Roman Gorsky, ein russischer Oligarch von unermesslichem Reichtum, lässt ein Anwesen in London renovieren, dessen Ausmaße jede Vorstellungskraft sprengen. Das Herzstück des Palasts ist die Bibliothek, die der Buchhändler Nikola in Gorskys Auftrag zusammenstellt. Natalia, eine junge Frau aus Russland, die Gorsky seit langem abgöttisch verehrt, soll durch diese Sammlung von bibliophilen Raritäten bezaubert und von seinen Gefühlen überzeugt werden – eine Bibliothek der Verführung. Nikola, der vor dem Balkankrieg aus Serbien geflohen ist, lernt durch Gorskys Auftrag eine Welt kennen, die ihn gleichermaßen fasziniert wie abstößt und von deren Gefahren er nichts ahnt. Vesna Goldsworthy erzählt diese Geschichte, deren Magie man sich nicht entziehen kann, spannend, elegant und stilsicher.

 

Deuticke E-Book

 

Vesna Goldsworthy

 

Gorsky

 

Roman

 

Aus dem Englischen von

Henriette Heise

 

 

Deuticke

 

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2015 unter dem Titel Gorsky im Verlag Chatto & Windus (Vintage Publishing/Random House Group Company), London.

 

 

ISBN 978-3-552-06321-1

Copyright © Vesna Goldsworthy 2015

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2016

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Motive: © burntime555/istockimages, © lessa1980/istockimages, © rcx – Fotolia.com

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

 

Für Jacqueline Lewis

 

 

 

So lautete der Bericht der englischen Gesandtschaft dessen, was sie in Russland gesehen und erlebt hatten, und ihr Zeugnis fand Bestätigung bei Eintreffen der russischen Gesandtschaft in England. Ihre Gewänder, ihre Gestik und ihre Art, zu grüßen, waren von wilder, barbarischer Natur. Der Botschafter und die Granden in seiner Begleitung waren so wunderschön, dass ganz London zusammenkam, sie zu bewundern, und so schmutzig, dass sie zu berühren niemand wagte. Auf den Hofbällen hinterließen sie eine Spur von Perlen und Ungeziefer.

Thomas Macaulay,

The History of England (1848)

 

 

 

1

 

So ein Geschäft macht man nur einmal im Leben. Wenn man Glück hat.

Zuerst kam ein Jahr rauschender Feste, ein unerwartetes, unverdientes Jahr, das in meinem Leben seinesgleichen sucht. Dann hörte plötzlich alles auf, und ich musste zu meinem vorherigen Selbst zurückkehren, in eine andere Sprache, an einen anderen Ort. Gorsky hat mein Leben verändert.

Ich erinnere mich noch gut an seinen ersten Besuch im Laden. Dieser Mann war nicht zu übersehen, selbst in einer Stadt wie London nicht, in der Millionen Menschen um Aufmerksamkeit ringen. Hier stolzieren die Leute exhibitionistisch durch die Gegend, als ob sie einen YouTube-Clip über sich drehen würden. Dieser Herr aber war auf stille Weise auffallend: fremdländisch, vermögend, auch in Bewegung unbewegt, stets auf niedriger Lautstärke. Sein langes, aristokratisches Gesicht hatte einen melancholischen Ausdruck, und der maßgeschneiderte Anzug war so gänzlich englisch, dass ich ihn zunächst für einen Preußen halten musste.

