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Frank J. Robertz
Ruben Wickenhäuser

kriegerträume

Warum unsere Kinder zu
Gewalttätern werden

Mit 9 Abbildungen

Herbig

Bildnachweis:

Alle Illustrationen Felix Mertikat, www.zeitland.com

 

 

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© 2010 F. A.Herbig
Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten

Herstellung und Satz: VerlagsService Dr.Helmut Neuberger
& Karl Schaumann GmbH,Heimstetten
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7844-8022-0

Vorwort

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ewalt ist keine Lösung«, schallt es bundesweit durch unsere Schulen und Jugendeinrichtungen. Das klingt aus Erwachsenensicht durchaus logisch. Wir wissen um die schwerwiegenden Folgen von Gewalt: Opfer tragen neben körperlichen Verletzungen oft auch erhebliche psychische Schäden davon, die ihr Leben dauerhaft beeinträchtigen können. Stresssymptome, Angststörungen, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen sind nur ein kleiner Ausschnitt aus der langen Reihe individueller Konsequenzen. Doch auch für die Täter bleibt eine Gewalttat nicht folgenlos. Insbesondere eine Inhaftierung bringt schwerwiegende Veränderungen mit sich. Die Täter verlieren in jener Zeit neben ihrer physischen Freiheit auch ihre Privatsphäre, Habe, natürliche Umgebung und die Möglichkeit, heterosexuelle Beziehungen zu erleben. Oft müssen sie sich von ihrer Arbeit, Wohnung und Freunden trennen, die mit einem »Knacki« nichts mehr zu tun haben wollen. Sie verlieren ihre Selbständigkeit und oftmals bei langer Haft auch einiges von ihrem Realitätssinn. Daher erscheint es verständlich, dass engagierte Pädagogen immer wieder demonstrativ darauf hinweisen, Gewalt sei keine Lösung. Diese Annahme ist jedoch grundlegend falsch, ja sogar naiv.

Gewalt ist eine Lösung. Natürlich ist sie aus Sicht der Gesellschaft keineswegs ein tolerierbarer Weg. Und natürlich werden nicht alle unsere Kinder und Jugendlichen Gewalttäter, sondern nur eine kleine Minderheit. Aber aus Sicht dieser gewaltbereiten Minderheit ist Gewalt oft sogar die einzige Lösung, die sie wahrnehmen. Gewalt führt zu einem schnellen Erfolg, indem sie tief verwurzelte Wünsche dieser Jugendlichen erfüllt.

Gewalt kann von ihnen ganz gezielt genutzt werden, um die eigenen Grenzen zu erfahren: von den Grenzen des Möglichen über die Grenzen der eigenen körperlichen Fähigkeiten bis hin zu den Grenzen des Aushaltbaren.

Gewalt kann auch dem Gewinn von eigenem sozialen Status dienen: Anerkennung, Achtung und die Würdigung als ein »echter Gegner« stehen dem Klischee des verachtenswerten Schwächlings gegenüber, der sich nicht durchzusetzen weiß. Eng verbunden ist damit ein Verständnis von Männlichkeit, das sich mangels klar gezeichneter Werte des Mann-Seins in unserer Gesellschaft über die Ausübung von körperlicher Gewalt definiert. Insbesondere, wenn die eigene Ehre bedroht wird, erscheint es legitim, ja oft sogar kulturell gewünscht, den Drohenden mit nachhaltiger Gewalt in seine Schranken zu weisen. Zudem kann beim Ausüben von Gewalt Macht erfahren werden, der oftmals eine Ohnmacht im sozialen und beruflichen Alltag vorangeht.

