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Das Buch

Leni wird nach 30 Ehejahren von Thomas betrogen. Arthur kommt mit dem Witwerdasein nicht klar. Barbara wird aus ihrer Wohnung gemobbt. Aus der Not entsteht eine Rentner-WG. Der Skandal der Nachbarschaft.

Doch der kleinen Gemeinschaft droht Gefahr: Der skrupellose Bauunternehmer Köhler will in Frankfurt-Niederrad den ganzen Häuserblock abreißen und ein Einkaufszentrum bauen. Die Rentner-WG macht Front gegen ihn: So nicht, Herr Investor! Leni geht an die Öffentlichkeit, ein gefundenes Fressen für die Presse. Wird es den rebellischen Senioren gelingen, dem eiskalten Herrn Köhler Paroli zu bieten?

Die Autorin

Schreiben, Golfspielen, Reisen – die großen Leidenschaften von Rotraut „Trudy“ Mielke. Sie wurde 1954 in Frankfurt geboren, lebt in der Wetterau und arbeitete nach ihrem Lehramtsstudium an der Goethe-Uni hauptsächlich in der Touristikbranche. Über Kurzgeschichten und einem Reiseführer kam sie zum Roman- und Drehbuchschreiben. Humor und feine Ironie zeichnen ihre Texte aus. Eines ihrer bevorzugten Themen: ‚Best Ager‘, schließlich ist sie altersmäßig „vom Fach“. Veröffentlichungen: 2009 ‚Der Ull‘ (Selbstverlag), 2010 ‚Warten in grau‘ (Siegerin Kurzgeschichten-Wettbewerb des 14Magazins), 2012 ‚Campmobil-Guide West-Kanada‘ (Co-Autorin, Vista Point Verlag), 2012 ‚Das World Wide Web‘ Anthologie Grimms Märchen Update 1.2

Rotraut Mielke

Rentner-WG

Ein Best-Ager-Roman aus Frankfurt

ISBN 978-3-944124-15-5

Copyright © 2012 mainbook Verlag, Gerd Fischer
Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Renate Casey
Layout: Anne Fuß
Bildrechte: © Steinkopie - Fotolia.com (bearbeitet)
© hs-creator - Fotolia.com
© FOTO-JHB - Fotolia.com

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Alle Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen wären rein zufällig

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Kapitel 1

Die Bruchfeldstraße war mal wieder ein einziges Chaos. Autos, Busse und die Straßenbahn drängelten sich durch die lebhafte, aber ziemlich enge Einkaufsstraße in Niederrad. Sogar der Behindertenparkplatz vor dem Drogeriemarkt, auf den sich Leni manchmal mit schlechtem Gewissen stellte, war heute belegt. Endlich erspähte sie eine Lücke und nahm erleichtert das Gas weg. Da schoss aus heiterem Himmel ein Lieferwagen quer über die Fahrbahn, schnitt ihr den Weg ab und schob sich auf den freien Platz. Wie empört kreischten die Bremsen, und der Sicherheitsgurt drückte schmerzhaft in Lenis Brustkorb, als das Auto mit einem Ruck zum Stehen kam. Puh, das war gerade noch mal gut gegangen. Aber die Erleichterung dauerte nur kurz, dann sah sie Rot. So eine Unverfrorenheit! Seit einer Ewigkeit kurvte sie hier schon herum. Und nun das. Sie ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter.

„Sind Sie noch ganz bei Trost? Das ist ja wohl das Letzte“, schimpfte sie. Der Fahrer, ein stämmiger Mittvierziger, grinste von seinem erhöhten Sitz zu ihr hinunter.

„Pech gehabt! Ich hab’s eilig. Bin sofort wieder weg.“

„Ich war aber vor Ihnen da.“

Er stellte ungerührt den Motor ab und sprang aus dem Wagen.

„Heul doch!“

Erst als die Beifahrerscheibe wieder nach oben geglitten war, erlaubte sich Leni einen Wutschrei. Ohne Vorwarnung stieg eine Hitzewelle in ihr hoch. Ihre weiße Bluse war sofort nassgeschwitzt. Entsetzt stellte sie fest, dass der dünne Stoff ziemlich durchsichtig wurde.

„Nicht schon wieder!“

Sie stellte den Motor ab. Nur die Ruhe. Erfahrungsgemäß dauerte es ein paar Minuten, bis ihr Körper wieder im Normalmodus lief. Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Handy. Eine sympathische Frauenstimme meldete sich.

„Sparkasse Mainpower, Büro von Herrn Brandner.“

„Hier auch Brandner. Ach Glöckchen, du weißt gar nicht, wie gut du es hast.“

„Hallo Leni! Du hörst dich so aufgelöst an. Was ist los?“

„Das Übliche. Hitzewallung.“

„Aha, Alters-Tsunami. Damit kenn ich mich aus. Ohne was zum Umziehen gehe ich gar nicht mehr aus dem Haus.“

„Und außerdem hat mir die rasende Mafia die Parklücke geklaut. So ein blöder Kurierfahrer.“

Die Frauenstimme lachte.

„Leg dich ja nicht mit denen an. Da hast du keine Chance.“

Leni musste mitlachen. Mit Glöckchen zu reden tat immer gut.

„Ist Thomas da? Nur ganz kurz.“

„Der telefoniert gerade. Kann ich was ausrichten?“

„Nein. Oder vielleicht doch.“

Sie hasste es, die ehemalige Kollegin mit privaten Dingen zu belästigen. Aber heute ging irgendwie alles drunter und drüber.

„Könntest du ihn bitte daran erinnern, dass er eine Flasche Schampus mitbringt? Du weißt schon, aus diesem tollen Laden in der Kaiserstraße. Ich hab’s ihm heute Morgen gesagt, aber er hat es bestimmt schon wieder vergessen.“

„Klar, mach ich. Euer Hochzeitstag, richtig?“

Als erstklassige Sekretärin war Elvira Glock über die privaten Termine ihres Chefs im Bilde.

„Hat er dich etwa wieder los geschickt?“, fragte Leni.

„Kein Kommentar. Mach dir einen schönen Tag. Ich sorge dafür, dass dein Mann pünktlich nach Hause kommt.“

Leni seufzte. Es war ihr völlig klar, dass Thomas ohne Frau Glock nie an Geburtstage oder gar ihren Hochzeitstag denken würde. Glöckchen hatte einen erstklassigen Geschmack bei der Zusammenstellung wundervoller Blumensträuße, die Thomas dann zu Hause stolz präsentierte. Vielleicht musste man es ihm nachsehen. Als Filialleiter hatte er viel um die Ohren.

„Wird’s denn heute noch was?“

Das unrasierte Gesicht des Kurierfahrers tauchte neben ihrem Fenster auf und jagte ihr einen Schreck ein.

„Die Parklücke gehört ganz Ihnen. Sie müssen mich nur raus lassen. Noch vor Weihnachten, wenn’s geht.“

Sein Blick wanderte zu ihrem Ausschnitt.

„Ganz schön heiß übrigens, dieser Wet Look!“

Mit zusammengebissenen Zähnen startete Leni den Motor und gab Gas. Der Mann sprang eilends zur Seite, um seine Füße in Sicherheit zu bringen. Fast hätte sie das Auto übersehen, das hinter ihr ausscherte. Sofort trat sie wieder auf die Bremse.

„Pass doch uff, du aal Schnärsch“, hörte sie jemand schreien. Und dann würgte sie auch noch den Motor ab.

