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Über den Autor

Blaise Pascal

(1623-1662) war gefeierter Mathematiker, Physiker, Ingenieur und einer der größten Genies seiner Zeit. Nach seinem Tod fand man einen Haufen von ungeordneten Notizen: seine Pensées, die heute aus der Weltliteratur nicht mehr wegzudenken sind.

Dr. Bruno Kern,

geboren 1958, studierte Teologie und Philosophie in Wien, Fribourg, München und Bonn; er lebt zurzeit in Mainz und arbeitet als selbstständiger Lektor und Übersetzer.

Für den marixverlag übersetzte er Marguerite Poretes Der Spiegel der einfachen Seelen.

Zum Buch

„Das Herz ist es, das Gott empfindet,
und nicht die Vernunft:
Darin besteht der Glaube.“

Blaise Pascal

Kaum jemand hat so scharfsinnig die menschliche Existenz in ihrer Größe und ihrem Elend bedacht wie Blaise Pascal: des Menschen Verlorenheit im Weltall und die Erhabenheit seines Geistes zugleich! Der Zeitgenosse Descartes’ setzt dem herrschenden Rationalismus die Logik des Herzens, den esprit de finesse und die Intuition entgegen, die allein imstande sind, das rätselhafte Wesen Mensch zu erfassen. Pascals Gedanken, aus denen hier eine Auswahl präsentiert wird, haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt und gehören zum Tiefsinnigsten, was je über den Menschen gedacht wurde.

Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur; aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Es ist nicht nötig, dass sich das gesamte Universum bewaffnet, um es zu zertreten; ein Dampf, ein Wassertropfen reichen aus, um es zu töten. Doch selbst wenn das Weltall ihn zugrunde richtete, wäre der Mensch noch edler als das, was ihn tötet, denn er weiß, dass er stirbt und welchen Vorteil ihm das Universum voraushat. Das Universum weiß nichts davon.“

Denn was ist der Mensch schließlich innerhalb der Natur? Ein Nichts im Vergleich zum Unendlichen, ein Alles im Vergleich zum Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und Allem, unendlich weit entfernt davon, die beiden Extreme zu verstehen.“

Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und es ist leider so, dass ihn der, der aus ihm einen Engel machen will, zum Tier macht.“

Blaise Pascal

Das Herz hat seine Gründe
die der Verstand nicht kennt

Blaise Pascal

Das Herz
hat seine Gründe

die der Verstand nicht kennt

Schöne Gedanken

Aus dem Französischen neu übersetzt
von Bruno Kern

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0317-5

www.marixverlag.de

INHALT

Blaise Pascal oder das abgründige Rätsel menschlicher Existenz

Literatur

Größe

Elend

Eitelkeit, Vergänglichkeit, Vergeblichkeit

Langeweile und wesentliche Eigenschaften des Menschen

Grund und Ursache der Wirkungen

Widersprüchliches und Zuwiderlaufendes

Zerstreuung

Tugenden, Laster, Moral

Schönheit, Poesie, Ästhetik

Philosophen

Logik des Herzens, Geist der Geometrie und Geist des Feinsinns

Von der Erkenntnis des Menschen zur Erkenntnis Gottes

Die Wette

Vermischtes

Register

BLAISE PASCAL ODER DAS
ABGRÜNDIGE
RÄTSEL
MENSCHLICHER
EXISTENZ

Leben und Wirkung

»Da war einmal ein Mensch, der als Zwölfjähriger mithilfe von Stäben und Ringen die mathematische Wissenschaft begründete; der als Sechzehnjähriger die gelehrteste Abhandlung über die konischen Körper seit der Antike schrieb; der mit neunzehn Jahren eine Wissenschaft, die nur dem Verstande zugänglich war, maschinell erfassbar gemacht hat; der mit dreiundzwanzig die Phänomene des Luftgewichts aufzeigte und damit einen der großen Irrtümer der älteren Naturwissenschaft zerstörte; der in einem Alter, in dem die anderen Menschen kaum damit begonnen haben zu erwachen, bereits den ganzen Umkreis des menschlichen Wissens umschritten hatte, als er auch schon dessen Nichtigkeit erkannte und sich der Religion zuwandte … Dieses erschreckende Genie hieß Blaise Pascal.« (Chateaubriand, zitiert nach Schäfer 1981, 324)