In diesem Teil von Knightsbridge und Chelsea versuchen sich viele überflüssige deutsche Fürsten in Kunst und Antiquitäten. Die derer von und zu geben üblicherweise im Verhältnis zu ihren mageren Mitteln horrende Summen für ihre Garderobe aus. Sein Vermögen belief sich auf Milliarden, mehr jedenfalls, als man in einem einzigen Menschenleben ausgeben, geschweige denn brauchen konnte. Er kleidete sich dementsprechend, aber man musste genau hinsehen. Sein Reichtum schrie nicht, er flüsterte vielmehr durch strahlend weiße ägyptische Baumwolle, edlen Kaschmir und weiches Kalbsleder und das Ticken des präzisesten Platinuhrwerks der Welt. Er besaß so viele nahezu identische Maßanzüge aus der Savile Row, dass er mit ihnen vermutlich verfuhr wie andere Leute mit Papiertaschentüchern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich mit ihrer Reinigung aufhielt. Und obwohl ich mein halbes Leben damit verbracht hatte, aus dem Ladenfenster schauend das Ursprungsland der Passanten zu erraten, hatte ich bei ihm nicht im Entferntesten an Russland gedacht. Es war nicht nur das sehr helle blonde Haar, das nicht recht zu den vereisten Sümpfen der Newamündung passen wollte. Etwas an seinen Gesichtszügen, das ich nicht hätte beschreiben können, ließ mich ans alte Königsberg denken. Durch das längliche und schmale, wie in Kristall gemeißelte Gesicht mit der langen, geraden Nase und den einen Hauch zu eng stehenden blauen Augen erschien er größer, als er war, und wie einer anderen Zeit entstammend – der beste Freund Ernst Jüngers, der Ewige Balte, Byrons germanischer Brieffreund abgebildet von Caspar David Friedrich in einer Drehbewegung zum Betrachter mit einem tiefen Gedanken über die vereiste See im Sinn.

Die Russen waren zäher, massiger und roher, wenn auch unleugbar gutaussehend. Ich spreche natürlich nicht von den Russen im Allgemeinen, sondern nur von den paar im Umkreis dieser teuersten Londoner Bezirke, dieser Gruppe Selbsternannter, die einer Generation angehörten, die man im Westen die Babyboomer nannte. In Russland waren sie wieder da angekommen, wo sie angefangen hatten. Sie waren in beengten Wohnverhältnissen aufgewachsen, hatten Milliarden mit Erdöl, Erdgas und ausgeklügelten Betrügereien verdient, sie für Villen, Wetten, Weiber und den gelegentlichen Auftragsmord ausgegeben und saßen jetzt wieder wie im bösen alten Kommunismus zusammen am Spieltisch. Die einzige Veränderung waren die Scharen von Bodyguards um sie herum. Auch dass er Jude war, hätte ich wissen müssen. Aber schließlich war seine jüdische Identität für ihn und Natalia wichtiger als für mich. Sie waren Russen. Ich bin es nicht.

Ich komme aus einem kleinen, unbedeutenden Staat in einer unbedeutenden Ecke Europas und bin froh darüber. Für diese Geschichte ist meine Herkunft nur im Negativen relevant, insofern nämlich, dass ich weder Engländer noch Russe bin. Als alles vorbei war, war sie außerdem das Einzige, das in den Bildunterschriften unter unscharfen Fotos von Gorsky und mir, später von mir allein, übrig blieb, als wäre sie mein einziges Merkmal. Und das, obwohl sie das Letzte war, nach dem ich in einer Beschreibung meiner selbst gegriffen hätte. Ich bin von der Art des Tumbleweed, das sich nach vollendetem Wachstum von seinen Wurzeln trennt und ungebunden durch die Steppe rollt. Mein Exil war mir nicht unangenehm. Ich hatte es selbst gewählt.

 

