Das Buch

Als ihr Mandant, der Opernsänger Ottfried Fürst, tot in seinem Bett gefunden wird, steht die Anwältin Dr. Sina Teufel vor einer neuen Herausforderung. Denn Fürst starb keines natürlichen Todes, zumal auch die wertvolle Cartier-Uhr des Sängers fehlt. Sina beginnt zu ermitteln. Was ist mit Leander, dem Sohn von Fürst, der offen nach dem Erbe giert? Und welche Rolle spielt das Tagebuch einer berühmten Sängerin, das erotische Verwicklungen enthüllt? Doch auch Lazlo, Sinas neuer Liebhaber, fordert ihre Aufmerksamkeit: Er will sie ganz für sich haben und drängt sie, zu ihm nach Berlin zu ziehen …

nun
sind die letzten
weg

nur
wir

nun
ist der letzte
weg

nur
ich

Ernst Jandl

Eins

Manche vergleichen das Alter mit einem Berg oder einem hohen Turm. Allein die schwindelerregende Besteigung ermögliche den lang ersehnten Weitblick. Blank und zugänglich liege schließlich, so behaupten sie, dein Leben vor dir, ausgebreitet wie eine sonnige Ebene, in der du nach Belieben umherspazieren und innehalten kannst, getrieben von der Sehnsucht nach dem Gestern und nach den geliebten Gefährten, die du auf der langen Reise verlassen hast oder verlieren mußtest. Eine selige Stimmung stelle sich dabei ein, weltentrückt und weltzugewandt zugleich, gepaart mit Weisheit, vor allem jedoch mit der inneren Gewißheit, den Weg alles Endlichen nicht umsonst gegangen zu sein.

Alles Quatsch! entgegne ich. Bloße Augenwischerei, ähnlich dem dümmlichen religiösen Getue, dem auch die letzten meines Jahrgangs unweigerlich zu verfallen scheinen. Zum Glück bin ich resistent dagegen geblieben, standhaft wie eh und je, Papas kleiner Soldat, wie er zu sagen pflegte, und ich habe nicht vor, dies zu ändern. Wem sollte ich auch noch etwas vormachen wollen, nach allem, was geschehen ist?

Wie die Liebe verändert auch der Tod alle Dinge. Wenn das Ende eines Lebens absehbar wird, bleibt nicht viel übrig, dem man noch Gewicht zumessen könnte. An schlechten Tagen – und es werden leider ständig mehr – erlebe ich das Alter als eine Art Schiffbruch. Müde fühle ich mich, ausgelaugt, bedauerlicherweise aber nicht erschöpft genug, um nicht noch immer in Rage darüber zu geraten, daß ich nie mehr jung sein werde. Schmerz meißelt die Zeit, sagt man. In Wirklichkeit wartet man lediglich darauf, daß die Gegenwart endlich aufhört. Und was die Erinnerung betrifft: Wie sollte auch nur eine halbwegs ehrliche Annäherung an so etwas wie Wahrheit herauskommen, wenn Geschichte, Erinnerung und Wunschvorstellungen ungehindert zusammenfließen?

Falls ein Bild jenen seltsamen Zustand beschreiben kann, in dem sich jeder Betagte befindet, der die Lebensrevision anstellt, dann ist es das Labyrinth, die unendliche Spirale: Wir entfernen uns von der Erkenntnis in dem Maße, indem wir wähnen, uns ihr zu nähern. Und das ist sicherlich auch gut so. Der Zauberteppich des Daseins wird ohnehin im geheimen gewirkt. Niemand kennt die Abfolge der Toten und der Lebenden. Kein Sterblicher weiß, wer als nächster mit dem Schmerz an der Reihe sein wird. Oder mit der Angst.

Was mich betrifft, so hatte ich reichlich Gelegenheit, eigene Erfahrungen mit all dem zu sammeln. Mich kann nichts mehr überraschen. Paradies und Höllenqualen, ein einziger Sommer war genug um mich in beidem bis zur Meisterschaft zu unterweisen.

Und ein einziger Mann – Jean.

»Du mußt dich mehr um die wirkliche Welt kümmern, Kleines«, sagte er immer wieder. Niemand in der Familie rief ihn bei seinem Taufnamen. Seitdem Maman im Hause Bonhoff lebte, war aus dem harten Wort Hans ganz selbstverständlich das weichere Jean geworden. »Jetzt, wo alles für dich erst richtig losgeht. Ich bin nur eine Chimäre, Rita, oder, wenn dir das besser gefällt, eine Art Fossil aus einer längst versunkenen Epoche.« Seine Stimme hatte eine Wärme, die mich noch sehnsuchtsvoller werden ließ. »Aber du, mein Mädchen, du bist von deinem Kopf bis zu deinen hübschen, beeindruckend schmutzigen Füßen ganz und gar lebendig!«

»›Die wirkliche Welt‹! Was soll das denn nun schon wieder heißen?« lautete meine empörte Antwort. Weshalb sagte er nur ständig solche Dinge, die mich wütend und traurig zugleich machten? Ich haßte es, wenn er so daherredete, als sei ich nichts als ein dummes, unwissendes Gör. »Du mußt verrückt geworden sein! Ich kenne niemanden und nichts, was realer sein könnte.« Anstatt zu antworten, schüttelte er nur den Kopf und ging mit hängenden Schultern zurück ins Haus. Natürlich verstand ich Jean nicht. Wie sollte ich auch? Damals glaubte ich noch, die ganze Welt liege vor mir und ihm, wartend, bereit nur für uns. Ein Rausch, ein Glanz, ein Glück, das ewig währen würde. Aber es sollte ganz anders kommen – für ihn, für mich, für uns alle.

