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singles 9

Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig, 2007

© by Verlag Voland & Quist – Greinus und Wolter GbR
Umschlaggestaltung: Mario Helbing und Marcel Theinert
Gestaltung und Satz: Tropen Studios, Leipzig
ISBN: 978-3-86391-045-7

www.voland-quist.de











Für Christoph und für Sarah

INHALT

Bei den anonymen Dichtern

Eigener Nerd ist Goldes wert

Warte

Das Buch

Ein MENSCH am anderen Ende der Leitung

Die Poesie der Kastanienallie

Die Falle

Spaziergang mit Frühstück

Schiefe Zähne

Unerwartet

Das alte Bild auf dem Küchenschrank

Das Ekzem an einem der beiden Hintern von Baader / Meinhoff

Walpurgisnacht

Stasi-Poesie

Ich

Marburg, Milch und Moritaten

Schreibwut, Scheinwut, Scheichwut, Scheißwut

Jorinde und ich tun es

Verschmäht!

Der alte Zausel im Gebüsch

Der Kasper

Restekuscheln

Höllentour

Anastasia Edamer

Der Neandertaler in mir lebt

Augenarzt

Tagebuch eines Schriftstellers

Showdown am Kolle, und zwar wegn ’ne Olle

Von Kunst umzingelt

Die letzten wirklichen Abenteuer dieser Erde

Achterbahn

Rede zum Wohle der deutschen Sprache











Es hat immer alles irgendwas zu bedeuten.
(Binsenweisheit)

BEI DEN ANONYMEN DICHTERN

Der erste Schritt ist immer schwer …

… aber ich hatte mich ja nun mal dafür entschieden.

Der Mann, der mich empfing, kam mir irgendwie bekannt vor. Aber das konnte täuschen. Immerhin war ich in den letzten Monaten viel unterwegs gewesen. Da sieht man viele Gesichter.

Die Zahl der Gesichter heißt Legion. Aber sieht man sie wirklich, diese Gesichter? Oder ist es nicht vielmehr so, dass diese Gesichter an einem vorbeifliegen wie ein Keil schnatternder Graugänse auf dem Weg nach Süden? Vorbeirauschen wie die nur für einen Sekundenbruchteil aufblitzenden Regentropfen an einem Sonntag im August auf dem Markusplatz von Venedig, während du in der Linken einen gerade eben erst gekauften Regenschirm hältst und in der Rechten das Tütchen mit dem Futter für die Tauben, die auseinanderzuhalten du ebenso wenig in der Lage bist wie die Regentropfen oder gar die Gesichter?

Oh Gott, durchzuckte es mich, da war es wieder. Schon wieder waren meine Gedanken nicht normal. Schon lange waren meine Gedanken nicht mehr normal. Aber deshalb war ich ja auf Anraten eines Kollegen auch hierher gekommen. Ich musste etwas tun.

So konnte es nicht weitergehen.
Schon bald würde ich mich scheitern sehen.
Die Welt würde sich ohne mich weiterdrehen …

Aaaarg, aufhören.

Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken. Ich sah festen Blickes auf den Mann, der mir freundlich die Wohnungstür geöffnet hatte. Schweigend bedeutete er mir, ihm ans andere Ende des Flures zu folgen. Vor einem Zimmer blieb er stehen. Über dessen Tür war ein Schild angebracht: „Reden ist Silber – Schweigen ist Gold – Lyrik treibt einen in den Wahnsinn und fördert den sozialen Abstieg“ Ich nickte wissend. Der Mann öffnete die Tür und wir betraten einen angenehm beleuchteten Raum, dessen Stille etwa zehn, zwölf Personen beherbergte. Sie saßen auf Kissen und auf dem Boden. Der Mann und ich setzten uns dazu. Gütig blickte er in die Runde. Neugierig blickten alle auf mich. Dann sprach der Mann mit weicher Stimme:

„Wir haben einen Gast.“ Zu mir gewandt fuhr er fort, „Herzlich willkommen, mein Name ist Sebastian, ich bin Dichter.“ Er ließ eine Pause, in der die anderen beifällig nickten. „Ich leite diese Gruppe der ADs, der ‚Anonymen Dichter’. Wir sind eine gemischte Gruppe aus trockenen Dichtern, die seit Jahren weg sind vom Gedicht und Schwerstabhängigen, die bei uns Hilfe suchen. Wer neu dazu kommt, sagt seinen Namen und seine Krankheit. Wir haben alle dasselbe hier. Keiner braucht sich zu schämen. Bitte stell dich den anderen vor!“

Ich schluckte schwer.

