Cover

Marie Louise Fischer

Eine Liebe in Berlin

Roman

hockebooks

In der Villa Thielemann war es sehr still geworden. Es gab keine Feste und keine Gäste mehr, und wenn die Hausglocke läutete, dann gewiss nur die am Lieferanteneingang. Die Pferde standen im Stall, die Kutsche war in der Remise; Frau Dorothee unternahm keine Ausfahrten mehr. Sie besuchte niemanden, verließ das Haus nur noch ganz selten und auch dann erst nach Einbruch der Dämmerung. Sie schien jedes Interesse an der Welt, in der sie lebte, verloren zu haben und schloss sich oft stundenlang in ihrem Boudoir ein, ohne dass jemand im Hause erfuhr, was sie dort tat. Weinte sie? Haderte sie mit ihrem Schicksal? Betete sie?

Die Führung des Haushaltes lag jetzt völlig in den Händen Clementines, die sich zwar in dieser neuen Rolle sehr gut gefiel, aber dennoch immer wieder versuchte, ihre Herrin zur Anteilnahme zu zwingen. Doch welches häusliche Problem sie auch immer an Frau Dorothee herantrug, nie erreichte sie mehr als ein gedankenloses Zuhören und den Bescheid: »Machen Sie das, wie Sie es für richtig halten, Fräulein. Sie wissen besser als ich, was zu tun ist.«

Für die tüchtige, energische, zupackende Clementine war eine solche Apathie schwer zu verstehen und schwer zu ertragen.

Mit brennender Sehnsucht wartete sie auf eine Nachricht von Justus, und je mehr Wochen seit ihrer letzten Begegnung verstrichen, desto größer wurde ihre Hoffnung, dass es läuten und der Mann, den sie liebte, vor ihr stehen würde. Oft und oft hatte sie sich schon ausgemalt, wie es sein würde, wenn er sie endlich, endlich bitten würde, seine Frau zu werden … Sie war sich darüber im Klaren, dass er ihre Gefühle nicht in gleichem Maße erwiderte. Aber das störte sie nicht; sie war ganz sicher, eines Tages würde er begreifen, dass nur sie und keine andere die richtige Frau für ihn war.

Jetzt, da alles vorüber war, konnte sie sogar mit ein bisschen Mitleid an Stefanie von Stucken denken. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, jemals auf ein so junges, unbedarftes und verwöhntes Geschöpf eifersüchtig gewesen zu sein. Jetzt, nachträglich, erschien es ihr, als wenn Stefanie nie eine Chance besessen hätte. Arme Stefanie, dachte sie aus dem Gefühl ihrer selbstsicheren Überlegenheit heraus.

In dieser seelischen Verfassung traf sie der Brief ihrer Tante aus Görzen wie ein Keulenschlag.

Clementine Hergert und Anna Weigand kannten einander so gut und standen sich so nahe, wie es nur bei Frauen möglich ist, die denselben Mann lieben und zu jedem Opfer bereit sind, wenn es darum geht, ihn glücklich zu machen. Es hatte zwar von jeher eine gewisse unterschwellige Rivalität zwischen den beiden geherrscht, aber ihre Liebe zu Justus Weigand war so groß, dass weder Clementine daran gedacht hätte, den Anspruch seiner Mutter je zu schmälern, noch Anna Weigand, den Sohn für sich behalten zu wollen. Ohne dass sie ein Wort darüber verloren hätten, waren beide schon vor langer Zeit stillschweigend dahin übereingekommen, dass Clementine Frau Dr. Weigand werden sollte; sie war von ihren potentiellen Schwiegereltern geradezu zu dieser Aufgabe erzogen worden.

Wenn also Anna Weigand schrieb, sie sei nach einem offenen Gespräch mit ihrem Sohn zu der Überzeugung gekommen, dass Justus in absehbarer Zukunft nicht an eine Heirat dächte, so musste Clementine das glauben; sie hatte weder Grund, ihre Tante für missgünstig oder boshaft zu halten, noch konnte sie an ihrer Menschenkenntnis zweifeln.

Dennoch durfte sie sich nicht ihrer Enttäuschung, ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung hingeben, denn die Kinder mussten beaufsichtigt werden, die Köchin erwartete ihre Anweisungen für das Mittagessen, und das Stubenmädchen, das eine kostbare Vase hatte fallen lassen, war mit der gebotenen Strenge zurechtzuweisen.

Erst am frühen Nachmittag, als die Kinder ihr Schläfchen hielten, kam Clementine dazu, sich in ihr Mansardenzimmer hinauf zu flüchten und den Brief ihrer Tante noch einmal und mit Fassung zu lesen.

»Es tut mir leid, dass ich Dir Kummer bereiten muss, liebe Tina«, schrieb Anna Weigand, »aber es scheint mir besser, Du weißt, woran Du bist, als dass Du Hoffnungen nachhängst, die sich nie erfüllen werden. Nach einem langen und sehr offenen Gespräch mit Justus bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass er nicht heiraten wird, jedenfalls nicht in den nächsten Jahren. Ich habe nicht versucht, ihm hierin zu widersprechen oder ihn umzustimmen, denn er ist ein erwachsener Mann und muss seine eigenen Entscheidungen treffen. Du weißt, wie sehr ich gewünscht habe, dass es anders gekommen wäre, und ich bin nach wie vor der Meinung, dass Du die Frau bist, die ihn hätte glücklich machen können. Mag sein, er wird eines Tages erkennen, dass er an seinem Glück vorbeigelaufen ist. Aber ich werde das wohl nicht mehr erleben, ich werde dann längst unter der Erde liegen, und Dir, liebe Tina, wird es auch nichts mehr nützen, auch für Dich wird es zu spät sein. Du wirst Deine Kraft an fremde Menschen vergeudet haben, die Dich für ihre Dienste bezahlen. Du wirst ein spätes Mädchen geworden sein, und – das weißt Du so gut wie ich – späte Mädchen heiratet man nicht, es sei denn, sie bringen ein Vermögen mit in die Ehe. Wenn Justus die wissenschaftliche Laufbahn einschlägt, wie er es sich vorgenommen hat, dann kann es sein, dass er sich eines Tages für eine Frau mit Geld entscheiden wird. Das Wenige, das Du geerbt hast, genügt da nicht, auch nicht, was Du Dir im Laufe der Jahre zusammensparen könntest. Wenn Du auf meinen Rat hören willst, Tina, und ich meine es wahrhaftig gut mit Dir, dann heirate jetzt, solange Du noch jung bist, heirate so bald wie möglich, heirate einen einfachen, anständigen und guten Mann. Vielleicht ist es besser, Du kommst nach Görzen zurück, denn hier wissen wir von jedem, wer er ist und woher er kommt, während es in Berlin doch so viele schlechte Menschen gibt, man liest ja täglich davon in den Zeitungen …«

Anna Weigands feine, sehr korrekte Handschrift begann vor Clementines Augen zu tanzen, es war ihr, als bohrten sich die spitzen Buchstaben – Haarstrich auf, Schattenstrich ab – wie winzige vergiftete Dolche in ihr Bewusstsein.