Pascal, der große Zeitgenosse des René Descartes, war möglicherweise tatsächlich das letzte Universalgenie der Menschheit. Staunend steht man vor der umfassenden Leistung dieses Lebens, das doch nur 39 Jahre währte. Die Widersprüchlichkeit und Ungesichertheit der menschlichen Existenz, die Pascal selbst so scharfsinnig analysierte, wird nicht nur in seiner eigenen Biografie deutlich, sie spiegelt sich nicht zuletzt in der Wirkungsgeschichte, die sein Werk auslöste. Während die Vertreter der Romantik ihn vereinnahmten, geißelten ihn Voltaire und andere »Aufklärichte« (E. Bloch) als Feind des Fortschritts der Menschheit. Für so unterschiedliche Denker und Schriftsteller wie Nietzsche, Baudelaire, Péguy oder Kierkegaard wird er zur einzigartigen Inspirationsquelle. Den Existenzialismus des 20. Jahrhunderts hat er in vielfacher Weise vorweggenommen. Vor allem auf dem Gebiet der Mathematik und der Physik hat er bahnbrechende Leistungen vollbracht. Er hat die Infinitesimalrechung und die Wahrscheinlichkeitsrechnung begründet, die erste Rechenmaschine konstruiert, innerhalb der Physik die alte Vorstellung des horror vacui experimentell widerlegt und die Möglichkeit des leeren Raums nachgewiesen. Und dennoch verdankt er seinen bis heute anhaltenden Ruhm einer Menge von Notizzetteln, die man nach seinem Tod auffand, zusammentrug und in eine provisorische Ordnung1 brachte: den Pensées (»Gedanken«). Der Großteil dieser mehr als achthundert Fragmente setzt sich aus Gedankenskizzen für das geplante große Opus einer Apologie des Christentums zusammen.

Blaise Pascal wird am 19. Juni 1623 in Clermont, der Hauptstadt der Auvergne, geboren. Sein Vater, Etienne Pascal, ist selbst ein Mathematiker von Rang und steht als Steuerbeamter im Dienst der französischen Krone. Drei Jahre nach Blaise Pascals Geburt stirbt die Mutter und hinterlässt drei Kinder: neben Blaise dessen beide Schwestern Gilberte und Jacqueline. Nach dem Tod seiner Frau gibt Etienne Pascal sein Amt auf und übersiedelt mit den Kindern nach Paris, wo er sich ungeteilt deren Erziehung widmen will. Die Wahl des Wohnortes hängt vermutlich mit Etienne Pascals eigenen wissenschaftlichen Interessen zusammen: In ganz Europa bilden sich im 17. Jahrhundert die sogenannten »Akademien«, das heißt regelmäßige Zusammenkünfte, bei denen führende Gelehrte der unterschiedlichen Wissensgebiete ihre Forschungsergebnisse vorstellten und sie der Prüfung durch die anderen unterzogen. Bekannt sind vor allem die Accademia dei Lincei in Rom, der auch Galilei angehörte, die Accademia del Cimento in Florenz und natürlich die Londoner Royal Society. In Paris ist es die Zelle eines Minoritenmönches, des Paters Marin Mersenne, die zum Zentrum lebendigen Austauschs führender Gelehrter wird. Neben Etienne und später Blaise Pascal selbst treffen sich dort unter anderem Thomas Hobbes und René Descartes. Marin Mersenne selbst trat durch keine eigenen Forschungen hervor, zeichnete sich aber durch ein umfassendes enzyklopädisches Wissen aus und scheint vor allem ein außerordentliches Talent dafür gehabt zu haben, die richtigen Fragen zu formulieren. So wurde er zum Impulsgeber und Korrespondenten großer Geister des französischen »Goldenen Zeitalters« (vgl. dazu Clévenot 1989, 68–75).