Bepackt mit Tüten und Taschen bog Leni gegen Mittag in die Goethestraße ein. Als Belohnung für diesen schrecklichen Morgen gönnte sie sich einen Besuch bei Pia. Die Freundin hatte eine edle, kleine Boutique in der Innenstadt. Und eine erstklassige Espressomaschine. Pia rauschte sofort auf sie zu.

„Hallo, meine Süße! Schön, dass du mal wieder vorbei kommst“, begrüßte sie Leni.

„Du siehst ein bisschen abgekämpft aus. Aber das kriegen wir wieder hin. Espresso?“

Leni nickte dankbar und ließ sich auf einen seidenbezogenen Hocker plumpsen. Mit ihrem tadellos manikürten Fingernagel drückte Pia auf einen Knopf an der chromglänzenden Maschine.

„Hier, schau mal. Hab ich gerade reinbekommen. Da könnte was für dich dabei sein.“

Sie zeigte auf einen Ständer mit Sommerkleidern. Leni stellte sich wieder auf ihre schmerzenden Füße und inspizierte die Sachen. Ein Modell in Brauntönen sah viel versprechend aus.

„Wir haben heute Hochzeitstag. Da könnte ich mir eigentlich was Neues gönnen. Der Ausschnitt ist allerdings ein bisschen tief.“

Leni ließ den Stoff durch die Finger gleiten.

„Das kannst du gut tragen. Du bist doch noch nicht scheintot. Probier’s einfach mal an.“

Pia schob die Freundin in die Umkleidekabine und griff nach zwei Espressotassen.

„Du hast es wirklich gut“, seufzte sie. „Ich hätte auch gern jemand, der mich verwöhnt.“

„Na ja, Thomas ist schon ein Glücksfall“, bestätigte Leni nicht ohne Stolz.

„Aber so einfach ist es nun auch wieder nicht mit ihm. Manchmal komme ich mir vor wie weggesperrt. Er will ja absolut nicht, dass ich arbeiten gehe. Nicht mal jetzt, wo Moni flügge ist. Es hat mir damals leid getan um meinen guten Job bei der Sparkasse.“

„Sei froh! Alles wird immer hektischer, da kriegt man richtig Drehschwindel. Ich würde gerne mal die Füße hoch legen und nur überlegen müssen, was es zum Abendessen gibt.“

Leni runzelte die Stirn. Das hörte sich irgendwie nicht sehr prickelnd an. War das alles, worum sich ihr Leben drehte? Sie schob den Vorhang zur Seite.

„Hab ich’s doch gesagt. Das steht dir wirklich gut“, flötete Pia.

„Meinst du wirklich?“

Zweifelnd drehte sich Leni vor dem Spiegel hin und her.

„Ausgesprochen sexy!“

Das würde Thomas bestimmt gefallen. Sie selbst kam sich ein bisschen wie verkleidet vor.

„Du kriegst auch einen Freundschaftspreis.“

Bepackt mit einer weiteren Tüte machte sich Leni wenig später auf den Heimweg.

Leise klangen die ersten Töne von ‚Clair de Lune’ durch das Zimmer. Lenis Finger huschten über die Tasten ihres geliebten Klaviers. Debussy hatte es wirklich in sich. Als sie an einer besonders komplizierten Stelle nicht weiter kam, wechselte sie mit einem Schulterzucken zu ‚Summertime’. Das war leichter zu spielen. Leise sang sie die Melodie mit. „Summertime, and the living is easy.“

Ein Summton aus dem Keller verkündete, dass die Waschmaschine ihr Programm beendet hatte. Leni klappte den Klavierdeckel zu und stand auf, um die Wäsche zu holen. Im Vorbeigehen stellte sie das Radio an und pfiff den Schlager mit.

Ächzend stapfte sie wenig später mit einem schweren Korb die Kellertreppe hoch. Die Plastikschlappen an ihren Füßen knallten bei jedem Schritt, als wäre sie mit Schwimmflossen unterwegs. Gut, dass Thomas das nicht hörte. Er liebte es, wenn sie sich elegant und ein bisschen verrucht zurecht machte. Aber sie fand sich nicht besonders sexy. Mit dir kann man Pferde stehlen, sagte Thomas manchmal. Das bedeutete ihr viel mehr als ein paar leidenschaftliche Stunden.

Auf der Terrasse war es heiß. Schon nach den ersten Wäschestücken, die sie akkurat auf den Ständer hängte, wischte sie sich die Schweißtropfen vom Gesicht. Ihre kurzen, braunen Haare klebten am Kopf.

Voller Stolz betrachtete sie ihren Garten. Er war wie eine Oase der Ruhe in der quirligen Großstadt. Und wenn sie mit beiden Händen in der Erde wühlen konnte, war sie glücklich. Seit Monika nicht mehr zu Hause wohnte, hatte sie noch mehr Zeit dafür. Thomas machte sich manchmal darüber lustig, aber das war ihr egal.

Sie blinzelte in den Sommerhimmel. Vom Taunus zogen ein paar Wolkentürme heran. Aber das Wetter würde bestimmt halten. Ein romantischer Abend auf der Terrasse mit schönem Essen, Wein und leiser Musik, sie freute sich sehr darauf.

Es gab noch einiges zu tun, aber wie immer hatte sie alles im Griff. Sie langte nach dem nächsten Teil. Es war ein weißes Hemd, das sie erst vor kurzem für Thomas gekauft hatte. Sie strich die Säume glatt und angelte nach zwei Wäscheklammern. Da sah sie den Fleck. Rot. Verschmiert. Sie zog den nassen Stoff auseinander und untersuchte ihn genauer. Es waren sogar zwei Flecken, vorne an der Knopfleiste. Eindeutig Lippenstift.

Im ersten Schreck ließ sie das Hemd fallen. Als kleines Häufchen sackte es auf dem Holzboden zusammen. Sie bückte sich langsam und hob es auf. Die Flecken starrten sie böse an. Herzlichen Glückwunsch zum Hochzeitstag! Ein Witz, so etwas passierte doch nicht in echt.

Energisch schlug sie das Hemd durch die Luft und hängte es auf die Leine. Nächstes Stück, Wäscheklammern, festmachen, immer weiter, so lange, bis der Korb leer war. Ihre Gedanken rasten, während die Hände mechanisch die Arbeit verrichteten.

War Thomas in letzter Zeit häufiger unterwegs als sonst? Benahm er sich anders? Ihr fiel nichts ein. Die normalen Überstunden, manchmal ein Abend, den er mit Kunden verbrachte, alles wie immer.

Auf dem Küchentisch häuften sich die nass geheulten Taschentücher. War sie so blind gewesen? Die flüchtigen Küsse beim Weggehen und Heimkommen, vieles war Routine geworden zwischen ihnen. Wir sind uns gegenseitig so bequem wie ein Paar ausgeleierte Hausschuhe, dachte sie. Aber das war doch normal!

Das fröhliche Radiogedudel ging ihr auf die Nerven. Gereizt schlug sie auf den AusKnopf. Es war sowieso höchste Zeit, mit dem Kochen anzufangen. An Tagen wie heute gab es immer sein Lieblingsessen, eine Art Naturgesetz. Als sie im Küchenschrank nach dem Senf suchte, fiel ihr das getrocknete Chili in die Hand. Thomas mochte nichts Scharfes. Mechanisch holte sie die Rouladen aus dem Kühlschrank.

