Autor: Alfred Michiels (Auszug)

Übersetzung: Claudia Ade und Waltraud Boll

Redaktion der deutschen Veröffentlichung: Klaus H. Carl

 

Layout:

Baseline Co. Ltd

61A-63A Vo Van Tan Street

4. Etage

Distrikt 3, Ho Chi Minh City

Vietnam

 

© Parkstone Press USA, New York

© Confidential Concepts, Worldwide, USA

Image-Bar www.image-bar.com

© The National Gallery, London, Abbildung 1, 2, 3, 4, 5

 

Weltweit alle Rechte vorbehalten.

Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

 

ISBN: 978-1-78310-655-4

 

Anmerkung des Herausgebers

Aus Respekt vor der einzigartigen Arbeit des Autors wurde der Text nicht aktualisiert, was die Änderungen bezüglich der Zuschreibungen und Datierungen der Werke betrifft, die bisher unsicher waren und es in manchen Fällen immer noch sind.

Alfred Michiels

 

 

 

 

HANS MEMLING

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

Vorwort

I. Memlings Anfänge

II. Memling zwischen Geschichte und Legende

Volkstümliche Traditionen

Authentische Informationen

III. Alter und Genie Memlings

IV. Memlings bedeutendste Werke

In Belgien aufbewahrte Werke

Die Werke außerhalb Belgiens

Die Geschichte des Christophorus

Memling als Miniaturenmaler

Eigene Untersuchungen

GOSSART

MABV

MABUSIUS.

V. Meister Memling, zwischen Einflüssen und Authentizierungen

Memlings Schüler

Memlings authentische Werke

BRÜGGE

ANTWERPEN

BRÜSSEL

DEN HAAG

LONDON

CHISWICK

SHREWSBURY

BERLIN

MÜNCHEN

LÜBECK

WIEN

TURIN

FLORENZ

PARIS

KUPFERSTICH

Memling zugerechnete Werke

Fälschlicherweise Memling zugerechnete Werke

Verloren gegangene Werke

Index

Notes

Hans Memling,
Bildnis eines Mannes, um 1470.

Öl auf Eichenholz, 33,3 x 23,2 cm.

The Frick Collection, New York.

 

 

Vorwort

 

 

Wenn man sich Brügge nähert, sieht man einen hohen, kriegerisch anmutenden Turm, der die Dächer der Stadt überragt und vom Aussehen her eher einem Bergfried als dem Glockenturm einer Kirche ähnelt. Dennoch gehört er zur Kirche Notre Dame. Weder Leisten noch Statuen oder Verzierungen aus Stein schmücken das imposante Gemäuer. Seine mächtigen Mauern ragen stolz empor, ernst wie ein Gedanke aus einer anderen Welt, nackt und trist wie ein Gefängnis. Schwärme von Dohlen umkreisen den Turm und rufen mit kurzen, heiseren Schreien oder lassen sich in einer Reihe auf seiner Spitze nieder wie eine Gruppe mystischer Vögel. Von Norden her taucht die Sonne das Gebäude in ihr fahles Licht und der neblige niederländische Himmel lässt scharfkantige Gebilde daraus entstehen. Vom Turm aus sieht man in der Ferne das mit Schaumkronen bedeckte Meer. Und dieses Bild inspiriert den Betrachter auf ganz natürliche Weise zu poetischen Empfindungen und versetzt ihn in einen Zustand der Meditation.

In der malerischen Stadt Brügge offenbaren sich jedem Liebhaber alter niederländischer Kunst immer wieder wundervolle Überraschungen. Wenn ihre Sehenswürdigkeiten auch nicht mit denen anderer großartiger Städte Europas konkurrieren können, so war die Stadt Brügge doch im 14. und 15. Jahrhundert ein zentraler Warenumschlagplatz und die bedeutendste Hansestadt, in der die Handelsfürsten ihren Wohnsitz hatten. Leider hat sich all dies geändert; heute ist Brügge nicht mehr Tummelplatz der Reichen und hat keine wirtschaftliche Bedeutung mehr. Früher waren die Häuser mit heute über die ganze Welt verteilten Gemälden von Memling und anderen großen Künstlern angefüllt. Heute besitzt Brügge nur noch wenige authentische Werke seiner großen Meister.