Im Rückblick herrschte in London diese ganzen Monate über Novemberkälte. Meine Erinnerungen sind deutlich, aber sie halten sich nicht an den Kalender. England bot der Erinnerung keine Jahreszeit, an der sie festmachen konnte. Wenn einmal Blau durchblitzte, konnte es auch von Constable oder Turner stammen: Man besuchte die Museen, um dem Grau zu entfliehen. Es regnete die ganze Zeit, und eine Wetterveränderung bestand darin, dass der Regen sich zu Graupel verdichtete. Ein- oder zweimal hob ich auf dem Weg zur Arbeit den Blick und sah kurz eine blasse Scheibe durch die über matschigen Gärten hängenden Wolken hindurchschimmern. Ob es eine frühe Morgensonne war oder ein verspäteter Mond, es hing einfach da oben, wie die Versuchung eines Diebes. Mittfrühling fühlte sich an wie Winteranfang, so scherzte man jedenfalls. Dieses ganze jahreszeitenlose Jahr hindurch kamen die Leute in die Buchhandlung, schüttelten sich, kommentierten das Wetter, lasen die Buchrücken, bis sie sich aufgewärmt hatten oder etwas Interessantes gefunden hatten, nahmen es aus dem Regal, notierten Titel und Autor für die Onlinebestellung und stellten es zurück. Fynchs Bookshop verschluckte zwar allein achttausend Pfund an Monatsmiete, hätte aber ebenso gut ein Ausstellungsraum für den Online-Buchhandel sein können. Nur ein paar gute Seelen kauften etwas, aus Schuldgefühl, bevor sie wieder im Regen verschwanden: eine Postkarte vielleicht oder, wenn sie besonders guter Laune waren, einen der dünnen Gedichtbände, deren Verkaufszahlen so niedrig sind, dass sich der Internethandel nicht die Mühe eines Preisnachlasses macht. Es war eine magere Ausbeute, aber wenn der Winter zumindest kalendarisch vorüber war, nahm das Geschäft an Fahrt auf, im Vergleich zu unseren Zahlen im Rest des Jahres jedenfalls, die, wenn wir ehrlich sind, eine ziemliche Katastrophe waren.

Bei Fynchs kauft man keine Strandlektüre. Es sei denn, es handelt sich um einen Privatstrand. Und das Geschäft liegt sprichwörtlich abseits ausgetretener Pfade in einer Seitenstraße versteckt, in der es außer ihm keinen weiteren Laden und dementsprechend wenig Laufkundschaft gibt. Nur jemand, der nichts verkaufen will, würde einen Buchladen in einer Häuserreihe im Niemandsland zwischen Knightsbridge und Chelsea eröffnen, im Reich der Innenarchitekten und gefällig möblierten Heime, in denen drei von vier Büchern zum Dekor gehören. Das ist übrigens keine Rhetorik, sondern Statistik.

Eine Ausnahme ist das »alte Chelse, der alte Geldadel des Stadtteils. Ein »altes Knightsbridg gibt es nicht mehr, es sei denn, man zählt die erste Welle Kuwaiter mit, die von jenen verdrängt worden sind, für die Zitronenlimonade mittlerweile interessanter ist als Öl. Hingegen sind diejenigen, die zum »alten Chelse gehören, Fynchs sogenannte Stammkundschaft, englisch bis auf die Marks-&-Spencer-Unterwäsche. Sie vertändeln die letzten Pennies ihres imperialen Kleingelds auf würdevolle Weise, wozu auch der gelegentliche Kauf eines Buches gehört. Ich ziehe das »alte Chelse den Neureichen des »neuen Chelse und ihrer festlandeuropäischen und nordamerikanischen Vereinnahmung des guten Stils nicht unbedingt vor, aber meiner Herkunft wegen bin ich zu einer gewissen Sentimentalität gegenüber jeglicher Gruppe prädestiniert, die gemeinschaftlich blöd genug ist, sich von ihrem eigenen Grund und Boden vertreiben zu lassen. Das »alte Chelse ist eine aussterbende Spezies, und mit ihnen werden auch die Buchbestellungen von Biografien über Viscount Allenby oder Kardinal Soundso und Gespräche über den »schlüpfrigen jungen Auto Martin Amis aufhören. Selbst die Kinder des »alten Chelse wollen lieber nach neuem Geld aussehen, wenn sie auch keines besitzen.