Die Schwüle nahm zu. Mittlerweile sammelten sich am Himmel trügerisch schöne Wolkengebilde, und die Farben des Gartens leuchteten in eigentümlicher Klarheit. Schweißüberströmt sammelte Leni die Kissen auf der Terrasse ein.

Die Dusche brachte keine Erfrischung. Auf dem Bett lag das neue Kleid. Pia hatte sie beneidet. Um Thomas, um ihre ach so gute Ehe. Es würgte sie, wenn sie daran dachte. Beim Verteilen der Gesichtscreme schaute sie in ihr graues Gesicht.

Als sie Thomas an der Eingangstür hörte, knipste sie ein Lächeln an. Er gab ihr einen Kuss und setzte sich auf die Treppe. Wie immer zog er die Straßenschuhe aus und griff nach seinen gestreiften Schlappen. Es sah albern aus zu seinem Geschäftsanzug. Den behielt er heute an. Zur Feier des Tages.

„Alles Liebe zum Hochzeitstag.“ Strahlend zauberte er einen Strauß Rosen und ein kleines Geschenkpäckchen hervor.

„Ich hab’s nicht vergessen“, erklärte er eifrig.

„Ich hole eine Vase.“

Seine Fröhlichkeit machte sie rasend. Sie stellte die Vase auf den Couchtisch und warf einen Blick auf das Päckchen. Beim Juwelier Neumann verpackten sie die Sachen immer so nett. Alles könnte so schön sein. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu schreien.

„Steht dir gut, was du da anhast. Ist das neu?“

Sie tat so, als habe sie ihn nicht gehört. Abwarten, hatte sie sich vorgenommen. Krampfhaft schluckte sie den brodelnden Zorn hinunter.

Wie immer legte sich Thomas die größere der beiden Rouladen auf den Teller. Auf manche Dinge ist Verlass. Gemächlich zerdrückte er die Kartoffeln und die Soße zu einem unappetitlichen Matsch. Wie konnte er ihr das antun? Sie legte die Gabel auf den Teller.

„Du gehst fremd.“

Ihre Stimme klang schrill. Das Weinen lauerte zwischen Magen und Kehle. Thomas erstarrte mit der Gabel auf halbem Weg zum Mund und schaute sie über den Rand seiner Brille an.

„Was?“, fragte er tonlos.

„Ich will es wissen. Nein, also, ich weiß es. Du hast eine andere“, stotterte sie.

Er zog die Augenbrauen hoch.

„Was soll der Quatsch? Also wirklich! Ausgerechnet heute, verdirb mir nicht die Laune. Du weißt, ich mag solche Spielchen nicht. Aus dem Alter sind wir raus.“

„Ich schon. Du offenbar nicht.“

Sie hätte sich ohrfeigen können. Wie konnte sie sich nur selbst klein reden! Er legte das Besteck beiseite.

„Ist dir der Appetit vergangen?“ fragte sie hämisch.

Über die Rouladen weg starrten sie sich an. Sie schaffte es, nicht als erste wegzusehen. Lächerlich, dieser kleine Sieg. Sie versteckte ihre zitternden Hände unter dem Tisch.

Er schnitt wieder ein Stück Fleisch ab und steckte es in den Mund. Er kaut wie ein Schaf, das ein Stück Wiese abgrast, dachte sie. Mit systematischer Gründlichkeit, als wäre es eine äußerst komplizierte Tätigkeit. Das Schaf stopfte sich eine zerdrückte Kartoffel in den Mund. Leni starrte in die Kerzenflamme auf dem Tisch, bis ihr Blick verschwamm.

„Isst du nichts?“

„Ich hab’ keinen Hunger.“

Ihr Magen meldete sich mit einem ziehenden Schmerz. Schweigend sah sie ihm beim Essen zu. Plötzlich erstarrte er, und Tränen schossen ihm in die Augen. Er würgte und griff nach dem Weinglas.

„Was ist denn da drin?“, fragte er mühsam.

„Was meinst du?“

„Da ist irgendwas Scharfes drin.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Nicht, dass ich wüsste.“

Misstrauisch schob er sich den nächsten Bissen in den Mund. Sie stand auf.

„Bin gleich wieder da“, murmelte sie und verschwand in der Küche.

Das war alles so unwirklich, als ob es im Fernsehen passieren würde. Man litt mit der Heldin und aß dazu Kartoffelchips. Sie öffnete den Kühlschrank und betrachtete unschlüssig die Flaschen. Wodka, das war jetzt genau das Richtige. Sie griff nach einem Glas und schenkte großzügig ein. Das Zeug schmeckte ekelhaft, aber das war jetzt egal. Sie knallte das leere Glas auf den Küchentisch.

Thomas saß vor seinem leer gegessen Teller. Sie griff nach dem Weinglas. Mit einem lauten Hicksen meldete sich ihr Zwerchfell. Und gleich noch einmal: „Hicks“. Ausgerechnet jetzt hatte sie einen Schluckauf. Krampfhaft hielt sie die Luft an und versuchte, den nächsten ‚Hicks’ herunter zu schlucken. Aber es wurde nur schlimmer. Thomas sah misstrauisch hoch.

„Bist du etwa betrunken?“

Sie schüttelte den Kopf. Ja nicht den Mund aufmachen. Es war wirklich zu blöd. Man muss ein Glas Wasser auf einen Zug leer trinken, fiel ihr ein. Sie griff zum Wein und trank in großen Schlucken. Es funktionierte. Erleichtert nahm sie die Serviette und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

Thomas war blass, und die Tränensäcke unter seinen Augen traten deutlicher hervor als sonst. Das war immer so, wenn er sich unbehaglich fühlte. Aber sein Schweigen machte sie mürbe, und der schnapsgetränkte Mut verflog so schnell, wie er gekommen war. Sie fingen gleichzeitig an zu reden.

„Du brauchst es gar nicht abzustreiten“, sagte sie, und er fing an:

„Ich weiß nicht, was das soll. Findest du das witzig?“

Sie schoss so schnell hoch, dass ihr Stuhl polternd umfiel. Der Kleiderständer mit der Wäsche stand noch auf der Terrasse. Sie nahm das Hemd von der Leine. Ehe Thomas begriff, was los war, schlug sie es ihm ins Gesicht.

„Hier!“

Sie zerrte den Stoff auseinander, hielt ihm die Flecken vor die Augen.

„Und hier!“

Schnaufend warf sie ihm das Kleidungsstück hin.

„Mistkerl! Du musst mich wirklich für sehr blöd halten. Aber ich bin ja selbst schuld. Ich hab keine Ahnung, was bei dir in der Bank so ab geht. Oder warum du ständig in den Tennisclub verschwindest. Angeblich ist das ja nichts für mich, ich bin ja unsportlich.“

Thomas hatte dieses arrogante Lächeln um die Mundwinkel.

„Grins’ nicht so blöd. Nach so vielen Jahren ist es nicht mehr so leicht zu lügen!“

Jetzt stand auch Thomas auf und knüllte die Serviette zusammen.

„Was gibt’s da noch zu sagen?“

Wie ein Gockel stolzierte er im Zimmer hin und her. Plötzlich blieb er stehen und stützte die Arme auf den Tisch. Sein wutverzerrtes Gesicht war ihrem erschreckend nahe. Erschrocken setzte sie sich wieder.

