Anette Horn und Peter Horn

»Ich lerne sehen«

Zu Rilkes Lyrik

ATHENA

Beiträge zur Kulturwissenschaft

Band 20

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2012

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Umschlagabbildung: »Hermes, Eurydike und Orpheus«
aus Meyers Konversationslexikon von 1888

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ISBN (Print) 978-3-89896-397-8
ISBN (ePUB) 978-3-89896-803-4

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1 »Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte«

Rilke, der sagte, er könne kein rechtes Verhältnis zu Kindern gewinnen, »spielte im Anschauen mit ihnen, und er hat das Kind ja auch auf das innigste, scheinbar fast ohne das Medium des Erwachsenseins, zu erfassen vermocht.« (Kippenberg 1942, 67f.) Dieses bewegungslose Anschauen ist im Extrem eine »autistische« oder »narzisstische« Art, sich mit den Menschen seiner Umwelt zu beschäftigen, ohne wirklich Kontakt mit ihnen aufzunehmen, ohne sich ihren Gefühlen auszusetzen und ohne Gefühle für sie ausdrücken zu müssen und sie so im Anschauen als »Erscheinungen«, »Dinge« oder »Objekte« von sich zu distanzieren. Da es sich bei Rilke augenscheinlich um psychologische Faktoren, also eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung handelt, und nicht um eine erbliche Krankheit, kann man nicht von Autismus sprechen, auch wenn viele seiner Symptome durchaus »autistisch« sind.[1] Dem Narziss ist »das Gegenüber unerreichbar«, nicht weil die geliebte Person zu entfernt wäre, sondern weil absolute Annäherung die Zerstörung des Gegenübers bedeutet.[2] (Vgl. Kunz 1970, 3) »Rilkes Vorliebe für das Bild des Spiegels in seinen Gedichten erlaubt eine solche Bezeichnung. Auch Valéry ist von der Figur des Narziss fasziniert und verbindet seine Figur mit Tod und Vergänglichkeit: »›Narcisse‹ N’est-ce point penser a la mort / que se regarder au miroir? / N’y voit-on pas son périssable? / L’immortel y voit son mortel.« (C, X, 848) (Franklin 1983, 227)[3]

Was dem Narziss nicht gelingt, das gelingt dem Engel: er kann sich mit dem, was ihm »entströmt«, seiner eigenen Schönheit, wiedervereinigen.

Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung,

Höhenzüge, morgenrötliche Grate

aller Erschaffung, – Pollen der blühenden Gottheit,

Gelenke des Lichtes, Gänge, Treppen, Throne,

Räume aus Wesen, Schilde aus Wonne, Tumulte

stürmisch entzückten Gefühls und plötzlich, einzeln,

Spiegel: die die entströmte eigene Schönheit

wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz. (1, 689; 2. Elegie)

Die Engel sind Spiegel ihrer selbst, und nicht Spiegel der Gottheit, der Engel ist »Spiegelnder, Gespiegelter und Spiegel zugleich«. (Vgl. Kunz 1970, 10f.) Der Mensch ist nicht »geglückt«: er ist ständig auf der Suche nach der Perfektion, aber er ist es nicht. Die Engel sind die Imagination einer solchen »geglückten« Schöpfung, der Möglichkeit einer Existenz ohne Schmerz, da sie ganz schon sind, was wir uns vergeblich bemühen zu werden. Sie sind ganz geistig, daher ganz in sich ruhend, während wir zwischen materiellem und geistigen Sein hin und hergerissen sind.[4]

Bis ans Ende seines Lebens war sich Rilke bewusst, »daß gewisse Versuche, im Leben selbst menschlicher und natürlicher Fuß zu fassen, [nicht] deshalb fehlgeschlagen wären, […] weil die Menschen, um die es sich dabei handelte, mich nicht verstanden, mir, eins über das andere, Gewalt, Unrecht und Schaden angetan und mich so fassungslos gemacht hätten«, sondern weil »keiner mir helfen kann, keiner; und käme er mit dem berechtigtsten, unmittelbarsten Herzen und wiese sich aus bis an die Sterne hinan und ertrüge mich, wo ich mich noch so schwer und steif mache, und behielte die reine, die unbeirrte Richtung zu mir, auch wenn ich ihm zehnmal den Liebesstrahl breche mit der Trübe und Dichte meiner Unterwasserwelt«. (Br. Lou 1989, 8. Juni 1914) Über Rodin, aber schließlich auch über sich selbst, sagte Rilke: »Denn Ruhm ist schließlich nur der Inbegriff aller Mißverständnisse, die sich um einen neuen Namen sammeln« (5, 141).[5] Und: »Es wird vielleicht eine Zeit kommen, da man diesem Leben seine Geschichte erfinden wird, seine Verwickelungen, seine Episoden und Einzelheiten. Sie werden erfunden sein« (5, 142).

Verwirrt durch eine Mutter, die ihn als René ablehnte, als Ismene aber liebte (Schank 1995, 77), fühlt sich Rilke wie einer, »der in ein Spiel geraten ist, dessen Spielregeln er nicht kennt« (Br. Lou 1989, 164) oder wie ein Kind,

wenn es müde in dem kleinen Kleid

neben ihnen [den Eltern] wie im Wartezimmer

sitzt und warten will auf seine Zeit. (1, 640)

Auch später in seinem Leben kennt Rilke »Wochen unbeweglichen inneren Starrseins.« (Br. Lou 1989, 172) In einem Brief vom 19. Dezember 1912 an Lou Andreas-Salomé schreibt Rilke: »jetzt sitz ich da und schau und schau, bis mir die Augen wehtun, und zeig mirs und sag mirs vor, als sollt ichs auswendig lernen, und habs doch nicht«. Eckel (1994, 124) spricht von einer »Krise des Vor-der-Natur-Sitzens, des angestrengten Schauens und gleichsam handwerklichen Bewältigens des Geschauten, das Rilke geglaubt hatte mehr oder weniger direkt von den bildenden Künsten für seine dichterischen Zwecke übernehmen zu können.« Mason (1964a, 126) beschreibt das Wesen des Schaffensprozesses bei Rilke als »ein paradoxes Ineinanderwirken von äußerster Willensanspannung und äußerster Passivität«, zu dem außer dem »Sich-nicht-Sträuben gegen die Schwere in allen ihren vielfachen Formen« noch »die Einsamkeit, das unabgelenkte intensive Schauen nach innen und außen, ein unermüdliches Weiterstreben im ›Handwerklichen‹« gehören. (Vgl. Schank 1995, 83)