Der junge Blaise Pascal hat nie eine Schule besucht. Sein Vater übernimmt persönlich den Unterricht des Heranwachsenden und orientiert sich dabei an den Vorstellungen des Humanisten und Freidenkers Michel de Montaigne. Dessen Leitprinzip bestand darin, die Lerngegenstände der psychologischen Entwicklung des Kindes anzupassen und es keinesfalls zu überfordern. So ergaben sich die Bildungsinhalte zunächst ganz selbstverständlich aus den Alltagsereignissen, zu deren Reflexion der Knabe ermuntert wurde. Bezeichnend dafür ist eine Begebenheit, die Gilberte Pascal in der Lebensbeschreibung ihres Bruders wiedergibt: Der Knabe entdeckte, dass ein Steingutteller, an den man ein Messer schlug, einen Klang erzeugte, der abbrach, sobald man den Teller mit der Hand berührte. Auf diese Weise wurde der Elfjährige zum Nachdenken über die Gesetze der Akustik angeregt (Gilberte Pascal 1991, 105).

Etienne Pascal hatte zunächst vorgesehen, dem Knaben die allgemeinen Grundlagen der Grammatik beizubringen, damit er sich daraufhin die Sprachen Latein, Altgriechisch und Italienisch aneigne. Um ihn von diesen Gegenständen nicht abzulenken, achtete er penibel darauf, ihn vor allem von der Mathematik fernzuhalten, die erst für das Alter von sechzehn Jahren vorgesehen war. Den Knaben Blaise Pascal scheint dies jedoch umso mehr zur Beschäftigung mit der Mathematik angestachelt zu haben: Gilberte Pascal berichtet: »Eines Tages kam mein Vater dorthin, wo er [Blaise] sich aufhielt, ohne dass mein Bruder ihn hörte. Er war so sehr vertieft, dass es lange dauerte, bis er das Kommen des Vaters bemerkte. Man kann nicht sagen, wer von beiden überraschter war: der Sohn, der den Vater erblickte, wegen dessen ausdrücklichem Verbot [sich mit der Mathematik zu beschäftigen], oder der Vater, der seinen Sohn inmitten all dieser Dinge [mit Kreide gezeichneter geometrischer Figuren] sah. Doch die Überraschung aufseiten des Vaters war wohl größer: Als er den Sohn fragte, was er hier mache, sagte er ihm, er suche nach der und der Sache: Es handelte sich um den 32. Lehrsatz des ersten Buches des Euklid.«2 (Gilberte Pascal 1991, 106–107) Der noch nicht Zwölfjährige hatte sich also selbstständig einen Teil der Grundlagen der Mathematik erarbeitet. Von da an nimmt der Vater Blaise Pascal zu den Zusammenkünften bei Marin Mersenne mit. Im Alter von sechzehn Jahren begründet Pascal seinen Ruf als Mathematiker mit seiner Abhandlung über die Kegelschnitte.

Die äußeren Lebensumstände änderten sich abrupt, als Etienne Pascal bei Kardinal Richelieu in Ungnade fiel. Um der Gefängnishaft zu entgehen, floh er zunächst mit seinen Kindern in die Auvergne. Der jüngeren Tochter Jacqueline – einer begabten Poetin und Schauspielerin – gelang es jedoch, den Kardinal wieder günstig zu stimmen. Etienne Pascal übernahm daraufhin die Aufgabe, in Rouen in der Normandie das Steuerwesen neu zu organisieren. Um dem Vater die beschwerliche Aufgabe zu erleichtern, konstruierte Blaise Pascal seine Rechenmaschine. Erstmals wurde die geistige Arbeit des Rechnens von einem ausgeklügelten Mechanismus übernommen – letztlich das Urbild unseres Computers.