„Ich heiße Michael, ich bin Dichter.“ Ich ließ die offenbar obligatorische Pause. Dann wollte ich weitersprechen, doch eine Art Schwindel erfasste mich und ich hörte mich sagen:

„Ich bin schwer abhäng-gich,

ich glaube, ohne Hilfe schaff’ ich es nicht

Mein Gehirn zerfrisst die Dichtergicht

Bald ereilt mich das Jüngste Gericht

Und ich glaube, es ist meine …“

So weit, das Wort „Pflicht“ zur Vervollständigung des Reims auszusprechen, kam ich nicht mehr. Vier oder fünf der Männer packten mich, warfen mich auf den Boden und Sebastian stopfte mir ein Kissen in den Mund. Mein Herz raste, ich zuckte und wehrte mich. Doch dann ließ der Anfall nach. Ich war völlig durchgeschwitzt. Jemand trocknete mir mit einem Handtuch die Stirn. Als wir wieder saßen, ertönte erneut Sebastians Stimme. „Es war gut, dass dir das passiert ist. So kann ich dir auch gleich eine unserer Grundregeln erklären. Niemand dichtet während unserer Sitzungen. Das ist viel zu gefährlich. Möchte jemand etwas zu dem Vorfall sagen?“ Ein dünner, blasser Mann hob die Hand:

„Ich heiße Bert und ich bin Dichter“ Wir anderen nickten das anteilnehmende, verstehende und Mut machende Nicken. „Ich weiß genau, wie Micha sich fühlt. Vermutlich ist er jahrelang rumgereist und hat an so Dichterwettkämpfen teilgenommen, hat geglaubt, immer besser, immer vielfältiger werden zu müssen. Vielleicht hatte er auch das Gefühl, dichten würde ihn von seinen Problemen ablenken. Und irgendwie glauben ja alle, dass sie damit eines Tages Geld verdienen können. Auf jeden Fall, so war es zumindest bei mir, trifft man irgendwann Gleichgesinnte, mit denen man dann zusammen dichtet. Und das oft tagelang, nächtelang. Aber anstatt einfach in die Kneipe zu gehen, vielleicht ein, zwei Gedichtchen zu schreiben und dann sich wie ein normaler Mensch anständig einen auf die Lampe zu gießen, wird übermäßig gedichtet. Es erzählt einem ja auch kein Schwein, wie scheiße gefährlich das ist. Anfänglich habe ich sehr viel vertragen. Ich war jung. Brauchte wenig Schlaf. Mann, was haben wir damals zusammengedichtet. Und immer genug Weiber. Diese ganzen Wunderblumen aus den Kreativ-Schreibwerkstätten, die konnten gar nicht genug kriegen von dem Zeug. Aber irgendwann wirkt der Stoff nicht mehr. Die Gewöhnung setzt ein.

Immer krasseres Zeug musste her. Was wir damals gedichtet haben, daran wäre jeder normale Mensch krepiert.

Obwohl wir manchmal zugedichtet waren bis in die letzte Synapse, schrie dann trotzdem noch irgend so ein Spast ‚Einer geht noch‘ und dichtete die Mannschaft unter den Tisch. In der Zeit bin ich echt ein paar mal mit schwerer Lyrikvergiftung in die Psychatrie eingeliefert worden. Hölderlin-Bunker haben wir dazu gesagt. Na, und so langsam kamen der körperliche Verfall und der soziale Abstieg. Kohle hab ich mit Dichten kein Stück verdient, hab meistens von Stütze gelebt. Manchmal hab ich so kleine Hefte zusammengestellt und bin abends in Kneipen rum, um die zu vertickern. Oft haben die Leute mich eingeladen, mit ihnen zu trinken. ‚Lass ma mit die Gedichte gut sein, Keule, aber du siehst nett aus, ick hau een rinn!‘, versuchten wohlmeinende Zeitgenossen mich auf den rechten Weg zurückzubringen. Blöd wie ich war, oder aus heutiger Sicht besser gesagt, abhängig wie ich war, hab ich abgelehnt und wollte schnell die Hefte loswerden, um weiterdichten zu können. Letztlich habe ich dann nur noch gereimt. Morgens nach dem Aufwachen gleich der erste Reim. Den ganzen Tag ging das so. Das macht auf Dauer nicht mal so eine Schreibwerkstattgestörte mit. Wenn ich was eingekauft habe, konnte ich nur noch Sachen sagen wie: ‚Ich würd gern diese Ravioli erwerben, denn wer nichts isst, gnä’ Frau, muss sterben‘“