Ganz in der Nähe dieser heiligen Zufluchtsstätte, im Schatten des Glockenturms, befindet sich ein weiterer Ort, der ebenfalls unter dem Schutz und der Herrschaft des Wortes Gottes steht: das Saint-Jean-Hospital. Seine Gründungszeit ist nicht bekannt, es wird jedoch bereits im 12. Jahrhundert urkundlich erwähnt. Um das Jahr 1397 nahmen die dort lebenden Mönche die Regeln des Hl. Augustinus an. Sie gelobten, das menschliche Leid zu erleichtern, waren jedoch durch die Gründungsurkunde daran gebunden, nur Bürger aus Brügge und Maldeghem aufzunehmen. In der Folge verbrachten die Ordensleute viel von ihrer Zeit damit, an den Betten der Leidenden zu sitzen und ihnen tröstliche Worte zuzusprechen. In der Zwischenzeit wurde ein Museum daraus, das Gebäude an sich hat sich jedoch kaum verändert. Durch die gotischen Spitzbogenfenster dringt Tageslicht in das Gebäude mit seinen Giebeln und Wasserspeiern. Unter dem Spitzbogengewölbe erwarteten die Kranken das Ende all ihrer Leiden auf Erden. Zwischen den einzelnen Gebäuden befand sich ein ruhiger Innenhof mit saftig-grünen Lindenbäumen und einem kleinen Teich, auf dem Enten schwammen. Einige Patienten genossen hier an schönen Tagen die frische, von einer süßen, tief sitzenden Melancholie erfüllte Luft, die ihren Ursprung in vergangenen Ängsten hat, sämtliche Organe schwächt und von der Hoffnung mit ihren magischen Visionen erheitert wird.

Hans Memling, Bildnis eines Mannes, um 1472.

Öl auf Eichenholz, 35,3 x 25,7 cm.

Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel.

 

 

Im Inneren der Hospitalkirche (die Gebäude wurden im 19. Jahrhundert getrennt) stößt man auf den berühmten Reliquienschrein der Hl. Ursula aus dem Jahr 1489 und auf weitere Meisterwerke von Hans Memling. Über fünf Jahrhunderte lang wurden sie sorgsam aufbewahrt, und der von ihnen ausgehende Zauber zieht den Betrachter in seinen Bann und versetzt ihn in längst vergangene Zeiten. Er folgt dem Lauf des ewigen Flusses und entsteigt seinem Boot fernab von unserer Zeit, inmitten von anderen Bauten und anderen Generationen, an Gestaden, die die Menschheit schon längst verlassen hat. Die Menschentypen, Sitten, Trachten, Leidenschaften und Überzeugungen dieser Zeit werden vom Pinsel des Künstlers festgehalten für alle Ewigkeit – genau wie die Natur. Sanftes, gedämpftes Licht erhellt die Gemälde und eine tiefe Stille umgibt den Betrachter; das von draußen hereindringende Raunen unterstreicht die poetischen Empfindungen: Der Wind säuselt und streichelt die Fensterkreuze, Schwalben fliegen zwitschernd um die Dächer, von weitem lärmt es aus der Stadt wie ein reißender Bergbach. In den Gedanken nehmen diese Geräusche Gestalt an und - überwältigt vom Geist der Vergangenheit – meint man, die Stimmen längst vergangener Zeiten zu vernehmen.

Weshalb waren diese Gemälde im Besitz eines Hospizes?

Diese lästige, aber unausweichliche Frage bekümmert jeden Kunsthistoriker, weil es darauf keine befriedigende Antwort gibt. Memling – wie so viele flämische Meister – wurde vor missgünstigen Blicken versteckt und seine Existenz hinterließ keine Erinnerungen. Ein schier undurchdringliches Geheimnis umgibt ihn: Zwar kennt und bewundert man seine Begabung, doch von seiner Biographie ist nichts bzw. kaum etwas bekannt; seine Geschichte setzt sich aus einigen vagen Überlieferungen und nüchternen Aufzeichnungen zusammen. Selbst sein Name war lange Zeit umstritten, so dass dessen Schreibweise erst Anfang 1861 festgelegt wurde.[1]

Hans Memling, Bildnis eines
Mannes der Lespinette Familie, um 1485-1490.

Öl auf Holz, 30,1 x 22,3 cm. Mauritshuis, Den Haag.

Hans Memling, Bildnis eines Mannes mit Brief, um 1475.

Öl auf Holz, 35 x 26 cm. Uffizien, Florenz.