Clementine hatte das Bedürfnis, sich über ihr Bett zu werfen, das Gesicht in die Kissen zu vergraben und sich hemmungslos auszuweinen. Aber sie tat es nicht, denn selbst in diesem Augenblick – unbeobachtet in der Einsamkeit ihrer Kammer – schrak sie davor zurück, sich gehen zu lassen. Sie war ein erwachsener Mensch, beinahe schon ein spätes Mädchen, wie Anna Weigand ihr mit Recht geschrieben hatte. Sie konnte und durfte sich nicht aufführen wie ein schwärmerischer Backfisch, der mit seiner ersten Liebesenttäuschung nicht fertig wird. Clementine presste die Lippen zusammen, warf den Kopf mit dem schweren dunklen Haar in den Nacken, verließ ihr Zimmerchen und stieg die Treppe hinunter.

Im Vorbeigehen warf sie einen Blick zu den Kindern hinein. Marie und Emma schliefen, Fritz blätterte in einem Buch. Sie schalt ihn nicht, sondern legte nur den Finger an die Lippen, ihn so ermahnend, die Schwestern nicht zu stören.

Verschwörerisch ahmte Fritz die Geste nach.

Während Clementine in die Halle ging, schoss es ihr durch den Kopf, dass Fritz nun bald zu groß sein würde, das Zimmer noch mit den Mädchen zu teilen. Konnte sie ihn überhaupt noch erziehen, oder gehörte nicht vielmehr ein Lehrer ins Haus? Sie nahm sich vor, darüber mit Frau Dorothee zu sprechen, obwohl sie schon jetzt wusste, dass sie ihr weder einen Rat noch eine Entscheidung würde abverlangen können.

Sie durchquerte die Halle, öffnete die Tür zum ehemaligen Herrenzimmer und setzte sich an den schweren geschnitzten Schreibtisch. Es kam ihr gar nicht zum Bewusstsein, dass dies noch vor wenigen Monaten das Reich Otto Thielemanns gewesen war, das sie niemals aus eigenem Antrieb zu betreten gewagt hätte.

Jetzt saß sie mit größter Selbstverständlichkeit an dem Platz des ehemaligen Hausherrn, den sie umso müheloser usurpiert hatte, als Frau Dorothee diesen Raum niemals mehr zu betreten pflegte. Aber für Clementine war er gerade recht. In einer schweren eisernen Kassette bewahrte sie die Gelder auf, die sie stets zur Begleichung der fälligen Rechnungen zur Hand haben musste. Hier zahlte sie der Mamsell, dem Zweitmädchen und dem Kutscher ihre Löhne aus, hier führte sie auch das Wirtschaftsbuch.

Sie überzeugte sich, dass die Tinte in dem schweren kleinen Fass aus grünem Marmor nicht angetrocknet oder verdickt, sondern leichtflüssig war, und probierte eine Feder aus. Dann nahm sie einen der weißen Büttenpapierbogen, die Otto Thielemann hinterlassen hatte, legte ihn ein wenig schräg vor sich hin, um dadurch das Absinken der Zeile, zu dem sie erfahrungsgemäß neigte, im Vorhinein zu korrigieren, und schrieb:

»Liebe Tante Anna, alles, was Du mir über Justus schreibst, habe ich schon seit Langem gewusst. Du irrst Dich, wenn Du glaubst, dass ich mir Illusionen gemacht hätte oder dass Du mich warnen müsstest. Die schwärmerische Neigung, die ich als junges Ding zugegebenermaßen für Deinen Sohn empfunden habe, ist längst dahin. Du wirst es vielleicht sonderbar finden, aber der Gedanke an eine Heirat ist mir genauso verhasst wie ihm. Auch ich liebe meine Freiheit und meine Selbstständigkeit. Mach Dir also meinetwegen keine Gedanken. Ich werde ganz bestimmt nicht nach Görzen zurückkehren und Dich vor die Aufgabe stellen, mir einen Mann zu suchen. Hier in Berlin werde ich gebraucht, hier fühle ich mich wohl. Auch ohne Mann und auf die Gefahr hin, ein spätes Mädchen zu werden. Warum drückst Du Dich übrigens so zurückhaltend aus und schreibst nicht gleich das, was Du denkst? Nämlich, dass ich auf dem besten Weg bin, eine alte Jungfer zu werden? Aber vielleicht werde ich Euch alle eines Tages noch überraschen …«

Als Clementine diese Zeilen zu Papier gebracht hatte, fühlte sie sich schon besser. Sie las den Brief durch und fand ihn gut, schrieb die Adresse auf das Kuvert, faltete das Blatt zusammen und steckte es in den Umschlag.

Sie ahnte nicht, dass Anna Weigand aus jeder Zeile dieses Briefes ihren Zorn, ihre Trauer und ihre Verzweiflung herauslesen würde.

Als Clementine vom Briefkasten zurückkehrte, traf sie in der Halle Frau Dorothee, deren Gesichtsausdruck etwas weniger nachtwandlerisch wirkte als gewöhnlich. Deshalb hielt sie die Gelegenheit für günstig, ein Problem anzuschneiden, das nicht länger mehr totgeschwiegen werden konnte.

»Gnädige Frau …«, sagte sie.

Frau Dorothee nickte ihr zu und schwebte weiter. »Gnädige Frau, bitte, ich muss mit Ihnen sprechen.«

»Worüber denn nun schon wieder?«, fragte Frau Dorothee müde.

Clementine, die ganz sicher war, Frau Dorothee seit über einer Woche mit keiner Frage behelligt zu haben, unterdrückte einen Seufzer. »Gnädige Frau, morgen ist der erste Sonntag im Monat!«

Frau Dorothee wandte ihr das kleine, spitze Gesicht zu. »Das mag sein«, entgegnete sie völlig desinteressiert.

»Ich möchte Sie an die gerichtliche Verfügung erinnern, wonach …« Clementine wusste nicht weiter.

Frau Dorothee hatte verboten, dass der Name ihres geschiedenen Mannes in ihrer Gegenwart ausgesprochen wurde, und niemand hatte es bisher gewagt, dieses Tabu zu brechen.

Clementine nahm einen neuen Anlauf. »Es ist abgemacht, dass die Kinder jeden ersten Sonntag im Monat ihren Vater treffen sollen!«

Eine rote Welle ergoss sich wie eine Sturzflut über Frau Dorothees durchscheinendes Antlitz. »Ich erinnere mich nicht«, sagte sie und wollte gehen.

Clementine vertrat ihr den Weg. »Aber Sie müssen es wissen, gnädige Frau! Bitte, denken Sie doch nach! Noch vor wenigen Tagen bekamen Sie von Doktor Rosenbaum einen Brief, in welchem er Ihnen dringend riet, die getroffenen Abmachungen ja nicht zu verletzen!«

»So? schrieb er das?«

»Ja.«

»Dann wird es wohl so sein, Fräulein. Ich habe den Brief nicht gelesen.«

»Ja, es ist so, gnädige Frau. Glauben Sie mir, ich würde Ihnen das alles gern ersparen, aber wir müssen uns überlegen, wo die Begegnung stattfinden soll …«

Zum ersten Mal seit Langem zeigte Frau Dorothee wieder einen Anflug von Energie. »Ich möchte das nicht«, sagte sie. »Ich will nicht, dass meine Kinder … wir brauchen nicht weiter darüber zu reden.« Sie wandte sich ab.