„Hä-äähm“, räusperte Sebastian sich streng. „Hier wird nicht gedichtet, Bert, auch nicht zu Demonstrationszwecken!“ Bert verstummte auf der Stelle und sagte sofort: „Ich entschuldige mich für meinen Ausrutscher und sehe mein falsches Verhalten ein.“ Ich war beeindruckt. Sowohl von der Disziplin in der Gruppe als auch von Berts Schicksal.

„Michael“, wandte sich der Gruppenleiter an mich, „möchtest du uns etwas von deinen Problemen mit Gedichten erzählen? Bist du stark genug dafür?“ Ich räusperte mich, als hätte ich noch irgendein Gedicht im Hals. Dann erzählte ich:

„Ich hätte nie gedacht, dass es soweit mit mir kommen würde. Heute weiß ich, dass ich die Gefahren des Dichtens unterschätzt habe. Angefangen hat bei mir alles ganz harmlos. Einfache Reime und Gedichte, für Familienfeste oder zum Scherz. Paar Stabreime, Schüttelreime oder einen Knittelvers hier und da. Ich hatte mich echt im Griff. Aber dann nahm mich irgendwann ein Bekannter mal mit zum Poetry Slam.“ Bei dem Wort Poetry Slam ging ein Raunen durch die Gruppe, einige hielten sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Eine ältere Frau begann zu weinen und ein Mann mit Vollbart murmelte. „Ick muss kotzen!“, stand auf und verließ den Raum.

„Na ja“, fuhr ich fort, „ich hörte mir das also ein paar Mal an und setzte mich dann zu Hause hin und begann mit gefährlicheren Dichtformen. In meiner anfänglichen Begeisterung probierte ich alles aus. Ich dichtete viel durcheinander: Sonett, Sestine, Ode, Elegie, Hymne, Dityrambe, Trochäus, Jambus, Daktylus, Anapäst, Gasel, Madrigal, Ritornell, Alexandriner, Hexameter, Pentameter, sogar Hinkejambus, Hendekasyllabus und Haiku. Oft war mir echt schlecht davon. Und dann begann ich damit, beim Poetry Slam aufzutreten. Freunde haben mich gewarnt, Kollegen auf die Gefahren hingewiesen. Aber wie es so ist bei Suchtkrankheiten, ich hielt sie für falsche Freunde und für neidische Kollegen. Ich fand Gleichgesinnte. Dichter, die mehr dichteten als ich, besser dichteten, mir Ansporn waren. Immer öfter ging ich zum Poetry Slam. Immer mehr Leute aus dieser Dichterhölle lernte ich kennen. Wir machten uns gegenseitig Mut, anstatt uns da rauszuholen, solange es noch nicht zu spät war. Aber es war schon längst fünf nach zwölf. Eine zeitlang kam ich echt gut klar. Konnte auch meinen Alltag noch bewältigen. Doch dann kam das Kokain unter den Gedichten auf die Slam-Bühnen, der HipHop. Wir alle wurden nach und nach süchtig.“ Mein Blick fiel zufällig auf Sebastian, den Leiter. Jetzt wusste ich, woher ich ihn kannte. Na klar. Vom Poetry Slam. Er hatte uns immer vor dem HipHop gewarnt. Bis er eines Tages selbst einen HipHop dichtete, um uns zu beweisen, dass er stärker sei als HipHop. Und dann war er drauf hängen geblieben. Ich verstand. Und ich erzählte weiter:

„Mit dem Kokain kommt meistens das Crack und macht die Leute ganz kaputt. Ich hatte HipHop ein paar mal probiert und fand’s gut. Aber dann kamen Dichter aus dem Erzgebirge nach Berlin und brachten den Freestyle mit. Ich fand das echt schräg. Das war Dichtung, die mit nichts von dem, was ich kannte, zu vergleichen war. Das war Rakete, das war Wahnsinn, das war der pure Sex. Das wollte ich auch können. Doch der Preis dafür ist hoch. Man muss sich sozusagen entscheiden, fortan nur noch in Reimen zu sprechen

und ich weiß, ich brech mein Versprechen

werd’ auch gleich für mein Vergehen blechen

aber es geht mir hier nicht ums Ausstechen

von irgendwelchen andern Poeten

denn alle Poeten sind Propheten

die mit ihren Gedichten für’n Frieden beten …“

Im Augenwinkel sah ich, wie sich wieder einige auf mich stürzen wollten, doch Sebastian hob die Hand, und die Männer hielten inne. Also freestylte ich weiter:

„Ich weiß, ich bin süchtig, absolut drauf

nahm die ganze Scheiße für den Freestyle in Kauf

Wohnung verdreckt bis unter die Decke

Merkte nicht, dass ich in troubles stecke

An der Dichterei allmählich verrecke

Ich nannte Frauen nur noch bitch

Hielt jede Form von Kunst für Kitsch

Durch das ständige Dichten

Das mantraartige Verrichten

dieses endlosen Gebets

für die Erhaltung der Welt, besonders Tibets

hab ich irgendwann nichts mehr auf die Reihe bekommen

deshalb bin ich heut hierhergekommen

und ich danke euch, dass ihr mich aufgenommen

werde jetzt schweigen, denn mein Herz ist beklommen …“

Schluch- nööff, nöff, nöff, nöff, nöff, nöff -zend brach ich an Berts Schulter zusammen. Sebastian sagte, dass er das jetzt zugelassen hat, liegt daran, dass man manchmal das Gift einfach abfließen lassen muss. Das sei wie ein Reinigungsprozess und für heute sei die Sitzung beendet. Sebastian bedankte sich bei allen für’s Kommen. Dann kam er zu mir und Bert rüber. Er reichte mir ein Taschentuch und sagte augenzwinkernd:

„Aller Anfang ist schwer

doch komm noch ein paar Mal hierher

erfreu uns mit deinen Leidensberichten

Am Ende bist du frei vom Dichten!“

Bert und ich sahen ihn offenen Mundes und staunenden, ja fragenden Auges an. „Wenn man sich nach einer gewissen Zeit der Abstinenz dann irgendwann im Griff hat, kann man sich hin und wieder mal ein kleines Gedicht leisten!“, dozierte Sebastian und grinste vielsagend. Danach gingen wir noch einen Trinken. Und selbst als wir uns kaum noch auf den Stühlen halten konnten, hacke wie wir waren, kam uns kein Gramm Lyrik über die Lippen. Seit ich in Sebastians Gruppe bin, habe ich Hoffnung geschöpft, irgendwann einmal wieder ein normales Leben führen zu können …

… Ich heiße Michael, ich bin Dichter, Danke für eure Aufmerksamkeit!

EIGENER NERD IST GOLDES WERT

Prolog:

Zweiter Weltkrieg. Irgendwo zwischen Arras und Cambray. Ein schneidender Nordwest zersägt die Gesichter der Soldaten, die verzweifelt versuchen, ihren Truppentransporter wieder in Gang zu bringen. Es hilft nichts. Einer von ihnen muss über die verschneiten französischen Felder ins nächste Dorf, um Wasser zu besorgen. Kühlwasser. Das Los fällt auf einen jungen Burschen, für den dieses Ereignis zum unvergesslichen Erlebnis wird. Dieser Mann wird später nur Autos ohne Kühler fahren. Luftgekühlte Autos. Dieser Mann kauft sich später als erstes Auto einen Trabant. Das ist nicht schlimm und fällt nicht weiter auf, denn alle in der DDR fahren einen Trabant. Dieser Mann kauft sich danach einen uralten VW-Käfer, weil es in der DDR nur uralte VW-Käfer gab. Dieser Mann musste jeden Tag, nach jeder Fahrt irgendetwas an seinem Schrottauto reparieren, das in seinen Augen das beste Auto der Welt war, weil es keinen Kühler hatte. Dieser Mann war mein Vater! Ich fand später immer, dass es so ähnlich sei, Autos aus besagten Gründen ohne Kühler zu kaufen, wie wenn man Ausschau hielte nach einer Frau ohne Beine, bloß weil einem mal eine weggelaufen ist. Prolog Ende.