 

 

I. Memlings Anfänge

 

 

In der Zeit des italienischen Quattrocento schlossen sich die nordeuropäischen Künstler nicht einer einzigen Kunstrichtung an, sondern entwickelten sich schnell und beständig weiter. Wenn auch die Werke einiger Künstler Ähnlichkeiten aufweisen, so gibt es in den Gemälden der großen Meister dieser Epoche, wie beispielsweise Jan van Eyck (um 1390 bis 1441), Rogier van der Weyden (um 1399 bis 1464), Hugo van der Goes (um 1440 bis 1482) oder auch Hans Memling (um 1433 bis 1494) doch grundlegende Unterschiede. Jeder von ihnen steht auf seine Weise für die „alte“ bzw. „neue Schule“. Wenn auch das XV. Jahrhundert in Flandern gelegentlich als „einfache Skizze“ des blühenden XVII. Jahrhunderts eines Rembrandt Harmens van Rijn (1606 bis 1669) oder eines Jan Vermeer van Delft (1632 bis 1675) dargestellt wird, so bleibt es doch eine reiche und einzigartige Epoche. Die vorangegangenen Jahrzehnte dieser bewegten Zeit waren von Migrationsbewegungen der niederländischen Künstler geprägt, die zwar den Ruhm ihrer Kunst mit sich brachten, aber in gewisser Hinsicht auch das Ende der „alten Schule“ kennzeichneten. Hans Memling war einer von ihnen. Und unter all den großen Namen, die ihr angehörten, ist es Memling, auf den Brügge ganz besonders stolz sein kann.

Und dennoch war er bereits hundert Jahre nach seinem Tod in dem Land, das er mit so vielen seiner Werke bereichert hatte, in völlige Vergessenheit geraten. In seinem 1604 veröffentlichten Buch Buch der Maler (Het Schilder-Boeck), einer wertvollen Sammlung von Biographien deutscher und niederländischer Künstler des XV. und XVI. Jahrhunderts, erwähnt Carel van Mander (1548 bis 1606) nur, dass Hans Memling ein großer Meister seiner Zeit, d.h. vor der Zeit Pieter Pourbus’ (um 1523 bis 1584), also vor 1540, war. Ihm zufolge stammte Memling aus der Stadt Brügge[2], während er nach Auffassung von Jean-Baptiste Descamps (1714 bis 1791) in Damme geboren sein soll.

Zweifellos war er jedoch deutscher Herkunft. Von allen Autoren und in allen Dokumenten wird er einhellig als „Meister Hans“ betitelt, was als Beweis ausreichen sollte: Hans ist die deutsche Bezeichnung für Jean: in den Niederlanden wird daraus Jan, ausgesprochen wie Yann, da der Laut „j“ in den germanischen Sprachen unbekannt ist und stattdessen die Verkleinerungsform Hanneken.[3] verwendet wird. Im Übrigen wird dies von dem Maler und Biographen Marc van Vaernewyck (1518 bis 1569) noch bestätigt: „In Brügge,“ so sagt er, „sind nicht nur die Kirchen, sondern auch besondere Gebäude mit Gemälden von Meister Hugues, Meister Rogier und von Hans dem Deutschen, geschmückt.“[4]

Wenn Brügge auch nicht Geburtsort vieler renommierter Maler war, so zog es doch in der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts zahlreiche Künstler in diese Stadt, die einen guten Kunstmarkt und eine hohe Lebensqualität zu bieten hatte. Die berühmtesten – und diejenigen, deren authentische Werke dort aufbewahrt wurden – waren wahrscheinlich die Brüder Hubert (1370 bis 1426) und Jan van Eyck. Der Ältere lebte dort zu Beginn des Jahrhunderts, später ließ er sich in Gent nieder. Jan hingegen lebte zunächst nur von Mai bis August des Jahres 1425 in der Stadt. Im Jahr 1431 ließ er sich dann endgültig dort nieder, bis zu seinem Tod im Jahr 1441.

Auch der aus Baarle stammende Peter Christus, ein Schüler der Brüder van Eyck, lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1473 (bzw. 1474) in Brügge. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass auch die Familie Memling in diese Stadt zog. Die Mutter des Künstlers könnte jedoch flämischer Herkunft gewesen sein - der ausgeprägte Charakter der Gemälde lässt es vermuten. Seine deutsche Abstammung bestätigt sich schließlich durch die Entdeckung einer Eintragung ins Bürgerregister von Brügge vom 30. Januar 1465 unter dem Namen Jan van Mimmelynghe, Sohn des Hamman, geboren im hessischen Seligenstadt, einer der ältesten Städte in Deutschland. Allerdings gibt es noch einige Alternativnamen für ihn, so etwa Jan van Memmelynghe, Jean van Memlync und Johannes Memelinc. Im Register von Seligenstadt wird Memling als einer der großen Söhne dieser Stadt geführt. Es kann durchaus sein, dass Memling bereits ein bedeutender Maler war, als er sich in Brügge niederließ: Die Tatsache, dass er in keinem Register der Brügger Malergilde eingetragen ist, zeigt, dass er seine Kunst wahrscheinlich ohne jede Einschränkung ausüben konnte.