 

An jenem Morgen, an dem er das erste Mal den Laden betrat und mich fragte, ob er mich sprechen dürfe – mich sprechen dürfe –, sah ich ihn aus einem langen, silbernen Bentley oder einem ähnlichen Fahrzeug steigen, das wohl dem Angriff einer Panzerabwehrrakete standgehalten hätte. Ich war überrascht, dass er sich dem Laden zuwandte. Zögernd und steif stand er da, während er wie ein Monokelträger mit einem Auge das Ladenschild betrachtete. Obwohl er gewiss mehr Geld ausgab als jeder, dem ich in meinem Leben begegnet war, verbrachte er wohl nicht viel Zeit mit Shopping. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass er in den Laden kommen würde, und beobachtete ihn durch das regennasse Schaufenster, hinter dem ich täglich stundenlang an einem Schreibtisch voll handschriftlicher Quittungen saß (beim »alten Chelse sehr beliebt), mit einem Plakat im Rücken, auf dem die Kunden um Unterstützung für ihre örtliche Independent-Buchhandlung gebeten wurden. Und ob wir independent waren. Echte Büchernarren. Das Schreibtischchaos mochte nach Arbeit aussehen, aber ich las nebenbei mindestens zwei Bücher am Tag, auch wenn vergleichsweise viel los war. Ich hatte wirklich nicht erwartet, jemals mit dem Big Business in Berührung zu kommen, aber dieser Mann sah ganz danach aus. Alles wies darauf hin, von der Art, wie er sich die Wagentür öffnen ließ, ausstieg und dem elegant gekleideten Chauffeur Anweisungen gab, bis zu der Haltung, in der er scheinbar zufällig durch die Regale strich, während ich eine Kleinigkeit erledigte und die Plauderei mit einer morgendlichen Stammkundin beendete, und dem Ton, in dem er schließlich die Frage, ob er mich »sprechen dürf, hervorbrachte.

Unsere morgendlichen Stammkunden waren meist ältere Damen mit sorgfältig frisiertem, violett-weißem Kurzhaarschnitt, die schon seit morgens um halb fünf Uhr auf waren und gern nach Büchern über unverheiratete, kultivierte Frauen von Autorinnen wie Anita Brookner oder Salley Vickers fragten, mit deren Heldinnen sie sich ganz identifizieren konnten, obwohl sie selbst oft mehr als einmal geheiratet hatten. Nur eine Bankierswitwe kann sich eine Immobilie in dieser Gegend Londons leisten, und einige dieser toughen alten Damen hatten es auf mehrere Bankiers gebracht. Sie schlugen gern im Gespräch mit mir eine halbe Stunde tot, bevor sie sich zum Peter Jones chauffieren ließen und sich im Panoramacafé des Kaufhauses den Rest des Morgens vertrieben. Dass ich Ausländer war, war in ihren Augen ein Vorteil, weil sie mir mit so viel Freude ihr Land erklärten. Und das, obwohl ihnen England mittlerweile mindestens genauso fremd war wie mir. Sie waren meine besten Kunden. Sie kauften niemals online. Nicht, weil sie etwas gegen das Internet hatten, sondern weil sie gar nicht wussten, dass so etwas heutzutage möglich war.

 

Ich verkaufte nicht aus Leidenschaft Bücher, wenn ich mir auch alle Mühe gab, es so aussehen zu lassen. Ich hatte mich in den frühen Neunzigern nach Großbritannien hineingeschlichen, ein Wehrdienstverweigerer mit einem Doktor in Englischer Literaturwissenschaft. Die Promotion war die Spätfolge einer rätselhaften platonischen Anglophilie, die ich mir mit Anfang zwanzig zugezogen hatte. Meine mittelmäßige Arbeit über William Hazlitt hatte mir schon in meinem Heimatland nichts gebracht, geschweige denn an Bord von »Mutterschiff Britanni, wo es vor Ph. D.s in Englischer Literatur nur so wimmelt, Hazlitt als völlig überholt gilt und man sich modebewusst dem Studium der neuesten Post-Ismen hingibt. Ich kam als Flüchtling nach London, in einer durch die Balkankriege ausgelösten Flüchtlingswelle, die anschwoll und sich an den harten, aber porösen Klippen von Dover brach. Wer von Hemingway und Fitzgerald als der verlorenen Generation spricht, hat keine Ahnung, was es bedeutet, sich wirklich verloren zu fühlen.