50 Jahre später:

So was Ähnliches wie Dritter Weltkrieg. Irgendwo zwischen Hackescher Markt und Nordbahnhof. Schneidender Zigarettendunst zersägt die Gesichter der zwei Jungs, die verzweifelt versuchen, einen antiken Rechner an das weltweite Spinnentier anzuschließen. Es hilft nichts. Einer von ihnen muss durch den Space-Quadranten von Mitte, um vom Planeten Saturn das rettende Modem zu holen.

Aber der Reihe nach. Vor Jahren schenkten mir meine lieben Kollegen einen Computer, auf dem ich meine Geschichten schreiben sollte. Angeblich würde er mir eine Hilfe sein und mir die Möglichkeit eröffnen, ordentlich ausgedruckte Sachen an Dritte weiterzugeben. Ich habe dann zumindest immer Staub auf ihm gewischt. Nun trug es sich aber zu, dass ich einst eine E-Mail an jemanden versenden wollte. Von einem Internetcafé aus. Dieser Versuch scheiterte, weil E-Mails versenden im Prinzip nur geht, wenn man eine eigene E-Mailadresse hat. Es war kurz vor Mitternacht. Ich war verzweifelt und die Bauarbeiter um mich herum betrunken, aber guter Dinge. „Lass ma, Kleener, det machen wa schon für dir.“

Schon hatte sich einer von ihnen vor den Bildschirm geworfen und fing wie wild an zu tippen. Es war für alle Beteiligten sehr lustig, wie aus mir plötzlich Elfriede Mattuschewski aus Cottbus wurde, 54 Jahre, geschieden, Inhaberin eines Hundefrisiersalons, die nicht nur einen Ibiza fährt, sondern dort auch zweimal im Jahr Urlaub macht, wo sie dann Tennis und Squash spielt undsoweiterundsofort …

So richtig verstand ich nicht, was um mich herum passierte. Ab und an musste ich mal ein paar Knöpfe drücken und den Jungs einen ausgeben. Aber am Ende hatte ich eine E-Mailadresse. Fortan wurde ich ein guter Kunde in diesem Café, und meine Zeit im Internet reichte wohl aus, um die Kosten für die Flatrate dort zu bestreiten. Das blieb natürlich den lieben Kollegen nicht verborgen. „Das geht doch auch von zu Hause aus.“ und „Da sparst du Geld.“, bekam ich von da an zu hören. Begriffe wie „outlook express“ und „call-by-call“ wurden mit verheißungsvollem Zwinkern in meiner Gegenwart benutzt. Und letztlich drehte sich alles um einen einzigen Gegenstand. Das Modem! Wenn ich das erst mal hätte, dann würde ich schon sehen, was dann und so … Nach langem Zögern fragte ich Tube, einen ausgewiesenen Fachmann auf diesem Gebiet, ob er mir Internetz machen könne. Könne er, war die lakonische Antwort. Wir verabredeten uns in seiner Wohnung, weil er das nötige Equipment raussuchen wollte. Tubes Wohnung besteht im Wesentlichen aus einem oder mehreren funktionierenden Computern und mehreren funktionierenden Aschenbechern am Rande ihrer Speicherkapazität. Der Rest ist voll mit Computerersatzteilen. So stellte ich mir das Ersatzteillager der Enterprise vor. Tube warf ein paar Kilo Schrott in seinen Rucksack, dann fuhren wir mit dem Fahrrad zu Saturn. Wir brauchten ein Modem mit serieller Schnittstelle. Der Verkäufer sah uns an, als ob wir ihn nach Grammophonnadeln gefragt hätten. Als er meine Tränen sah, führte er uns in ein Kabuff und zeigte angewidert auf ein Kästchen. „Da ist noch eins.“ Ich war glücklich. Es war mir auch egal, dass es doppelt so viel wie alle modernen Modeme kostete. Wenn ich mich erst mal für etwas entschieden habe, dann setze ich auch alles daran, es zu verwirklichen. Wir fuhren zu mir und während ich Kaffee kochte, wohnte ich einer Metamorphose bei. Es dauerte keine zehn Minuten, und meine Küche, in die wir meinen Computer gestellt hatten, sah aus wie Tubes Küche. Er hatte meinen Computer komplett auseinandergeschraubt, ein paar Eingeweide herausgeholt und dann seinen Rucksack dazugekippt. Jetzt lernte ich, was ein Trojanisches Pferd ist, beziehungsweise ein Schläfer. Tube zeigte auf verschiedene Teile meines Computers, und erzählte mir, welchem Kollegen früher jeweils welches Bauteil mal gehört hatte. Mein Computer war sozusagen ein Frankensteinsches Monster.