Clementine fasste sie beim Arm. »Gnädige Frau«, sagte sie beschwörend, »so geht das nicht. Herr … ich meine, der Vater hat das Recht, seine Kinder …«

»Nein. Das hat er nicht.«

»Das Gericht hat es so beschlossen, gnädige Frau. Wenn wir uns nicht danach richten, können die Kinder von der Polizei abgeholt werden …«

Jetzt endlich sah Frau Dorothee ihr ins Gesicht. »Sie wollen mich erschrecken, Fräulein!«

»Nein, ganz gewiss nicht. Doktor Rosenbaum schreibt es ja. Wenn Sie den Brief nur gelesen hätten!«

Ein bitteres kleines Lächeln spielte um Frau Dorothees blasse Lippen. »Sie haben es ja getan, Fräulein, das ist ja wohl die Hauptsache.«

»Wenn Ihnen der Gedanke wirklich so zuwider ist«, sagte Clementine nachdenklich, »gäbe es wohl eine Möglichkeit …«

Es war ihr gelungen, Frau Dorothees Interesse zu wecken. »Und die wäre?«

»Wenn Sie zusammen mit den Kindern verreisen würden. Vielleicht in ein Bad …«

»Nein. Sie wissen, wie ich solches Menschengewimmel verabscheue.«

»Oder zu Ihren Eltern.«

»Nein!« Für Sekunden zuckte ein solcher Schmerz über Frau Dorothees Gesicht, dass Clementine begriff: Auch das eigene Elternhaus war Frau Dorothee durch die Scheidung verschlossen.

»Verzeihen Sie«, murmelte sie, »ich wusste nicht …« Es wurde ihr bewusst, dass sie Frau Dorothee noch immer festhielt, eine Vertraulichkeit, die ihr trotz der ungewöhnlichen Situation nicht zustand; sie ließ die Hand sinken.

»Ja, alle Welt hat mich verlassen«, sagte Frau Dorothee tonlos. »Man behandelt mich wie eine Ausgestoßene, eine Verbrecherin. Und doch, auch wenn ich gewusst hätte, wie alles kommen würde, ich hätte es auf mich genommen.«

»Ich verstehe Sie gut.«

»Ja, ich weiß. Ich bin sehr froh, dass Sie bei mir geblieben sind, Fräulein.« Wieder wollte sie sich zum Gehen wenden.

»Bitte, gnädige Frau«, sagte Clementine beschwörend, »wir haben ja noch nicht zu Ende gesprochen!«

»Wozu? Machen Sie alles so, wie Sie es für richtig halten. Ich verlasse mich ganz auf Sie.« Frau Dorothee ging eilig weg, es sah beinahe wie Flucht aus und war es im Grunde ja auch – Flucht vor den Problemen, die sie nicht meistern konnte. Clementine sah keine Möglichkeit mehr, ihre Brotherrin ein drittes Mal aufzuhalten, es wäre die blanke Unverschämtheit gewesen. So blieb sie denn stehen, mit zusammengepressten Lippen und schlaffen Armen, und sah der Davoneilenden nach.

Dieses Gespräch hatte geendet wie hundert andere auch, die ihm vorausgegangen waren. Was hatte sie anderes erwarten können? Frau Dorothee hatte ihr einmal mehr die Verantwortung zugeschoben, weil sie sie für stark, umsichtig und vernünftig hielt. Alle hielten sie dafür, die Kinder, das Personal, auch Tante Anna in Görzen und Justus Weigand. Niemand ahnte, wie sie sich nach einer Schulter sehnte, an die sie ihren Kopf lehnen konnte, nach einem Arm, der sie hielt, einem Menschen, der bereit und imstande war, ihr die Sorgen, wenn schon nicht abzunehmen, so doch zumindest mit ihr zu teilen.

Aber sie war allein, unsagbar allein.

Am nächsten Morgen war Clementine Hergerts Entschluss gefasst. Jedenfalls so weit es das Arrangement des Wiedersehens zwischen Otto Thielemann und den Kindern betraf. Es war ausgeschlossen, Otto Thielemann in die Von-der-Heydt-Straße kommen zu lassen; eine Begegnung zwischen ihm und seiner geschiedenen Frau hätte allzu leicht zu einem Eklat geführt, wenn nicht gar zu einem Nervenzusammenbruch Frau Dorothees.

Aber Clementine wollte, dass dieser Tag für ihre Schützlinge so friedlich wie irgend möglich verlaufen sollte.

Obwohl sich Otto Thielemann früher kaum um die Kinder gekümmert hatte und diese ihm gegenüber niemals eine besondere Zärtlichkeit an den Tag gelegt hatten, schienen sie den Vater nun, da er aus ihrem Leben verschwunden war, doch sehr zu vermissen. Clementine hatte das schon bald nach der Scheidung feststellen müssen, zuerst mit Unwillen, dann mit Bestürzung, schließlich mit Besorgnis. Sie hatte gehofft, die Kinder würden mit der Zeit ihren Vater vergessen, aber das Gegenteil geschah: Immer öfter sprachen sie über ihn, und immer bohrender wurden ihre Fragen.

Gerade weil Clementine mit Frau Dorothee über diese Entdeckung niemals sprechen konnte, war sie umso mehr beunruhigt. Obwohl sie selbst Otto Thielemann verabscheut hatte, wurde es ihr doch bewusst, wie unnatürlich es war, dass sie die Kinder immer wieder ermahnen musste, unter keinen Umständen im Beisein der Mutter vom Vater zu reden oder gar nach ihm zu fragen. Das machte die seltenen Stunden, in denen Frau Dorothee sich den Kindern widmete, für Clementine und wahrscheinlich auch für die Kleinen selbst zu einer Qual. Durch das ihnen völlig unverständliche Verbot wurden sie der Mutter gegenüber unsicher und verkrampft.

Also gab es nur eine Möglichkeit: Fritz, Marie und Emma mussten zu Otto Thielemann gebracht werden.

Clementine war eine Frühaufsteherin, und so verlies sie gegen sechs Uhr morgens, fix und fertig angezogen, die Mansarde. Der Telefonkasten hing im Herrenzimmer, gleich neben der Tür an der Wand. Erst als sie die Kurbel schon in der Hand hatte, fiel ihr ein, dass es doch wohl noch zu früh sei, einen Anruf zu tätigen. Sie ging in die Küche hinunter, wo Mamsell Auguste dabei war, frischen Kaffee aufzubrühen, und nahm mit ihr zusammen das erste Frühstück ein, dankbar dafür, dass die Köchin, noch reichlich verschlafen, nicht so gesprächig aufgelegt war wie sonst. Heute wäre ihr das Geschwätz über die »arme Gnädige« und die »armen kleinen Häschen« noch mehr auf die Nerven gegangen als sonst.

Mamsell Auguste war der einzige Mensch in der Villa Thielemann, ja in der ganzen Riesenstadt Berlin, mit dem sich Clementine über die Vorgänge im Haus und, wenn auch etwas zurückhaltender, über ihre eigenen Hoffnungen und Pläne aussprechen konnte. Dennoch blieb in Clementine nach jedem solchen Gespräch ein bitterer Nachgeschmack zurück; sie hatte das Gefühl, sich etwas vergeben zu haben.

Um Punkt sieben Uhr trat Clementine wieder ans Telefon, diesmal kurbelte sie durch, und als sich das Fräulein vom Amt meldete, nannte sie die Nummer von Dr. Rosenbaums Privatwohnung.

Es dauerte eine ganze Weile, bis der Rechtsanwalt an den Apparat kam, und dann klang seine Stimme alles andere als freundlich. »Hallo! Hallo!«, brüllte er. »Wer ist da?«

Die Membrane zitterte.