Theoria bedeutet ursprünglich »Schauen«.[6] Dass Rilke immer wieder das Wort »schauen« (und seine Komposita) benutzt, hängt aufs engste mit seiner Auffassung von der Beziehung zwischen Dichter und Welt zusammen. Die Rolle, die das »Schauen« oder »Anschauen« in Rilkes Dichtung und Dichtungstheorie spielte, ist bekannt. Die deutsche Sprache hat eine ganze Reihe von Verben des Sehens, »sehen«, »blicken«, »schauen«, »anschauen«, »hinschauen«.

»Schauen« können nur die Lebenden. Die noch Ungeborenen, »obwohl sie die Kommenden sind«, »halten nur ihr Gesicht in die Zeit / und können, wie unter Wasser, nicht schauen«, ihre »Zukunft beginnt noch nicht« (1, 461). Und von den Toten in der Morgue heißt es: Ihre »Augen haben hinter ihren Lidern / sich umgewandt und schauen jetzt hinein.« (1, 503) Unter den Lebenden sind es vor allem die »Armen«, die »von allem, was sie schauen, schwer« sind (1, 363f.), und die Kinder: das Kind in Aus einer Kindheit »saß sehr still. Sein großes Schauen hing / an ihrer Hand« (1, 385f.). Von Karl dem Zwölften von Schweden heißt es »er war zum Schauen aufgewacht« (1, 422). Und in dem Gedicht Der Sänger singt vor einem Fürstenkind werden die Fürsten und Frauen »aus den Bildern einst auf dich [Du blondes Kind] […] schauen« (1, 437). Von den »fremden Männer[n], die […] jetzt so still / in Bildern« stehen, heißt es: »Euer Gesicht ist so voll von Schauen, / denn die Welt war euch Bild und Bild« (1, 440). In dem Gedicht Früher Apollo trifft den Betrachter ein jugendliches Schauen. Prägnant erscheint ein substantiviertes Partizip Präsens in einem Brief an die Fürstin Taxis aus Toledo vom 13.11.1912: »[…] und wünsche mir so viel Fassung in mein Herz, solchen Gegenständen gegenüber dazusein, still, aufmerksam, als ein Seiendes, Schauendes, Um-sich-nicht-Besorgtes […]« (Ges. Br. III, 261) – der Akt des Schauens wird objektiviert und vom Subjekt gelöst. Im Buch der Bilder (1, 435) schauen sogar »die Saphire« »wie tiefe Frauenaugen« »in den Silberplatten«.

Teilhard de Chardin sagt über das Neue in der Moderne, »daß Angst der Preis ist, den der moderne Mensch dafür bezahlt, daß er die Welt neu zu sehen lernt«. Auch Rimbach (1982, 133) begreift das »neue Sehen […] als Schlüsselbegriff von Maltes Selbstanalyse.« Bei Malte ist Angst der Preis für das neue Sehen. Malte Laurids Brigge entdeckt eines Tages:

Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. (6, 710)[7]

Das Schauen ist allerdings nicht ungefährlich, es kann uns auch aus dem Gleichgewicht bringen. Über die Menschen bei Nacht im Buch der Bilder schreibt Rilke:

Und machst du nachts deine Stube licht,

um Menschen zu schauen ins Angesicht,

so mußt du bedenken: wem.

Die Menschen sind furchtbar vom Licht entstellt,

das von ihren Gesichtern träuft,

und haben sie nachts sich zusammengesellt,

so schaust du eine wankende Welt

durcheinandergehäuft. (1, 392)

Als ein schauend Seiendes, ein »Gesicht« (Hamburger 1966, 183) stellt sich das lyrische Ich auch in Versen aus dem Umkreis der Nacht-Gedichte aus den Jahren 1913/14 dar:

Nun erst, Nachtstunde, bin ich ohne Angst

und darf in aufgeblühtem Schauen stehen,

da du für dein unendliches Geschehen

mein ungenügendes Gesicht verlangst. (2, 408)

Das Auge ist Teil des Bewusstseins.[8] Wenn ein Gedicht aus dem Buch der Bilder Der Schauende heißt, und nur durch diesen Titel die inhaltlichen Aussagen sich als Objekt eines sie schauenden Subjekts zeigen, so ist eben hierin ein Kennzeichen der Struktur zu erblicken, die für Rilkes Dichtung von Anfang an charakteristisch ist. (Hamburger 1966, 184) »Schauen«, das ist für Rilke der Seherblick des Künstlers, der »fast tödlich« trifft, was er verwandelt (Höhler 2000, 66). In diesem Sinn ist der Blick des Künstlers dem Blick des Mystikers ähnlich. Käte Hamburger (1966, 186) schreibt, »in dem Wort Anschauen, das die deutsche Mystik für den Akt der Gotteserkenntnis geprägt hat, ist die Vorstellung des mit Augen Sehens in besonders starker Sinnlichkeit enthalten, eben deshalb, weil Sehen und Schauen synonyme Begriffe sind.«

Dangelmayr (2005, 269) spricht von einer Parallele im Denken von Joyce: »Zur Beschreibung des authentischen Erlebens der entfremdeten Welt entwickelt der frühe Joyce das Prinzip der ›Epiphanie‹. Er bezeichnet damit ebenso ein plötzliches Sehen, die Enthüllung eines bestimmten Charakters oder eine zunächst nicht offenkundige Situation. […] Durch diese epiphanische Darstellungsform wird jeweils der Eindruck eines authentischen Einblicks in ein wirkliches Selbsterleben erreicht […]«.