„Mach nicht so ein Theater. Was erwartest du? Lebenslanges Händchenhalten? Bei uns ist schon lange die Luft raus. Dir geht es doch genau so, wenn du ehrlich bist. Man sucht sich halt seine kleinen Kicks. Ich nehm’ dir nichts weg. Ganz im Gegenteil.“

„War es nur eine Bettgeschichte? Was Einmaliges?“

Er zögerte einen Moment zu lang, um noch lügen zu können.

„Nein, das nicht.“

Scharf fuhr sie ihn an.

„Und du willst mir erzählen, dass das gut ist für unsere Ehe? Das ist erbärmlich.“

Er nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf.

„Appetit holt man sich draußen, du kennst doch den Spruch.“

„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann du das letzte Mal zu Hause gegessen hast.“

Er zog die Augenbrauen hoch.

„Das ist ja ganz neu, dass du das vermisst. Besonders leidenschaftlich warst du ja nie. Eher der Kumpeltyp.“

„Und du hast verdammt gut gelebt damit.“

Sie stand auf, um nicht zu ihm hoch sehen zu müssen. Sein kalter Blick machte ihr Gänsehaut.

„Weißt du, wenn ich dich so betrachte, dann kannst du eigentlich froh sein, dass du noch hier bist. Eine Putzfrau wäre billiger. Was anderes bist du doch nicht. Früher, da hast du dir noch Mühe gegeben. Aber heute? Du lebst wie die Made im Speck. Trinkst Prosecco und machst es dir gemütlich.“

Er griff nach dem Geschenkpäckchen und warf es ihr zu.

„Da hast du ein Trostpflaster. Und wenn das nicht reicht, kauf dir eine neue Faltencreme und nimm ein paar Hormone. Vielleicht geht’s dir dann besser.“

Leni krallte die Fingernägel in ihre Handballen.

„Schau dich doch mal an!“, fauchte sie.

„Bierbauch, Krampfadern, die paar lächerlichen Resthaare – da ist der Lack schon lange ab!“

Das hatte gesessen. Aber so kamen sie nicht weiter. Sie zwang sich zur Ruhe.

„Darum geht es doch auch gar nicht. Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass du mir weh tust?“

Er schüttelte den Kopf.

„Du verstehst das anscheinend wirklich nicht. Jeder ist sich selbst der nächste. Ich will das pralle Leben, bevor ich in die Kiste rutsche. Darauf habe ich ein Recht. Und das hol’ ich mir, wo ich es kriegen kann.“

Sie stürzte auf ihn los. Wollte dieses arrogante Lächeln zerkratzen, ihn schütteln und schlagen. Einen Moment stand er wie erstarrt, dann holte er aus und gab ihr eine Ohrfeige. Ihr Kopf flog zur Seite, und ihr wurde schwarz vor Augen. Sie taumelte und fand sich auf dem Fußboden wieder. Einen winzigen Moment glaubte sie, etwas wie Erschrecken in seinem Gesicht zu lesen. Dann war da nur noch Wut. Er starrte auf sie hinunter.

„Jetzt kennst du meine Meinung.“

Er drehte sich um und stürmte aus dem Zimmer. Fassungslos rieb sie sich die schmerzende Wange. Thomas hatte sie geschlagen. Das gab’s doch nicht! Erst als sie das Zuknallen der Haustür hörte, zog sie sich mühsam an einem Stuhl hoch. Sie warf einen Blick auf den festlich gedeckten Tisch. Schade um die Arbeit. Sie pustete die Kerze aus und ging in die Küche.

Der trübe Morgen passte zu Lenis Stimmung. Sie setzte sich mit einer Tasse Tee an den Küchentisch. Sehr spät hatte sie Thomas heimkommen gehört und sich auf neuen Streit gefasst gemacht. Aber dann rumorte er im Gästezimmer herum. Nicht einmal den Versuch hatte er gemacht, zu ihr ins Schlafzimmer zu kommen. War sie enttäuscht? Oder erleichtert? Sie hätte es nicht sagen können.

Sie hörte das Klappen der Badezimmertür und schaute automatisch auf die Uhr. Es war schon kurz vor acht, er war spät dran. Jedenfalls würde er jetzt keine Zeit für Diskussionen haben. Sollte sie ihm Kaffee machen? Während sie noch unschlüssig in ihre Tasse schaute, kam er herein.

„Verdammt, ich hab’ verpennt. Ausgerechnet heute.“

Sein vorwurfsvoller Blick prallte an ihr ab. Er wollte sich schon an den Tisch setzen, als er sah, dass kein Frühstück bereit stand.

„Geht das Theater noch weiter?“

Sein unfreundlicher Ton brachte sie sofort wieder in Wallung.

„Was hast du denn gedacht?“, giftete sie.

„Verdammt, verdammt“, hörte sie Thomas fluchen.

„Das scheint dein neues Lieblingswort zu sein.“

Schadenfroh sah sie zu, wie er vergeblich mit einer Filtertüte herumfummelte.

„Na, dann nicht.“

Er stapfte wütend in den Flur. Sie atmete schon erleichtert auf, als er noch einmal den Kopf zur Küche herein streckte.

„Ach übrigens, es ist nicht nötig, dass du dich im Schlafzimmer einschließt. Da gibt’s schon lange nichts mehr, das mich reizen könnte.“

Leni suchte nach einem Gegenstand, an dem sie ihre Wut auslassen konnte. Aber was konnte die Teetasse dafür, dass sich Thomas wie ein spätpubertierender Macho benahm? Hilflos trommelte sie mit der Faust auf dem Tisch herum.

Der Anruf bei Pia war frustrierend.

„Du meine Güte, das ist doch heutzutage normal. Ignorier’ es einfach.“

„Ich erwarte, dass er das sofort beendet. Und sich entschuldigt. Und dann werden wir weiter sehen.“

Pia lachte hell auf.

„Wem willst du was vormachen? Ein paar Tage, dann hast du dich wieder beruhigt. Und auf eine Entschuldigung kannst du lange warten.“

Ein Kübel Eiswasser hätte ähnlich gewirkt. Sie verstand Pia nicht. Vielleicht war sie tatsächlich altmodisch, aber so etwas konnte sie nicht ignorieren. Nie.

Streik. Boykott. Sie machte erst mal nichts mehr in diesem Haushalt. Das war gar nicht so einfach. Nervös tigerte sie durch die Räume. Ihr fehlte die Normalität, die vielen gewohnten Handgriffe. Aber sie musste abwarten, bis Thomas wieder zur Vernunft kam.

Er kam früh heim. Für seinen Tennisclub hatte er immer Zeit. Leni lag entspannt auf der Couch. Wütend stürmte er ins Schlafzimmer. Sie schlenderte hinterher und schaute zu, wie er im Kleiderschrank wühlte.

„Wo ist mein Clubhemd? Du weißt genau, dass wir heute Ligaspiel haben.“

Sie legte einen Finger an den Mund.

„Tja, wo könnte es wohl sein?“

Wie immer hatte er sich darauf verlassen, das sie seine durchgeschwitzten Sachen aus der Sporttasche nahm und wusch. Pech, dass er sich dieses Mal geirrt hatte.

Mit einer Armbewegung fegte er das ganze Schrankfach leer. Leni zuckte zusammen, als die gebügelten, ordentlich zusammengelegten Sachen auf den Boden fielen.

„Du machst wohl jetzt überhaupt nichts mehr?“, schnauzte er.