Er schien dazu bestimmt, meine Träume zu zerstören, und er tat es lächelnd, auf eine unübertroffen charmant-grausame Weise. Er war es, der mich zeichnen sollte, und bis zum heutigen Tag trägt meine Seele die Narben von seiner Hand.

Er allein zählte für mich. Alles andere war plötzlich ohne Bedeutung.

Ich sehnte mich danach, in seinen Armen zu vergehen und jede Scham, alle Konventionen, jegliche Bedenken hinter mir zu lassen wie flüchtige Schatten der Nacht. Ich liebte ihn so, wie man nur als ganz junger Mensch lieben kann, unschuldig, gelehrig, offen für jede Nuance von Wunder oder Wahnsinn. Hungrig nach seiner Berührung, dürstend nach seiner Nähe.

Jean befahl. Mit Blicken, Worten, Briefen. Ich gehorchte, nein, ich parierte. Alles hätte ich für ihn getan.

War das Tyrannei? Ausbeutung? Männlich-überlegene Tücke? Wenn ja, dann wohl die süßeste Tyrannei, die köstlichste Ausbeutung, die anbetungsvollste Tücke, die ich mir je hätte vorstellen können.

Allein mit ihm in einem Raum zu sein ließ alle Zellen meines Körpers vibrieren. Seine Hände waren fest und heiß, als würden sie von einer unsichtbaren inneren Sonne gespeist. Ich lebte nur für den Moment, in dem ich sie endlich auf meinem Körper spüren würde. In diesem Punkt hat er mich nicht enttäuscht. Niemals mehr ist mir richtig warm geworden, nachdem ich ihn für immer verloren hatte, ihn, meinen einzig inniglich Geliebten.

Was bedeuten schon die vielen anderen, die ich ihm später nachfolgen ließ, mutwillig, eigensinnig, ja sogar selbstzerstörerisch, Männer und Frauen in bunter, wahlloser Aneinanderreihung, um mich abwechselnd an dem einen Geschlecht für die Vergehen des anderen zu rächen, als könne ich durch Quantität jemals wettmachen, was ich an Qualität in einem einzigen Augenblick wütender Eifersucht für alle Zeit verspielt hatte? Selbst die Bretter, die mir einmal die Welt waren, der Glanz der Tourneen, die vielen fremden Städte, das johlende, klatschende Publikum – nichts als Beiwerk, vergänglich, vergessen, längst verblaßt.

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Ich schweife ab, wieder einmal, und beginne, mich vor mir selber zu ekeln. Mein Bein tut plötzlich so weh, daß ich aufstehe und ein paar Schritte versuche. Einen Augenblick lang habe ich meine gewohnte Vorsicht vergessen, und gleich muß ich für meine Unachtsamkeit büßen. Der ovale Spiegel mit dem Goldrahmen, der früher über Mamans Frisierkommode hing, wirft ungerührt zurück, was ich am meisten verabscheue: den Anblick eines faltigen, weinerlichen Weibes, das von einem Thema unversehens ins andere verfällt.

Aber wen wundert es?

Mein Bett ist seit Jahren unberührt; die kurzen Schlafphasen, die ich mir gönne, sind zu knapp für Laken und Daunen. Ich döse auf dem Sofa, und kaum liege ich, dann suchen sie mich schon heim, die geliebten, die verhaßten Gespenster. Unverändert. Geradezu aufreizend jugendfrisch. Und so vollkommen! Sie sind all das, was wir Lebenden niemals zu erreichen vermögen. Ich habe trotzdem keine Angst vor ihnen, inzwischen nicht einmal mehr Scheu. Ich erwarte sie, festlich gerüstet. In meinem Zimmer brennen Kerzen, wenn die Dämmerung kommt, jene trügerische Stunde, in der wir Dinge sehen, die gar nicht da sind oder längst schon vergangen. Ich kann nicht sein ohne den Schein der Kerzen, nicht mehr, seitdem meine Liebe zu Jean zerbrochen ist wie eine Kristallkugel.

Das klingt beinahe tröstlich, aber es ist natürlich nur eine Seite der Medaille. Beinahe hätte ich den Verstand verloren, weil ich ständig an ein und dasselbe denken mußte. Mit der Lüge leben lernen, so sagt man landläufig. Aber in Wirklichkeit lebt man nicht mit ihr. Man lebt in ihr wie in einer tiefen, feuchten Höhle. Ich hatte mein Versprechen gebrochen, hatte ausgesprochen, was niemals hätte gesagt werden dürfen. Seitdem büße ich dafür. Und werde weiter dafür bezahlen bis zum allerletzten Atemzug.

Gott zählt die Tränen der Frauen, heißt es in der Kabbala. Sie weinen öfter, weil sie die Welt besser verstehen. Mein Gott freilich war schon lange abwesend, wenn er mir überhaupt jemals beigestanden hatte. Deshalb mußte ich über meine Feigheit und meinen Kleinmut weinen, bis ich keine Tränen mehr hatte. Umsonst. Vergebens. Denn am Boden meines Bewußtseins ruht bis zum heutigen Tag Schuld wie ein flacher Teich aus fauligem, dunklem Wasser.