Es dürfte kein Zufall sein und in den Umkreis der Kategorie des Schauens, als ihr Gegensatz und ihre Negation, gehören, dass das Nichtschauenkönnen, das Blindsein, immer wieder dichterisches Thema wird: z. B. Das Lied des Blinden und das umfangreiche Dialoggedicht Die Blinde (beide im zweiten Buch des Buch der Bilder (1, 449, 465).[9] Und im Stundenbuch beschreibt Rilke: »Männer, welche blind / mit ihren Knaben wie mit Augen schauen« (1, 331), weil sie selbst nicht schauen können. In Empor heißt es: »Manchmal ermattet von Hasten nach Glück, / sehn ich mich wieder nach seliger Blindheit, / rufe die Tage der traulichen Kindheit, / rufe die Tage der Unschuld zurück.« (3, 91f.) Hinter der scheinbaren Idylle steht allerdings die Frage: Gibt es etwas, was das »glückliche Kind« nicht sehen durfte, um nicht »unglücklich« zu werden? Und in Du hast so große Augen, Kind heißt es: »Dann ist dein Blick am Tag wie blind / und deine Seele wie zerspalten.« (1, 131f.) Darf das Kind seine wahren Gefühle nicht empfinden und ihnen nicht Ausdruck verleihen? (Vgl. Schank 1995, 118, 127)

Das Nichtschauenkönnen kann auch durch den Gegenstand hervorgerufen werden, wie in dem Gedicht Schwarze Katze, von der es heißt: »an diesem schwarzen Felle / wird dein stärkstes Schauen aufgelöst«. Der Blick wird hier sogar einem »Tobenden« in einer gepolsterten Zelle gleichgesetzt, der »in vollster / Raserei ins Schwarze stampft, / jählings am benehmenden Gepolster / einer Zelle aufhört und verdampft.« Es ist, als ob wir beim Betrachten der schwarzen Katze blind geworden wären, denn »Alle Blicke, die sie jemals trafen, / scheint sie also an sich zu verhehlen, / um darüber drohend und verdrossen / zuzuschauen und damit zu schlafen.« Allerdings gibt es dann einen Augenblick, ähnlich wie im Panther, wenn die Katze plötzlich den Blick des Betrachters erwidert: »da triffst du deinen Blick im geelen / Amber ihrer runden Augensteine / unerwartet wieder: eingeschlossen / wie ein ausgestorbenes Insekt.« (1, 595)

Arndal (2007, 218) sieht »Maltes Sehenlernen […] nicht nur als eine Weiterentwicklung des normalen Sehens, sondern auch als eine mit der Gedankenwelt John Ruskins verwandte Reaktivierung eines ursprünglichen Sehens der Kindheit«. Krank im Bett liegend erfährt Malte, dass »alle verlorene Ängste« (6, 767) der Kindheit wieder da sind, und kehrt zum Sehen des Kindes zurück. Arndal (2007, 213) schreibt:

Es ist kein Wunder, dass diese Disziplinierung der kreativen Kräfte des Kindes in reformpädagogischen Kreisen, vor allem innerhalb der so genannten Kunsterziehungsbewegung eine heftige Gegenbewegung hervorrief. Schon um die Mitte des Jahrhunderts hatte in England John Ruskin eine radikale Umwertung der Kunst des Kindes gefordert. Das Kind besitze im Unterschied zu den gebildeten Erwachsenen noch »the innocence of the eye«,[10] es zeichnet, was es sieht, und nicht was es weiß. Das Sehenlernen besteht entsprechend nicht in der Entwicklung eines richtigen, konzentrierten oder »bewussten« Sehens, sondern umgekehrt in der Eliminierung von angelernten Vorstellungen und in einer Wiedergewinnung der ursprünglichen, unmittelbaren Wirklichkeitsauffassung des Kindes. Ein genaues Bild der Rezeption Ruskins im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts steht noch aus. Rilke kannte ihn jedenfalls (vgl. KA IV, 231 und 275), und es besteht kaum Zweifel, dass Ruskins Gedanken in kunstinteressierten und reformpädagogischen Kreisen, zu denen Rilke ja gehörte, in der Luft lagen. (Vgl. Storck 1990)

Wesentlich für Rilkes Auffassung vom »Schauen« war der Kontakt mit Rodin, der ihm zeigte, wie wichtig die genaue Beobachtung von Gegenständen ist.[11] In einem Brief an Clara vom 18. Okt. 1907 schreibt Rilke: »Ich war nur überzeugt, daß es persönliche, innere Gründe sind, die mich schauender vor Bilder stellen, an denen ich vielleicht noch vor einer Weile mit momentaner Teilnahme vorbeigegangen wäre« (Br. ü. C. 48). Hamburger (1966, 182) macht darauf aufmerksam, dass es »deutlich und nicht verwunderlich [ist], daß der Sinn des Verbs sich intensiviert, wenn er [in einem Widmungsgedicht vom 6.1.1906] in ausdrückliche Beziehung zum Schaffen des bildenden Künstlers tritt.«

So will ich gehen, schauender und schlichter,

einfältig in der Vielfalt dieses Scheins (2, 191).

Käte Hamburger (1966, 181) bezeichnete das Verb schauen als ein »Grundwort Rilkes«, das bereits »mit besonderer Häufigkeit in der frühen und mittleren Periode, sowohl in Brief- und Tagebuchäußerungen wie in Gedichten« auftritt. Sie (1966, 184f.) warnt allerdings davor, aus dem Begriff des Schauens eine oberflächlich verstandene) Verwandtschaft zur Husserlschen Phänomenologie[12] zu konstruieren: »Wird nämlich diese in Zusammenhang mit dem Verb schauen bei Rilke genannt, stellt sich sogleich ihr berühmtester, ihr populär gewordener Begriff ›Wesensschau‹ ein, mit dem sich mehr oder weniger bestimmte Vorstellungen von intuitiv-unmittelbarer Erfassung des ›Wesens der Dinge‹ verbunden haben und der verführerisch in der Anwendung auf Dichtung ist.«