Clementine hielt den Hörer ein Stück vom Ohr ab. »Schreien Sie bitte nicht so, ich kann Sie sonst nicht verstehen!«

»Wer spricht denn da? Was wollen Sie denn?«

»Clementine Hergert …«

»Wer? Kenn’ ich nicht.«

»Ich bin das Fräulein bei Thielemanns …«

»Ach so! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Jetzt klang die Stimme schon wesentlich milder.

»Weil Sie mir keine Gelegenheit dazu gegeben haben.«

»So? Habe ich nicht? Na, kann sein. Was ist das auch für eine Art, einen schwerarbeitenden Menschen am Sonntagvormittag aus dem Bett zu holen!«

»Ich bin schon seit einer Stunde auf.«

»Das sieht Ihnen ähnlich.« Mit plötzlicher Besorgnis setzte er hinzu: »Hören Sie mal, es ist doch hoffentlich nichts passiert?«

»Nein«, sagte Clementine, »aber heute ist der Tag, an dem Herr Thielemann zum ersten Mal seine Kinder sehen darf. Sie haben doch der gnädigen Frau deswegen noch einmal geschrieben …«

»Nun, und wie stellt sie sich dazu?«

»Am liebsten möchte sie es überhaupt verhindern …«

»Habe ich mir gedacht!«

»Aber ich habe ihr klargemacht, dass das so nicht geht.«

»Braves Mädchen!«

»Und um unnötigen Ärger zu vermeiden, habe ich mir überlegt, dass es das Beste wäre, Herrn Thielemann nicht hierherkommen zu lassen, sondern die Kinder zu ihm zu bringen …« Sie machte eine kleine, erwartungsvolle Pause.

»Sehr gut. Ausgezeichnet!«, lobte der Rechtsanwalt. »Sie werden das also übernehmen?«

»Ja, aber ich weiß nicht, wo er wohnt.«

»Im ›Bristol‹!«

»Und Sie müssen ihn bitte verständigen, dass er nicht hierherkommt, sondern die Kinder im Hotel erwartet.«

»Wann könnten Sie dort sein?«

»Gegen zehn, wenn das früh genug ist. Sie können dann den ganzen Tag mit ihm zusammenbleiben, und zu einer verabredeten Zeit würde ich sie abends wieder abholen.«

Rechtsanwalt Dr. Rosenbaum räusperte sich.

»Was stimmt daran nicht?«, fragte Clementine sofort.

»Es ist vollkommen richtig, den Beschluss des Gerichts zu respektieren … nur, um die Wahrheit zu sagen, ich sähe es nicht sehr gern, wenn die drei Thielemännchen allein bei ihrem Vater bleiben würden. Die Scheidung selbst ist zwar ohne Komplikationen über die Bühne gegangen, aber … hm, ja … selbst die beste Scheidung kann nicht gutmachen, was in einer schlechten Ehe vermasselt worden ist.« Plötzlich begann er wieder zu brüllen. »Herrgott, Mädchen, nun machen Sie es mir doch nicht so schwer! Ihre Gnädige hasst Herrn Thielemann doch noch immer, oder etwa nicht?«

»Doch«, gab Clementine zu.

»Na, und wie stellen Sie sich vor, dass es umgekehrt aussieht?«

»Sie meinen, er könnte versuchen, die Kinder aufzuhetzen?« Obwohl Clementine allein im Zimmer war, hielt sie unwillkürlich die Hand vor Mund und Sprechmuschel, damit nur ja kein Unbefugter mithören konnte.

»Selbstredend. Das ist das Wenigste, auf das wir gefasst sein müssen. Herr Thielemann ist ein ziemlich unberechenbarer Herr. Er könnte auf die Idee kommen, die Kinder bei sich zu behalten …«

»Aber so sehr hängt er doch gar nicht an ihnen!«

»Nicht deshalb! Aus Rache, Mädchen, aus Rache! Lehren Sie mich die Menschen kennen!«

Clementine wurde es ganz elend bei dem Gedanken, einen vollen Tag mit Otto Thielemann verbringen zu müssen. Erinnerungen, die sie längst vergessen zu haben glaubte, drängten sich ihr auf. Ihr wurde siedend heiß vor Scham, obwohl sie ganz allein war. Hier in diesem Raum war es gewesen – nein, sie wollte nicht mehr daran denken!

»Nein! Nein! Nein!«, sagte sie laut.

»Was heißt hier nein?«

»Ich kann es nicht.«

»Natürlich können Sie, wenn Sie nur wollen. Und Sie werden wollen, weil Sie ein anständiger und vernünftiger Mensch sind. Außerdem kann Ihnen dabei gar nichts passieren. Die Kinder sind ja immer dabei, und die sind … ehem … der beste Schutz Ihrer Tugend!«

»Jetzt machen Sie sich auch noch lustig über mich.«

»Ach wo. Sie dürfen sich nur nicht einreden, dass Sie da wer weiß was bei riskieren. Ich verstehe schon, dass Ihnen die Sache unangenehm ist. Schließlich weiß ich genug über den ehrenwerten Herrn Thielemann. Aber es wäre doch gelacht, wenn Sie mit so einem alten Roué nicht fertig würden. Kopf hoch, Mädchen! Rufen Sie mich heute Abend an und erzählen Sie mir, wie es gewesen ist! Einen guten Tag wünsche ich Ihnen!«

»Ich danke, auf Wiedersehen«, sagte Clementine ganz benommen.

Aus dem Hörer quäkte das Freizeichen. Clementine nagte an ihrer Unterlippe. Sie hatte auf Unterstützung gehofft, stattdessen war ihr eine neue Last aufgebürdet worden.

Sie seufzte unwillkürlich, bevor sie den Hörer einhängte.

Aber ihre Niedergeschlagenheit verflog rasch. Sie hatte jetzt eine Aufgabe, und sie war entschlossen, sie zu bewältigen. Nichts lag Clementines Naturell weniger, als müßig zu warten und geduldig zuzusehen, wie sich die Dinge entwickelten. Sobald sie tätig sein konnte, fühlte sie sich beschwingt.

Sie dachte angestrengt nach, legte sich einen Plan zurecht, verwarf ihn wieder und entwickelte einen neuen. Sie lief die Hintertreppe hinunter, an der Küche vorbei, in den Garten hinaus und zur Remise hinüber, wo der Kutscher oberhalb des Stalles ein Zimmer hatte. Sie warf Steinchen gegen sein Fenster, war schon halb und halb entschlossen, die schmale Treppe hinaufzusteigen und ihn auf unsanfte Art zu wecken, als sein Gesicht am Fenster erschien. Zu ihrer Überraschung war er durchaus nicht mehr stoppelbärtig und ungewaschen, sondern bot in dem frischen weißen Halbleinenhemd, das ihm am Hals offenstand, einen durchaus erfreulichen Anblick.

Als er Clementine sah, schmunzelte er, öffnete das Fenster und rief hinunter: »Damenbesuch? Das nenne ich aber ’ne freudige Überraschung!« Er zwirbelte die Spitzen seines blonden Schnurrbartes.

»Leise«, rief Clementine mit gedämpfter Stimme, »die Gnädige schläft noch. Kommen Sie ’runter.«

Das Gesicht verschwand vom Fenster, nach einer Weile wurde die schwere Stalltür von innen geöffnet, und Herr Jahn, der Kutscher, erschien auf der Schwelle. »Na, kommen Sie rein, Frollein«, sagte er. Der Stall hinter seinem Rücken war dunkel, und eine Wolke durchaus nicht unangenehmer, aber sehr animalischer Gerüche schlug Clementine entgegen.