Dabei liegt alles, was sich damals abgespielt hat, inzwischen mehr als sechzig Jahre zurück. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre es niemals geschehen oder wenn doch, dann wenigstens ganz anderen Menschen zugestoßen, nicht mir, nicht Amelie und Jean und Riri. Nicht Claire, geborene Dubois, der schönen Maman, die aus dem Elsaß stammte und stets die stolze Französin herauskehrte, weil sie unter all den Boches nie richtig heimisch werden konnte, nickt Friedrich Bonhoff, meinem herrischen Vater, der an einem lauen Sommerabend unseren Bobo, der ihm schon im Ersten Weltkrieg als Bursche gedient hatte, aus einer spontanen Laune heraus im ganzen Haus die Kugellampen abmontieren ließ, nur um mir, seinem Liebling, das Zusammenspiel von Sonne, Mond und Sternen droben am fernen Himmelszelt so realistisch wie möglich zu demonstrieren.

Keiner von ihnen ist mehr am Leben, und ich weiß, daß auch meine Tage gezählt sind. Vielleicht atme ich überhaupt nur noch, um mich zu erinnern. So verrückt es auch klingen mag: Ausgerechnet ich bin das Gedächtnis einer ausgelöschten Familie – und ein lausiges dazu. Denn was uns damals widerfahren ist, worin jeder auf ganz eigene Weise so unheilvoll verstrickt war, wird mehr und mehr zum verschwommenen Bild. Das Leben im Alter verstärkt diesen Traumzustand.

Was ist wahr? Was nur ersehnt, was phantasiert?

Immer schwerer fällt es mir, das eine vom anderen zu unterscheiden. Dazu kommt, daß mir Geschichten aus Büchern immer schon näher waren als die sogenannte Wirklichkeit. Bereits als kleines Kind, kaum mehr als eine Handvoll Jahre alt, entdeckte ich, daß Welt an Welt liegt und es nur auf das Zauberwort ankommt, um die verschlossenen Türen dazwischen zu öffnen. Damals glaubte ich noch an Einhörner, Nixen und grünschillernde Elfen, die sich von Tautropfen ernähren. Daß ich selber eines Tages zur Todesfee für meinen Liebsten werden würde, hätte ich niemals für möglich gehalten.

Ob ich neugierig war?

Welch törichte Frage! Es gab wohl kein neugierigeres Wesen unter der Sonne als mich.

Wenn ich es recht bedenke, so nahm womöglich darin alles Unheil seinen Anfang – in meiner unbändigen Wißbegierde und natürlich vor allem in meiner unseligen Angewohnheit, mich nächtelang zwischen vergilbten Seiten zu vergraben, wo ich mich in Welten verlor, für die ich weder das Verständnis, geschweige denn die Reife besaß.

Was wußte ich schon? Was hatte ich in meinem kurzen, behüteten Leben überhaupt gesehen?

Ich war so jung, so naiv, so unbedingt!

Und trotzdem war ich kein Kind mehr, das noch nach Großmamas unvergleichlichen Mehlspeisen gierte, als eine Kugel Jeans Schädel zerschmetterte. Und auch schon keines mehr, als er mich in die Scheune befahl und sich mit einem herrischen Nicken vergewisserte, daß ich nackt unter meinem Kleid war, wie er es in seinen hingeworfenen Zeilen gefordert hatte.

Ich schloß die Tür hinter mir, ein Moment, der mir so gegenwärtig ist, als wären nur Minuten vergangen und nicht Jahrzehnte. Drinnen war es dämmrig; Heuflusen tanzten in der aufgeheizten Luft. Der Körper als Erinnerungsgefäß. Gerüche und Düfte beschwören längst vergangene Empfindungen wieder herauf. Es roch nach frisch getrocknetem Gras. Nach Mann. Und nach unterdrückter Lust.

Ich schwitzte. Fühlte mich klebrig und erregt, war pure Unschuld und Femme fatale in einem. Begehren durchflutete mich, vermengt mit Verlegenheit und Angst, eine Mischung, dickflüssig wie heiße Lava.

Da bin ich, wollte ich sagen, in jenem frivolen Ton, den ich für unwiderstehlich hielt. Bobo hat sich hingelegt. Maman und Papa sind zusammen in die Stadt gefahren, und Riri ist mit Friedl beim Angeln unten am Weiher. Weit und breit also keiner, der uns stören könnte. Worauf wartest du noch, Jean? Jetzt kannst du endlich mit mir anstellen, was immer du magst.

Aber ihm so nah brachte ich keine Silbe heraus. Mein Herz hämmerte, und mir war, als stecke ein Klumpen Blei in meiner Kehle. Aus purer Verlegenheit begann ich zu lächeln, so breit und andauernd, daß mein Gesicht langsam ganz taub wurde. Ich konnte nur beten, daß irgendwann auch das kindische Rot auf meinen Wangen verschwinden würde.

Ihn schien es nicht zu stören. Ganz im Gegenteil. Er war schön, wie er da in seinem weißen Leinenanzug am Balken lehnte und mich ansah, ein strahlender, heller Held.

Dann machte er ein paar Schritte auf mich zu. Ich hatte Angst, ohnmächtig zu werden und wie ein Kleiderbündel zu seinen Füßen zusammenzusinken, aber ich hielt stand.

Für ihn war ich geboren. Für ihn allein.

Daran gab es keinen Zweifel. Jetzt erst recht nicht mehr. Denn schon in wenigen Augenblicken würde ich Jean ganz und für immer gehören.

Zwei

Er war fort. Sie hörte noch, wie das Taxi zügig anfuhr, das ihn zum Flughafen bringen sollte, damit er bloß nicht wie neulich die erste Maschine nach Berlin verpaßte und zu spät zu seinem Prozeß kam. Dann wurde es im Viertel wieder frühmorgendlich still. Sogar der sanfte Regen hatte ausgesetzt. Die Luft war noch immer feucht, roch schwach nach Flieder und frischem Grün, ein kleiner Vorgeschmack auf den Sommer, der nun hoffentlich beginnen würde. Wach, wie sie nun schon einmal war, hätte sie jetzt ebensogut aufstehen können, über den Dächern ein schmaler Streifen bonbonfarbener Himmel, ringsherum Antennengewirr und Schornsteinhälse, in der rostigen Regenrinne über der Terrasse wieder das dreiste Taubenpärchen, das sie mit seinem Dauergurren seit ein paar Wochen halb um den Verstand brachte. Aber sie tat es nicht.