Memling wurde vermutlich im Jahr 1435 geboren. Der Arzt und Kunsthistoriker Don Giovanni Morelli (1816 bis 1891) hat die Aufzeichnungen eines anonymen Reisenden veröffentlicht, nachdem er im Jahr 1521 bei Kardinal Grimani ein Selbstportrait des Künstlers gesehen hatte, auf dem er etwa siebzig Jahre alt war. Da er im Jahr 1494 verstarb, müsste er somit etwa 1424 geboren worden sein. Als er sich aber vor dem Spiegel selbst porträtierte, war er wohlbeleibt und von blühendem Aussehen, so dass die Annahme, dass er das Bildnis in seinem Todesjahr fertig stellte, doch sehr gewagt scheint. Es ist daher wahrscheinlicher, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht am Ende seiner Laufbahn angelangt war und man somit seine Geburt zwischen 1433 und 1440 vermuten kann. Man kann sich vielleicht auf das Jahr 1433 festlegen, damit seine Hochzeit mit der Frau, mit der er drei Kinder hatte, nicht zu spät erfolgt.

Zwar wuchs Memling zweifellos nach niederländischer Tradition auf, seine Lehrzeit und die Identität seines Meisters werfen jedoch zahlreiche Fragen auf. Da er erst acht Jahre alt war, als Jan van Eyck im Juli des Jahres 1441 verstarb, kann man wohl kaum davon ausgehen, dass er unter dessen Anleitung die Malkunst erlernte: Überdies weisen die Werke der beiden Künstler grundlegende Unterschiede auf. Trotz allem muss er ihn wohl viele Male in den Straßen der Stadt, in den Kirchen oder bei öffentlichen Veranstaltungen an Feiertagen getroffen und ihn mit dem frühreifen Instinkt, der allen Hochbegabten zu Eigen ist, studiert haben. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er auch bei seinem Begräbnis in den Gewölben von Saint-Donat zugegen. Eine sichtlich bewegte Menschenmenge umgab den schlichten Sarg Jan van Eycks, während die Orgel mit ihren klagenden Tönen die Kirchenschiffe vor erhabener Verzweiflung erzittern ließ und die Priester während der Totenmesse die folgenden schönen Worte sangen: „Was aus der Erde kommt, kehrt zur Erde zurück, was von Gott kommt, kehrt zu Gott zurück!“

Hans Memling, Bildnis eines jungen Mannes,

um 1480-1485. Öl auf Holz, 26,7 x 19,8 cm.

Kunsthaus Zürich, Zürich.

Raffael (Raffaello Sanzio), Bildnis des
jungen Pietro Bembo, 1504-1505.

Öl auf Leinwand, 54 x 39 cm.

Museum of Fine Arts, Budapest.

Hans Memling, Bildnis eines Mannes,

um 1465-1470. Öl auf Holz, 41,8 x 30,6 cm.

Städel Museum, Frankfurt.

Hans Memling, Bildnis eines jungen Mannes
vor einer Landschaft, um 1475-1480.

Öl auf Holz, 26 x 20 cm.

Galleria dellAccademia, Venedig.

 

 

Doch schon sehr bald wird Memling vom Historiker Francesco Guichardin (1482 bis 1540), vom Maler, Bildhauer und Architekten Giorgio Vasari (1511 bis 1574) und auch vom Biographen und Historiker Filippo Baldinucci (1624-1696/1697) zu den Schülern von Rogier van der Weydens[5] gezählt. Vasari spricht von einem «Ausse disciple de Rogier»[6] („großen Schüler von Rogier“); Guichardin nennt ihn «Hausse» („den Großen“) und Baldinucci „Ans di Brugia“. Wenn auch die im Laufe der Jahrhunderte gesammelten Informationen und die angebliche „Verwandtschaft“ zwischen bestimmten Werken der beiden Meister diese Verbindung zu bestätigen scheinen, so spricht doch der beträchtliche stilistische Unterschied zwischen Memlings Jugendwerken und den späten Werken eines van der Weyden gegen diese Hypothese. Und wenn auch sein Stil größere Ähnlichkeit mit dem von Hugo van der Goes aufweist, so spricht doch die Tatsache, dass die beiden der gleichen Generation angehören, eindeutig gegen ein Meister-/Schüler-Verhältnis.