Im Zentrum all dieser verlockenden Anreize zur Gewaltausübung steht als gemeinsamer Nenner die Verwirklichung von eigenen Idealen. Jugendliche gehen an Grenzen, erlangen Achtung, demonstrieren Männlichkeit und erfahren Handlungsmacht, indem sie sich als gerechtfertigt handelnde Krieger stilisieren. Sie setzen sich aus ihrer subjektiven Sicht heraus für eine »gute Sache« ein – sei es die Richtigstellung von Anschuldigungen, der Schutz von Familie oder Kultur, die Stellung im Freundeskreis oder auch das demonstrative Umkehren unerwünschter Gefühle. Sie glauben sich im Recht, und sie sind diejenigen, die dieses Recht durchsetzen.

Über die stilisierte Vorstellung eines Kriegers, der für das subjektiv Gerechte kämpft, kann selbst exzessive Gewalt legitimiert und als positiv erlebt werden. »Mann« verhält sich so, wie es scheinbar von ihm erwartet wird oder wie es zumindest zielführend zu sein scheint. So baut Gewalt für viele Jugendliche auf der Sehnsucht und der Rechtfertigung eines kämpferischen Heldentums auf. Und eben hiervon handelt unser Buch: von Kriegerträumen.

Wir werden Sie am Beispiel unserer Protagonisten durch verschiedene Formen der Verherrlichung und Verwirklichung von Kriegerträumen geleiten. Doch geht es uns keineswegs nur um ein belletristisches Aufzeigen der Wirklichkeit. Die Handlung wird Sie vielmehr zu wissenschaftlichen Erkenntnissen über Jugendgewalt führen und Sie an Erfahrungen mit gewaltbereiten Menschen teilhaben lassen.

Damit sollen weder Täter idealisiert noch Opfer ignoriert werden. Das große Leid der Opfer von Gewalttaten ist uns aus unserer Fortbildung von Psychologen, Polizisten und Lehrern, aber auch aus unserer jahrelangen Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen und mit inhaftierten erwachsenen Gewalttätern bewusst. Das Verhindern weiterer Schädigungen kann jedoch aus unserer Sicht nur dann gelingen, wenn die Motivation der jugendlichen Täter verstanden wird. Erst wenn deutlich ist, warum einige Jugendliche Gewalttaten begehen, können sie sinnvoll und nachhaltig davon abgebracht werden, Menschen zu schädigen. Daher ist dieses Buch primär als ein Beitrag zur Prävention von Opferwerdungen zu verstehen. Es legt seinen Schwerpunkt vor allem auf eine verständliche Darstellung von Jugendgewalt und auf ein erstes Aufzeigen von Lösungswegen. Die Buch- und Internettipps am Ende der Kapitel ermöglichen es, die jeweiligen Themen zu vertiefen. Weitere Möglichkeiten zur fachlichen Auseinandersetzung finden sich im Verzeichnis der verwendeten Literatur.

Als ein wichtiges Element des Buches werden in den einzelnen Kapiteln konkrete Wege aus der Gewalt aufgezeigt. Leser werden die zentralen Figuren der Rahmenhandlung nach der Lektüre getrost mit dem Buch zur Seite legen können. Die Möglichkeiten der Vermeidung von Jugendgewalt hingegen sollen Sie fortan gewissermaßen in Ihrem »inneren Nähkästchen« bereithaben.

Denn letztlich geht es nicht nur darum, die Ursachen für Gewalt zu verstehen, sondern vor allem darum, daraus zu lernen und Gewalttaten zu verhindern. Das ist eine Aufgabe, zu der wir alle unseren Teil beitragen können.

Kapitel 1
Jugendgewalt. Eine Einführung

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ewalt existiert seit Menschengedenken. Schon die ältesten Bücher der Menschheit lesen sich wie Kriminalromane: So wird in der Bibel bereits der erstgeborene Sohn Adams getötet.Auch archäologische Funde unzähliger Kriege,Verbrechen und Rituale verraten uns, dass Gewalt die Menschheit seit jeher begleitet. Beispielsweise zeigt die Analyse der am besten erhaltenen Mumie eines Menschen, die 1991 nahezu unversehrt aus dem Eis der Ötztaler Alpen befreit wurde, dass der vor 5300 Jahren verstorbene Mann vermutlich in einen Überfall verwickelt gewesen war – in seinem Körper wurde eine Pfeilspitze gefunden.