Käte Hamburger (1966, 185) sieht die Beziehung zwischen Rilke und der Husserlschen Phänomenologie komplizierter als durch das Schlagwort der Wesensschau vorstellig gemacht werden könnte: »was Rilke betrifft, so können wir ganz ohne die Wesensschau auskommen und dennoch nicht nur die phänomenologische Struktur seiner Lyrik im Sinne der Husserlschen Phänomenologie feststellen, sondern auch vom Begriff und der Funktion des Schauens her die erste Anknüpfung an diese gewinnen.«

Mattern (1996, 41) zeigt dagegen, wie Husserls Begriff der Epoché zur Aufdeckung der grundlegenden Korrelation zwischen der Welt und der Subjektivität des Bewusstseins führt: »Das Bewußtsein ist nicht ein Teil der Welt, der neben den anderen Dingen vorliegt, sondern das Bezogensein selbst auf die Dinge in ihrem Erscheinen. Husserl verdeutlicht so den intentionalen Charakter des Bewußtseins, womit gemeint ist, daß Bewußtsein immer schon Bewußtsein von etwas ist, nicht etwas – ein Subjekt –, das sich quasi nachträglich auf etwas außerhalb seiner selbst – ein Objekt – beziehen kann.« Wittgenstein (5.631/2) macht deutlich, dass das metaphysische Subjekt nicht »in« der Welt ist, es kommt nirgendwo in der Welt vor. In einem »wichtigen Sinne« gibt es kein Subjekt, nämlich als das »denkende, vorstellende Subjekt«, das »zur Welt« gehört, also in einer Beschreibung der Welt enthalten sein würde. (Dangelmayr 2005, 77)

Wichtiger und charakteristischer als die Anwendung des Schauensbegriffs auf innere, visionäre Vorgänge ist der Gebrauch von Anschauung als erkenntnistheoretischer Terminus, als den sie Kant eingeführt hat, und zwar als die sich unmittelbar auf Gegenstände beziehende Erkenntnis, die ihrerseits allein durch »Sinnlichkeit« d. i. sinnliche Wahrnehmung vermittelt werden kann. Gegenstand der Erfahrung ist die Erscheinung (für uns), wir erkennen und kennen die Welt nur als phänomenale Welt.[13] »Sehen heißt demzufolge, wenn vom Menschen die Rede ist, nichts anderes als Bewusstsein vom wahrgenommenen Gegenstand zu haben.« (Riedel 2005, 53) Gerade weil dies [das Schauen] eine banale sozusagen unpoetische Tatsache bedeutet, ist es bemerkenswert, dass sie in einer so betonten Weise in die lyrische Aussage eingegangen ist. Und wenn wir diesen Begriff zunächst noch weiter ins Auge fassen, erweist sich die Häufigkeit und Prägnanz seines Auftretens in Rilkes lyrischen und außerlyrischen, aber als solche immer auf die Dichtung bezogenen Aussagen bereits als der erste Grund unserer These, dass hier eine Lyrik statt einer Philosophie, einer Erkenntnistheorie da sei.[14] (Hamburger 1966, 184)

Die Interaktion zwischen dem Dichter und dem Ding führt zur Transformation des Dings in den imaginären Raum der Dichtung. Das ist die Voraussetzung für den ›Weltinnenraum‹, in welchem jede Grenze aufgehoben ist, (Killy 1988, 9, 472; Wilpert 1988, 1272) wo das Innere und das Äußere in eine Einheit verschmelzen. Der »Weltinnenraum« ist nicht »der von den Menschen wahrgenommene Außenraum der Luft […] sondern der Raum, wie er der Kreatur zugänglich ist.« Der Mensch könnte diesen Raum nur wahrnehmen, der unbewusst im Innern des Menschen vorhanden ist, wenn er sein Selbstbewusstsein und seine Individualität verlieren könnte. »Diese Lehre vom Weltinnenraum ist eine metaphysische Lehre: sie übersteigt die empirische Feststellbarkeit.« (Fingerhut 1970, 68f.) Allemann (1961, 232) sieht schließlich das Gedicht selbst als den Ort, »an welchem Weltinnenraum sich verwirklicht, nämlich die Hebung der Schranken zwischen Innen und Außen«.

Paul de Man (1979, 35) liest das Gedicht Am Rande der Nacht (1, 156) als eine solche Version der Korrespondenz zwischen dem Inneren des Subjekts und der Außenwelt:

Meine Stube und diese Weite,

wach über nachtendem Land, –

ist Eines. Ich bin eine Saite,

über rauschende breite

Resonanzen gespannt. (1, 400f.)

Eben diese angebliche Fähigkeit der klassischen Metapher greift de Man (1979, 20–56) aber in seinem Essay über Rilke an, wenn man sie als einen Transfer von innen nach außen (oder umgekehrt) mit Hilfe einer analogischen Repräsentation versteht, der dann eine totalisierende Einheit enthüllt, die ursprünglich verborgen war, aber sofort enthüllt wird, wenn er in der figürlichen Sprache benannt wird. So sehr dieser Transfer durch die poetische Figur der Metapher von innen nach außen und umgekehrt zunächst einzuleuchten scheine, so wenig lasse er sich aufrechterhalten. Das wirft die Frage auf, inwiefern eine Metapher eine »Repräsentation« von etwas ist (aber von was und wodurch?), oder eine Analogie (zwischen was und was?).[15] Da es sich bei Rilke aber weder einfach um eine Repräsentation eines Außen durch ein Innen noch um eine Analogie zwischen den beiden Bereichen handelt, trifft ihn de Mans Kritik letztlich nicht.