Im Herrschaftshaus der Margarete von Österreich (1480 bis 1530) war im XVI. Jahrhundert ein Triptychon zu sehen, dessen Hauptgemälde von Rogier van der Weyden selbst, die beiden Flügel jedoch von einem seiner Schüler gemalt worden waren. Auf dem Mittelteil ist die Hl. Jungfrau dargestellt, wie sie den toten Christus in ihren Armen hält; die Innenseite der Flügelteile zeigt zwei trauernde Engel, auf der Außenseite ist Grau in Grau die Verkündigung abgebildet.[7] Memlings Gemälde sind eindeutig von Rogier van der Weyden beeinflusst, als der alternde Künstler seine zweite Arbeitsphase durchlief. So kann man sich auch vorstellen, dass Memling Brügge verließ, um unter van der Weyden in Brüssel zu arbeiten, der ihm nicht nur den Umgang mit Stift und Pinsel beibrachte, sondern ebenso die Kunst der Ölmalerei. Descamps behauptete jedoch, dass Memling nicht gewillt war, die neue Methode anzuwenden und seine Farben weiterhin in Eiweiß und Leinöl anrührte.

Zu jener Zeit war Tempera die am häufigsten verwendete Maltechnik, wobei die speziellen Zutaten in unterschiedlich großer Menge miteinander vermengt wurden. Durch Hinzufügen von Bier, Essig oder Honig konnte man den Flüssigkeitsgrad der so entstandenen Substanz regulieren, die Farbe erhielt man durch das Auftragen von Farblack: Dieser hatte einen doppelten Vorteil, er verlieh zum einen der Masse ihren Farbton und ihre Strahlkraft, zum anderen schützte er die Tempera vor schädlichen Umwelteinflüssen. Lange Zeit traf diese Fehleinschätzung auf offene Ohren: Nie zuvor hatte es eine Meinung gegeben, die so falsch war und den Leser so täuschte. Wie hätte ein so fähiger Mann, ein Mann, der in alles Schöne verliebt war und die Verhältnisse so gut einschätzen konnte, eine so wunderbare Methode ablehnen können, um an seiner alten Arbeitsweise festzuhalten? Diese Hypothese erschien sehr unwahrscheinlich und widersprach im Übrigen den Fakten. Einige, wahrscheinlich durch seine Lehrzeit im Rheinland beeinflusste, Gemälde wurden mit Tempera begonnen und später in Öl fertig gestellt. Auf diese Weise betonte der Meister die Hauptlinien seiner Kompositionen, vervollständigte das Übrige mit unendlicher Zartheit, während seine Farben – wie einer unverrückbaren Regel folgend – so licht erschienen, dass die Originalzeichnung sie zu durchdringen schien.

Doch kaum haben uns diese geringfügigen Informationen einen kurzen Blick auf den feinen Koloristen gewährt, da entkommt er uns schon wieder und wir finden Memling erneut in den Aufzeichnungen des von Morelli publizierten Anonymen Reisenden. Diesmal bewundert der unbekannte Reisende, der sich immer noch bei Kardinal Grimani aufhält, ein mit der Jahreszahl 1450 versehenes Werk aus seiner Hand, auf dem Isabella von Portugal (1397 bis 1471), die dritte Gattin Philipps des Guten (1396 bis 1467), dargestellt ist. Dieses Gemälde ist der Beweis dafür, dass der Herzog von Burgund, ein ausgesprochener Kunstkenner, eine sehr hohe Meinung über den Künstler hatte, sonst hätte er ihn nicht mit einer so bedeutenden Aufgabe betraut und seine Frau porträtieren lassen, die bereits zuvor schon von Jan van Eyck gemalt worden war. Auf dem neuen Bildnis ist die Prinzessin bis zur Taille abgebildet und nicht ganz so groß wie in natura.[8] Sie hatte ihre Blütezeit bereits überschritten: Zweiundzwanzig Jahre waren vergangen, seit sie vom Meister der Brügger Schule in ihrer ganzen Schönheit porträtiert worden war. Was sind schon zweiundzwanzig Jahre, wenn man einmal darüber nachdenkt? Eine kleine Welle im unendlichen Abgrund der Ewigkeit. Dennoch reicht dieser kurze Zeitraum aus, um die Seele zu erschöpfen und den Körper welken zu lassen: Er umfasst all unsere fruchtbaren Jahre und beinahe unsere gesamte moralische Existenz; aber wie viele Male haben wir dennoch gewünscht, ihn zu verkürzen und haben immer wieder mit Bitterkeit die Worte gesprochen: „Herr, Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen!“

Isabella hatte es verdient, vor einem großen Künstler zu posieren: Sie war eine außergewöhnliche Frau. Für den Herzog von Burgund war sie eine beherzte Begleiterin und eine fähige Beraterin, die ihm in allen Lebenslagen bei seinen Reden, Entscheidungen und Unternehmungen zur Seite stand. Kein Premierminister hätte es besser machen und seinem Herrscher eine größere Hilfe sein können. Im Jahr 1434, während eines gemeinsamen Aufenthalts in Dijon, beauftragte der Herzog Isabella damit, Burgund in seiner Abwesenheit zu regieren, da er nach Flandern zurück musste, um sich dort um wichtige Angelegenheiten zu kümmern.