Gewalt wird dabei keineswegs nur als negativ bewertet. Auch außerhalb von Kriegen zeigen die Aussprüche bekannter historischer Persönlichkeiten immer wieder, dass Gewalt dann, wenn sie einen Nutzen hatte, durchaus positiv beurteilt wurde. So erinnert sich der ein oder andere, der im Lateinunterricht De bello gallico lesen musste, vielleicht noch an Cäsars Aussage »Raubzüge, die außerhalb der Stammesgrenzen unternommen werden, betrachten die Germanen nicht als Schande. Sie vertreten den Standpunkt, dass sie erfolgen, um die Jugend zu üben und vom Müßiggang abzuhalten.«

Nach Cäsars Ansicht sahen die Germanen das Rauben also quasi als erzieherisch wertvoll an. Es liegt nahe, dass damit auch ein anderer, weniger erzieherischer Zweck verfolgt wurde: Besser nämlich, dass die Jugendlichen außerhalb des eigenen Stammes raubten als innerhalb. Dass Cäsars Schilderung durchaus auf einem wahren Umstand beruhen kann, beweist ein Blick in andere Kulturkreise: Es finden sich zahlreiche ähnliche soziale Vorkehrungen auch bei anderen Völkern, darunter vielen indianischen Plains-Stämmen, die ihre Jugendlichen auf rituelle Raubzüge gegen Feinde sandten. Die Mandan-Indianer beispielsweise veranstalteten große Kriegsspiele und ließen aus heutiger Sicht äußerst brutale Mutproben zu, ja förderten sie sogar mit Lob. Die Jugend brauchte ein Ventil, um ihr rebellisches Gemüt nicht gegen die eigenen Mitmenschen zu richten. Denn das Austesten von Grenzen und Brechen von Normen ist seit jeher ein Merkmal von Jugend.

Schon die griechischen Philosophen Sokrates und Platon beklagten sich Hunderte Jahre vor Christus über die damaligen Jugendlichen. So wird Sokrates der Ausspruch zugeschrieben: »Die Jugend hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten«, während Platon die Ansicht vertrat, »unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.« Daran änderte sich im Verlauf der Geschichte nichts. 2000 Jahre später ließ Shakespeare einen alten Schäfer in seinem Wintermärchen seufzen: »Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen 10 und 23, oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit; denn dazwischen ist nichts, als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, Stehlen und Balgen.«

Zu allen Zeiten brachen vor allem junge Männer besonders gerne und häufig bestehende Normen. Und zu allen Zeiten waren es auch vor allem junge Männer, die besonders gewaltbereit auftraten. Dass wir heutzutage die 14- bis 25-jährigen männlichen Jugendlichen als absolute Spitzenreiter der jährlichen Statistiken im Bereich der Gewaltkriminalität ausmachen können, ist also keineswegs ein Phänomen der Gegenwart.

Auch wenn die Unzufriedenheit über Jugendliche in zahlreichen Epochen belegbar ist und man auf verschiedene Weise versuchte, diese zu kontrollieren oder sich zunutze zu machen, so gibt es natürlich einen Unterschied zwischen »ärgern«, »balgen« und »rauben«. Ein Buch über das Thema Jugendgewalt muss sich daher zunächst mit der Frage auseinandersetzen, was denn eigentlich als »Jugendgewalt« bezeichnet wird.

Umgangssprachlich werden die Begriffe »Gewalt« und »Aggression« oftmals miteinander vermischt. Selbst die Wissenschaften nutzen mitunter wenig trennscharfe Unterscheidungen. Zumeist ist man sich einig, dass Aggression als Überbegriff für feindseliges Verhalten angesehen wird, das sich gegen Menschen, Tiere oder Gegenstände richtet. In bestimmten Kontexten, wie dem Sport, kann dies durchaus positiv gesehen werden. Will man eine generell erhöhte Neigung zur Aggression beschreiben, so spricht man von Aggressivität.