Corngold (1982, 500f.) weist zudem darauf hin, dass die Metapher augenscheinlich eine Fähigkeit hat, die sie als sprachlicher »Fehler« eigentlich nicht haben dürfte. Auch Arndal (2007, 225) erinnert daran, dass die Vorstellung eines solchen »den Innenraum und den Weltraum verbindenden, und deshalb im wahrsten Sinne psycho-physischen Raumes […] die Grundlage von Rilkes Begriff des ›Weltinnenraums‹« bildet, und er verweist auf das Gedicht Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen, in dem es heißt:

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:

Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still

durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,

ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum. (2, 93)

Es handelt sich auch hier um nichts anderes als das Verhältnis von Ich und Welt, Bewusstsein und Sein, nun aber so, dass nicht, wie im Gedicht Ausgesetzt, ›reine Verweigerung‹ stattfindet, sondern diese überwunden wird,[16] dass ›Gleichgültiges an uns erwarmt‹, Dinge wie Haus, Wiesenhang, Abendlicht. Das sind die Außendinge, die als Beispiele aufgerufen sind, und es sind Dinge, die so beschaffen sind, dass sie leicht ›zu Fühlung winken‹ können, das heißt: unser Gemüt ansprechen, von uns geliebt werden, so dass die Empfindung entstehen kann, dass auch sie uns lieben: ›umarmend und umarmt‹. (Hamburger 1976, 90f.) Was in einem reinen Ideengedicht wie demjenigen Goethes begrifflich gesagt ist, konkretisiert sich bei einem Bilddichter wie Rilke zu eigentümlich bildhaften Figuren, die aber gerade deshalb geheimer, esoterischer, schwerer nachvollziehbar sind als das begrifflich Gesagte. Mattern (1996, 58) macht darauf aufmerksam, dass sich die Sinnstruktur der Symbole nicht aus der Reflexion heraushalten ließe, denn Symbole lassen sich nicht wie Allegorien in eine buchstäbliche Bedeutung übersetzen: »Die Doppeldeutigkeit kann deshalb nicht von der Interpretation aufgelöst werden, ohne daß auch ihr Sinn zerstört würde.«[17]

Der eine, durch alle Wesen reichende Weltinnenraum, das Einssein von Innen und Außen, Bewusstseinswelt und Außenwelt, wird in dieser Strophe durch zwei in gegensätzlicher Richtung verlaufende Vorgänge gleichsam in stellvertretenden Chiffren konkretisiert. ›Die Vögel fliegen still durch uns hindurch‹ – von außen ins Innen: der Vogelflug wird verinnerlicht. Der Gedanke erweitert sich bei Rilke zu einem Äußersten solcher Verschmelzung von Innen und Außen, zum Begriff Weltinnenraum, der die Grenze aufhebt zwischen Bewusstseinsinnen und Weltaußen. Und das bedeutet, dass alles Außen, von uns erlebt, Innen, Bewusstseinsinnen ist, dieses aber wiederum als Außen erlebt wird. (Hamburger 1976, 91) Deshalb hält auch Arndal fest, dass »dieser psycho-physische Raum weder mit einem subjektiven Innenraum noch mit dem objektiven Weltraum einfach gleichgesetzt werden darf«. Er verweist in diesem Zusammenhang auf »existentielle und religiöse Züge« und den Begriff des »Offenen« in der Achten Elegie. (Arndal 2007, 225) Ähnlich schreibt Riedel (2005, 67):

In der Achten Elegie entfaltet Rilke das Konzept des »Offenen« als einer visuellen Perspektive einerseits und einer Existenzweise andererseits, die sich unberührt von den Beschränkungen der gedeuteten, gegenständlichen Welt und ungetrübt von den Aporien des menschlichen Bewusstseins im »reinen Raum« entfalten kann. Rilke verdankt wesentliche Anregungen hierzu dem – dem Kreis der sogenannten ›Münchner Kosmiker‹ angehörenden – Philosophen Alfred Schuler, dessen Vortragsserie Die ewige Stadt er 1917/18 fast vollständig verfolgt hatte. […] Es wäre jedoch grundverkehrt, wenn man das Rilkesche Konzept des Offenen, wie es die Achte Elegie entwirft, ganz und gar auf Schulers Ideen zurückführen wollte.

Die unterschiedlichen Seinsweisen von Kreatur und Mensch basieren auf ihren diametral entgegengesetzten Blickrichtungen. Die Kreatur hat »mit allen Augen«, wie es in emphatischer Verstärkung der visuellen Sinneswahrnehmung heißt, das »Offene« im Blick. Die menschliche Blickrichtung dagegen erlaubt eine solche Sicht nach vorne auf das Offene nicht; als Ursache hierfür nennt die Elegie die (scheinbare) Umkehrung unserer Augen, die die Menschen in rückwärtiger Richtung ausschließlich »Gestaltung« sehen lässt. Sehen fungiert im Kontext der Achten Elegie als Daseinsmetapher, als synonymer Ausdruck für die verschiedenen ihr angesprochenen Existenzformen, die durch die Faktoren Blickrichtung (vorwärts, »rückwärts«) und Objekt des Sehens (»Offenes«, »Gestaltung«) genauer spezifiziert werden.[18] (Riedel 2005, 52)

Mit allen Augen sieht die Kreatur

das Offene. Nur unsre Augen sind

wie umgekehrt und ganz um sie gestellt

als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.

Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers

Antlitz allein; denn schon das frühe Kind

wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts

Gestaltung sehe, nicht das Offne, das

im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod. (1, 714)

Ganz ähnlich argumentiert Heidegger (1967, 215): »Die Sterblichen sind jene, die den Tod als Tod erfahren können. Das Tier vermag dies nicht. Das Tier kann aber auch nicht sprechen.« Heidegger postuliert ein »Wesensverhältnis zwischen Tod und Sprache«.[19] Auch Agamben (2007, 15), versteht den Tod nicht als den des Tieres, Tod ist kein bloßer biologischer Sachverhalt. Das nur lebende Tier stirbt nicht, sondern hört auf zu leben. Ob Rilke Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen kannte, ist nicht sicher, aber dort schreibt Nietzsche über die Seligkeit des weidenden Viehs:

Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Thier. Der Mensch fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte. (KSA 1.248)

Rilke schreibt entsprechend über den Tod und das Bewusstsein des Todes:

Ihn sehen wir allein; das freie Tier

hat seinen Untergang stets hinter sich

und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts

in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen. (1, 714)

In einem Brief an Lev Struve unterstreicht Rilke, dass mit dem »Offenen« »jene unbeschreiblich offene Freiheit [gemeint ist], die vielleicht nur in den ersten Liebesaugenblicken […] und in der Hingehobenheit zu Gott bei uns (höchst momentane) Äquivalente hat« (Fülleborn/Engel 1982f., Bd. I, 326). In den Sonetten an Orpheus schreibt er:

Wir, Gewaltsamen, wir währen länger.