Spider nennt ja seinen Computer Hitler, weil er so scheiße ist. Meiner heißt nun Frankensteinmonster. Tube machte es sich bequem in einem meiner Sessel, hämmerte unermüdlich Techno-Rhythmen auf die Tastatur und stierte auf den Bildschirm. Was genau er da machte, konnte oder wollte er mir nicht sagen. Nach drei Tagen aber teilte Tube mir mit, dass das Modem wohl kaputt sei. Ich war nervlich am Ende und begann zu weinen. Tube tröstete mich und sagte, er wüsste, wo noch ein altes Modem von ihm rumläge. Bei einem Bekannten, der aber im Urlaub sei. Unter fadenscheinigem Vorwand ließen wir die Wohnung vom Schlüsseldienst öffnen. Die 150 Euro bezahlte ich und Tube suchte nach dem Modem. Er fand es im Mülleimer, der Gott sei Dank nicht mehr ausgeleert worden war. Das Netzteil fehlte, dafür waren aber reichlich Nudeln mit Tomatensoße am Modem. Es roch recht unfrisch. Tube stopfte es so wie’s war in seinen Rucksack. Ich kochte zu Hause Kaffee und reinigte das Modem. Meine Aufgabe während der ganzen Zeit bestand aus Aschenbecher leeren, Cola nachgießen, Kaffee kochen und Schnittchen schmieren. Tube fühlte sich wohl. Nach einer Woche fragte er mich, ob ich seine Frau werden wolle. Inzwischen hatte er schon meine sämtlichen Dateien und die Festplatte gelöscht. Dummerweise konnte er aber nichts Neues installieren, weil die Laufwerke – wir besaßen mehrere – alle auf unterschiedliche Art und Weise kaputt waren. Aber Tube schaffte es irgendwie, das Ding zum Laufen zu kriegen. Nach zwei Wochen hatte ich eine Art Kontrollraum in meiner Küche. Überall blinkte es. An die CD-Laufwerke hatte Tube Kurbeln angebaut, der Prozessor wurde von einer kleinen Dampfmaschine angetrieben, was Tube eigentlich vor mir geheim halten wollte, denn er hatte den Rauchabzug geschickt mit dem Aschenbecher getarnt, wo die Ewige Zigarette brannte. Aber einmal erwischte ich ihn dabei, wie er kleine Kohlestückchen hinten in den Computer schob. Ich saß meistens auf meinem Fahrrad und machte mit dessen Dynamo Strom für den Bildschirm. Wenn wie beide konzentriert und konzertiert arbeiteten, konnten wir auch im Internet surfen. Die meisten E-Mails waren für Tube, weil seine Angehörigen und Freunde wissen wollten, wo er abgeblieben sei. Jedes Mal, wenn Tube und ich von so einer Surftour zurückkamen, war natürlich etwas kaputt. Das war wahrscheinlich die Strafe dafür, dass ich immer über meinen Vater mit seinem klapprigen Käfer gelacht hatte. Aber Gott sei Dank hab ich ja Tube.

Der wohnt jetzt bei mir.

Kaffee, Cola, Schnittchen. Er ist die Sieben Zwerge und ich das Schneewittchen.

WARTE

Es gibt nicht viele Warte, aber doch einige: Es gibt Torwart, Getränkewart, Notenwart, Kassenwart, Platzwart und Hauswart – früher Blockwart. Den Wart an sich gibt’s nicht, aber der Wart wird an ein Wort hinten drangehängt. Der Wart hat Zeit und deshalb kann er sich kümmern. Er ist ein Kümmerer. Im Gegensatz zum gemeinen Wärter, der ist meist nur ein Einsperrer und Prügler – um den soll’s hier nicht gehen, Wärter gibt’s ohnehin schon zu viele. Aber Warte gibt’s aus meiner Warte zu wenige. Vielleicht ließe sich unsere Welt ein wenig verzaubern, wenn es mehr Warte gäbe. Zum Beispiel einen Wunschwart, mit dessen Hilfe ich mir dann Warte wünschen würde.