Gewalt bezeichnet dagegen die absichtliche Schädigung eines anderen Menschen. Sie kann durchaus gerechtfertigt oder gewünscht sein, etwa wenn Polizisten Gewalt nutzen, um andere Menschen zu schützen. In aller Regel und insbesondere im Bereich der Jugendgewalt handelt es sich jedoch um Handlungsweisen, die von der Gesellschaft zutiefst abgelehnt werden. Spätestens dann, wenn dadurch Opfer zu beklagen sind, herrscht Einigkeit, dass Gewalt kein probates Mittel der Durchsetzung sein darf.

Dabei kann die Bezeichnung von Handlungsweisen als »Gewalt« durchaus enger oder weiter gefasst werden. Meist unterscheidet man zwischen

physischer Gewalt (Schädigung durch Einsatz körperlicher Kraft),

psychischer Gewalt (Schädigung durch Zufügung seelischer Qualen),

verbaler Gewalt (Schädigung durch erniedrigende Sprachwahl) und

relationaler Gewalt (Schädigung durch Missachtung oder Entzug von Beziehung).

Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat zusätzlich den Begriff der strukturellen Gewalt geprägt und beschreibt sie als jede vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse.

Obwohl der Begriff »Gewalt« auf den ersten Blick eindeutig zu sein scheint, zeigen die Definitionen, dass es sich um eine recht komplexe Angelegenheit handelt. Und das ist wichtig. Denn die genaue Definition von Gewalt ist wesentlich für die Beurteilung der Häufigkeit und der sozialen Erwünschtheit von Gewalt. Zum Beispiel beziehen einige Studien Beleidigungen auf dem Schulhof als verbale Gewalt mit in ihre Untersuchungen ein. Ist man sich dessen nicht bewusst, dann wird man zweifellos über die öffentlichkeitswirksame Feststellung dieser Studien erschrecken, dass mehr als 90 Prozent unserer Jugendlichen gewalttätig seien.

Die meisten Studien halten sich jedoch enger an die strafrechtlichen Rahmenbedingungen. Hier steht vor allem die Verletzung eines anderen Menschen durch körperliche Gewalt im Mittelpunkt.

Durch eine solche engere Eingrenzung wird auch die Zu- oder Abnahme von Gewalt messbar. Es lässt sich also prüfen, ob unsere Jugend tatsächlich von Jahr zu Jahr häufiger und härter zuschlägt, wie es regelmäßig in der Presse zu lesen ist. Um nicht zu falschen und oft überaus dramatischen Schlüssen zu kommen, muss man sich die Aussagen zu Gewalt in Wissenschaft und Berichterstattung stets genau ansehen. Äußerungen wie »Unsere Jugend wird immer brutaler« werden allzu leichtfertig getätigt. Zunächst ist es wichtig zu verstehen, dass nicht etwa »die Jugend« als Ganzes von physischer Gewalt betroffen ist. Eine 2009 publizierte Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen (KFN) zeigte beispielsweise anhand von mehr als 40 000 Schülern neunter Klassen aus 61 repräsentativ ausgewählten Landkreisen bzw. kreisfreien Städten auf, dass mehr als drei Viertel der Jugendlichen im Jahr vor der Befragung keine strafrechtlich relevante Gewalt miterlebt hatten. Knapp 17 Prozent wurden dagegen Opfer mindestens einer Gewalttat. Gut 13 Prozent gaben an, in dieser Zeit mindestens ein Gewaltdelikt begangen zu haben, und gut 4 Prozent gaben mindestens fünf solcher Gewalttaten zu.