„Die Putzfrau hat ihre Arbeit eingestellt.“

„Treib’s nicht zu weit“, drohte er und ging.

Leni hatte keinen Appetit. Statt eines Abendessens machte sie ein Flasche Wein auf und drapierte sich wieder auf der Couch. Tapfer zappte sie sich durch alberne Talkshows und obskure Verkaufssendungen, das gesamte Dumm-TV. Irgendwann nach Mitternacht ertappte sie sich dabei, dass sie mit dem Anruf bei einer Tele-Wahrsagerin liebäugelte. Offensichtlich war sie jetzt völlig am Durchdrehen.

Thomas blieb die ganze Nacht weg. Morgens warf sie die leere Weinflasche in den Abfall und lachte laut über ihre Dummheit.

„Er amüsiert sich, und du machst dir Sorgen. Wie idiotisch ist das denn?“

Der Anruf bei Monika war überfällig. Aber was sollte Leni sagen? Papa geht fremd. Das ging gar nicht. Fast war sie erleichtert, als Monika von sich aus anrief. Allerdings hatte die feine Antennen.

„Was ist los bei euch, habt ihr euch gezankt?“, fragte sie direkt.

„Im Moment läuft es nicht besonders.“

Je weniger sie sagte, desto besser. Aber ihre Tochter bohrte hartnäckig weiter.

„Er hat ein Verhältnis“, rückte Leni schließlich heraus.

„Papa auf der Piste? Das ist ja unglaublich!“

Leni verschlug es die Sprache. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Ihre Tochter war wirklich erwachsen. Monika wurde wieder sachlich.

„Und? Was willst du jetzt machen?“

„Wenn ich das wüsste!“

„Ist doch ganz einfach. Entweder du willst ihn behalten oder du schießt ihn ab. Es kommt darauf an, ob du ihm irgendwann wieder vertrauen könntest. Wenn nicht, dann war’s das.“

„Er ist so ganz anders als sonst. Es scheint ihm völlig egal zu sein, dass ich leide. Nicht die Spur von schlechtem Gewissen.“

Moni lachte.

„Da hast du aber so einiges verdrängt. Papa hat schon immer gemacht, was er wollte. Du hast es ihm ja auch leicht gemacht. Thomas hier, Thomas da, du hast ihn von vorn und hinten bedient. Also, ich würde mir das nie von einem Mann gefallen lassen, wie er dich behandelt. Ich schätze, er geht davon aus, dass du dich in ein paar Tagen wieder abgeregt hast.“

Das traf Leni hart. Pia hatte etwas ganz ähnliches gesagt. Ihre Unsicherheit machte sie trotzig.

„Vielleicht irrt er sich dieses Mal. Könnte ja sein, dass ich was mache, womit er nicht rechnet.“

„Das ist gut. Zeig’s ihm, lass dich nicht unterbuttern. Er ist mein Papa, und ich hab ihn lieb. Aber du musst ihm seine Grenzen zeigen. Der kommt ganz schnell wieder angekrochen, wenn er merkt, dass du nicht mehr alles mit dir machen lässt.“

Wenigstens eine Verbündete, Leni war sehr erleichtert.

„Weißt du, wer es ist?“ fragte Moni mit unverhohlener Neugier.

„Keine Ahnung. Bestimmt ist sie jünger und hübscher als ich.“

„Mach dich mal nicht so runter. Du kannst dich wirklich sehen lassen. Super Figur, gut gehalten, ich hoffe sehr, dass ich deine Gene geerbt habe. Ist sowieso egal, was das für eine ist. Zeig ihm die Zähne. Und ruf mich an, wenn du reden willst. Wofür sind Töchter schließlich da?“

„Sollte das nicht eher anders herum sein?“

Beide lachten. Vielleicht war es ja wirklich nur eine vorübergehende Sache. Frauen kamen in die Wechseljahre. Und die Männer hatten ihre Midlife Crisis. Wenn sie nur endlich mit der Heulerei aufhören könnte! Schon wieder tastete Leni mit schwimmenden Augen nach einem neuen Taschentuch.

Ein weiterer Abend, an dem Leni nicht zur Ruhe kam! Die Gedanken kreisten unaufhörlich, erst lange nach Mitternacht fiel sie in den tiefen Schlaf völliger Erschöpfung. Als sie am späten Vormittag aufwachte, fühlte sie sich etwas besser. Allerdings nahm es ihr Rücken übel, dass sie sich für die Nacht die moderne Couch im Wohnzimmer ausgesucht hatte. Er knackte und knirschte in ihren Gelenken, als Leni aufstand. Sie hatte Hunger, ein gutes Zeichen. Im Kühlschrank war Ebbe. Lustlos kaute sie an einem angetrockneten Brötchen und einer Scheibe Käse herum. Auf der Terrasse schrieb sie eine Einkaufsliste. Hier fühlte sie sich wohler als im Haus, das sie irgendwie erdrückte. Sie schluckte den letzten Bissen hinunter und steckte den Zettel in ihre Hosentasche.

Zum Supermarkt in der Bürostadt waren es mit dem Auto nur ein paar Minuten, aber Leni grauste es vor dem Trubel dort. Sie machte lieber einen Spaziergang zu dem kleinen Lebensmitteladen in der Schwarzwaldstraße.

Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Das spürte Leni sofort, als sie den Laden betrat. Der vollgestopfte Raum hatte etwas Beklemmendes. Sogar in den schmalen Gängen stapelten sich die Kisten und Ständer mit Sonderangeboten. Über allem schwebte eine wilde Mischung exotischer Gerüche. So schnell es ging griff sie nach rechts und links und legte ein paar Sachen in ihren Einkaufswagen.

Beim Obst stellte sich ein Mann dicht neben sie und glotzte sie aufdringlich an. Aus den Augenwinkeln registrierte sie sein verschwitztes T-Shirt, die verdreckte Shorts, über der ein beachtlicher Fettbauch hing, und die schwarz behaarten Beine. Erst dieser unverschämte Kurierfahrer und jetzt dieses Prachtexemplar – gab es eigentlich überhaupt noch gepflegte, sympathische Männer?

„Haben Sie es mal mit einem Deo probiert?“, fauchte sie ihn an.

Wie der Blitz verschwand er im nächsten Gang. Zügig legte sie ihre Einkäufe auf das Förderband. An der Kasse saß wie immer die dicke Frau, eine echte Schlaftablette. Leni unterdrückte ein ungeduldiges Seufzen. Ihr Blick streifte gedankenverloren das schwarze Brett. Da hing ein etwas undeutlich beschriebenes Blatt. ‚Untermieterin gesucht’. Plötzlich interessiert las sie weiter: ‚2 Zimmer, eigenes Bad. Hilfe in Haus und Garten erwünscht.’

War das die Lösung? Wenn sie einfach eine Weile nicht da wäre, das würde Thomas bestimmt auf Trab bringen. Vielleicht wurde er sogar mehr vermissen als gebügelte Hemden und warme Mahlzeiten. Und sie könnte sich in der Zwischenzeit überlegen, wie es weiter gehen sollte. Ziemlich viele ‚würde’ und ‚könnte’, aber zumindest war es eine Idee.

‚Hilfe im Garten’, das zog sie magisch an. Leni notierte sich die Telefonnummer auf ihrem Einkaufszettel. Sie begann mit derselben Ziffernfolge wie ihre eigene, es musste also ganz in der Nähe sein.