Sina V. Teufel rollte sich auf die andere Seite des Bettes und drückte ihre Nase in das zerwühlte Laken. Ein unverwechselbarer Geruch entstieg ihm, eine Mischung aus frischem Schweiß, Männerhaut und dem biologischen Orangenshampoo, auf das er seit neuestem schwor, um sich mit der angeblich kahlen Stelle am Hinterkopf anzulegen, die niemand außer ihm bemerkte. Ihr Geliebter war alles andere als ein ordentlicher Schläfer. Nach jeder Nacht glichen Kissen und Daunendecke einem Schlachtfeld, als habe er in seinen Träumen fürchterliche Kämpfe durchzustehen. Laszlo lachte nur, wenn sie ihn danach ausfragen wollte, legte den Kopf ein wenig schief und ließ damit jedes neugierige Weiterbohren unweigerlich im Sand verlaufen.

»Irgendwie hat jeder einen Anspruch auf ein Stückchen Privatleben. Du hältst es doch kein bißchen anders damit, mein Herz. Oder habe ich da etwas Entscheidendes übersehen?«

Verdammt, sie vermißte ihn schon jetzt!

Sie konnte sich nicht satt sehen daran, wie er sich bewegte oder manchmal mitten im Satz innehielt, die Stirn in Falten legte und plötzlich wie ein verschrobener italienischer Privatgelehrter aussah. Sie liebte seinen Körper, der mit ihrem so überraschend harmonierte, daß sie manchmal am liebsten tagelang im Bett mit ihm geblieben wäre, seine Geradlinigkeit und seinen Gerechtigkeitssinn, vor allem aber seinen ungewöhnlichen Humor, in dem oft Melancholie mitschwang. Das Erbe seiner jüdischen Großmutter Fiona, wie er immer wieder sagte, und Segen und Fluch zugleich.

Schwer vorstellbar jedenfalls, wie sie die endlosen Tage bis zum nächsten Wiedersehen durchstehen sollte. Natürlich waren jene legendären ersten drei Monate schon längst vorüber, in denen jedes noch so banale Wort wie Musik klingt, jedes Schellen an der Wohnungstür etwas Gutes verheißen kann und selbst ein naßkalter Schauer nur eine Untermalung der romantischen Gefühle bedeutet. Außerdem waren sie ja beide keine Kinder mehr und benutzten souverän die Errungenschaften modernster Kommunikationstechnik; dementsprechend hatten allerdings ihre Telefonrechnungen astronomische Höhen erklommen. Aber was war schon eine körperlose Stimme, was selbst das liebevollste Fax gegen das schier überwältigende Gefühl von Haut an nackter Haut?

Diesmal hatte es sie ohne Vorwarnung erwischt, und was das Schönste oder Schlimmste daran war, es wurde mit jedem Tag immer noch stärker. Sie war nicht krank vor Liebe, aber eindeutig infiziert, seiner Wärme, seinem klugen Kopf und seinen grünen Augen derart verfallen, daß sich die Menschen aus ihrer engeren Umgebung längst ihre Gedanken darüber machten.

»Wurde ja langsam auch Zeit«, knurrte ihre Sozia Hanne Bromberger mit hörbarer Befriedigung, weil endlich mal nicht ihre wechselhafte Beziehung zu Bill im Kreuzfeuer stand, sondern Sinas Liebesleben. »Nun wird ja Schluß sein mit deinem merkwürdigen Glauben an die Allmacht des Willens, beinahe, als könntest du ihn trainieren und steuern wie einen beliebigen Körpermuskel. Daß du allerdings gleich so übertreiben mußt, Sina! Und es dann obendrein auch noch ein Kerl aus Berlin sein muß …« Ein inbrünstiger Seufzer, als habe sie ohnehin mit nichts anderem gerechnet. »Aber in deinem Männergeschmack warst du ja schon seit jeher mehr als eigen, wenn ich das mal so sagen darf!«

»Grünglück des Herzens«, spottete ihr langjähriger Seelenfreund Carlo van Rees in Anlehnung an Hildegard von Bingen. Carlo hatte Laszlo Schreck nach anfänglichen, inzwischen jedoch verflogenen Eifersuchtsanfällen als Gefährten an Sinas Seite akzeptiert. »Gefährlich, meine Schöne, äußerst riskant, das prophezeie ich dir! Willst du wissen, wie es weitergeht? Dazu brauche ich nicht mal Therapeutenlatein, da genügt schon meine ganz normale Lebenserfahrung. Eines nicht mehr allzufernen Tages eröffnest du uns, daß du nun leider deine Zelte in seiner unmittelbaren Nähe aufschlagen mußt. Und wir, deine armen verlassenen Freunde, können zusehen, wo wir ohne dich bleiben.«

Carlo ahnte mit Sicherheit nicht, wie richtig er mit seiner Vermutung lag. Noch keine vierundzwanzig Stunden war es her, daß Laszlo ihr eben diesen Vorschlag unterbreitet hatte.