Sind dabei nun tatsächlich so große Zunahmen zu verzeichnen, wie uns die Presse jedes Jahr aufs Neue signalisiert? Alljährlich wird insbesondere bei Erscheinen der neuen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) über eine Zunahme der Jugendgewalt berichtet. Diese PKS zeigt uns jedoch kein reales Abbild der gesamten Straftaten in Deutschland, sondern ist eher ein Tätigkeitsbericht der Polizei. Aus dem großen Bereich der insgesamt begangenen Straftaten dokumentiert die PKS nur diejenigen Taten, die der Polizei bekannt werden. Und aus der Menge aller Straftäter tauchen nur die Tatverdächtigen in der PKS auf, gegen welche die Polizei in jenem Jahr ermittelt hat. Ob Straftaten und Tatverdächtige jedoch der Polizei bekannt werden, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Sehr ausschlaggebend ist etwa das Anzeigeverhalten der Bevölkerung. Herrscht eine größere Bereitschaft, bestimmte Delikte anzuzeigen, erhält die Polizei von diesen eher Kenntnis und kann ermitteln: Die in der PKS verzeichneten Fallzahlen steigen dadurch an.

Ebenso wirken sich Änderungen von juristischen Rahmenbedingungen und veränderten Kontroll- bzw. Ermittlungsaktivitäten der Polizei spürbar auf die Daten der PKS aus.

Machen wir dazu ein kleines Gedankenexperiment: Nehmen wir die Graffitisprayer in Berlin. Jedem, der auch nur einen Bericht über unsere Hauptstadt gesehen hat, muss auffallen, dass Graffitis hier besonders weit verbreitet sind.

Tatsächlich besitzt die Berliner Polizei mittlerweile ein eigenes Kommissariat für diese Vorfälle und kann nach eigenen Angaben mehr als jede zweite Straftat nachermitteln bzw. aufklären. Doch stellen wir uns einfach einmal vor, dies sei noch nicht der Fall und die Berliner Polizei könne lediglich zwei Beamte für die Strafverfolgung im Bereich von Graffiti einsetzen. Wenn nun jeder Beamte pro Jahr zehn Fälle aufklären und fünf Sprayer der Strafverfolgung zuführen könnte, dann fänden sich in der PKS jenes Jahres logischerweise 20 Fälle und zehn Tatverdächtige wieder. Würden dann im Folgejahr hingegen vier Beamte eingesetzt, so könnten diese bei gleicher Erfolgswahrscheinlichkeit nun 40 Fälle aufklären und 20 Täter überführen. In der PKS hätte sich damit die Zahl der Straftaten und Täter innerhalb nur eines Jahres verdoppelt. Obwohl vielleicht gar nicht mehr – oder sogar weniger – Straftaten begangen worden wären als im Vorjahr, scheinen sich die Taten gemäß der Statistik verdoppelt zu haben. Die öffentliche Reaktion würde sicherlich reichlich empört ausfallen.

Unser Gedankenexperiment zeigt: Die registrierten Daten über Straftaten können erheblich steigen, auch wenn gar kein tatsächlicher Anstieg von Taten vorliegt. Denn was die PKS abbildet, ist nur das sogenannte »Hellfeld« der Kriminalität. Tatsächlich begangene Taten, die sie nicht erfasst, werden als »Dunkelfeld« bezeichnet.

Natürlich hat dieser Vergleich einen Haken. Würden rein theoretisch so viele Beamte eingesetzt, dass alle Straftaten ermittelt werden können, so ist durch den Einsatz von mehr Beamten keine Steigerung mehr herbeizuführen. Auch die reale Größe des Dunkelfeldes, also der überhaupt maximal ermittelbaren Fälle, verändert die jährlichen Zahlen. Daher versuchen Kriminologen eine Vorstellung davon zu bekommen, wie groß dieses Dunkelfeld denn eigentlich ist. Auf diese Weise ließe sich feststellen, ob bestimmte Straftaten tatsächlich zunehmen. Aber das Dunkelfeld hieße nicht Dunkelfeld, wenn es sich so gut erfassen ließe. Anonyme Befragungen zu begangenen oder erlittenen Taten sind ein Weg, die reale Größe besser einschätzen zu können. Hierbei wird die Menge der Straftaten und der Opferwerdungen in bestimmten Bevölkerungsgruppen erfragt. Im Bereich der Gewaltkriminalität können die so erhobenen Daten dann mit der PKS und weiteren offiziellen Statistiken verglichen und auf diese Weise präzisiert werden. Beispielsweise können die bei den Unfallkassen bekannten meldepflichtigen Raufunfälle und Frakturen infolge von Raufereien einen wichtigen Hinweis zur Zu-oder Abnahme von Gewalt und Gewaltfolgen geben.