„Bist du wieder zur Vernunft gekommen?“

Plötzlich stand Thomas in der Küchentür. Sie hatte ihn beim Wegräumen der Einkäufe nicht gehört und fuhr erschrocken herum. Was machte er hier um diese Zeit?

„Im Gegensatz zu dir schon. Aber glaub ja nicht, dass ich hier noch einen Handschlag mache“, bellte sie los.

„Sag doch deiner Schlampe, dass sie mal zur Abwechslung deine dreckigen Unterhosen waschen soll.“

Er lachte gut gelaunt.

„So viel Temperament hab’ ich ja seit Jahren nicht mehr bei dir erlebt.“

Er griff nach ihrem Arm und zog sie zu sich heran. Darauf war sie nicht gefasst. Einen Moment war sie wie erstarrt, aber dann stieß sie ihn mit aller Kraft von sich weg. Er verlor das Gleichgewicht und musste sie los lassen. Sein Lachen verschwand.

„Komm her“, knurrte er und griff derb nach ihrer Schulter. Mit der anderen hielt er ihren Kopf fest und schob seinen Mund an ihren heran. Eine Alkoholfahne schlug ihr entgegen. Angeekelt versuchte sie, sich aus der Umklammerung herauszuwinden. Aber er hatte sie eisern im Griff. Sie fühlte seine Hitze und merkte, dass ihr Widerstand ihn nur noch mehr reizte. Ansatzlos zog sie das Knie hoch und rammte es ihm in den Schritt. Er brüllte auf und taumelte zurück.

„Das wirst du mir büßen, du Luder.“

Plötzlich bekam sie Angst. Panisch rannte sie aus der Küche, sah die Tür der Gästetoilette. Sie schlüpfte hinein und schloss mit zitternden Händen von innen zu. Wild sah sie sich nach einem Fluchtweg um. Aber das kleine Fenster war vergittert. Sie saß in der Falle. Sie setzte sich auf den Boden und lauschte angestrengt. Es war alles still im Flur, aber sie wusste, dass er direkt vor der Tür stand.

„Komm da raus!“, befahl er.

Sie presste sich die Hand auf den Mund.

„Du kannst nicht ewig da drin bleiben.“

„Ich hab mein Handy hier. Und ich werd’ die Polizei rufen, wenn du nicht sofort verschwindest.“

Mit angehaltenem Atem wartete sie, ob er auf ihren Bluff einging. Wo war eigentlich tatsächlich ihr Handy? Möglicherweise lag es in ihrer Handtasche aber vielleicht auch auf dem Küchentisch. Dort würde er es sofort sehen. Er trat wütend gegen die Tür. Aber immerhin schien er zu überlegen.

„Du bist ja hysterisch. Willst du die ganze Nachbarschaft rebellisch machen?“

„Das ist mir völlig egal.“

„Ich setz mich jetzt ins Wohnzimmer und warte. Fünf Minuten. Wenn du dich bis dahin nicht wieder eingekriegt hast, tret’ ich die Tür ein. Wir müssen reden, verstanden?“

Sie hörte, wie er ins Wohnzimmer ging und rappelte sich auf. Geräuschlos drehte sie den Schlüssel herum und schlich auf Zehenspitzen in die Küche. Schnell stopfte sie ihr Handy in die Hosentasche. Dann spähte sie vorsichtig ins Wohnzimmer.

Mit einem Whiskyglas in der Hand saß er im Korbsessel und brütete vor sich hin. Misstrauisch blieb sie in der Tür stehen. Er schaute hoch.

„Was soll das Theater? Hab ich dir irgendwann schon mal was getan?“

„Du hast mich geschlagen. Das ist ungeheuerlich. Ich hätte meine Hand ins Feuer gelegt, dass du nicht zu dieser Sorge Männer gehörst. Aber du wirst mich nie wieder anrühren.“

Sie stemmte kämpferisch die Hände in die Hüften. Thomas brach in Gelächter aus.

„Huch, ich schlottere schon vor Angst.“

Leni sah ihn finster an.

„Du hast gesagt, wir reden.“

Sie setzte sich auf das äußerste Ende der Couch und ließ ihn nicht aus den Augen.

„Ich versteh diese ganze Aufregung nicht. Das sind doch alles nur harmlose Flirts. Da war nie was Ernstes, wirklich nicht.“

Das wurde ja immer besser. Thomas war Wiederholungstäter und machte überhaupt keinen Hehl daraus.

„Tja, dieses Mal hast du Pech gehabt, dass ich was mitgekriegt habe.“

Irgendwie gelang es ihr, locker zu klingen. Er witterte Morgenluft.

„Lass uns die ganze Sache einfach vergessen. Such dir beim Neumann was Nettes aus, und dann Schwamm drüber.“

„Oh nein, mein Lieber“, sagte sie gedehnt. „Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass das damit erledigt ist.“

Sein Gesicht verfinsterte sich.

„Also dann sag, was du willst.“

Seine Finger trommelten ungeduldig auf der Sessellehne. Leni holte tief Luft.

„Ich brauche Zeit. Und Abstand von dir. Räumlichen Abstand. Ich ziehe aus. Und dann werde ich mir überlegen, ob unsere Ehe noch einen Sinn hat. Oder ob ich die Scheidung will.“

Erschrocken klappte sie ihren Mund zu. Das hatte sie gar nicht sagen wollen. Er kippte den Whisky hinunter.

„Scheidung? Du willst dir das überlegen? Du bist wohl nicht ganz bei Trost. Wie willst du denn ohne mich zurecht kommen? Du bist nichts, du kannst nichts. Und die Jüngste bist du auch nicht mehr. Fürs Rumsitzen und Blümchen gießen zahlt dir niemand auch nur einen roten Cent.“

Er griff zur Flasche und schenkte sich wieder ein.

„Aber bitte, wenn du unbedingt willst, nur zu! Jede Wette, du kommst ganz schnell wieder angekrochen. Und damit das gleich klar ist: Rechne nicht damit, dass du Geld von mir kriegst.“

Er lachte amüsiert auf. „Das könnte interessant werden, wenn du zur Abwechslung mal arbeiten musst.“

Leni schnappte nach Luft. Ungerührt trank er sein Glas aus und stand auf.

„Ich gehe jetzt. Brauchst nicht auf mich zu warten.“

Ihre Selbstbeherrschung hatte gerade noch gereicht, bis er weg war. Dann sackte sie zusammen. Er hatte ja Recht. Schon der Gedanke, irgendwo allein leben zu müssen, jagte ihr Angst ein. Aber wenn sie jetzt angekrochen kam, hatte er sie für den Rest ihres Lebens in der Hand. Ein winziger Funke Kampfeslust rührte sich in ihr. Sie griff nach der Whiskyflasche und nahm einen kleinen Schluck. Es brannte wie Feuer. Sie hustete, und Tränen schossen ihr in die Augen. Hektisch suchte sie nach einem Taschentuch. Plötzlich hatte sie den Zettel in der Hand. ‚Untermieter gesucht.’