»Du hast dieses ständige Hin und Her doch mindestens so statt wie ich, oder?«

Sie lag in seinem Arm, entspannt und glücklich nach dem Liebesakt. »Klar«, murmelte sie gegen sein Ohr, »irgendwie sind wir beide schon aus dem Alter raus, wo es spannend sein kann, das Wochenende tapfer im Trägerhemdchen durchzustehen, nur weil man zufällig vergessen hat, sich vor dem Besuch beim Liebsten noch rasch den Pulli fürs kühle Wetter einzupacken.«

Sein Gesicht war ganz dunkel geworden. Was, wie sie inzwischen gelernt hatte, nichts Gutes verhieß.

»Sarkasmus steht dir nicht, Sina. Schließlich rede ich von unserer gemeinsamen Zukunft.«

»Soll das vielleicht eine Art Antrag werden?«

Er stand auf, und da es plötzlich nicht mehr warm war an ihrer Seite, merkte sie sofort, daß sie sich nun erst recht im Ton vergriffen hatte. Ärger stieg in ihr auf, scharf und siedend, über sich selber und die Rauhbeinigkeit, die sie sich in langen Jahren Geschlechterkampf mühsam antrainiert hatte. Ihre gewohnte Taktik, befürchteten Angriffen vorbeugend mit hitzigen Attacken ihrerseits zu begegnen, hatte schon am Anfang bei Laszlo nicht funktioniert, der sie durch seine Direktheit sprach- und damit wehrlos machte. Ihr Geliebter war keiner, mit dem sie spielen konnte. Wahrscheinlich liebte sie ihn gerade deshalb. Denn die üblichen Spielchen zwischen Mann und Frau hatte sie seit langem gründlich satt. Aber selbst nach diesem herrlichen, diesem verrückten Jahr mit ihm war Vertrauen für Sina noch immer keine Selbstverständlichkeit, und sogar an das Glück mußte man sich, wie sie inzwischen gemerkt hatte, erst nach und nach gewöhnen. Alles nicht ganz einfach zu verstehen: Wenn das Leben endlich mal wunderbar war, warum mußte es dann gleichzeitig so schrecklich kompliziert sein?

Am liebsten wäre sie Laszlo sofort in die Küche gefolgt, um sich an seinen sehnigen Körper zu schmiegen und das Gesicht an seiner Schulter zu vergraben, aber irgendwie brachte sie es nicht über sich. Er kam jedoch zurück, beugte sich über sie und packte ihre Handgelenke, als befürchte er, sie würde davonrennen.

»Ich hab auch Angst davor«, sagte er leise, »denk dir bloß nichts! Schließlich bin ich ein alter Hagestolz, der viel zu gern viel zu lang allein gelebt hat. Aber mit dir, Sina, könnte ich mir durchaus vorstellen, daß wir beide …«

»Und ich erst, Laszlo«, sagte sie schnell, und während die erste Welle ungestümer Zärtlichkeit sie wärmte, küßte sie ihn, als könne sie mit ihren Lippen die Gedanken zurücknehmen, von denen er nichts zu wissen brauchte. Sein Gesicht berührte ihren Hals, als er sich langsam wieder löste. Sie konnte die Hitze spüren, die er in sich trug und die sie immer wieder aufs neue faszinierte. »Bitte entschuldige wegen eben! Du weißt doch: Manchmal ist meine Zunge einfach schneller als mein Kopf. Von meinem alten eingerosteten Herzen ganz zu schweigen.«

Sie lachten, fühlten sich wie Verbündete. Standen auf, duschten nacheinander, bereiteten bei bester Laune zusammen das Frühstück. Und tasteten sich bei Kaffee und Kräuterrührei gemeinsam an das Thema heran. Aber schon nach den ersten Sätzen tauchten Schwierigkeiten auf. Zwei ausgemachte Querköpfe mit spezieller Biographie, zwei komplett eingerichteten Wohnungen, zwei in langen Jahren gewachsenen Freundeskreisen, die unterschiedlicher kaum hätten sein können, zwei Kanzleien mit eigenem Mandantenstamm. Zwei vollkommen verschiedene Lebensräume – trotz beiderseitiger Verliebtheit. Wie konnte das einfach so zusammenwachsen?

Zumal das Wichtigste noch immer ungeklärt war. Sollte es nicht bei der Besuchssituation bleiben, mußte einer von ihnen den entscheidenden Schritt tun.

»Berlin ist einfach um vieles spannender«, behauptete Laszlo, während er den Toast sorgfältig röstete, und bewies damit ein weiteres Mal, daß er sich in heiklen Angelegenheiten gern auf sogenannte objektive Tatsachen berief. Das Wichtigste ließ er ungesagt. Fionas symbolisches Grab auf dem alten jüdischen Friedhof im Ostteil der Stadt, zu dem er immer ging, wenn er besonders schwierige Entscheidungen zu treffen hatte. »Diese Stadt ist eindeutig zu groß, um jemals richtig fertigzuwerden. Und gerade deshalb so lebendig. Das mußt du ohne Wenn und Aber zugeben!«

Sina schob den Teller beiseite und schielte unauffällig in Richtung Bauernschrank, wo sie ihre eisernen Zigarettenreserven deponiert hatte. Sie rauchte nicht mehr, schon seit ein paar Wochen nicht, und hatte das Ärgste inzwischen wohl überstanden. Körperlich zumindest. Psychisch dagegen war sie sehr viel weniger ausgeglichen. Es gab nächtliche Heißhungerattacken, die sie niemals zuvor gekannt hatte, krasse Stimmungsschwankungen, denen sie sich hilflos ausgeliefert fühlte, und ein schon beinahe absurdes Verlangen nach Nikotin, das sie zu den unpassendsten Zeiten und Anlässen überfiel. Manchmal war sie drauf und dran, den unerquicklichen Zustand einfach zu beenden, indem sie selbstverständlich wie bisher zur nächsten Zigarette griff. Wem wollte sie eigentlich mit ihrer Standhaftigkeit etwas beweisen? Laszlo? Den anderen, deren Lästern sie stets genervt hatte? Oder sich selber?