Sie wich einen Schritt zurück. »Nein, lieber nicht. Wir können auch hier reden.«

»Gewiss können wir das. Aber ich dachte, Sie wollten mir ‘n Geheimnis anvertrauen.«

»Ich … Ihnen? Sie sind wohl verrückt!«, rief Clementine empört. »Was nehmen Sie sich heraus?«

Er grinste. »Still«, parodierte er sie, »die gnädige Frau könnte uns hören!«

Clementine wusste selbst nicht, wie böse sie ihn aus ihren runden schwarzen Augen anfunkelte. »Ich verbitte mir, dass Sie in einem solchen Ton mit mir reden«, sagte sie. »Mir scheint, Sie haben in letzter Zeit zu wenig zu tun gehabt, aber das soll von nun an anders werden. Striegeln Sie die Pferde, und bringen Sie den Wagen auf Hochtouren. Ich wünsche, dass Sie Punkt halb zehn in tadelloser Livree vorfahren.«

Der Kutscher ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Zu Befehl, Gnädigste«, sagte er und markierte ein ironisches Hackenzusammenschlagen.

»Ich bin keine Gnädige, sondern Fräulein Clementine. Sie sind lange genug in diesem Haus, um das zu wissen.«

Der Kutscher zwinkerte. »Schön. Aber bisher haben wir noch nie Gelegenheit gehabt, uns mal so janz vertraulich, so unter vier Augen, zu unterhalten.«

Sie wollte schon wieder auf ihn losgehen, aber gerade noch rechtzeitig wurde ihr bewusst, dass es durchaus nicht im Sinn ihres Arrangements lag, sich mit dem Kutscher zu verzanken. »Herr Jahn«, sagte sie so liebenswürdig, wie es ihr möglich war.

»Fräulein Clementine?« gab er mit gleicher Freundlichkeit zurück.

»Herr Jahn, Sie sind seinerzeit von Herrn Thielemann eingestellt worden, aber bei der Scheidung hat das Gericht Sie … nicht eigentlich, sondern die Pferde und den Wagen … der gnädigen Frau zugesprochen.«

»Ist mir hinreichend bekannt!«

Clementine runzelte die Stirn. »Sie haben manchmal so eine komische Art, sich auszudrücken …«

»Habe ich beim Militär gelernt, bin Zwölfender«, sagte Otto Jahn nicht ohne Stolz, »habe es bis zum Oberfeldwebel gebracht.«

»Ach so«, sagte sie und wunderte sich, dass sie den Kutscher, den sie bisher immer nur als eine Art Inventarstück zur Kenntnis genommen hatte, plötzlich mit anderen Augen sah; er mochte an die vierzig Jahre alt sein und sah trotz seiner bullenhaften, untersetzten Figur nicht einmal schlecht aus.

Er spürte ihr Interesse sofort, zog mit einem Ruck den Bauch ein, drückte die Brust heraus und ließ die Muskeln seiner Oberarme spielen.

Sie lächelte, als sie es bemerkte. »Und eitel sind Sie auch!«

»Zujejeben, aber …«

»Hören Sie jetzt auf mit dem Unsinn! Was ich Ihnen klarzumachen versuche, ist Folgendes: Sie gehören jetzt zum Haushalt der Gnädigen und unterstehen nicht mehr Herrn Thielemann!«

»Nun sagen Sie mal, Frolleinchen, für wie dämlich halten Sie mich eigentlich?«

Clementine ließ sich nicht irremachen. »Es könnte sein, dass Sie in eine Situation geraten, in der Sie plötzlich nicht mehr genau wissen, wem Sie zu folgen haben. Wir fahren nämlich heute – zu Herrn Thielemann. Mit den Kindern.«

»Ach, so ist das.« Herr Jahn wurde plötzlich ernst und kratzte sich am Kinn.

»Machen Sie sich bitte klar, Herr Jahn: Sie unterstehen einzig und allein der Gnädigen, die ich vertrete. Herr Thielemann hat Ihnen keine Befehle zu geben, er geht Sie überhaupt nichts mehr an. Sie tun also immer nur das, was ich Ihnen sage, auch wenn Herr Thielemann Ihnen einen gegenteiligen Befehl erteilen sollte, ja, selbst dann, wenn er so tut, als wollte er Ihnen einen Wunsch von mir übermitteln. Darauf dürfen Sie sich auf gar keinen Fall einlassen. Nur wenn ich Ihnen sage, was Sie zu tun haben, tun Sie es, und ich werde es Ihnen selbst sagen. Haben Sie mich verstanden?«

»Aber klar doch. Feldwebel Otto Jahn hört auf Ihr Kommando!«

»Gut so, Herr Jahn.«

Er reichte ihr seine breite, derbe Hand hin. »Sie könn’ sich auf mich verlassen, Frollein!«

Sie zögerte einzuschlagen, aber dann tat sie es doch. Sie konnte es sich nicht leisten, den einzigen Bundesgenossen, den sie hatte, vor den Kopf zu stoßen. Sie lächelte dem Kutscher noch einmal zu, dann lief sie ins Haus zurück.

Einen Augenblick lang hielt sie sich an der offenen Küchentür auf.

»Ist das Frühstück für die Kinder schon fertig?«

Mamsell Auguste wies mit dem Kinn auf ein volles Tablett. »Da steht’s. Sie brauchen es nur noch hinaufzubringen.«

»Danke, das werde ich tun.« Clementine überblickte das Tablett, prüfend, ob auch alles vorhanden war, und stellte fest, dass die Eierlöffel fehlten. Sie öffnete eine Schublade und nahm das vergessene Besteck heraus.

»Hat die gnädige Frau schon geklingelt?«

»Wo denken Sie hin«, gab die Köchin zurück, »vor neun kommt die doch nie hoch, und an einem Sonntagmorgen schon gar nicht.«

Clementine ärgerte sich über den respektlosen Ton der Köchin. »Die gnädige Frau schläft nachts sehr schlecht, deshalb ist es verständlich, dass sie morgens so lange wie möglich liegenbleibt.«

»Von mir aus«, maulte Mamsell Auguste, »ich will nichts gesagt haben.«

»Ich dachte nur, dass sie heute vielleicht zur Kirche hätte gehen wollen«, sagte Clementine.

Mamsell Auguste ließ das Messer sinken, mit dem sie Kartoffeln geschält hatte, und sah Clementine an. »Komisch! Erst jetzt, wo Sie das sagen, fällt es mir auf. Früher war die Gnädige doch immer ganz wild aufs Kirchengehen. Erinnern Sie sich nur, wie oft sie sich mit dem Herrn deswegen gestritten hat. Und nun auf einmal ist Schluss. Als ob sie sich nicht nur von den Menschen, sondern auch von Gott verlassen fühlte.«

Eine Sekunde lang war auch Clementine betroffen, aber dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Ich fahre heute mit den Kindern zu Herrn Thielemann«, sagte sie, »die Gnädige weiß es, aber sprechen Sie trotzdem nicht mit ihr darüber, sondern sagen Sie einfach, ich hätte mit den Kindern einen Ausflug gemacht.«

Mamsell Auguste ließ die geschälte Kartoffel in den Wassertopf fallen. »Na, dann viel Spaß!«

Die Kinder waren wach und quicklebendig, als Clementine nach ihnen schaute. Sie entschied sich, sie erst in Ruhe frühstücken zu lassen, sie dann zu waschen und herauszuputzen, bevor sie ihnen verriet, wohin es gehen sollte. Später beglückwünschte sie sich zu diesem Einfall. Es dauerte auch so noch lange genug, bis die drei ihre Teller geleert hatten.