Doch genug der Vorrede. Es ist deutlich geworden, wie die PKS zu bewerten ist, doch was sagen die Statistiken denn nun wirklich aus? Die PKS verzeichnet die Delikte Mord, Totschlag, Raub, Vergewaltigung und gefährliche bzw. schwere Körperverletzung gesammelt als »Gewaltkriminalität«. In diesem Bereich zeigt die PKS formal zunächst tatsächlich bei Jugendlichen eine deutliche Zunahme. Um diese darzustellen, wird als statistisches Hilfsmittel die sogenannte Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ) genutzt. Sie beschreibt die Anzahl der Tatverdächtigen pro 100000 Personen einer Altersgruppe. Für Jugendliche hat sich die TVBZ der Gewaltkriminalität von 1993 (620) bis 2007 (1267) mehr als verdoppelt. Ähnlich verhält es sich mit den separat verzeichneten Daten über leichte Körperverletzungen. So gesehen haben die Presseberichte also zunächst recht.

Doch so einfach ist es nicht. Denn andere Daten innerhalb der PKS widersprechen einer generellen Zunahme deutlich. So schreibt das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in besagter Studie, dass sich diese Tendenz in allen als Gewaltverhalten erfassten Delikten widerspiegeln müsste. Ebenso müsste auch die Bereitschaft zu anderen kriminellen Verhaltensweisen messbar steigen. Beides ist jedoch nicht der Fall. Es erscheint Kriminologen unglaubwürdig, dass jugendliche Rechtsbrecher ausschließlich die Norm des Gewaltverzichts missachten sollten, jedoch andere Normen gleichbleibend akzeptieren.

Aber woher kann der Anstieg dann kommen? An diesem Punkt wird die Rolle der Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung überdeutlich: Eine Dunkelfeldstudie des KFN von 2005 belegte die geradezu lächerlich geringe Anzeigequote von rund neun Prozent für leichte und zehn Prozent für schwere Körperverletzungen. Nur jede zehnte Körperverletzung wurde der Polizei also überhaupt bekannt. Dies mag daran liegen, dass die Übergriffe als geringfügig betrachtet wurden oder dass sich Opfer und Täter nahestanden. Scham oder Angst können die Motivation zur Anzeige in solchen Fällen deutlich verringern. Bei derart niedrigen Anzeigequoten bewirkt natürlich schon eine etwas höhere Anzeigebereitschaft, dass sich die PKS-Daten sprunghaft verändern.

Ein weiteres Indiz dafür, dass diese Veränderung nur auf eine Erhöhung der Anzeigebereitschaft zurückgeht, ist, dass in den letzten Jahren von der Polizei zwar deutlich mehr Jugendliche als Gewalttäter erfasst wurden, doch die Anzahl der tatsächlich verurteilten Jugendlichen im gleichen Zeitraum nur geringfügig stieg. Offenbar weist ein hoher Anteil der zusätzlich angezeigten Jugendgewalt eine geringe Schwere auf.

So kommen Kriminologen weitgehend zu dem Schluss, dass Jugendliche zwar in den letzten Jahren erheblich häufiger als Tatverdächtige von Gewalttaten registriert wurden, dass dies jedoch die Folge eines veränderten gesellschaftlichen Umgangs mit der Jugendgewalt ist. Gewalttätiges Verhalten wird mittlerweile weniger toleriert und daher häufiger zur Anzeige gebracht.