Schlimm genug, daß sie nicht einmal das genau sagen konnte.

»Tu ich doch«, erwiderte sie lächelnd. »Denk doch bloß nicht, daß ich allein deinetwegen immer wieder komme! Aber die Stadt ist auch riesig, abweisend und mancherorts geradezu angsteinflößend.«

»Ach, auf einmal das ›kalte Chicago‹ also, wie Brecht es genannt hat? Asphaltdschungel und so weiter?«

»Ganz genau. Und dabei hat er nicht einmal ahnen können, was heute alles dort abgeht. Euer neues Berlin Tag für Tag? Ich weiß nicht.«

»›Euer‹ Berlin, haste eben gesagt? Ick hab wohl janz plötzlich ’nen kleenen Mann im Ohr, wa? Sag nur, du fängst jetzt auf einmal an, dein Millionendorf zu verteidigen! Sonst bist du doch immer die erste, die die hiesige Provinzialität munter geißelt.«

»Mir steht das auch zu, aber keinem neunmalklugen Piefke, daß das schon mal klar ist! Und außerdem: Leben kann man hier doch wirklich prima. Hast du selber immer wieder betont.«

»Klar kann man. Aber willst du auf Dauer tatsächlich im Alpendunstkreis versauern, während in unserer nagelneuen Hauptstadt jetzt so richtig die Post abgeht? Das kann einfach nicht dein Ernst sein, Sina!«

Sie kamen nicht weiter, und irgendwie legte sich über ihren letzten gemeinsamen Tag ein Hauch von Bitterkeit. Sina wünschte sich insgeheim, sie hätten das komplizierte Thema gar nicht erst angeschnitten – noch nicht, jedenfalls –, und sie war beinahe sicher, daß Laszlo inzwischen ähnlich empfand. Aber nun war es zu spät. Keines der einmal gesagten Worte ließ sich wieder ungesprochen machen. Sie liebten sich heftig in dieser Nacht, wortlos, schnell und leidenschaftlich, als wollten ihre Körper das wieder wettmachen, was die Gespräche nicht vermocht hatten, und blieben dann lange stumm nebeneinander liegen, bis der Schlaf endlich kommen wollte.

Ein sanftes Plop auf dem Bett. Dieses seidenweiche Problem gab es schließlich auch noch! Taifun, wie sie ihn damals spontan genannt hatte, als der Bauer den fauchenden Winzling aus dem Silo gefischt hatte, bedeutete großer Wind, und den konnte ihr schwarzer Kater sehr wohl entfachen. Beim letzten Umzug hatte er sich wochenlang im Schrank versteckt, bis er endlich geneigt gewesen war, gnädigst mit der Inspektion des neuen Zuhauses zu beginnen. Nur ein Tier? So ein Unsinn konnte nur von Katzenignoranten stammen, die keine Ahnung vom Zusammenleben mit dieser speziellen Spezies hatten. Inzwischen gehörte Taifun so untrennbar zu ihr wie bestimmte Eigenheiten, die sie sich von keinem Menschen nehmen ließ – nicht einmal von Laszlo.

Sina streichelte des Katers knisterndes Fell, und er ließ es sich ekstatisch schnurrend nicht nehmen, seinen angestammten Platz in ihrer Armbeuge aufzusuchen, nachdem der menschliche Konkurrent um ihre Gunst endlich das Feld geräumt hatte. Sie schob ihn schließlich ein Stück zur Seite, streckte und dehnte sich und spürte, wie erschöpft sie war.

Es war nicht allein der gestrige Unfrieden und auch nicht die kurze Nacht, die ihr in den Gliedern steckten, es war vor allen Dingen das, was heute als erstes auf ihrem Programm stand. Dr. Sina V. Teufel haßte alles, was mit Begräbnissen zusammenhing. Besonders bei strahlendem Wetter. Und erst recht, wenn es um Menschen ging, an denen sie gehangen hatte.

Stell dich nicht so an! schalt sie sich selber, als sie endlich aus dem Bett fand, und sie ging hinüber ins Bad, wo sie eine heiße, ausgiebige Dusche genoß, um erst anschließend ihren Schwarzen zu füttern, der diese Zurücksetzung seiner Interessen bereits maunzend monierte. Schließlich ist es nur eine Urnenbeisetzung. Der Tod gehört zum Leben. Es sind nur wir Menschen, die ihn mit komischen Tabus belegen, weil wir schon lange verlernt haben, richtig mit ihm umzugehen. Außerdem bist du es deinem alten Mandanten Ottfried Fürst schuldig. Wo du doch schon bei der Trauerfeier vor ein paar Wochen wegen auswärtiger Berufsverpflichtungen passen mußtest. Oder willst du ihn etwa schutzlos seinem ungeratenen Sprößling ausliefern?