Entscheidender aber noch für Pascals Werdegang war, dass die Familie in Rouen in Kontakt mit der religiösen Strömung des Jansenismus kam. Auslöser war ein Unfall von Etienne Pascal, bei dem er sich ein Hüftgelenk auskugelte. Die Brüder Deschamps, die ihm mit ihren chirurgischen Kenntnissen in dieser Situation beistanden, machten die Familie mit den Werken der führenden Jansenisten vertraut: Saint-Cyran, Arnaud und Jansenius selbst. Diese religiöse Strömung orientierte sich an der Gnadenlehre des Augustinus, an der absoluten Souveränität von Gottes Gnadenwahl, während ihre erbitterten Gegner, die sogenannten »Molinisten«, die Willensfreiheit des Menschen betonten. Vor allem bei Blaise Pascal führte die Begegnung mit dieser Art gelebten Christentums zu dem, was spätere Autobiografen seine »erste Bekehrung« nannten. Blaise Pascal hatte durchaus auch eine an der Bibel und den Kirchenvätern orientierte religiöse Erziehung genossen und die Familie pflegte den konventionellen Katholizismus ihrer Zeit. Nun aber ging es, um mit Gilberte Pascal zu sprechen, darum, »dass die christliche Religion uns verpflichtet, allein für Gott zu leben« (Sellier 1991, 9–10), um eine kompromisslose Religiosität also, die das gesamte Leben beansprucht und ausfüllt. Blaise Pascal beschäftigte sich von nun an intensiv mit den religiösen Auseinandersetzungen der Zeit (vor allem zwischen den Jansenisten und ihren Gegnern, den Molinisten, hauptsächlich Jesuiten, die an der heilsrelevanten Rolle des freien Willens des Menschen festhielten), er las das Hauptwerk des Jansenismus, den berühmten Augustinus des Jansenius, und die Werke des Augustinus selbst.

Allerdings bedeutete diese Hinkehr zur intensiven Beschäftigung mit religiösen Fragen keineswegs – wie manche Gegner behaupteten – eine Abkehr von den Wissenschaften. Zusammen mit seinem Schwager Florin Périer griff er die Experimente des Italieners Torricelli auf, erweiterte und vertiefte sie und erbrachte so den experimentellen Nachweis, dass Effekte, die man bisher auf den postulierten horror vacui, den natürlichen »Abscheu vor der Leere«, zurückführte, mittels des Gewichts der Luft zu erklären waren. Mit seiner Lehre vom Vakuum begab er sich in direkte Gegnerschaft zu René Descartes. Auch auf dem Gebiet der Mathematik setzt er seine Forschungen fort und entwickelt etwa die Idee der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Seit 1647 hatte sich Pascal zusammen mit seiner Schwester Jacqueline wieder in Paris niedergelassen. In dieser Zeit verschlechtert sich sein Gesundheitszustand auch immer mehr. Tatsächlich hatte er seiner Schwester Jacqueline bekannt, bereits seit dem achtzehnten Lebensjahr keinen Tag ohne Schmerzen zugebracht zu haben. Über die Art seiner Erkrankung wird von den verschiedenen Biografen aufgrund der wenigen Anhaltspunkte zu seinen Schmerzen (Unterleibsschmerzen, Lähmungserscheinungen, dazu heftige Kopfschmerzen) spekuliert. Die meisten gehen von einer schweren Erkrankung des Intestinaltraktes, etwa von Darm- und Magenkrebs bzw. -tuberkulose aus. Im Krankenzimmer findet denn auch die Begegnung zwischen den beiden großen Geistern der Zeit, Pascal und René Descartes, statt, bei der es wohl hauptsächlich um das Problem des Vakuums und die von Descartes angenommene feinstoffliche Materie ging.

Die Jahre 1647 bis 1654 werden oftmals als Pascals »weltliche Periode« bezeichnet. Er verkehrt in den vornehmen Salons, in Adelskreisen und pflegt den Kontakt zu führenden Freigeistern seiner Zeit wie etwa Damien Mitton. Doch bald schon wächst in ihm das Gefühl der Eitelkeit und Flüchtigkeit dieser weltlichen Existenz. Die Kontakte zum Pariser Kloster Port Royal, in das seine Schwester Jacqueline bald eintrat und das um sich eine Laiengemeinschaft im jansenistischen Geist versammelte, intensivieren sich. Aus dieser Zeit stammen auch Briefe Pascals an seine Schwester Gilberte, in denen er sich in ausgesprochen dichter Weise zu theologischen Themen äußert. Der Eintritt von Pascals Schwester Jacqueline ins Kloster Port Royal scheint zunächst eine tiefe Krise ausgelöst zu haben. Schließlich fällt in das Jahr 1654 auch das Ereignis, das gern als die »zweite Bekehrung« Pascals bezeichnet wird und das er selbst in seinem berühmten Mémorial festhält. Unter Angabe von genauem Datum samt Uhrzeit beschreibt Pascal hier das überwältigende innere Erleben, das in einem Bekenntnis zum biblisch bezeugten »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, zum Gott Jesu Christi« im Gegensatz zum (deistisch gedachten) Gott der Philosophen mündet. Bis zu seinem Tod bewahrt er die Niederschrift dieser Gotteserfahrung eingenäht in seinem Rock bei sich auf.