Marie und Emma wurden in Höschen, Hemdchen, Leibchen, Unterröckchen, Strümpfchen und die neuen weißen Spitzenkleider gesteckt, und dann mussten noch die Stiefelchen geschnürt und die langen Haare zu Locken gebrannt werden. Zum Schluss band Clementine in Maries dunklen Schopf eine riesengroße rosa Seidenschleife, in Emmchens hellblonde Locken einen blauen Propeller, um den Bauch bekamen beide breite Schärpen, ebenfalls in Blau und Rosa, die auf dem Rücken verschlungen und breitgezupft wurden.

Inzwischen hatte Fritz es schon bis zur Unterwäsche gebracht. Er wurde jetzt noch von Clementine eigenhändig in die dunkelblaue Matrosenhose mit weißer Bluse, schwarzer Krawatte und riesigem eckigen Kragen gesteckt, während die beiden Mädchen steif wie Puppen auf ihren Stühlchen saßen, nur ja darauf bedacht, ihre weiße Pracht weder zu beschmutzen noch zu zerknittern. Fritz ließ es sich nicht nehmen, sich die Matrosenmütze mit den wehenden Bändern und der goldenen Beschriftung »S. M. S. Helgoland« selbst aufzusetzen; Clementine musste sie dann allerdings noch zurechtrücken.

Auch die beiden kleinen Mädchen bekamen Hüte auf, die so steil gesetzt wurden, dass sie weder die Lockenpracht noch die schönen Schleifen verbargen.

Dann endlich konnte Clementine daran denken, sich selbst hübsch zu machen. Sie musste sich entschließen, die Kinder allein zu lassen und ganz rasch nach oben auf ihr Zimmer zu laufen. Sie setzte sich ihren kecken kleinen Hut hoch oben auf das prächtige dunkle Haar und befestigte ihn mit zwei Hutnadeln, nahm Handschuhe, Handtasche und Sonnenschirm. Bei einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel stellte sie fest, dass ihr bräunliches Gesicht die Farbe eines reifen Boskopapfels angenommen hatte; es glühte.

Aber das half nun nichts, und es kam ja auch heute weniger denn je darauf an, wie sie aussah. Außerdem hoffte sie, dass der Fahrtwind ihre Wangen kühlen würde. Schnell griff sie zu ihrem Pompadour, sah nach, ob sie alles, was sie brauchen würde, mithatte: Geld, Taschentücher, Schlüssel; dann rannte sie hinunter, wo die Kinder schon ungeduldig auf sie warteten.

»So, jetzt müssen wir leise, ganz leise wie die Heinzelmännchen aus dem Haus schleichen!« flüsterte sie. »Warum denn?«, fragte Fritz sofort. »Ist Mama krank?«

»Nein, sie ist nur müde, sehr müde. Sie hat heute Nacht schlecht geschlafen.«

»Dürfen wir ihr denn heute nicht guten Morgen sagen?«, fragte Marie.

»Nein. Heute nicht.«

»Walum?«, fragte Emmchen, die das R zuweilen noch nicht richtig aussprechen konnte.

»Das werde ich euch erklären, wenn wir draußen sind«, antwortete Clementine. »Still jetzt. Wer noch weiterplappert, muss zu Hause bleiben!«

Die Kinder folgten ihr die Treppe hinunter, jedes den Zeigefinger fest auf die Lippen gepresst. Sie hielten tatsächlich durch, bis Clementine ihnen die Haustür öffnete und sie in den Vorgarten ließ. Als sie die Kutsche mit den glänzend gestriegelten Pferden und Herrn Jahn in seiner eleganten blauen Livree sahen, ging der Jubel los. Sie rannten um die Wette, jeder wollte der Erste sein, und Emmchen wäre beinahe der Länge nach hingeschlagen, wenn es dem Kutscher nicht gelungen wäre, sie noch im letzten Augenblick aufzufangen.

Er übergab das Kind Clementine, die es in den offenen Wagen setzte und dann Marie hinaufhalf. Fritz konnte schon allein hochklettern, und Clementine nahm neben ihm Platz, so dass alle vier einen guten Ausblick hatten.

Die Kinder konnten sich nicht so schnell von der freudigen Überraschung erholen. »Wir dürfen Kutsche fahren, das ist famos!«, rief Fritz und hüpfte auf seinem Platz auf und ab. »Sind wir deshalb so geschlichen? Weil Mama es nicht wissen durfte? Gewiss hätte sie es uns nicht erlaubt.«

»Was du nur redest, Fritz«, sagte Clementine. »Natürlich weiß Mama von unserer Ausfahrt. Aber wenn ihr jetzt nicht ganz still sitzt …«

»Wohin fahren wir denn? Wohin?«, rief Marie. »Das kommt darauf an. Wenn ihr jetzt weiter so herumhüpft, dann fahren wir nirgends hin und steigen gleich wieder aus. Aber wenn ihr mir versprecht, ganz ruhig und brav zu sein, dann …«

»Was dann?«

»Dann besuchen wir Papa!«

Der Jubel, der dieser Ankündigung folgte, war enorm, und Clementine war froh, dass Frau Dorothee ihn nicht hören konnte; ihr hätte die Freude der Kinder tief ins Herz geschnitten.

Sie gab dem Kutscher das Zeichen loszufahren.

Clementine Hergert war noch nie in ihrem Leben in einem Hotel gewesen, aber sie ließ es sich nicht anmerken. An jeder Hand eines der beiden Mädchen, Fritz auf den Fersen, betrat sie hocherhobenen Kopfes die im viktorianischen Stil gehaltene Halle des »Bristol«. In Sekundenschnelle gelang es ihr, sich zu orientieren; sie trat an den Empfangstisch linker Hand.

Ein grauhaariger Herr im Cut verbeugte sich zuvorkommend. »Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?«

Es schmeichelte zwar ihrer Eitelkeit, dass er sie für eine Dame hielt, aber sie wollte auf keinen Fall mehr scheinen als sein. »Ich bin keine Gnädige«, stellte sie richtig. »Bitte, benachrichtigen Sie Herrn Thielemann, dass das Fräulein mit den Kindern gekommen ist.«

Der Empfangsdirektor verzog keine Miene, winkte einen Pagen herbei und gab den Auftrag weiter.

»Wenn Sie inzwischen Platz nehmen wollen, liebes Fräulein«, sagte er mit gleichbleibender Freundlichkeit, in die sich allerdings jetzt eine winzige Spur von Herablassung mischte.

»Danke«, sagte Clementine kühl.

Die beiden Mädchen immer noch fest an der Hand, ging sie weiter in die sehr vornehme, düster wirkende Halle hinein.

»Ich fürchte mich«, jammerte Emmchen.

»Sei nicht dumm«, tröstete sie Fritz großspurig, »hier gibt es keine Räuber und Wölfe, und wenn so einer käme, dann schösse ich ihn gleich tot. Piff, paff, puff!«

»Du hast doch gar kein Gewehr«, sagte Marie, der auch etwas bänglich zumute war.