Es war eine turbulente Zeit, in der sich die Menschen kaum Ruhe gönnten. Kaum war Philipp der Gute abgereist, da dröhnte im Herzogtum auch schon Trompetenschall, Waffengeklirr und das Gewieher der Schlachtrösser: Die Gegner des Prinzen und die Unzufriedenen glaubten leichtes Spiel mit einer Frau zu haben. Isabella bot daraufhin sogleich den gesamten Heerbann der Vasallen auf, zog ins Feld und zwang die Rebellen, um Gnade zu flehen. Durch diesen brillanten Einstieg fasste der Herzog von Burgund volles Vertrauen in das Talent seiner Prinzessin und setzte sie fortan als Elitebeamten ein – vor allem bei Verhandlungen, bei denen sie großes Geschick bewies.

Sie war von einer würdevollen, ihrer geistigen Natur entsprechenden Schönheit, ihr edles, ernsthaftes und intelligentes Wesen beeindruckte die Zuhörer und stärkte ihre Eloquenz bzw. die Subtilität ihrer Rede. Im Jahr 1436 baten die Brügger um ihre Hilfe bei der Lösung der Konflikte, die sie mit ihrem eigenen Ehegatten hatte. Im Verlauf des Jahres 1435 hatte sie einen beträchtlichen Anteil an den Kongressverhandlungen in Arras, mit deren Hilfe die Monarchie aus einer gefährlichen Situation manövriert wurde. Um das Jahr 1437 arrangierte sie die Heirat der Erbin von Penthièvre und beendete damit die langjährigen Querelen zwischen dem alten und jungen Zweig des Hauses Bretagne.

Der Herzog von Orléans, der seit der Schlacht von Azincourt im Jahr 1415, Gefangener der Engländer war, verdankte Isabelle nach fünfundzwanzigjährigem Exil seine Freiheit und außerdem eine glückliche Verbindung mit der Burgunder Prinzessin Marie de Clèves (1426 bis 1487). Zu Marie de Clèves Hauptbeschäftigungen gehörte auch die zu dieser Zeit übliche praktische Medizin. Da sie eine wohltätige Ader hatte, kümmerte sie sich persönlich um die Armen und Kranken und vollbrachte viele gute Werke. Als ihre Kräfte im Alter allmählich schwanden, ließ sie sich auf Schloss Nieppe bei Hazebrouck (Département du Nord) nieder, das sie zuvor eingerichtet hatte, und verbrachte dort das Ende ihrer Tage.

Seine Dankbarkeit Isabelle gegenüber brachte der Herzog von Orléans in naiven und anmutigen Versen zum Ausdruck. Eine ganz besondere, doch fast in Vergessenheit geratene Biographie des Historikers Prosper de Barante (1782 bis 1866), die sich mit Isabelle beschäftigte, erweckte bei den Lesern lebhaftes Interesse.

Möglicherweise haben Philipp der Gute und Isabella das Triptychon bei Memling in Auftrag gegeben, das sich im Besitz Margaretes von Österreich befand und das auf seinem Mittelteil die Hl. Jungfrau mit Kind, auf dem einen Seitenflügel Adam und Eva und auf dem anderen die Hll. Johannes und Barbara zeigt.[9]

Hans Memling, Der Kanoniker Gilles Joye, 1472.

Öl auf Holz, 37,3 x 29,2 cm. Sterling and Francine

Clark Art Institute, Williamstown.

Jan van Eyck, Bildnis des Jan de Leeuw, 1436.

Öl auf Holz, 25 x 19 cm. Kunsthistorisches Museum, Wien.

Hans Memling, Bildnis eines Mannes, um 1480.

The Royal Collection, London.

Jan van Eyck, Bildnis eines Mannes (Selbstbildnis?), 1433.

Öl auf Holz, 26 x 19 cm. The National Gallery, London.

 

 

Das Portrait eines jungen Mannes, das sich zuerst in der Sammlung von Aders, danach in der des Dichters Rogers befand und jetzt in der National Gallery in London zu sehen ist, soll angeblich ein Selbstporträt Memlings sein. Ein Kritiker vom rechten Rheinufer hatte diese Hypothese gewagt und jeder hatte sie wie ein Glaubensbekenntnis angenommen. Es ist ein bewundernswertes Werk. Die Person ist darauf bis zur Körpermitte abgebildet und befindet sich in einem ärmlich wirkenden, unmöblierten Raum: Der Kopf hebt sich scharf ab vom Schatten in einer Ecke des Zimmers und von der Fensterscheibe, die sich hinter ihm abzeichnet. Er ist noch jung, seine Haare blond und ungekämmt.