Aber wann, in welchem aller Leben,

sind wir endlich offen und Empfänger? (1, 754)

Riedel (2005, 22) verweist auf die Bildstruktur des gegenseitigen Verdeckens und das Scheitern des Menschen in der die Achten Elegie (vgl. VIII, 1–42), einen dem kreatürlichen Tierblick entsprechenden freien und unverstellten Ausblick auf »das Offene« zu erlangen, um somit die Begrenzung des menschlichen Daseins zu überwinden. Allerdings ist uns das Bewusstsein des Tieres nicht zugänglich.

Heidegger versteht »Offenheit« als »Aletheia« – Unverborgenheit [Wahrheit] und interpretiert Rilkes Wort »Das Offene« daher in höchst problematischer Weise und ohne wirklichen Bezug zu einem bestimmten Text von Rilke, immer schon aus seinem philosophischen Vor-Urteil, so:

Was Rilke mit diesem Wort benennt, wird keineswegs durch die Offenheit im Sinne der Unverborgenheit des Seienden bestimmt, die das Seiende als ein solches anwesen läßt. Versuchte man das von Rilke gemeinte Offene im Sinne der Unverborgenheit und des Unverborgenen zu deuten, dann wäre zu sagen: Was Rilke als das Offene erfährt, ist gerade das Geschlossene, Ungelichtete, das im Schrankenlosen weiterzieht, so daß ihm weder etwas Ungewohntes, noch überhaupt etwas begegnen kann. Wo etwas begegnet, da ersteht eine Schranke. Wo Beschränkung ist, da wird das Beschränkte auf sich zurückgedrängt und so zu sich selbst umgebogen.[20] (Heidegger 2003, 284)

In der Spanischen Trilogie bittet der Dichter darum, dass er seine Dichtung »aus nichts als mir und dem, was ich nicht kenn« (SW 2, 44) schaffen könne. Allerdings kommt es vor, dass er diese Außenwelt nicht versteht: »Nicht gaben die nächsten / Dinge sich Müh, mir verständlich zu sein« (2, 74). Aber gerade dieser Gegensatz zwischen den einander entfremdeten Polen ist die Voraussetzung dafür, dass der »Weltinnenraum« entstehen kann. Das Schauen des Dichters macht es ihm möglich, das Äußere in das Innere der poetischen Imagination zu transformieren. (Vgl. Ryan 1973, 7f.)

In einem Brief an Nora Purtscher-Wydenbruck stellt Rilke der »Tiefendimension unseres Inneren« die »Geräumigkeit des Weltalls« gegenüber.[21] Dabei enthält das Denken Rilkes die auf persönliche Erfahrungen gestützte Vorstellung, dass Innenraum und Außenraum zusammenfallen können. In dem Gedicht »Der Tod« bezieht er sich auf ein Erlebnis in Toledo, wo »ein in gespanntem langsamen Bogen durch den Weltenraum fallender Stern zugleich (wie soll ich das sagen?) durch den Innenraum fiel,«[22] und in »Erlebnis II« erinnert er sich an eine Stunde auf Capri, »da ein Vogelruf draußen und in seinem Innern gleichzeitig da war« und »beides zu einem ununterbrochenen Raum zusammennahm« (KA 4, 668). (Arndal 2007, 224f.)

Aber auch wenn z. B. die Rosen »von Innenraum« überfließen, muss es »zu diesem Innen« immer »ein Außen« geben (Das Rosen-Innere, 1, 622f.). Dieses Innere steht im Gegensatz zu den Dingen, die nur eine Oberfläche haben, »nur diese Oberfläche, – sonst nichts«, wie es in dem Aufsatz zu Auguste Rodin heiß:

Wer aber diese Bedingungen aufmerksam bis an ihr Ende verfolgt, dem zeigt sich, daß sie nicht über die Oberfläche hinaus und nirgends in das Innere des Dinges hineingehn; daß alles, was man machen kann, ist: eine auf bestimmte Weise geschlossene, an keiner Stelle zufällige Oberfläche herzustellen, eine Oberfläche, die, wie diejenige der natürlichen Dinge, von der Atmosphäre umgeben, beschattet und beschienen ist, nur diese Oberfläche, – sonst nichts. Aus allen den großen anspruchsvollen und launenhaften Worten scheint die Kunst auf einmal ins Geringe und Nüchterne gestellt, ins Alltägliche, ins Handwerk. Denn was heißt das: eine Oberfläche machen? (5, 212)[23]

In diesem Aufsatz geht Rilke weiter und radikalisiert den Begriff der »Oberfläche«:

Aber lassen Sie uns einen Augenblick überlegen, ob nicht alles Oberfläche ist was wir vor uns haben und wahrnehmen und auslegen und deuten? Und was wir Geist und Seele und Liebe nennen: ist das nicht alles nur eine leise Veränderung auf der kleinen Oberfläche eines nahen Gesichts? (5, 212)[24]

Auch Wittgenstein (1982, 45) drückt einen ganz ähnlichen Gedanken aus: »Es drängt sich uns freilich ein Bild auf, das vom Unkörperlichen, was das Gesicht belebt (wie eine zitternde Luft), Man muß eigens daran denken, daß ein Gesicht mit seelenvollem Ausdruck gemalt werden kann, um zu glauben, daß bloße Farben und Formen allein so auf uns einwirken können.« Rilkes Faszination mit den dreidimensionalen Oberflächen von Rodins Skulpturen lässt ihn in seinem Rodin-Aufsatz die Welt als bloße Oberfläche sehen (vgl. Bridge 2004, 694):