Meine Reise von dort (die Zweizimmerwohnung meiner Eltern in einem Betonmonster am Rand der Hauptstadt, die auf dem Polaroid meiner Erinnerung genau in dem Moment erstarrt ist, in dem der Briefträger klingelt, um den Einberufungsbescheid zu überbringen) nach hier (Christopher Fynchs Bookshop in Chelsea an einem nassen, trüben Morgen) war mit Lügen gepflastert, von denen die erste, aber längst nicht die letzte, darin bestanden hatte, dass meine Mutter vorgab, ich sei schon geflohen. Gleichzeitig hatte sie sich geradewegs und mit dreimaliger Wiederholung wie im Gebet geweigert, irgendetwas für mich zu unterschreiben.

Wer hätte gedacht, dass sie zu Ungehorsam gegenüber dem Staat fähig war. Sie sah aus wie ein Blatt, das der leichteste Windhauch verwehen würde. Als sie mich mitten in der Nacht zur ungarischen Grenze fuhr, wusste sie noch nicht, dass ihr Körper krebszerfressen war. Viele derer, die blieben und kämpften, verachteten Leute wie mich später. »Feige Bräut nannten sie uns. Mutter war ein besserer Mensch als ich. Lieber, sagte sie, sähe sie mich überhaupt nicht wieder als mit einem Gewehr in meiner Hand. Ihr Wunsch ging in Erfüllung.

Im Rückblick sieht mein Weg nach London vergleichsweise schmerzlos aus. Der Tod meiner Eltern und der darauf folgende Verkauf ihres ärmlichen Heims für stolze zehntausend Euro – der höchste Betrag, den ich je besaß – festigten meine Fähigkeit, mich von meinen Gefühlen zu lösen. Diese Gabe war mir mindestens ebenso nützlich wie die Fähigkeit, meine Wurzeln zu kappen. Außerdem war ich schon immer, das gebe ich gerne zu, ein verdammter Glückspilz gewesen.

Nachdem ich meinem Bildungsweg bis in die letzte Sackgasse gefolgt war, um mich den Herausforderungen und dem Alltag einer einträglichen Beschäftigung so lange wie möglich zu entziehen, stellte ich fest, dass ich wenig Ambitionen hatte. Von diesen überlebten wiederum noch weniger die Überfahrt von Holland, wo ich ein paar Nächte im Haus eines alten Schulfreunds unterkam, der in Belgrad Maler gewesen war und hier als Anstreicher arbeitete. In Amsterdam wimmelte es von Verweigerern vom Balkan, die sich an legalem Hasch und der Gesellschaft Gleichgesinnter berauschten. Hätte ich handwerkliches Geschick gehabt, wäre ich auf dem Festland geblieben.

Nachdem ich in Großbritannien eine Arbeitserlaubnis erhalten hatte, landete ich genauso zufällig im Buchhandel, wie ich, bevor mit der Arbeitserlaubnis zu rechnen gewesen war, in die Maisonettewohnung am Eaton Square geraten war. Sie gehörte der britischen Frau eines amerikanischen Bankers, die ein männliches Au-pair für ihre In-vitro-Drillinge haben wollte. Männliche Au-pairs waren gerade en vogue. Eine bestimmte Qualifikation war nicht nötig, aber sie fand wohl, dass der Input eines Dr. phil. eine ausgezeichnete Ergänzung zu der sorgfältigen Vollzeitpflege des philippinischen Kindermädchens darstellen würde. Das philippinische Mädchen war so hingebungsvoll wie wortkarg. Ich brachte die Jungs zur Schule und spielte mit ihnen Fußball im Hyde Park. Sie mochten mich, und auch ich konnte sie gut leiden – beiderseits ohne tiefere Bindung. Nachdem man meine Dienste nicht mehr brauchte, sah ich sie gelegentlich, wenn sie von Oxford, Princeton und Brown nach London kamen, um Mum und Dad zu besuchen. Im Gegensatz zu Mum und Dad lasen die drei. Wenn sie im Laden vorbeischauten, nannten sie mich auf übertrieben amerikanische Art dude. Heutzutage wünschen sich die meisten britischen Kinder, Amerikaner zu sein, und die drei Jungen zogen den Vater ohnehin der Mutter vor.