Aber anders als auf der Radierung vom Historiker Johann David Passavant (1787 bis 1861), ist er nicht schielend dargestellt, sondern blickt mit einem träumerischen Ausdruck geradeaus, während er seine Hände ergeben übereinander gelegt hat. Die unansehnlichen Hände mit den langen, knochigen Fingern zeugen von seiner einfachen Herkunft. Die Gesichtszüge des Unbekannten wirken sehr einfach, wie die eines Kindes aus dem Volk, ja sogar so, als sei er in einer dunklen Gasse, wo sich die einfachen Menschen aufhalten, geboren worden. Die große, regelmäßige Stirn und der nachdenkliche Gesichtsausdruck passen zu einem begabten Mann, doch die gewöhnlich geschnittene Nase, die hervorstehenden Wangenknochen, der große Mund mit den schmalen, ungeschwungenen Lippen, der knochige Kiefer und das ausgeprägte Kinn weisen ihn als einer niedrigen Schicht angehörig aus. Seine Kleidung fügt sich harmonisch in den Kreis dieser Merkmale ein. Der vermeintliche Memling trägt ein schmuckloses Gewand aus einem einfachen, weinroten Stoff ohne jegliche Verzierungen: Eine Mütze aus demselben Stoff bedeckt seinen Kopf. Und doch umgibt ihn ein gewisser Charme. Woran denkt er, als sich die letzten Sonnenstrahlen verabschieden? Betrachtet er die triste, bereits herbstlich anmutende Landschaft, die und die man durchs Fenster entdeckt? Er scheint nichts zu sehen, nicht einmal das kahle Zimmer, in dem er sitzt: Man könnte sagen, dass seine Fantasie auf eine weite Reise in das Reich der Trugbilder geht. Der Mensch, der ihm diesen träumerischen Ausdruck auf so vollendete Weise verliehen hat, muss zweifellos ein Poet, nicht nur ein Maler, gewesen sein. Und der äußere Aufbau ist der zart fühlenden Inspiration gleichzusetzen. Der Strich ist zart, klar und doch weich: Die Farben sind in sanften, gedämpften Tönen gehalten. Echtes Licht hüllt die Objekte ein. Die großen holländischen Meister haben zweihundert Jahre später auch nicht exquisiter gemalt.

Wurde auf diesem Gemälde wirklich Memling dargestellt? Die für die dargestellte Person vorgelegte Beschreibung mutet etwas merkwürdig an. „Dieser junge, etwas kränklich wirkende Mann“, so wird berichtet, «… trägt das Gewand des Saint-Jean-Hospital in Brügge. Die Haare sind von einem hellen Kastanienbraun, Mütze und Anzug sind dunkelviolett, der rechte Ärmel ist zerrissen. In der oberen rechten Ecke erkennt man die Zahl 1462. Es muss sich um das Portrait von Memling handeln und er muss sich damals im Saint-Jean-Hospital befunden haben». „Das Werk wurde ganz und gar nach der Art und Weise Memlings gemalt und ist seiner würdig. Wenn man davon ausgeht, dass das Gemälde ihn selbst darstellt, dann würden sein verletzter Arm und die Jahreszahl auf die Zeit hindeuten, in der er sich im Hospiz aufhielt. Man weiß, dass die beiden Gemälde von seiner Hand, die sich im Besitz der erwähnten Einrichtung befanden, aus dem Jahr 1479 stammen, d.h. sie wurden siebzehn Jahre später gemalt.“[10]

Was für willkürliche Behauptungen, Fehler und Widersprüche in wenigen Zeilen! Zuerst einmal trägt der geheimnisvolle junge Mann keineswegs Hospizkleidung, sondern ein Gewand und eine Mütze in Form eines Kegelstumpfs wie sie zu Zeiten Philipps des Guten Mode waren; sein Anzug ist sogar aus einem sehr guten Stoff und von eleganter Farbe. Wenn der rechte Ärmel einen Riss aufweist, so wird dieser durch einen Knopf geschlossen: dies war, wie noch nachgewiesen wird, ebenfalls zu dieser Zeit so üblich. Durch die Haltung der Person wird die Öffnung des anderen Ärmels verdeckt. Man hat ihn also nicht abgeschnitten, um eine Wunde zu verbinden.

Hans Memling,
Tommaso di Folco Portinari (1428-1501),

(vermutlich) 1470. Öl auf Holz, 44,1 x 33,7 cm.

The Metropolitan Museum of Art, New York.

Rogier van der Weyden,
Philippe de Croy, Grundherr von Sempy.

Öl auf Holz, 49 x 30 cm. Koninklijk Museum

voor Schone Kunsten, Antwerpen.