»Hört auf, euch zu streiten, das schickt sich nicht«, mahnte Clementine. »Jetzt setzen wir uns hier ganz anständig und brav hin und warten, bis Papa kommt. Marie, gib auf dein Kleidchen acht! Fritz, hör mit der dummen Schießerei auf, du belästigst die anderen Herrschaften!«

Clementine setzte sich in einen hochlehnigen Gobelinsessel und nahm die kleine Emma auf den Schoß, die sofort am Daumen zu lutschen begann.

Fritz und Marie kletterten auf zwei Plüschsessel.

»Nicht Daumenlutschen, Emmchen«, befahl Clementine. »Komm, jetzt setz dich mal schön aufrecht hin und sprich mir nach: Warum!«

»Walum?«

»Wir wollen versuchen, ganz schön deutlich und richtig zu sprechen, Emmchen, damit Papa sieht, was du inzwischen alles gelernt hast! Also sag mir nach: Lieber Papa!«

Aber Emmchen war viel zu nervös, um jetzt aufmerksam zu sein. »Liebel Papa«, wiederholte sie rasch und fragte im selben Atemzug: »Wann kommt liebel Papa?«

Clementine seufzte. Eine Zeitlang hatte die kleine Emma ganz richtig gesprochen, das falsch ausgesprochene R war, so glaubte sie, nur eine schlechte Angewohnheit, und sie gab sich die Schuld, dass sie es der Kleinen nicht austreiben konnte. Auf jeden Fall fiel es auf sie zurück. Dabei wäre sie so gerne stolz auf ihre Schützlinge gewesen und hätte mit ihnen paradieren wollen.

»Fritz, ich bitte dich«, sagte sie scharf, »räkele dich doch nicht so! Das würdest du doch zu Hause auch nicht tun!«

Der Page kam die breite Mitteltreppe herunter, sah sich suchend um und eilte dann auf Clementine zu. »Herr Thielemann lässt Sie bitten, zu ihm hinaufzukommen«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung.

Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da war Fritz auch schon aufgesprungen und rannte auf die Treppe zu.

»Fritz, hiergeblieben!«, rief Clementine und fügte, zu dem Pagen gewandt, hinzu: »Richte Herrn Thielemann bitte aus, dass wir hier unten in der Halle auf ihn warten!«

»Das habe ich doch schon getan, Fräulein!«, sagte der Junge in einem Ton, den er sich einer Gnädigen gegenüber gewiss nicht herausgenommen hätte.

»Herr Thielemann scheint es aber nicht richtig verstanden zu haben, deshalb musst du dich noch einmal bemühen!«

Der Page verbeugte sich knapp und machte sich wieder auf den Weg nach oben.

Fritz hangelte am Treppengeländer herum. Clementine stand auf, setzte Emma in den Sessel, ging um einen der riesigen Kandelaber herum, die den Aufgang schmückten, und packte Fritz beim Genick. »Schäm dich«, sagte sie, »du bist doch ein großer Junge! Kannst du denn nicht einmal fünf Minuten stillsitzen?«

»Warum gehen wir denn nicht hinauf, wenn Papa uns holen lässt?«

»Darum nicht«, erwiderte Clementine kurz angebunden. »Setz dich jetzt endlich ruhig hin, oder wir fahren sofort wieder nach Hause!«

Es kam ihr vor, als wenn alle anderen Gäste in der Halle sie missbilligend und spöttisch beobachteten. Sie war zornig, nicht auf die Kinder, sondern auf sich selbst. Es war dumm von ihr gewesen, sich auf dieses Unternehmen einzulassen. Ja, hätte sie die Kinder nur abzugeben brauchen, dann hätten die Dinge anders gestanden, aber so! Ihr graute, wenn sie an den langen Tag dachte, den sie vor sich hatte, mit Otto Thielemann, und sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass die Aufforderung, zu ihm nach oben zu kommen, eine Falle gewesen war.

Die Kinder spürten Clementines Ärger und wagten nicht mehr aufzumucken.

Dann endlich erschien Herr Thielemann.

Fritz entdeckte ihn als erster. »Papa!«, rief er und ließ sich von seinem Sessel rutschen. Aber er wagte nicht, auf den Vater zuzulaufen, sondern blieb wie angewurzelt stehen.

Auch die beiden Mädchen zeigten sich jetzt, trotz aller Vorfreude, verschüchtert. Clementine nahm sie bei der Hand und führte sie zum Fuß der Treppe. Dort ließ sie sie los und sagte: »Gebt eurem Papa die Hand und macht einen artigen Knicks!«

Aber keines der Kinder rührte sich von der Stelle. Sie standen nur da und blickten mit großen Augen zu ihrem Vater auf.

Otto Thielemann hatte sich verändert; er wirkte sportlicher, jünger, freier und unternehmungslustiger. So schien es Clementine jedenfalls, der es nicht leichtfiel, ihre Überraschung zu verbergen. Sie konnte nicht sogleich entscheiden, worin diese Wandlung lag. Rührte sie daher, dass seine gelbliche Haut jetzt von der Sonne gebräunt war? Oder lag es einfach an dem neuen, eleganten Anzug, den sie noch nicht an ihm kannte? Die enge Hose und die lange Jacke waren beide aus hellgrauem Flanell, die Jacke an den Kanten und Revers schwarz paspeliert; dazu wirkten die graue Melone, der Stockschirm mit der silbernen Krücke und die grauen Wildlederhandschuhe passend und elegant, die weißen, geknöpften Gamaschen und das leuchtend rote, mit einer großen Perle geschmückte Plastron zwar sehr modisch, wenn auch nicht mehr ganz vornehm.

Auch wenn ihn das Verhalten seiner Kinder enttäuschen mochte, war Otto Thielemann doch klug genug, es sich nicht anmerken zu lassen. Elastisch sprang er die letzten Stufen hinunter.

Jetzt erst bemerkte Clementine den Pagen, der ihm, mit Paketen beladen, folgte.

»Hallo, junger Mann«, sagte Otto Thielemann und reichte seinem Sohn die Hand. »Wie geht’s? Wie steht’s?«

Fritz riss die Matrosenmütze ab und verbeugte sich gut erzogen. »Danke, bestens, Papa«, sagte er mit aufgesetzter Männlichkeit, »famos, dich mal wiederzusehen.«

Otto Thielemann legte Fritz die Hand auf die dunklen Locken. »Es will mir scheinen, dass du ein ganzes Stück gewachsen bist, Junge!«

Marie hüpfte indessen ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Papa, Papa, ich will dir auch einen guten Tag sagen!« Otto Thielemann wandte sich lächelnd seiner Tochter zu. »Guten Tag, Marie, hübsch siehst du aus!«,

Marie nahm den Rocksaum in beide Hände und drehte sich im Kreis. »Fräulein hat mir das Kleidchen selbst genäht! Mir und Emmchen auch eins!«

»Da sieh mal einer an!«

Jetzt meldete sich auch Emma, die sich ganz dicht an Clementine schmiegte, zu Wort: »Bist du denn auch unser wirklicher Papa?«, fragte sie und sprach zu Clementines Erleichterung das Wort mit den zwei R ganz richtig aus.