Die Jahre darauf sind vor allem von Pascals engagiertem Eingreifen in die Auseinandersetzung um den Jansenismus geprägt. Unter dem Pseudonym Louis de Montalte verfasst er in scharfem polemischem Stil die vielbeachteten Lettres à un Provincial, mit denen er diese wohl wichtigste religiöse Kontroverse seiner Zeit wesentlich mitprägt. Über die damalige theologische Auseinandersetzung hinaus gelten die Lettres Provinciales aufgrund ihres eleganten Stils vielen als die Geburtsstunde des modernen Französisch.

Für Pascals intensive Beschäftigung mit religiösen Fragen war ein außergewöhnliches Ereignis – nämlich die als »Wunder« interpretierte Spontanheilung seiner Nichte (zugleich sein Patenkind) – von nicht unerheblicher Bedeutung: Die junge Marguerite Périer litt an einer ständig nässenden Fistel am Auge, die ausgebrannt werden sollte. Nach der Berührung einer Reliquie (eines Dornes der vermeintlichen Dornenkrone Jesu) kam es zu einer aufsehenerregenden Spontanheilung, die Pascal auch für sich selbst als providenziell empfand. Die in den Pensées enthaltenen Reflexionen über das Wunder haben dieses Ereignis zum äußeren Anlass.

Die letzten Lebensjahre Pascals – von 1658 bis 1662 – sind trotz erheblicher krankheitsbedingter Einschränkungen in vielerlei Hinsicht von erstaunlicher Schaffenskraft auf allen Gebieten geprägt. Er widmet sich weiter der Kampagne gegen den moralischen Laxismus der Jesuiten, mathematisch beschäftigt er sich mit dem Problem der Zykloide (d.h. der Kurve, die ein an der Peripherie eines sich vorwärts bewegenden Rades befestigter Nagel beschreibt) und zusammen mit dem Herzog von Roannez schafft er das erste Omnibussystem für Paris. Pascal lebt in dieser Zeit in äußerster Bescheidenheit und legt eine außerordentliche Fürsorge für die Armen an den Tag, denen er auch seine Einkünfte überlässt. In diese letzten Lebensjahre fällt auch die gedankliche Vorbereitung auf sein großes geplantes Werk, einer Apologie der christlichen Religion, das er nicht vollenden konnte. Die nahezu neunhundert Textfragmente, die man nach seinem Tod finden sollte und aus denen dann ein Werk von weltliterarischem Rang werden sollte, die Pensées, kann man zum überwiegenden Teil den Vorarbeiten zu dieser geplanten Apologie zuordnen.3