Der Badezimmerspiegel, vor den sie zum Schminken zurückkehrte, war noch immer leicht beschlagen und warf ihr Bild verschwommen zurück. Die zusätzlichen Pfunde, seitdem sie nicht mehr rauchte, ließen ihr Gesicht weicher und jünger aussehen. Also keine streunende neapolitanische Kanalkatze mehr, wie Carlo früher immer behauptet hatte, sondern eine, die bei allem Freiheitssinn nun wußte, zu wem sie gehörte. Sogar mit der markanten Nase war sie inzwischen ausgesöhnt. Die schwarzen Haare umschmeichelten das Kinn, waren frech geschnitten und fielen lockig. Was ihr allerdings weniger gefiel, war der müde Teint, dem eine gute Dosis dolce far niente nichts geschadet hätte, und selbst die tiefbraunen Mandelaugen hatten schon mal intensiver gefunkelt. Allerhöchste Zeit also, sich endlich intensiv mit der längst anstehenden Urlaubsplanung auseinanderzusetzen, auf die Laszlo schon seit längerem drängte, die sie jedoch bisher immer wieder aufgeschoben hatte. Sina, die sich einfach nicht von ihrem Schreibtisch und den Akten trennen konnte – ein gefährliches Terrain, wie sie aus Erfahrung wußte. Wenn sie nicht aufpaßte, würde sie womöglich wieder in das Fahrwasser gelangen, das sich bei früheren Beziehungen als trübe und unerfreulich erwiesen hatte. Aber dieses Mal war sie entschlossen, es nicht soweit kommen zu lassen. Dazu stand zuviel auf dem Spiel.

Wie immer flüchtig abgetrocknet und eingecremt, braute sie sich die üblichen zwei Tassen Milchkaffee, die sie beim Überfliegen der Zeitung genüßlich trank, und las sich dabei an einem Artikel über einen alten Barpianisten fest, der das Leben sehr scharfsinnig mit einem Piano und all seinen schwarzen und weißen Tasten verglich. Irgendwann ließ sie das Schlagen der nahen Kirchturmuhr aufschrecken.

Sie mußte nicht lange auswählen. Das schiefergraue Leinenkleid war so ziemlich das einzige Stück aus ihrer sommerlichen Garderobe, das ihr passend für solche Anlässe erschien. Wenigstens war es inzwischen warm genug, um endlich auf die lästigen Strumpfhosen verzichten zu können. Sie griff nach Blazer, Aktentasche und den eleganten weinroten, noch nicht ganz eingelaufenen Pumps, die ihr Laszlo erst vor ein paar Wochen aus Verona mitgebracht hatte. Lange würden sie ohnehin nicht an ihren Füßen bleiben. Sina liebte es, barfuß Auto zu fahren, seit jeher. Gashebel und Kupplung unmittelbar unter den nackten Sohlen zu spüren, hatte sie schon in ihrer ersten uralten Ente entzückt, der man immer gut zureden mußte, damit sie sich überhaupt bewegte. Damals wie heute gaben ihr die bloßen Füße ein Gefühl der Freiheit, wenn auch irrational, was sie genau wußte, aber dennoch prickelnd. Für halbwegs seriöses Schuhwerk war dann jeweils am Ziel noch immer Zeit genug. Meistens jedenfalls.

Wenn sie jetzt allerdings nicht wirklich schnell machte, würde sie tatsächlich zu spät kommen. Was »Fürst Ottl«, wie seine zahlreichen Freunde und Bewunderer den berühmten Kammersänger seit Jahrzehnten liebevoll nannten, nicht verdient hatte.

Und seine verstorbene Lotte erst recht nicht.

Drei

Das Familiengrab der Fürsts lag im Waldfriedhof, der ausgedehnten Begräbnisstätte im Westen Münchens. Sina hatte sich für die gängige Route über die Fürstenriederstraße entschieden, was sich allerdings bald als Fehler herausstellte. An diesem milden Montagmorgen schien die halbe Stadt unterwegs zu sein; nur noch Schrittempo, sonst ging gar nichts mehr. Eingeklemmt im Berufsverkehr, umringt von mißmutigen Gesichtern, die offenbar nicht einmal der strahlende Sonnenschein aufzuheitern vermochte, tat es ihr beinahe leid, daß sie den alten Kammersänger nicht doch dazu ermutigt hatte, eine Grabstelle auf dem kleinen, exklusiven Bogenhausener Friedhof zu beanspruchen. Lotte Fürst hätte sicherlich ihren Spaß daran gehabt, zwischen berühmten Dichtern, Musikern und Schauspielern zu liegen, von denen so mancher zu Lebzeiten so erfrischend renitent gewesen war wie sie.

Eine Gabe, die ihrem Ottl seit jeher gefehlt hatte.

Sie war die treibende Kraft in dieser Ehe gewesen, eine intelligente, mutige Frau, die die eigene Karriere als Schauspielerin hintangestellt hatte, um in den Nachkriegsjahren beherzt die des jungen, vielversprechenden Bassisten in ihre Hände zu nehmen und über Jahrzehnte zu betreuen. Flexibel, nüchtern und realitätsnah, wie sie war, besaß sie wenig Geduld mit Menschen, die sich bemitleideten, mit der Gegenwart haderten oder gar ihre Vergangenheit vergoldeten. Hinter ihrer äußerlich so ebenmäßigen Fassade, die viele zur Bewunderung hinriß, verbarg sich ein eigenwilliger Geist, der nichts von Konventionen hielt, was in manchen Gesten unwillkürlich zum Ausdruck kam: einem Schulterzucken, wenn sie sich langweilte, was schnell der Fall sein konnte, einem Augenrollen oder verächtlichen Blick, wenn sie etwas mitanhören mußte, was ihr mißfiel. Nicht einmal die zunehmende Erblindung hatte lange Zeit ihr Interesse an der Musik, ihre Klugheit in künstlerischen Entscheidungen beeinträchtigen können.