Wie wär’s mit einem Wartewart, der den Menschen hilft, ihre Ungeduld zu zügeln.

Ganz wichtig – zumindest für Berlin – der Dönerwart. Nicht wegen der Skandale mit dem Fleisch. Ich mach da jetzt auch keine Witze drüber. Das kann man getrost den Comedians überlassen, wobei ich dringend dafür plädiere, gerade diesen einen Witzwart an die Seite zu stellen. Vielleicht sogar den Witzwart of Oz. (Seht ihr, so was meine ich!)

Aber Dönerwarte für Berlin, das fänd ich gut. Schon deshalb, weil das, was dem arglosen Esser da oft als Döner verkauft wird, noch wesentlich schlimmer ist als überlagertes Fleisch. Das ist gastronomische Antimaterie, Sempex zum Selberessen. Der Kebap-Kunde verübt das Sprengstoffattentat gleich an sich selbst und explodiert dann innerlich.

Ich halte auch Gesprächs- oder Kommunikationswarte, vulgo Quatschwarte, für unabdingbar, damit die Leute nicht soviel Müll reden, wobei das noch das kleinere Übel ist. Vor allem sollte er dafür sorgen, dass sie nicht ständig aneinander vorbeireden. Dass ein TV-Wart das Schlimmste verhindern könnte, darüber brauche ich sicher keine längeren Ausführungen zu machen.

Apropos TV. Neulich kam im Fernsehen so ein Autorenfilm für Kunstpatienten, dessen Inhalt ich jetzt gar nicht zur Disposition stellen will. Aber wie da geredet wurde, hat in mir den Wunsch geweckt nach einem Sprachwart. Und zwar, weil zu einem kleinen Jungen folgender Satz gesagt wurde: „Johann, Diebe kommen hinter Gittern!“ Also Gitter im Dativ statt im Akkusativ. Was, bitte schön, geht einen kleinen Jungen die Autoerotik von Dieben an? Vermutlich kommen Diebe tatsächlich hinter Gittern, aber hinter Gitter sollten erst mal die Drehbuchautoren kommen, dann kommt der Sprachwart und dann kommt richtiges Deutsch. Und dann können sie von mir aus auch kommen, wo sie wollen. Ob hinter Gittern oder hinter Oberursel.

Und der Sprachwart würde natürlich aufs Engste zusammenarbeiten mit dem Wortwart. Es gibt so viele schlimme Worte. Sogenannte Unworte. Mir persönlich ist in letzter Zeit immer schlecht geworden bei dem Wort „Wohn-Riester“. Wenn man es googelt und dabei zusammenschreibt, dann fragt Google, ob man „Weintester“ meint. Soviel Wein kann ich gar nicht testen, dass mir bei dem Wort „Wohn-Riester“ nicht aus dem Arsch-Riester die Wurst kommt. Im Kern geht es dabei um Altersvorsorge durch den staatlich geförderten Erwerb von selbstgenutzten Wohnimmobilien. Wie das allein schon klingt. Aber „Wohn-Riester“, das klingt noch schlimmer. Klingt wie ein Loch, das man sich im Wald graben darf, und wo man dann wartet, bis man abgeholt wird, weil einem das Sozialamt endlich den Sterbe-Riester genehmigt hat.

Und wenn wir schon mal beim Thema Wohnen sind. Da kommt auch schon der Möbelwart ins Spiel, der dafür sorgen könnte, dass die Ikeaisierung unserer Welt nicht dahin führt, dass die optischen Sterbehilfen, die uns Ingmar Kamprad als Möbel verkauft, letztlich noch durch einen Kiefernsarg namens „Gamelhuus“ im Sortiment ergänzt werden.

Schön wäre auch noch ein Gesichtswart, weil sich zur Zeit immer mehr Menschen so lange an ihren Gesichtern rummachen lassen, bis sie letztlich ihr Gesicht verlieren und an dessen Stelle ein Botox-Bunker entsteht.