[…] es gab einen Augenblick, da sie nichts waren als das Schürzen von Lippen, das Hochziehn von Augenbrauen, schattige Stellen auf Stirnen; und dieser Zug um den Mund, diese Linie über den Lidern, diese Dunkelheit auf einem Gesicht, – vielleicht waren sie genau so schon vorher da: als Zeichnung auf einem Tier, als Furche in einem Felsen, als Vertiefung auf einer Frucht […]

Es giebt nur eine einzige, tausendfältig bewegte und abgewandelte Oberfläche. In diesem Gedanken konnte man einen Moment die ganze Welt denken, und sie wurde einfach und als Aufgabe dem in die Hände gelegt, der diesen Gedanken dachte. (5, 213)

In den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge stellte Malte die Frage: »Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist?« Hier wird die Oberfläche und das Oberflächliche als etwas Negatives gesehen. Aber dann scheint ihm nicht das an-der-Oberfläche-bleiben das Schlimmste, sondern »daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht wie die Salonmöbel in den Sommerferien?« (6, 727) Dieser Überzug, der uns die Oberfläche der Realität verdeckt, ist so etwas wie die von Menschen verdinglichte, fertig »gedeutete Welt« (1. Elegie), die ein »Gegenübersein« (8. Elegie) verhindert. So könnte auch das »Gesicht aus Aussehen«, diese Oberfläche, die nichts ist als Aussehen, doch »immerhin etwas« sein, etwas Echtes, und nicht ein Überzug, eine Maske. Käte Hamburger (1966, 189) bringt in diesem Zusammenhang den Begriff des Phänomens ins Spiel: »Im allgemeinen Gebrauch dieses Begriffs [Phänomen] dominiert die Bedeutung objektiver, auf das apperzipierende Subjekt unbezüglicher Gegebenheit. Goethes Forderung: ›Man suche […] nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre‹ mag als Paradigma für die uns geläufige Redeweise stehen.«

Was es also zu erforschen gilt, ist diese Oberfläche:

Sie bestand aus unendlich vielen Begegnungen des Lichtes mit dem Dinge, und es zeigte sich, daß jede dieser Begegnungen anders war und jede merkwürdig. Je genauer er sich mit dieser Oberfläche beschäftigt, desto deutlicher wird ihm, dass es keine Stelle gab, auf der nicht etwas geschah. Es gab keine Leere. (5, 149)

Das bedeutet allerdings auch, dass es für den Künstler keine »Auswahl und Ablehnung« gibt. Er muss alles sehen. Malte erfährt: »Es war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt.« (6, 775) Zwar sagt Arndal (2007, 212):

Für Malte wie für Rilke bleibt das Hässliche hässlich. Es besteht in unvermeidlichen, sich aufdrängenden Sinneseindrücken von überwiegend visuellem Charakter, die einerseits die Welt der Normalität in Frage stellen, andererseits sich aber einer lebensphilosophischen Integrierung in eine monistische Wirklichkeitsauffassung vitalistischer Prägung, wie sie für Rilke charakteristisch war, zu widersetzen scheinen. Die Lösung besteht für Malte wie für Rilke in der Aneignung eines neuen Sehens.

Das genaue Hinschauen, lernt Malte, ist die Voraussetzung der Kunst, denn

vorstellen kann man sich nichts auf der Welt, nicht das Geringste. Es ist alles aus so viel einzigen Einzelheiten zusammengesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im Einbilden geht man über sie weg und merkt nicht, daß sie fehlen, schnell wie man ist. Die Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich ausführlich. (6, 854)

Auch Hans Blumenberg (2006, 179) argumentiert ähnlich gegen Baudelaires Behauptung, die Imagination habe die Welt geschaffen, man könne diese Behauptung getrost dahin umkehren, sie hätte sie nie zustande gebracht. Andererseits schreibt Rilke noch am 29.9.1907 an Clara: »Aber wie sehr man das alles schon vorher in sich hat, je mehr, je fester man über sich die Augen schließt, das hab ich wieder gefühlt, als ich die Corrida schrieb, die ich nie sah: wie wußte und sah ich alles!« (Br. ü. C. 18)

Was Rilke an Rodin und Cézanne vor allem faszinierte, war die Objektivität ihres Werks. Im Oktober 1907 begann er allerdings Cézannes Werk als ein bessere Verkörperung dieses Ideals zu sehen. Im Vergleich mit Cézanne schien ihm nun Rodins Werk noch zu sehr mit linguistischer Bedeutung geladen, während Cézanne die Trennung des Gesehenen von dem Gewussten weiter trieb als die Impressionisten. (Vgl. Bridge 2004, 683) Schon in seinem Vortrag über Moderne Lyrik von 1898 hatte Rilke »Schulgewohnheiten« und bloßes »Anempfinden« als unzureichend abgelehnt, weil sie ein »nahes und inniges Verhältnis zur Kunst« verhinderten (5, 361). An Stelle der Gewohnheiten des »wiedererkennenden Sehens« und der Assoziationen durch bereits gegebenes Wissen und begriffliche Kategorien verlangte Rilke das, was Max Imdahl »sehendes Sehen« genannt hat, eine Art des Sehens, das in seiner Objektivität von der Sprache entfernt ist.[25] (Vgl. auch Boehm 1995, 26f.) Cézannes Bilder sind für Rilke eine Zurückweisung jeder Form eines bewusst gemachten Symbolismus. (Vgl. Bridge 2004, 683) In einem Brief vom 21. Oktober 1907 schreibt er:

Ich wollte aber eigentlich noch von Cézanne sagen: daß es niemals noch so aufgezeigt worden ist, wie sehr das Malen unter den Farben vor sich geht, wie man sie ganz allein lassen muß, damit sie sich gegenseitig auseinandersetzen. Ihr Verkehr untereinander: das ist die ganze Malerei. Wer dazwischen spricht, wer anordnet, wer seine menschliche Überlegenheit, seinen Witz, seine Anwaltschaft, seine geistige Gelenkigkeit irgend mit agieren läßt, der stört und trübt schon ihre Handlung. Der Maler dürfte nicht zum Bewußtsein seiner Einsichten kommen (wie der Künstler überhaupt): ohne den Umweg durch seine Reflexion zu nehmen, müssen seine Fortschritte, ihm selber rätselhaft, so rasch in die Arbeit eintreten, daß er sie in dem Moment ihres Übertritts nicht zu erkennen vermag. (Br. ü. C. 55f.)

