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Inhalt

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Ich war sechs oder sieben, als ich herausfand, wie klein unser Land ist. Ich war in meiner Klasse der Letzte, der es erfuhr. Die Lehrerin pinnte eine große Europakarte an die Wand und zeigte uns unsere Nachbarländer – Frankreich, die Schweiz, Italien. Und ich meldete mich und fragte: »Wo sind wir? Wo auf der Karte ist Champina?« Und alle, sogar die Lehrerin, lachten mich aus.

»Du kannst Champina nicht auf der Karte sehen, Stefan«, sagte sie.

»Wieso nicht?«

»Weil wir zu klein sind.«

»Aber wir müssen da doch irgendwo sein.«

»Natürlich sind wir da. Aber du kannst uns nicht sehen«, sagte die Lehrerin.

»Wie kann man denn ein ganzes Land auf einer Karte nicht sehen?«, fragte ich sie.

Ich spürte, dass ich rote Ohren bekam. Die anderen Kinder wussten mehr als ich, das merkte ich.

»Weißt du, warum wir Champina genannt werden?«, fragte mich die Lehrerin.

Ich zuckte die Schultern. »Nein. Ich dachte immer, das läge daran, dass wir von irgendwas die Champions sind.«

Wieder lachten die anderen Kinder.

»Und wovon sollten wir die Champions sein?«, fragte die Lehrerin. »Nein. Champ ist das französische Wort für ›Feld‹. Wir heißen Champina, weil unser ganzes Land nur so groß wie ein Feld ist. Champina war sogar mal ein Feld, bis darauf das Dorf erbaut wurde.«

»Soll das heißen, wir sind das einzige Dorf im Land?« Ich konnte es nicht fassen. Unser Dorf ist winzig.

»Auf der anderen Seite vom Fluss liegt Frankreich. Am Zaun hinter dem Dorfladen fängt Italien an. Und Monsieur Petits Garten liegt halb in Champina und halb in der Schweiz«, sagte die Lehrerin.

In weniger als einer Minute konnte man unser Land durchwandern. Wenn man wollte, konnte man dabei die Luft anhalten. Man konnte sogar einen Stein darüber hinweg werfen, wenn man hoch genug zielte und nicht Monsieur Petits Schlafzimmerfenster traf.

»Warum hast du mir nie gesagt, dass wir im kleinsten Land der Welt leben?«, fragte ich meine Mum, als ich nach Hause kam.

»Ich dachte, das wüsstest du«, sagte sie.

»Woher hätte ich das wissen sollen?«, fragte ich. »Wenn mir keiner was sagt?«

»Was macht das denn schon aus?«, fragte sie.

»Ich kenne jeden, der in unserem Land lebt«, sagte ich. »In Champina wohnt niemand, den ich nicht kenne.«

»Ist doch schön, oder?«, meinte meine Mutter. »Es ist doch schön, in einem Land zu leben, in dem es keine Fremden gibt.«

Da war ich mir nicht so sicher. Ich stellte mir vor, wie langweilig es werden könnte, immer dieselben Gesichter zu sehen, wenn ich mein ganzes Leben in diesem Land verbringen würde.

»Aber haben Länder denn nicht Präsidenten und Premierminister und so?«

»Doch, natürlich«, sagte meine Mutter. »Das ist bei uns genauso.«