Otto Thielemann beugte sich zu ihr hinab. »Warum sollte ich es nicht sein?«

Emma wich noch ein Stückchen weiter zurück und versuchte, ihr Gesichtchen in Clementines Rock zu verstecken. »Weil du keinen Schnullbalt mehr hast!«

Alle lachten, und Fritz schrie: »Emmchen hat recht!« Auch Clementine wurde es jetzt bewusst, dass Otto Thielemann sich den Schnurrbart hatte abnehmen lassen, und wahrscheinlich war es das, was ihn so fremd und jung erscheinen ließ.

»Nun, ich hatte gehofft, dass ich euch so besser gefallen würde«, sagte Otto Thielemann, und als die Kinder verlegen schwiegen, setzte er fragend hinzu: »Habt ihr euren Papa denn überhaupt noch lieb?«

»Ja«, sagten Fritz und Marie einstimmig, und als Clementine der kleinen Emma einen Schubs gab, piepste auch sie ihr: »Ja!«

»Brav. Dann gebt mir jeder einen Kuss, und dann dürft ihr sehen, was ich euch mitgebracht habe!«

Die Kinder lächelten verlegen und stießen sich schüchtern gegenseitig an; sie waren von ihrer Mutter her nicht an Zärtlichkeiten gewöhnt und konnten sich nicht so schnell überwinden, dem fremd gewordenen Vater um den Hals zu fliegen.

»Na, wird’s bald!«, sagte er. »Erst einen Kuss und dann ein Geschenk! Wer jetzt nicht ganz rasch zum Papa kommt, dem könnte es leicht passieren, dass er leer ausgeht.«

Diese Drohung wirkte.

Die Kinder küssten ihn gehorsam, und jedes bekam bestimmte Pakete übergeben, die Otto Thielemann dem Pagen abnahm. Mit freudigem Eifer machten sie sich daran, die Verschnürungen zu lösen und die Hüllen aufzureißen. Fritz und Marie liefen zu diesem Zweck an den kleinen Tisch, an welchem sie eben noch gesessen hatten, während Emma sich mitten auf dem Teppich niederließ.

Clementine beobachtete mit steinernem Gesicht die kleine Szene.

»Tja, tut mir leid, dass wir hier Unruhe machen«, sagte Otto Thielemann, »deshalb hätte ich die Kinder auch gerne zuerst in meinem Salon begrüßt.« Clementine würdigte ihn keiner Antwort.

»Oh, Pardon«, sagte Otto Thielemann mit übertriebener Bestürzung, »erst jetzt fällt mir ein, Fräulein … wie konnte ich nur vergessen, Sie zu begrüßen! Was für eine Freude, Sie wiederzusehen! Können Sie mir noch einmal verzeihen?«

»Guten Tag, Herr Thielemann.«

»Na, sehen Sie, so ist es schon besser! Nun lachen Sie noch ein bisschen!«

»Mir missfällt diese Szene«, erklärte Clementine eisig.

Er folgte der Richtung ihres Blickes. »Aber wieso? Was denn? Verstehen Sie nicht, dass ich den Kindern eine Freude machen wollte?«

»Wenn Sie ihnen nur noch ein bisschen Zeit gelassen hätten, hätten Sie Ihren Kuss auch ohne Erpressung bekommen.«

Otto Thielemann lachte. »Immer noch die alte, strenge Clementine? Aber ich habe auch Ihnen etwas mitgebracht, und ich gebe es Ihnen, ohne auch nur die allerkleinste Bedingung daran zu knüpfen!« Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte wie ein Zauberkünstler einen hauchdünnen, blau-grün-orange gemusterten Seidenschal hervor, ließ ihn verlockend vor Clementines Augen tanzen.

Ihre Augen wurden groß, aber sie panzerte sich innerlich gegen die Versuchung. »Nein, danke«, wehrte sie ab, »das kann ich nicht annehmen.«

»Aber ich bitte, Sie, Fräulein, seien Sie doch nicht langweilig! Eine kleine Aufmerksamkeit … ein Dank dafür, dass Sie sich meiner Kinder angenommen haben, weiter ist es doch nichts.«

»Ich werde von der gnädigen Frau bezahlt.«

»Und was glauben Sie, womit? Doch auch nur von meinem Geld!«

»Das ist etwas ganz anderes, und Sie wissen das genau. Bitte, Herr Thielemann, um der Kinder willen, seien Sie nett, und stecken Sie ihn wieder ein.«

Für den Bruchteil einer Sekunde verzerrte sich Otto Thielemanns Gesicht, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Ich? Was soll ich denn damit?«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. »Nein, wenn Sie keinen Wert darauf legen, werfe ich ihn eben fort!« Er knüllte das Tuch zusammen und warf es in einen der schmiedeeisernen Papierkörbe.

Clementine spürte, wie sie blass wurde. Sie wusste nicht genau, wie viel ein solches Tuch kostete, aber sie war sicher, dass sie mindestens drei Monate hätte arbeiten und auf jede andere Ausgabe verzichten müssen, um es sich kaufen zu können. Und Otto Thielemann warf es achtlos weg!

Aber es war nicht einmal das, was ihr so gewaltig zusetzte. Würde er es verbrannt oder in einen Gully geworfen haben, hätte sie sich nicht so geärgert. Aber dass sich, sobald sie die Halle verlassen haben würden, jemand vom Hotelpersonal, wahrscheinlich dieser unverschämte Page, der den Vorgang mit schlechtverhohlener Neugier beobachtete, darauf stürzen und es an sich nehmen würde, dieser Gedanke machte sie ganz krank.

Thielemann beobachtete sie mit einem mephistophelischen Lächeln. »Jetzt können Sie es sich noch holen!«, sagte er.

Wortlos wandte Clementine sich ab, beugte sich zu Emmchen hinab und half ihr, eine wunderschöne Puppe mit Porzellankopf, echtem Haar und Klappdeckelaugen aus der Verpackung zu befreien. Außerdem hatte sie noch einen blauen Ball bekommen und Marie einen roten und dazu die gleiche Puppe, nur mit einer dunklen Perücke und einem anderen Kleid. Fritz hatte schon selbstständig einen Dampfer – zum Aufziehen – ausgewickelt und einen bunten Reifen mit einem Stock. Alle drei waren von dieser unverhofften Bescherung begeistert.

Clementine sammelte die Papiere und Kartons ein und warf sie in den schmiedeeisernen Korb. Hätte sie das seidene Tuch an sich nehmen können, ohne dass Otto Thielemann es bemerkte, so hätte sie es gewiss getan. Aber sie wollte ihm auf keinen Fall den Triumph gönnen, sie klein zu sehen.

Er hatte inzwischen erfahren, dass Jahn mit der Kutsche draußen wartete, und schlug nun vor, gemeinsam nach Wannsee zu fahren. Clementine hätte um der Kinder willen lieber Halensee mit seinem Rummelplatz, den Würfelbuden und Karussells gewählt, aber sie erhob keinen Einwand. Es konnte ihr nur recht sein, wenn die Wagenfahrt so lange wie möglich dauerte.

Jahn wartete schon neben dem Wagenschlag, als sie das Hotel verließen, und begrüßte seinen ehemaligen Herrn mit militärischer Höflichkeit.

Otto Thielemann klopfte ihm auf die Schulter. »Bin sehr froh, Sie bei dieser Gelegenheit mal wiederzusehen«, sagte er, »habe Sie manchmal vermisst.«

Clementine, die Emmchen in den Wagen hob, beobachtete, dass er ein Geldstück in Otto Jahns Tasche verschwinden ließ. »Danke, gnädiger Herr«, sagte der Kutscher.