Zur bleibenden Bedeutung der Pensées

Pascals Notizen und Reflexionen hatten trotz ihres unabgeschlossenen, aphoristischen Charakters in die Zukunft weisende Bedeutung und sind seinem großen Antipoden, René Descartes, in vieler Hinsicht überlegen. Dies gilt zunächst in wissenschaftstheoretisch-methodologischer Hinsicht. Die Mathematik etablierte sich mit ihren klaren Definitionen und ihren strengen Schlussfolgerungen aus Anfangsprinzipien als der Idealtypus jeglicher Erkenntnis überhaupt. Pascal setzt nun dieser Art von Rationalität keineswegs einen irgendwie gearteten Irrationalismus entgegen, er leistet vielmehr eine immanente Kritik mathematischer Erkenntnis und zeigt scharfsinnig auf, dass sich die Mathematik nicht selbst begründen kann. Ihre Methode des Definierens und Beweisens stößt auf notwendige innere Grenzen. Die letzten Axiome, von denen sie auszugehen hat, sind selbst nicht mehr rational ableitbar, sondern nur noch intuitiv erfassbar. Die Mathematik weist so ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit folgend über sich hinaus. Damit nimmt Pascal Einsichten der großen Mathematiker und Logiker des 20. Jahrhunderts (Frege, Russell, Whitehead, Gödel …) über die inneren Grenzen des Formalisierens vorweg: Ein geschlossenes formales System, das in sich selbst völlig rational begründbar wäre, also sein eigenes Metasystem bildete, ist demnach nicht möglich. Mathematische Erkenntnis verweist somit stets auf ein Eingebettetsein in einen größeren Zusammenhang. Pascal bringt in diesem Kontext das vieldeutige Wort cœur, Herz, ins Spiel, das zu so vielen Missverständnissen Anlass gab. Es hat nichts mit Sentimentalität in unserem banalen Sinne zu tun. Philippe Sellier hat das mit »Herz« bei Pascal Gemeinte folgendermaßen zu erfassen versucht: »Das Herz bei Pascal ist der Sitz innerer, unmittelbarer, nicht beweisbarer Erkenntnisse: Diese Erkenntnisse sind wesentlich, sei es, weil sie den Ausgangspunkt aller anderen darstellen (die ersten Grundsätze wie etwa, Sein, dreidimensional, das Ganze größer als die Teile …), sei es, weil sie die Lebensführung bestimmen (Spürsinn, Geschäftssinn, ästhetisches Empfinden, Intuitionen jeglicher Art), sei es, weil sie dem Menschen das offenbaren, was ihn am meisten betrifft, sein Schicksal. Über diese breite Erkenntnistätigkeit hinaus […] umfasst das Herz die Gesamtheit des Willens mitsamt seinen unbewussten Neigungen oder bewussten Wünschen, seine Entscheidungen, seine Freuden oder seine Gewissensbisse. Es umfasst auch das moralische Gewissen. Die Dynamik, mit welcher sich der Mensch an die Tat macht, liegt ihm voraus. Das Herz meint also die Tiefe und Spontaneität, unser wahres Sein. Die Einbildungskraft und die Vernunft, die ihm fremd sind, stellen nur die Oberfläche des Menschen dar. Insbesondere innerhalb einer religiösen Perspektive ist das Herz die Wahrheit des Menschen: Die Fähigkeit des Unendlichen, des Absoluten.« (Sellier 1991, 45–46). Damit wird vor allem deutlich, dass Pascals methodologische und erkenntnistheoretische Überlegungen und sein denkerisches Durchdringen der menschlichen Existenz nicht zwei voneinander unabhängige Sphären darstellen, sondern unmittelbar zusammenhängen. Eine konsequente Reflexion des menschlichen Erkenntnisvermögens mündet per se im Nachdenken über das Ich und seine exponierte Stellung im Universum.4

Wissenschaftstheoretisch ist noch in anderer Hinsicht ein wesentlicher Unterschied zu Descartes festzuhalten: Während für Letzteren die – formale – Mathematik auch der Weg zu jeglichem materialen Erkenntnisgewinn ist, insistiert Pascal auf der methodischen Eigenständigkeit der empirischen Erkenntnis. Nicht Deduktion allein, sondern die empirische Überprüfung von Hypothesen sichert Erkenntnis in diesem Bereich. Pascals methodologische Überlegungen führen ihn schließlich zu jenem Falsifizierbar-keitskriterium5, das Karl Popper im 20. Jahrhundert zum wissenschaftstheoretischen Standard erhebt.

Des Weiteren gelangt Pascal gerade aufgrund der Naturforschung zu einer positiven Würdigung der Tradition und Geschichtlichkeit des Denkens. Während Philosophen der Aufklärung in der Regel Vernunft und Tradition abstrakt einander gegenüberstellen, zeigt Pascal, dass menschliches Wissen sich entwickelndes Wissen ist, dass es sich gerade durch seine Perfektibilität im Gegensatz zu einer statischen Festgelegtheit auszeichnet, dass Wissensfortschritt immer an einen Kontext gebunden ist und einen Zeitindex trägt.

Vor allem aber hat Pascal seine bleibende Bedeutung als Denker der menschlichen Existenz. Wiederum ist der Vergleich mit René Descartes erhellend. Letzterem geht es um die Gewissheit des Denkens, der theoretischen Welterkenntnis. Sein »methodischer Zweifel« führt ihn schließlich zu seinem Cogito, ergo sum als dem unerschütterlichen Fundament der Wahrheit und Gewissheit. Pascal aber, in dessen PenséesConditio humana