1995 nahm ich die Stelle bei Christopher Fynch an. Christopher war Buchhändler und Gentleman in einem, aber nicht in dieser Reihenfolge: Er war jederzeit ein Gentleman, Buchhändler aber nur gelegentlich für ein paar Stunden, wenn es ihm beliebte, nach mir zu schauen. Die Bezahlung war miserabel, aber mehr warf das Geschäft nicht ab – und eigentlich nicht einmal das. Wir kamen gerade so aus. Christopher war seit 1987 verwitwet und hatte zwar eine Stieftochter, kaum jünger als er, die irgendwo in West Hampstead lebte, eigene Kinder aber gab es nicht. Das habe der Mumps erledigt, erwähnte er einmal. Ich bezweifle, dass ihm viel an der Vaterschaft gelegen hatte. Ich bin mir nicht einmal sicher – trotz seiner Ehe mit einer achtzehn Jahre älteren Frau –, ob Christopher Fynch homo- oder heterosexuell war. Zwar lebte er in anderer Hinsicht ganz und gar nicht asketisch (wovon sein täglicher Besuch des La Poule au Pot bei einer halben Flasche Claret zeugte), doch in allem, was auch nur im Entferntesten mit Sexualität zu tun hatte, war Fynch ganz der weltfremde »alte Knab. Für Männer wie ihn war Enthaltsamkeit erfunden worden. Er mochte mich, und ich mochte ihn, aber ich erwartete nicht, dass er mich als Erben für die Buchhandlung oder Sonstiges einsetzen würde. Geld hatte mich nie besonders interessiert. Außerdem gab es nicht viel zu erben.

 

Das Geschäft kroch wie die englische Kälte. Bis Gorsky auftauchte und uns einen Vorschlag unterbreitete. Irgendetwas an dieser einsamen, stillen Erscheinung brachte mich dazu, ihn in meinem E-Mail-Verkehr mit Fynch von Anfang an »Den großen Gorsk zu nennen. Mein Chef schrieb gerne E-Mails, trotz der obligatorischen affektierten Technophobie des verstaubten Eton-Alumnus. E-Mails, oder E-Pisteln, wie er sie nannte, ermöglichten es ihm, im Bett zu bleiben, wenn ihm danach war. Damit war er nicht allein. Die alternde Bevölkerung der gesamten Insel lebt in der leichten Lethargie einer postkolonialen Depression.

»Mein Name ist Gorsky. Roman Borissowitsch Gorsk, sagte der preußische Prinz in schottischem Kaschmir schließlich, nachdem er die Bücherregale von Fynchs eine knappe halbe Stunde lang begutachtet und hier und da einen Band heruntergenommen hatte, um darin zugleich achtsam und abwesend zu blättern. Sein Akzent war unverkennbar russisch, sein Englisch gewählt und korrekt.

»Mein Name ist Gorsky. Roman Borissowitsch Gorsk, hatte er mit einer Stimme gesagt, in der sich Sanftheit mit der Rauheit eines Rauchers verbanden. »Ob ich Sie kurz sprechen dürfte.«

»Sprechen Sie Russisch?«, fragte er weiter, während ich aufstand. Ein Buch fiel von meinem Schoß, und ein Stoß handgeschriebener Quittungen flatterte zu Boden. Ich stammelte etwas von verstehen und lesen können. Meine Muttersprache war immerhin sehr ähnlich.

»Was lesen Sie denn?«, fuhr Roman Borissowitsch auf Englisch fort. »An russischer Literatur, meine ich.«

»Babel. Bunin. Bulgakow.«

Er lächelte über die B-lastige Liste.

»Aber auch Tschechow … und natürlich Tolstoi.« Ich konnte seinen literarischen Geschmack nicht einschätzen und wollte deshalb alles abdecken.

»Dostojewski nicht?«

Ein Schmunzeln zuckte um seine Mundwinkel. Er wusste, dass ich gefallen wollte.

»Tja, ja. Und nein … früher schon. Heute aber ist er, glaube ich, nicht mehr das Richtige für mich. Das Leben ist schwer genug, möchte man meinen …«

Das war daneben. Was faselte ich da über Fjodor Michailowitsch, und was sagte das über mich? Alles um mich war Beweis dafür, dass das Leben, meines eingeschlossen, alles andere als schwer war. Aber er hatte ohnehin nicht zugehört.

