisch. „Könntest du uns bitte Mineralwasser holen?“

Als Jo mit einer Wasserflasche zurückkam, deutete die alte Dame auf ihren Hals und kratzte sich. „Mimis Pfote ist nicht mehr so empfindlich wie vor einer Woche, aber dieser Kragen, der macht uns sehr zu schaffen. Hoffentlich können Sie ihn bald abnehmen.“

„Sie haben eine echte Symbiose mit Ihrer Mimi, Frau Müller. Ich weiß, wie lästig das ist, aber es musste leider sein.“

Jo holte Gläser aus dem Schrank, goss Mineralwasser ein und wandte sich an die Tierärztin. „Sie können sich nicht vorstellen, wie Frieda von Ihnen schwärmt. Mimi hat anscheinend gar keine Angst vor Ihnen.“

„Sie ist eine Katzendame, die genau weiß, was sie will. Und das muss man respektieren. Das ist wie bei den Menschen: Je mehr Respekt man voreinander hat, desto einfacher ist es.“

„Schließlich ist sie meine Katze.“ Die alte Dame schob das Kinn nach vorne.

„Sie sehen gar nicht aus wie eine Tierärztin“, sagte Jo.

„Und wie sehe ich Ihrer Meinung nach aus?“

Großartig, einfach wunderschön, dachte die junge Frau und sagte: „Vielleicht wie eine Musikerin?“

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Die feingliedrigen Hände und die kurzen Fingernägel.“

„Elsa spielt tatsächlich Klavier. Letztes Jahr hat sie mir zum Geburtstag ein wunderbares Ständchen geschenkt, aber du warst ja im Urlaub“, warf Frieda ein.

„Ich habe leider nicht viel Zeit zum Üben. Aber meine Hände sind gut für die Tiere. Sie fürchten sich viel weniger, wenn man sanft und entschieden zugleich ist.“

„Da war ich wohl bisher bei den falschen Ärzten. Ich fürchte mich immer.“ Jo zuckte mit den Schultern.

„Dabei sollten Sie dringend mal zu einem gehen und sich untersuchen lassen, Sie sind ziemlich blass und durchsichtig. Oder ist das Ihr normaler Sommerteint?“, fragte die Tierärztin.

„Das ist gut, dass Sie das sagen, Elsa. Die junge Dame hatte im Urlaub eine sehr schwere Bronchitis und ich finde, sie müsste sich dringend von einem Facharzt untersuchen lassen. Wer weiß, ob dieser finnische Landarzt das Ganze richtig eingeschätzt hat. Vielleicht war es eine Lungenentzündung. Und so etwas soll man nicht verschleppen. Aber auf mich hört sie ja nicht.“

„Darf ich das selbst entscheiden, wo ich schon so groß bin?“, fragte Jo und musste ausgerechnet in diesem Augenblick husten. Mit der Hand vor dem Mund murmelte sie eine Entschuldigung und drehte sich weg.

Nachdem sich der Husten gelegt hatte, sagte Frieda: „Auf jeden Fall machen Sie das wunderbar mit den Tieren. Ich könnte mir auch vorstellen, dass Sie eine tolle Kinderärztin geworden wären. Wie sind Sie denn darauf gekommen, Tiermedizin zu studieren?“

„Das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich Ihnen gerne ein andermal. Aber wo ist Mimi?“

„Tiere sind sicher nicht so launisch wie wir Menschen“, sagte Jo und hoffte, dass das Gespräch weitergehen und die Schöne doch noch etwas von sich preisgeben würde.

„Das kommt ganz auf den Besitzer an.“ Elsa Beyer lachte.

Ihre Lachfalten waren die schönsten weit und breit. Gerne hätte Jo die Frau noch länger angesehen, aber die Tierärztin stand auf und griff nach ihrer Tasche.

Frieda drohte mit dem Zeigefinger. „Sie sind mir eine Schlimme, Frau Doktor, Sie wissen genau, wie peinlich mir das war.“

Jo räusperte sich. „Haben die Damen ein Geheimnis?“

Elsa schüttelte den Kopf und ihr roter Pferdeschwanz flog durch die Luft. „Nein, um Himmels willen. Frau Müller kann es Ihnen gern erzählen.“

„Na gut, im Grunde ist es eine schöne Geschichte. Wir hatten damals einen Impftermin bei Doktor Schneider, ich steckte die arme Mimi in den Korb und fuhr mit dem Taxi vor. Mimi fürchtete sich sehr, wir waren beide nervös. Du weißt ja, wie das bei uns ist. Wir standen am Empfang und diese junge, schnippische Assistentin sagte mir, dass wir erst am nächsten Tag einen Termin hätten. Ich weiß nicht mehr, wer sich da geirrt hatte, auf jeden Fall war ich so wütend, dass ich meiner armen Katze die Fahrt noch einmal antun sollte, nur weil diese Praxis so unflexibel war“, sagte Frieda empört.