Vor allem in seinen Porträts findet Rilke Cézannes Verwendung der Farbe besonders eindrucksvoll. In einem Brief vom 18. Oktober 1907 schreibt er:

Es ist diese unbegrenzte, alle Einmischung in eine fremde Einheit ablehnende Sachlichkeit, die den Leuten die Porträts Cézannes so anstößig und komisch macht. Sie nehmen es hin, ohne sich klarzumachen, daß er Äpfel, Zwiebeln und Orangen mit der bloßen Farbe wiedergab (welche ihnen immer noch als ein untergeordnetes Mittel malerischer Ausübung erscheinen möchte), aber schon bei der Landschaft fehlt ihnen die Auslegung, das Urteil, die Überlegenheit, und gar, was das Bildnis betrifft, ist bis zu den Bourgeoisesten das Gerücht von geistiger Auffassung weitergegeben worden und mit so viel Erfolg, daß dergleichen sogar schon in photographischen Sonntagsaufnahmen von Verlobten und Familien zu bemerken ist. Und da scheint ihnen Cézanne natürlich ganz unzulänglich und gar nicht zu diskutieren. (Br. ü. C. 50)

Es ist gerade die Abwesenheit einer »geistigen Auffassung« in Cézannes Porträts und seine Behandlung der menschlichen Figur als rein visuelles Objekt, die sie für das damalige Publikum so schockierend machten, aber eben gerade deswegen faszinierend für Rilke. (Vgl. Bridge 2004, 685) Mathilde Vollmoellers verglich Cézanne mit einem Hund, wie Rilke in einem Brief vom 12. Oktober 1907 an Clara schrieb: »Wie ein Hund hat er davorgesessen und einfach geschaut, ohne alle Nervosität und Nebenabsicht.« (Br. ü. C. 38)

Entsprechend betont Rilke, dass Cézanne eine elementare, tierische, d. h. von Normen und Worten völlig befreite Form des Schauens erreicht hat, indem er in seiner Beschreibung von Cézannes Selbstporträt[26] den gleichzeitig gesteigerten und primitiven »Ausdruck unbeherrschten Staunens« hervorhebt, der durch »eine animalische Aufmerksamkeit« aufgewogen wird, »die in den, durch keinen Liderschlag unterbrochenen Augen eine ausdauernde, sachliche Wachheit unterhält« (KA 4, 632). (Arndal 2007, 220)

Die Begegnung mit Rodin und Cézanne überzeugt Rilke von der Fragwürdigkeit des »Subjektivismus«, den er noch in dem Vortrag Moderne Lyrik positiv beurteilte. In einem Brief vom 13. Oktober 1907 an Clara bekennt er: »aber damals [zur Zeit des Stundenbuchs] war mir die Natur noch ein allgemeiner Anlaß, eine Evokation, ein Instrument, in dessen Seiten sich meine Hände wiederfanden; ich saß noch nicht vor ihr; ich ließ mich hinreißen von der Seele, welche von ihr ausging« (Br. ü. C. 40). In dem Aufsatz Von der Landschaft (1902) ist schon eine andere Auffassung zu spüren, die dann in der Rodin-Monographie (1902–1907) weiter ausgeführt wird. Hier finden wir die »Vorstellung, daß in der Kunst die Natur nicht mehr als ›Vorwand‹ für menschliche Gefühle (5, 519), sondern um ihrer selbst willen, ›als eine große vorhandene Wirklichkeit‹ dargestellt werden sollte.« (5, 521) (Ryan 1972, 9) Aber schon in der Einleitung zu Worpswede beschreibt Rilke die Künstler als Menschen, »die die Natur nicht überreden können, an ihnen teilzunehmen«, und die daher ihre Aufgabe darin sehen, »die Natur zu erfassen, um sich selbst irgendwo in ihre großen Zusammenhänge einzufügen.« (5, 14) Gegen den Subjektivismus war festzuhalten: »Die natürliche Einstellung ist diejenige, in der ich die natürliche Welt, die ›objektive räumlich-zeitliche Wirklichkeit, der ich selbst zugehöre, […] als mein Gegenüber […] beständig vorhanden finde‹.« (Hamburger 1966, 187)

Diese Sachlichkeit findet Malte in Baudelaires »Une Charogne«: »Es war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt.«[27] Das sieht Malte als das Ziel seines Sehenlernens. Es fragt sich nur, wie diese Ganzheit des Seienden durch eine an Cézanne geschulte Vertiefung der Raumwahrnehmung erreicht werden kann. (Arndal 2007, 220)

Am Anfang eines Briefs vom 22. Oktober 1907 denkt Rilke über die Vorgänge beim Memorieren und Internalisieren eines Bildes und die Umsetzung des Erinnerten in Sprache nach:

Schon, obwohl ich so oft aufmerksam und unnachgiebig davorgestanden habe, wird in meiner Erinnerung der große Farbenzusammenhang der Frau im roten Fauteuil so wenig wiederholbar wie eine sehr vielstellige Zahl. Und doch hab ich sie mir eingeprägt, Ziffer für Ziffer. In meinem Gefühl ist das Bewußtsein ihres Vorhandenseins zu einer Erhöhung geworden, die ich noch im Schlafe fühle; mein Blut beschreibt sie in mir, aber das Sagen geht irgendwo draußen vorbei und wird nicht hereingerufen. (Br. ü. C. 58)

Rilke scheint hier zwischen zwei Arten des Gedächtnisses zu unterscheiden: eine absichtslose und unscharfe Internalisation des Bildes »in meinem Gefühl«, und einer bewussteren Internalisation, vergleichbar dem Memorieren einer großen Zahl[28]. (Vgl. Bridge 2004, 685f.)