»Lyrik?«

»Ja, auch Lyrik. Zwetajewa. Andrei Bely. Achmatowa. Blok. Das Silberne Zeitalter allgemein. Und natürlich Puschkin. Wie wir alle. Wie kann man nicht Puschkin lesen?«

Wie tiefsinnig, Nikola, dachte ich, noch während ich diese entsetzlich vorhersehbare Liste abspulte.

Und das war es. Das war das kurze Gespräch. Der Auftrag, der Fynchs Bookshop für annähernd zwei Jahre verwandeln würde, war zunächst nur ein Nachsatz. Gorsky war beinahe aus der Tür, als er auf den Grund seines Besuches zu sprechen kam.

 

Gorsky baute gerade unweit der Buchhandlung ein Haus für sich, und wir sollten dafür sorgen, dass es am Tag des Einzugs mit der besten Bibliothek Londons ausgestattet war. Mit der besten Privatbibliothek Europas, vielmehr. Nicht irgendeine allgemeine Bibliothek sollte es sein, sondern eine auf die Bedürfnisse eines gebildeten russischen Gentlemans zugeschnittene, der sich besonders für Kunst, Belletristik und Reiseliteratur interessierte und in zahlreichen europäischen Sprachen versiert war. Eine Bibliothek, die den Eindruck erweckte, ihr Eigentümer hätte jedes darin befindliche Buch persönlich gekauft und viele Male gelesen, oder sollte er es noch nicht gelesen haben, es ganz sicher bald lesen würde. Eine Bibliothek weiterhin, die aussah, als sei ein Teil ihres Bestandes das Erbe bibliophiler Vorfahren. Gorsky bestand auf Erstausgaben – einschließlich des Alten Testaments – und verlangte Bücher im allerbesten Zustand.

Geld spielte, wie sich versteht, keine Rolle.

»Ich gebe Ihnen jetzt eine erste Summ, sagte er und zog ein in weinrotes Krokodilleder gebundenes Scheckbuch aus der Manteltasche. Er hielt kurz inne, dann notierte er den Betrag von zweihundertfünfzigtausend Pfund, zahlbar an, so las er von einem an der Kasse klebenden Zettel ab, Christopher Fynch Ltd. Der schlanke Körper des Füllfederhalters war in einem komplizierten Muster mit nadelkopfgroßen Edelsteinen besetzt. Gorskys Handschrift in Sepia war ebenso elegant wie unlesbar. Die Summe jedenfalls war mehr als deutlich.

»Geben Sie das aus, dann erhalten Sie einen neuen Scheck. Dreißig Prozent für Ihre Mühen. Aber ich will eine Quittung für jeden Einkauf, einschließlich des billigsten Taschenbuchs. Klingt das vernünftig?«

Sein Ton suggerierte, dass er vernünftig und auch großzügig war, aber keineswegs dumm. Er schien außerdem zu sagen, dass ihn schon andere für dumm gehalten und bald hatten feststellen müssen, dass das keine gute Idee war.

Wie gesagt, das war es. Abgesehen von einer Kleinigkeit, die mir im Rückblick einfällt. Nachdem ich den Scheck ungeschickt endlich in die Kasse befördert und diese geschlossen hatte, schmunzelte Gorsky noch einmal und zögerte.

»Und Kunst?«, fragte er schließlich.

»Ja. Also nein. Ich meine: russische Kunst ja, jede Menge, aber nicht auf Russisch. Noch nicht.« Diesmal war es nichts als die Wahrheit. Ich hatte fast das ganze vergangene Jahr russische Kunst gepaukt und alles gelesen, was ich darüber in die Finger bekam. Wegen Natalia Summerscale.

»Gut. Sehr gut. Meine Bibliothek soll jemanden mit Kunstverstand bezaubern.«

Mit diesen Worten schloss er die Ladentür und verschwand im wartenden Wagen.