Hans Memling, Zwei Stifter (Teile eines
Altaraufsatzes mit einer Madonna und Kind),

um 1475-1480. Öl auf Holz, 44,7 x 32,4 cm;

44,5 x 32 cm. Muzeul Naţional Brukenthal, Sibiu.

 

 

Da Memling im Jahr 1479 in dem Hospiz arbeitete, wie es uns Passavant etwas unbeholfen ins Gedächtnis rufen möchte, kann er die Krankenkleidung wohl kaum schon im Jahr 1462 getragen haben, schließlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass er seine Verletzung siebzehn Jahre lang hatte und genauso lange von der öffentlichen Wohlfahrt lebte. Und letztendlich vermittelt der junge Mann einen gelassenen Eindruck und wirkt überhaupt nicht krank.

Auf diesem Portrait kann also nicht Memling abgebildet sein und er kann sich auch nicht im Saint-Jean-Hospital befunden haben, wie es der ehemalige Direktor des Museums in Frankfurt behauptet.[11] Er könnte allerdings Pierre van der Weyden mit dem Bildnis Memlings verwechselt haben. Auch Passavant hatte, wie bereits erwähnt, von ihm ja bereits eine Radierung angefertigt. Vergleicht man die Gesichtszüge von Rogier van der Weyden auf dem Stich des Malers und Kupferstechers Jérôme Cock[12] (um 1510 bis 1570) mit der Radierung des deutschen Historikers, so wird man eine verblüffende Ähnlichkeit feststellen. Es sind die gleiche breite und regelmäßige Stirn, die gleichen Augenbrauen, der gleiche schüchterne, arglose Blick, die gleichen fleischigen Augenhöhlen, die gleiche große, an der Spitze abgeflachte Nase, die gleichen hervorstehenden Wangenknochen, der gleiche kräftige Kiefer, die gleiche Form von Mund und Kinn.[13]

Die Ähnlichkeit ist so groß, dass man glaubt, ein Jugendbildnis von Rogier vor sich zu haben. Der Vater hatte sein Selbstportrait im Jahr 1462 auf eine kleine Tafel gemalt – im Anschluss an den Anonymen Reisenden von Morelli -, auf der er bis zur Körpermitte zu sehen ist. Ist es nicht denkbar, dass er noch im selben Jahr die Büste seines Sohnes auf einer Tafel gleicher Größe fest hielt?[14] Der Unbekannte mag wohl an die fünfundzwanzig Jahre alt sein; der 1437 geborene Pierre van der Weyden hatte im Jahr 1462 genau dieses Alter. Vater wie Sohn tragen ein Gewand mit geschlitzten, mit Knöpfen geschlossenen Ärmeln. Beide Personen zeigen den gleichen bäuerlich-naiven Gesichtsausdruck. Entweder verzichtet man auf sämtliche Schlussfolgerungen oder man gesteht sich ein, dass das zweite Portrait Pierre van der Weyden darstellt. Dies ist eine zusätzliche Information, die uns hilft, den Sohn dieses großen, lange Zeit in Vergessenheit geratenen Mannes besser kennen zu lernen.[15] Die bewundernswerte Ausführung dieses Gemäldes gereicht Rogier van der Weyden zur allergrößten Ehre und stellt ihn uns als würdiges Mitglied der ruhmreichen Schule vor, wo die Malerei als eine Form der Poesie, mit all ihrem Charme, ihrer Erhabenheit und Zartheit galt.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die ihm von der Natur gegebenen Gesichtszüge Memlings bis heute unbekannt sind. Will man sich ein Bild von ihm machen, so darf man nicht vergessen, dass er ziemlich beleibt war und einen rötlichen Teint besaß, d.h., dass sein Gesicht in keinerlei Hinsicht der geheimnisvollen Person mit ihrem sanften und träumerischen Ausdruck entsprach, die auf den Bildern zu sehen ist.

Nach Aussage des Anonymen Reisenden soll Memling 1470 ein Diptychon gemalt haben, auf dessen einem Flügel der Hl. Johannes zu sehen, wie er mit einem Lamm auf einer Wiese sitzt, auf dem anderen Flügel die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind, die ebenfalls inmitten einer Wiese sitzt; das Entstehungsdatum scheint jedoch äußerst zweifelhaft (lanno 1470, salvo il vero).

Das berühmte Triptychon Das Jüngste Gericht, das sich heute in Gdansk (Danzig) befindet, wird den Jahren 1466/1473 zugeordnet und stammt damit ebenfalls aus dieser Epoche. Das von dem florentinischen Medici-Vertreter und Kaufmann Jacopo Tani in Auftrag gegebene Werk zeugt übrigens davon, wie populär Memling in Italien war.