»Immer nur gucken ist doch wirklich auch nicht alles«, sagte sie einmal zu Sina, als sie kaum noch ohne fremde Hilfe zurechtkommen konnte, weil das unheilbare Rheuma inzwischen jede Bewegung zur Qual machte. »Glauben Sie mir, Frau Teufel, wie sich die Leute auf ihre Augen konzentrieren, ist in Wirklichkeit beinahe so etwas wie eine Behinderung, verstehen Sie?«

Sina nickte und versuchte, sie sich als junge Frau vorzustellen. Lotte Fürst war selbst im Alter noch immer schön, mit silbernem Haar und blasser, reiner Haut, einem Fächer feiner Fältchen um die fast nutzlos gewordenen Augen, der wie zarte Narben vom Lachen und Weinen aussah, einem vollen, großzügig geschwungenen Mund, der nichts Verbittertes oder Verkniffenes hatte. Nur ihre schmale, beinahe aristokratisch anmutende Nase war aufgeschürft, weil sie nachts nicht zum erstenmal aus dem Bett gefallen war.

»Dabei gibt es doch noch so viele andere Sinne: fühlen, tasten, riechen – und natürlich hören! Vielleicht muß man sogar erst sein Augenlicht verlieren, damit man richtig zu hören lernt. Das, was wir Schicksal nennen, weil uns nichts Besseres dazu einfällt, denkt sich manchmal solche Lektionen für uns aus. Damit wir das Dankbarsein nicht vollständig vergessen. Denn ohne Musik wäre das ganze Leben ein einziger Irrtum.«

Unwillkürlich mußte Sina an diese Szene denken, als sie die Aussegnungshalle betrat. Fürst war schon da und blinzelte ihr kurzsichtig entgegen. Einst ein Hüne von barocken Ausmaßen, hatte er seit seinem Herzinfarkt zunächst mühsam abgenommen und war dann während der langen Krankheit seiner Frau immer gebeugter geworden, gleichsam auf seltsame Weise in seinen Kleidern geschrumpft Kartoffelbrei aus der Tüte war offenbar über Wochen seine hauptsächliche Nahrung gewesen, während er am Bett seiner Frau ausharrte und darauf wartete, daß sie sich wie durch ein Wunder wieder in die Lotte zurückverwandeln würde, die er einmal geliebt hatte. Heute kam er ihr wieder stattlicher vor, vielleicht, weil er inzwischen zu anderen Speisen zurückgefunden hatte. Vielleicht aber auch, weil er sorgfältig rasiert war, sich aufrecht hielt, einen gestärkten weißen Kragen trug und einen eleganten schwarzen Hut.

»Es ist viel geschehen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, Herr Kammersänger«, begrüßte ihn Sina, die wußte, wie viel ihm der Titel bedeutete, den ihm das bayerische Kultusministerium viel zu spät verliehen hatte. »Sie wissen ja, wie gern ich Ihre Frau gehabt habe. Ich bin sehr froh, daß ich wenigstens heute hier bei Ihnen sein kann.«

»Zu viel«, murmelte er und drückte ihr fest die Hand. In seinem weiten dunklen Lodenmantel erinnerte er sie vage an einen österreichischen Baron, und tatsächlich waren es ja die adeligen Operettenrollen gewesen, mit denen er in seinen späten Berufsjahren auf der Bühne und vor den Fernsehkameras brilliert hatte. »Es ist so seltsam ohne sie. Zu jeder einzelnen Stunde des Tages. Und besonders nachts, wenn alles so still ist.« Er hielt inne. »Meinen Sie, sie kann uns hören?«

»Gut möglich«, sagte Sina sanft. Es war schwierig, sich gegen die Schwermut des alten Sängers zu wehren. Sie suchte nach den richtigen Worten, die ihm ein wenig Trost geben konnten. »Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher. Soweit man sich in diesen letzten Dingen überhaupt jemals sicher sein kann. Andere Kulturen, andere Sitten! Ich habe mir schon mehr als einmal gedacht, daß sie irgendwie besser damit zurechtkommen als wir in unserem hochgeschätzten Abendland. ›No beginning, no end. ‹ Schön, nicht? Das hat vor vielen Jahren einmal eine alte buddhistische Nonne auf Bali zu mir gesagt. Dort ist die Leichenverbrennung das höchste aller Feste, auf das das ganze Dorf hinfiebert, bis endlich genug Geld zusammen ist, um es nach überlieferter Tradition zu zelebrieren. ›Hört endlich auf zu weinen! Es gibt keinen Anfang, kein Ende. Nur eure Illusionen. Nichts ist jemals fertig. Vor jedem Beginn liegt ein weiterer, auf jedes Ende folgt ein neues.‹«

»Kann schon sein, daß sie recht haben«, murmelte Fürst »Aber ich bin zu traurig und zu müde, um das rauszufinden.«

»Frau Doktor Teufel?«

Sie nickte und wußte im gleichen Moment, wen sie vor sich hatte – den Sohn. Ein glatter Seehundkopf mit hellbraunem, zurückgekämmtem Haar, fahler Gesichtshaut, schmalen, wachsamen Augen. Geplatzte Äderchen und eine knollige, unnatürlich gerötete Nase verrieten seine Neigung zu Hochprozentigem.

»Sie müssen Leander Fürst sein«, erwiderte sie nicht übermäßig freundlich.

Der Mann war, wie sie wußte, etwas über vierzig, hätte jedoch für gut zehn Jahre älter durchgehen können. Ähnlichkeit mit seinen Eltern konnte sie nicht entdecken, zumindest nicht auf den ersten Blick. Ihm fehlte sowohl die Grazie der Mutter als auch die väterliche Kraft und Robustheit; er hatte magere Glieder, die von einer unsichtbaren Last schon müde geworden waren, und einen spitzen Trinkerbauch, hielt sich schlecht und zog ständig den Kopf ein, als fürchte er Schläge oder Zurückweisungen.