Zahlreiche Dunkelfeldstudien der letzten 15 Jahre belegen diesen Eindruck. So zeigen die hochwertigen Längsschnittstudien über selbst angegebene Täter- und Opferschaft übereinstimmend ein recht deutliches Sinken der Menge an Gewalttaten durch Jugendliche. Dies gilt ebenso für die Statistiken der Unfallkassen.

Diese Statistiken der Unfallkassen verzeichnen darüber hinaus auch, ob es infolge von Gewaltanwendungen an Schulen zu Knochenbrüchen gekommen ist. Damit lässt sich ein Eindruck von der Intensität der angewandten Gewalt gewinnen. Interessanterweise sank in den letzten Jahren parallel zu den »Raufunfällen« an Schulen in den Statistiken auch die Menge der Brüche, die durch diese Raufunfälle verursacht wurden. Damit widersprechen diese Daten der Unfallkassen also auch der oftmals vertretenen These, dass zwar nicht die Menge der Gewalt zugenommen habe, wohl aber die Intensität. Leider enthalten amtliche Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken für Gewaltkriminalität keine Hinweise über die Schwere der Gewaltdelikte, doch auch hier können wir versuchen, andere Daten als Belege zu nutzen. Tatsächlich ergeben auch Aktenanalysen, ebenso wie Befragungsdaten von Opfern keinen Hinweis darauf, dass die Intensität der Gewaltdelikte zugenommen hätte. Der Konstanzer Kriminologieprofessor Wolfgang Heinz weist sogar auf Schülerbefragungen hin, die zeigen, dass sich im Verhältnis der Gewalttaten nicht die schweren Fälle, sondern jene mit leichteren Schäden erhöht haben. In den Befragungen wurden sie mit »materieller Schaden bis maximal 50 Euro« und »keine ärztliche Behandlung erforderlich« umschrieben. Sollte die Intensität der Gewalt durch Jugendliche also in den letzten Jahren tatsächlich zugenommen haben, dann macht sich das bislang jedenfalls nicht in messbaren Daten bemerkbar.

Auf dem derzeitigen Forschungsstand muss daher die logische Konsequenz lauten, dass wir zwar sensibler in der Wahrnehmung von Gewalt geworden sind, dass die Gewalt durch Jugendliche jedoch entgegen der gängigen Meinung seit Jahren eher abnimmt. Allerdings kommen in einzelnen Bereichen neue Formen von Gewalt hinzu, deren Auftreten tatsächlich rasant ansteigt. Hierzu zählen beispielsweise »Cyberbullying« und sogenannte Amokläufe durch Jugendliche an Schulen. Was sich hinter diesen speziellen Formen der Gewalt verbirgt, wird in diesem Buch noch ausführlich behandelt werden.

Wenngleich insgesamt kein Anstieg der Jugendgewalt zu verzeichnen ist, heißt das keineswegs, dass wir die Hände in den Schoß legen können. Denn es ist tatsächlich so: Wir haben ein Problem mit der Jugendgewalt. Auch wenn »nur« etwa jeder sechste unserer Schüler zum Opfer wird, so ist das dennoch eindeutig zu viel. Wir befinden uns mit der Präventionsarbeit auf einem guten Weg, doch es muss sehr viel mehr getan werden, um die körperliche Verletzung Jugendlicher und Erwachsener in der Zukunft bestmöglich zu verhindern.

Ein erster Schritt kann es sein, sich zunächst klarzumachen, wie Gewalt entsteht. Diese Frage ist außerordentlich schwer zu beantworten. Schon ein Blick ins fachlich sortierte Bücherregal fördert Hunderte von Büchern zutage, die jeweils eigene Sichtweisen und Theorien vertreten. In den einen wird Aggression als angeborener Trieb behandelt oder als direkte Folge von Frustrationen bewertet, in den anderen wird sie als erlerntes Verhalten angesehen. Doch erneut gilt: Ganz so einfach ist es nicht. Menschliches Verhalten ist derart komplex, dass simple Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge bestimmte Verhaltensweisen nicht beschreiben können. Es geht stets um ein Netz aus vielen Ursachen und Wirkungen, die sich gegenseitig beeinflussen. Auch die besten Theorien müssen daher in erster Linie Modelle bleiben. Wir können mit diesen Modellen zwar einen Eindruck von den Zusammenhängen gewinnen, doch ist es unmöglich, einen einzelnen Faktor als präzisen Auslöser für den Einsatz von Gewalt zu benennen.