Wenn es chaotisch wurde, half immer eine Liste. Sie griff nach einem Notizblock. Die wichtigsten Punkte waren schnell notiert: Geld, Unterkunft, Arbeit. Aber was zahlte tatsächlich jemand für eine Hausfrau? Was konnte sie außer Putzen, Waschen, Kochen? Monika war jetzt knapp dreiundzwanzig, und genauso lang hatte Leni kein Büro mehr betreten. Sie knabberte an ihrem Bleistift. Einfach würde es nicht werden. Aber lieber Klos putzen als zu Kreuze kriechen. Der Computerkurs fiel ihr ein, den sie im Frühjahr bei der Volkshochschule belegt hatte. Internet für Einsteiger. Viel hatte sie noch nicht gelernt, aber es war ein Anfang. Im Internet konnte man Arbeit finden. Und schlimmstenfalls einen Anwalt.

Energisch putzte sie sich die Nase und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie legte den Einkaufszettel daneben und tippte wild entschlossen die Nummer ein.

Kapitel 2

Das Zimmer lag im Halbdunkel. Nur durch die Ritzen des Rollos wagten sich ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen herein. Der Mann lag in einem Sessel und schlief. Er hatte die Arme über seinem Bauch gefaltet und die stämmigen Beine weit von sich gestreckt. Seine Brust hob und senkte sich rasselnd, und an seinem leicht geöffneten Mund zitterte eine kleine Speichelblase im Rhythmus seines Atems.

Das Läuten des Telefons zerriss den Frieden. Die Augenlider des Mannes zuckten, und er schmatzte in leisem Protest. Es klingelte hartnäckig weiter, und endlich tastete er nach dem Apparat.

„Hallo?“, nuschelte er.

„Ich dachte schon, es ist niemand da.“

Wie durch eine dicke Watteschicht hörte Arthur Winkler eine Frauenstimme.

„Doch.“

„Mein Name ist Brandner. Ich rufe an wegen dem Zettel im Laden.“

Er riss den Mund auf und gähnte.

„Hä?“

Einen Moment war es still in der Leitung.

„Ich wollte wissen, ob die Zimmer noch frei sind. Es ist gewissermaßen ein Notfall.“

„Notfall?“

Durch den Hörer kam ein eigenartiges Geräusch, fast wie ein Schluchzen.

„Da hängt ein Zettel von Ihnen in diesem kleinen Laden. Dass Sie einen Untermieter suchen. Und ich wollte wissen, ob Sie schon jemand gefunden haben.“

Endlich dämmerte es Arthur.

„Nein.“

„Reden Sie immer so viel?“

Allmählich funktionierte sein Gehirn wieder. Maria wollte jemand ins Haus nehmen, als Hilfe. Das hatte er völlig vergessen.

„Sind Sie noch da?“, fragte die Frau.

„Ja.“

„Können Sie mir Ihre Adresse geben? Ihren Namen kann ich auch nicht entziffern.“

„Arthur Winkler.“

Mechanisch leierte er die Angaben herunter.

„Kann ich morgen vorbei kommen, so gegen 15 Uhr?“

Ihm war alles recht, wenn er sie jetzt nur schnell los wurde. Er brachte noch ein kurzes „Ja“ heraus und unterbrach dann die Verbindung. Ächzend lehnte er sich zurück. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

„Mistzeug“, murmelte er.

Diese verdammten Pillen hatten ihn schachmatt gesetzt. Er rieb sich die Augen und gähnte wieder. Dann raffte er sich auf und schlurfte in die Küche. Der Rest in der Kaffeekanne reichte gerade noch für eine halbe Tasse. Er schob ein leeres Glas beiseite und stellte den Kaffee auf das Tischchen. Dann ließ er sich wieder in den Sessel fallen. Das hatte sie ihm eingebrockt, seine Maria. Und dann war sie einfach gegangen.

Mit halb geschlossenen Augen sah er sich um. Das Zimmer war ein einziges Chaos. Überall lagen Kleidungsstücke herum, der Tisch war belagert mit schmutzigem Geschirr, und die Zeitungen der letzten Tage verteilten sich auf dem Fußboden. Teilnahmslos beobachtete er die Staubflocken, die auf dem Fußboden tanzten, und schaute dann zu dem gerahmten Foto auf dem Sideboard. Es zeigte eine Frau mit lockigen, grauen Haaren und liebevollen Augen.

„Morgen. Ganz bestimmt. Morgen räum ich auf.“

Die Kaffeemaschine röchelte vor sich hin und verbreitete ein aufreizend frisches Aroma. Arthur stand vor der offenen Kühlschranktür und roch misstrauisch an einem Stück Wurst. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er es gekauft hatte. Er betrachtete den grauen Schimmer darauf und ließ es mit spitzen Fingern in den überquellenden Abfalleimer fallen. Er versuchte, eine Scheibe Käse aus einer angebrochenen Packung herauszufummeln, aber das Zeug klebte zusammen. Schließlich biss von dem ganzen Stapel ein Stück ab und kaute darauf herum. Es schmeckte fade, wie feuchtes Papier. Erst jetzt entdeckte er die kleinen Trennblätter zwischen den Scheiben. Egal, er schluckte alles hinunter und spülte mit Kaffee nach.

Mit der Tasse in der Hand wanderte er ins Wohnzimmer und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er war immer noch müde. Nach dem zweiten Kaffee fühlte er sich schließlich etwas besser. Er zog die Rollläden hoch und öffnete die Terrassentür. Ein Schwall frischer Luft kam herein, und die Wollmäuse auf dem Parkett erwachten zu munterem Leben. Ächzend bückte er sich und hob eine Socke vom Fußboden auf. Wo mochte die zweite sein? Er machte sich auf die Suche. Nach kurzer Zeit hatte er einen ganzen Arm voller Kleidungsstücke von der Couch und den Sesseln eingesammelt. Nur die zweite Socke blieb verschwunden. Wohin mit den Sachen? Einen Moment stand er unschlüssig im Flur, dann öffnete er eine Tür und warf kurzerhand alles hinein. Nach einer weiteren Tasse Kaffee nahm er den Couchtisch in Angriff. Pizzakartons, Essensreste, Zeitungen, alles landete in einem Müllsack.

Aus dem Geschirrspüler schlug ihm ein übler Geruch entgegen.

„Ich muss das Ding mal anstellen“, murmelte er und hielt krampfhaft die Luft an, während er das schmutzige Geschirr hinein räumte. Nach dem Anschalten wartete er kurz, doch der Fußboden blieb trocken. Er war erleichtert.

Der Couchtisch war jetzt leer bis auf die Packung aus der Apotheke. Noch nie in seinem Leben hatte er Schlaftabletten genommen. Er müsse zur Ruhe kommen, hatte der Arzt gesagt. Na, das hatte ja super funktioniert. Nur verschwommen konnte er sich an die Frau am Telefon erinnern. Heute Nachmittag wollte sie vorbei kommen. Er stopfte die Tabletten in eine Schublade und bearbeitete mit grimmigem Eifer und einem feuchten Lappen den Tisch. So richtig sauber wurde es nicht, aber das musste reichen.

Im Bad stand alles unberührt. Er nahm einen Lippenstift aus seiner Hülle und drehte ihn auf. Zartrosa, er konnte sich gut an die Farbe erinnern. In der Haarbürste hingen noch ein paar hellgraue Haare. Ihr Parfum stand daneben. Er starrte auf die Sachen, dann griff er nach dem kleinen Mülleimer, der unter dem Waschbecken stand, und fegte mit einer Armbewegung alles hinein. Glas klirrte, und ein starker Parfumduft verbreitete sich. Es roch so intensiv nach Maria, dass ihm ganz schwindlig wurde. Er drehte den Wasserhahn auf und hielt seinen Kopf darunter. Im Spiegel sah er, wie die Tropfen sich in den Bartstoppeln verfingen. Er setzte sich auf den Rand der Badewanne und strich die nassen Haare zurück. Mit trübem Blick schaute er auf die leere Ablage. Seine Gedanken wanderten.