„Das waren die wirklich damals bei Schneider, aber ich glaube, das hat sich in der Zwischenzeit auch geändert. Konkurrenz belebt das Geschäft.“ Die Tierärztin öffnete ihre Tasche.

„Jedenfalls schimpfte und zeterte ich so lange herum, bis eine junge Tierärztin zu uns kam. Sie war neu in der Praxis und kümmerte sich rührend um uns. Und das Gute an der Sache war, dass sich Mimi nicht halb so viel fürchtete wie beim Doktor.“

„Und das waren Sie?“, fragte Jo.

Frieda sagte leise: „Ich bin mir sicher, dass sie mit Tieren sprechen kann, deshalb geht das so gut mit ihr und meiner Mimi.“

„Jetzt muss ich mich wirklich um Ihre Katze kümmern, ich habe heute nicht so viel Zeit. Die Laborergebnisse waren negativ, das habe ich Ihnen ja bereits am Telefon gesagt.“

„Gott sei Dank. Haben Sie es eilig? Müssen Sie heute Abend noch andere Hausbesuche machen?“, erkundigte sich die alte Dame.

„Nein, nein. Aber wir sind zum Essen eingeladen und ich muss mich noch schön machen, so kann ich nicht ausgehen.“ Elsa Beyer zeigte auf das weiße T-Shirt mit dem braunen Katzen- und Hundeaufdruck. Dazu trug sie eine Kette aus grünen und orangefarbenen Glasperlen.

Jo drehte ihr Wasserglas hin und her. Warum „schön machen“? Das hatte sie nicht nötig, die Frau Doktor. Und wer verbarg sich hinter dem „wir“?

„Wo hat sich Mimi versteckt?“, fragte die Tierärztin noch einmal und sah sich um.

Frieda lockte die graue Tigerkatze mit gurrenden Worten zu sich und Mimi schmiegte sich samt ihrer Halskrause an das gesunde Bein ihrer Besitzerin.

Elsa Beyer ging in die Knie und sprach mit dem Tier, ohne es anzufassen. „Hallo Mimi, wie geht es deiner Pfote? Kann ich sie mir mal ansehen?“

In der weißen Plastikhalskrause hatte die Katze große Ähnlichkeit mit einer englischen Königin, sicher irgendeiner Elisabeth. Und Jo wäre nicht besonders überrascht gewesen, wenn Mimi ihre Pfote zum Handkuss gereicht hätte. Elsa Beyer war anscheinend auch eine Königin und wusste, wie sie mit ihresgleichen umzugehen hatte.

„Bist du bereit, Süße?“, fragte Frieda, nahm die Katze auf den Schoß und streichelte sie.

Vorsichtig löste die Tierärztin den Verband und untersuchte die kahl rasierte Stelle an der Oberseite der Pfote. „Es sieht gut aus. Wir können die Fäden ziehen und dann hast du es geschafft.“

Blitzartig zog Mimi ihre Pfote zurück, als hätte sie genau verstanden, was auf sie zukommen würde. Ungerührt holte Elsa Beyer Schere und Pinzette aus der Arzttasche. „Und wer hält sie beim Fäden-Ziehen?“

Friedas Stimme klang auf einmal sehr leise und verzagt. „Jo, bitte mach du das. Wenn ich sie gegen ihren Willen festhalte, ist sie mir eine Woche lang böse. Und das halte ich zurzeit nicht aus. Und du, mein Liebling, du musst tapfer sein. Jo hält dich und die Frau Doktor zieht die Fäden. Es geht nicht anders, das muss sein. Ich musste auch tapfer sein bei meiner OP.“ Dann stellte sie ihren Liebling auf dem Tisch ab.

Elsa Beyer räumte die Gläser weg, schaltete die Deckenlampe an und zeigte, wie man eine Katze in so einem Fall festhält. Jos Hände zitterten, aber sie gab Mimi keine Chance zu entkommen.

„Es ziept ein wenig und schon ist es vorbei.“

Tatsächlich ging es so schnell, dass das Tier vor lauter Überraschung still hielt. Mimi warf ihnen einen bösen Blick zu, hüpfte auf den Boden und lief schnell aus der Küche.

„Der Pfote geht es gut, sonst würde sie nicht in dem Tempo vom Tisch springen. Und die Halskrause können Sie ihr abnehmen, sobald sie wiederkommt. Und wenn ich etwas für Sie tun kann, Frau Müller, sagen Sie bitte Bescheid.“ Eilig packte die Tierärztin ihre Sachen zusammen.