Dringend empfehle ich einen Zeitwart. Nicht etwa für Leute, die nichts tun. Das ist in Ordnung. Nein, ein Zeitwart sollte Leute daran hindern, ihre Zeit mit Dingen zu vergeuden, die sie eigentlich gar nicht tun WOLLEN.

Und es hat sich herausgestellt, dass auch ein Sternwart nicht verkehrt wäre, einer, der ein bisschen auf die Himmelskörper aufpasst und sich für deren Belange einsetzt. Es kann doch nicht sein, dass so ein verdienter Planet des Volkes wie unser Pluto von so ein paar Ärschen, die einen Sockenschuss im Aszendenten haben, seinen Titel aberkannt bekommt und vom Dienst suspendiert wird. Ganz zu schweigen von der Selbstmordwelle, die die Entplutoisierung unseres Planetensystems möglicherweise unter Astrologen auslöst, weil die ihre Kunden ja dann jahrelang mit Falschinformationen verarscht hätten.

Gedacht hatte ich auch an einen Fickwart, weil das, was sich Männer und Frauen da manchmal gegenseitig als Sex anbieten, in etwa einem feuchtgewordenen, dumpf verpuffenden Silvesterknaller entspricht, den man bekommt, obwohl man eigentlich ein furioses Feuerwerk bestellt hatte.

Aber vielleicht sollten das die Menschen untereinander klären und viel wichtiger als der Fickwart wäre ein Glaubwart, der den großen Religionen regelmäßig auf den fundamentalistischen Zahn fühlt. Der dafür sorgt, dass jeder glauben darf, was er will und dass diejenigen, die an etwas glauben, nicht glauben, dass die Welt erst dann eine gute wird, wenn alle genau dasselbe glauben. Ich glaube jedenfalls, dass das toll wäre. Und wenn ihr alle genau dasselbe wie ich glauben würdet, wäre das sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Aber kommen wir mal zu was anderem.

Kommen wir zu mir. Ich bin leidenschaftlicher Gegenwart. Das meint, ich bin erst mal dagegen und ich kann warten. Als Gegenwart kümmere ich mich hauptsächlich um das Hier und Jetzt, denn selbst die Kanzlerin hat inzwischen eingesehen: Wir dürfen unsere Zukunft nicht verbrauchen. Als Gegenwart bin ich dagegen, Nazis zu vergasen. Aber ich kann warten, bis sie es selbst tun. Das können sie doch sowieso am besten. Unwertes Leben vernichten. Und ein Lebewesen, das nur aus Hass, Neid und Aggression besteht, kann dem deutschen Volkskörper letztlich nur schaden. Ich bin gegen Zigaretten, aber ich kann warten, bis ich stark genug bin, mit dem Rauchen aufzuhören. Gegen die Mehrwertsteuererhöhung bin ich nicht, aber ich bin gegen Mehrwertsteuer an sich. Und ich kann warten, bis die Politiker sie abschaffen. Ein Politiker sollte übrigens nicht Politiker heißen, sondern Verantwart.

Manche hoffen ja, es gäbe vielleicht so was wie einen Weltwart, und der werde es schon richten. Das ist Quatsch. Wir richten uns höchstens selbst, wenn wir zu lange mit oder auf etwas warten. Eine Möglichkeit, die ich sehe, die Wartezeit bis zum Erscheinen des Schlusswarts (ihr wisst schon, der mit der Sense) sinnvoll zu nutzen, ist, ein engagierter Gegenwart zu werden. Wer körperliche Anstrengung scheut, wird eben Geistes-Gegenwart. Ich als Gegenwart nehme mir auch das Recht heraus, noch einen weiteren Wart vorzuschlagen. Den Unwart. Einen Unwart brauchen wir unbedingt. Ich weiß zwar nicht wozu, aber ein Unwart erscheint mir wichtig. Vielleicht kann so ein Unwart uns helfen, mit dem Unerwarteten besser umzugehen. Und ganz unerwartet kommt jetzt noch der Datwart. Datwart heißt in Berlin oder auf Plattdeutsch nichts anderes als: Das war’s.

Tschüss und danke für die Aufmerksamkeit,

Ebeling, Gegenwart

DAS BUCH