Es war ein eigentümliches Gefühl, plötzlich Rentner zu sein. Ein Glas Sekt mit den Kollegen in der Schreinerei, die abgewetzte Tasche mit seinen Sachen, es war alles so schnell gegangen, er kam gar nicht zum Nachdenken. Die neue Situation verwirrte ihn.

In ihrer ruhigen Art hatte ihn Maria an das Thema herangeführt. Die Söhne waren aus dem Haus, das jetzt zu groß war und sehr still. Der Garten, der Haushalt, es wurde ihr langsam zu viel. Erst verstand er sie nicht, er war doch schließlich auch noch da zum Helfen. Aber dann sprach sie davon, dass sie jetzt endlich verreisen konnten. Nicht nur drei Wochen im Jahr, sondern für länger und auch weiter. Da würde es gut sein, wenn jemand aufpasste und alles in Ordnung hielt. Arthur war nicht begeistert davon, jemand Fremden ins Haus zu nehmen. Aber etwas von der Welt sehen, davon hatte er immer geträumt. Einen Versuch war es wert.

Maria hatte sich um alles gekümmert, eine Anzeige aufgegeben und auch beim Türken einen Zettel ans schwarze Brett geheftet. Niemand hatte sich gemeldet. Bis gestern.

Von dem intensiven Parfümgeruch hatte er Kopfschmerzen. Und sein Magen knurrte. Es war schon fast Mittag. Er machte das Fenster auf und ließ die Tür zum Flur offen, damit frische Luft durchziehen konnte.

Im Küchenschrank fand er eine einsame Dose Ravioli. Er musste bald wieder einkaufen. Arthur entdeckte eine saubere Gabel und fischte ein Teigstück aus der Tomatenbrühe. Wehmütig dachte er an Marias gutes Essen, während er das kalte Zeug in sich hinein würgte. Zumindest machte es satt.

Die Küche sah schlimm aus, aber für einen Tag hatte er genug geputzt. Er wappnete sich für seine nächste Aufgabe. Seit Maria weg war, hatte er das Schlafzimmer nicht mehr betreten. Aber heute musste er es über sich bringen, das hatte er sich fest vorgenommen.

Mit dem Telefon am Ohr lümmelte Thomas Brandner entspannt in seinem Ledersessel. Er hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und genoss die Aussicht auf die Blumenrabatten der Taunusanlage. Das helle Eckzimmer war mit viel Leder und Chrom eingerichtet und ganz in Grau und Anthrazit gehalten. Sogar die Palme neben seinem Schreibtisch hatte einen silbrigen Glanz. Der stammte jedoch eher von akutem Wassermangel. Thomas beugte sich vor und riss ein trockenes Blatt ab. Es zerbröckelte in seiner Hand. Irritiert ließ er die Reste auf den hellgrauen Teppichboden fallen und konzentrierte sich wieder auf sein Telefonat.

Er sprach mit Bernd Köhler, der trotz seines jugendlichen Alters zu seinen wichtigsten Geschäftspartnern gehörte. Köhler war clever und bei Verhandlungen nicht zu unterschätzen. Noch wichtiger war allerdings das Geld vom Papa, das er im Rücken hatte.

Thomas starrte auf das rote ‚V.I.P.’ in der Ecke des Kundenordners. In den letzten Monaten hatte er dafür gesorgt, dass sich ihr Kontakt über das Geschäftliche hinaus auch auf den privaten Bereich ausdehnte. Das war gut, für die Sparkasse und für Thomas. Außerdem war es nicht direkt ein Opfer, mit diesem sympathischen jungen Mann um die Häuser zu ziehen.

„Gut, dann also morgen Abend im Roxy, wie immer. Das wird wieder mal eine lange Nacht“, prophezeite Thomas und hielt den Hörer vom Ohr weg, als ihm eine von Bernds berüchtigten Lachsalven entgegen dröhnte.

„Bring Kiki mit, die sorgt für Stimmung!“, schlug Köhler vor, bevor er auflegte.

Kiki, allein schon dieser Name machte Thomas kribbelig. Als er sie vor einiger Zeit in der Roxy Bar kennen lernte, konnte er kaum glauben, dass sie an ihm interessiert war. Schließlich war er deutlich älter als sie. Aber ihre großen, blauen Augen ließen ihn nicht mehr los, und bevor er zur Besinnung kam, war er rettungslos verliebt. Neben ihren körperlichen Reizen hatte sie ein großes Herz und eine liebenswürdige Art. Das war keine, die ständig die Hand aufhielt. Selbstverständlich unterstützte er sie trotzdem finanziell. Zwischenzeitlich war sie von dem Loch, in dem sie hauste, in eine nette, kleine Wohnung umgezogen. Auch Thomas fühlte sich sehr wohl dort.

Ihm wurde warm. Er öffnete den obersten Hemdenknopf und lockerte die Krawatte. In letzter Zeit fühlte er sich manchmal ziemlich ausgebrannt, und ein ruhiger Abend in ihrem Apartment wäre ihm lieber gewesen als das Roxy. Aber wenn Bernd rief, konnte man nicht nein sagen. Sie würden es also wieder einmal krachen lassen.

Thomas Brandner sah sich vor dem Höhepunkt seiner Karriere. Nach dem erfolgreichen Abschluss dieses Großprojekts, das er mit Köhler durchziehen wollte, war der Ruf in die Zentrale nur noch Formsache.

Die Tür ging auf, und Frau Glock kam herein. Wie jeden Tag stellte sie ihm eine Tasse Kaffee hin und legte die Vormittagspost daneben. Thomas schreckte aus seinen Tagträumen hoch.

„Frau Glock, sorgen Sie doch dafür, dass diese Palme ausgetauscht wird. Ich mag nichts Totes in meinem Büro. Vielleicht denken Sie das nächste Mal daran, dass Blumen auch ab und zu mal gegossen werden müssen.“

Er warf ihr einen eisigen Blick zu, während er schon nach den Briefen griff. Schweigend ging die Sekretärin zur Tür. Der Herr Filialleiter war mal wieder zickig. Da hielt man am besten den Mund.

Thomas schaute ihr nach. Mit diesem altmodischen Faltenrock und dem zu engen Blazer, der die Speckfalten um ihre Hüften noch betonte, sah sie wieder einmal unmöglich aus. Auch so ein Auslaufmodell. Allerdings eines, auf das er nicht verzichten konnte. Als Sekretärin war sie ein As. Außer, wenn es um Topfpflanzen ging. Da kam ihm ein unangenehmer Gedanke.

„Ach Frau Glock, eine Kleinigkeit noch.“

Sie sah ihn stumm an. Irritiert bemerkte er den leicht verächtlichen Zug um ihren Mund.

„Rufen Sie doch mal unten in der Schalterhalle an. Man soll mir Bescheid geben, wenn meine Frau vorbei kommt. Könnte heute sein oder morgen. Wie gesagt, ist nicht so wichtig.“

Sie nickte und ging. Er starrte er auf die geschlossene Tür. Hatte das beiläufig genug geklungen? Tratsch über sein Privatleben hätte ihm gerade noch gefehlt.