„Danke, Elsa, das ist wunderbar, dass Mimi wieder gesund ist, wenn ich schon so durch die Gegend hinken muss. Jo, bringst du die Dame bitte zur Tür?“

„Das ist nicht nötig.“ Elsa Beyer streckte Jo die Hand entgegen. „Es war sehr nett, Sie kennenzulernen. Und vergessen Sie nicht, zum Arzt zu gehen, sonst höre ich Sie beim nächsten Mal ab.“

Die Haustür fiel ins Schloss. Während Frieda nach ihrer Katze sah, öffnete Jo das Küchenfenster. Dieser charmanten Drohung würde sie gerne nachgeben. Wenn sie nicht mit Alba zusammen gewesen wäre, hätte sie gleich nachher geklingelt und gefragt, ob sie irgendwann zusammen einen Kaffee trinken könnten. Sie nahm einen Schluck Wasser aus einem der Gläser auf der Anrichte und hoffte, dass es Elsa Beyers Glas war. Auf jeden Fall schmeckte das Mineralwasser wie frisches Quellwasser in den Bergen. Klar, kühl, weich.

„Natürlich ist mein Liebling beleidigt. Mal sehen, wie lange es dieses Mal dauert.“ Die alte Dame kam in die Küche zurück. „Und wie gefällt sie dir, unsere Frau Doktor? Sie ist eine Schönheit und dabei ein ganz normaler Mensch. Als ich ihr damals das erste Mal in der Praxis begegnete, da dachte ich mir, was sollen wir bloß mit der anfangen. Dabei ist sie wirklich die beste Tierärztin, die wir je hatten. Und dass sie jetzt auch noch nebenan wohnt, das ist wirklich ein Glücksfall. Wir müssen nie mehr in die Praxis.“

Jo stellte das Wasserglas ab und machte sich daran, die restlichen Einkäufe aufzuräumen. Nudelpakete, Haferflocken und Katzendosen landeten im Vorratsschrank, Klopapier und Essigreiniger gehörten ins Bad. Dort hatte sie endlich einen Augenblick Ruhe, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und sah in den Spiegel.

Es musste ihr süßes, kleines Geheimnis bleiben, wie sehr ihr diese Frau gefiel. Das ging keinen etwas an. Gründlich trocknete sie sich Gesicht und Hände ab, setzte sich auf den Rand der Badewanne und ermahnte sich, vernünftig zu bleiben. Ihr Leben war bereits aus den Fugen geraten und sie musste alles dafür tun, dass es nicht noch unruhiger wurde. Dann strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und ging zurück in die Küche.

Während Frieda Obst und Gemüse in den Kühlschrank räumte, erkundigte sie sich nach Alba.

„Sie arbeitet viel, sie muss noch eine Seminararbeit fertig machen und dann so schnell wie möglich mit ihrer Magisterarbeit anfangen. Und sie macht sich Sorgen, dass ihr die Zeit davonläuft. Und ich muss jetzt leider auch wieder los.“

„Schade, bitte komm bald wieder, ich kann zurzeit wirklich Abwechslung gebrauchen.“

Jo drückte der alten Frau einen Kuss auf die Wange und warf Mimi eine Kusshand zu. Die Katzendame hatte sich auf den großen Lehnstuhl im Wohnzimmer zurückgezogen und hob nicht einmal den Kopf.

Draußen im Hausflur zögerte Jo einen Moment lang und ging dann doch zur gegenüberliegenden Wohnungstür, um die Namen zu lesen, die auf einem goldenen Schild standen. Tatsächlich, da wohnte sie. Dr. Elsa Beyer. Und eine Zeile weiter unten: Dr. Heiko Mering. Eine Wohngemeinschaft war das mit Sicherheit nicht. Natürlich war die Frau mit jemandem zusammen. Wahrscheinlich sogar verheiratet. Heiko Mering. Das klang wie saurer Hering.

Hinter ihrem Rücken ging plötzlich eine Tür auf und Frieda rief über den Flur: „Du hast deine Schlüssel vergessen.“

Jo drehte sich um, fuhr sich mit der Hand über die Wangen und war mit ein paar Schritten bei der alten Dame. „Danke. Ich wollte nur wissen, ob sie wirklich da drüben wohnt.“

Frieda schüttelte den Kopf. „Manchmal versteh ich nicht, was in dir vorgeht, mein Kind.“

„Ich auch nicht“, antwortete Jo, nahm den Schlüsselbund entgegen und lief zur Haustür.