Auch wenn es nicht die Ursache für Gewalttaten gibt, können wir immerhin gewaltfördernde Faktoren beschreiben, die das Auftreten von Gewalt wahrscheinlicher machen. Ebenso können wir auf schützende Faktoren hinweisen, die das Auftreten von Gewalt unwahrscheinlicher machen. Diese Faktoren sind unser Handwerkszeug. Um Gewalt zu vermeiden, kommt es stets darauf an, gewaltfördernde Faktoren zu reduzieren und Schutzfaktoren zu stärken.

Doch es wird noch komplizierter: Diese Faktoren unterscheiden sich bei den verschiedenen Formen von Gewalt. Schlagen sich beispielsweise zwei Jugendliche auf dem Schulhof, so ist das völlig anders zu erklären als ein Jugendlicher, der nach vorheriger Ankündigung seinen Lehrer umbringt. Wird ein Passant in der S-Bahn zusammengeschlagen, so hat dies kaum etwas mit Mobbing gemeinsam. Demütigt ein Jugendlicher seinen Klassenkameraden und stellt einen selbstgedrehten Film davon ins Internet ein, so ist das nicht mit dem Gewaltexzess eines Hooligans zu vergleichen.

Besonders wichtige Faktoren, die Gewalt fördern bzw. vor ihr schützen, finden sich in den eigenen Gewalterfahrungen, fehlenden emotionalen Bindungen, aggressionsfördernden Gefühlen, psychischen Störungen, Hirnveränderungen oder im Einfluss von Medien. Es werden biologische, entwicklungsbedingte und im sozialen Umfeld entstandene Faktoren unterschieden, die gemeinsam in einer bestimmten Situation zur Gewalt führen können. Wie sich all diese Komponenten jedoch konkret zusammensetzen, unterscheidet sich in jedem Einzelfall. Somit wird die Erklärung von Jugendgewalt in den meisten Fällen ziemlich unübersichtlich und schwer fassbar.

Doch es gibt einen Weg durch dieses Dickicht, der Jugendgewalt besser verstehen lässt und der bislang weitgehend übersehen wurde: Die eigentliche Motivation der jugendlichen Gewalttäter. Damit ist nicht die sehr kurzfristige Erwartung gemeint, sich durch einen gezielten Faustschlag Respekt zu verschaffen. Vielmehr geht es um langfristige Vorstellungen und Phantasien, die Jugendliche hegen. Es geht um ganz grundsätzliche Annahmen, warum sich Gewalt für sie lohnt.

Wenn ein Jugendlicher Waffen einpackt, sich eine Sturmhaube überzieht und zum Töten zur Schule geht oder wenn ein anderer sich bereit macht, den Außenseiter der Klasse wieder so richtig vorzuführen, dann ist dies nicht in erster Linie mit der Beeinflussung durch biologische oder im Lebensverlauf angesammelte Einflüsse zu erklären. Denn diese Jugendlichen wollen in erster Linie andere Menschen schädigen. Sie ziehen einen klaren Nutzen aus diesen Handlungen. Und damit ergibt ihre Gewalttat aus ihrer Sicht einen klaren Sinn.

Diesem Sinn werden wir in den folgenden Kapiteln auf den Grund gehen. Es wird sich erweisen, dass die Bedeutung von Gewalt für diese Jugendlichen vor allem mit Ansichten über Männlichkeit, Stärke, Status, Kontrolle und Durchsetzung beschrieben werden kann. Ihre Phantasien sind von unterscheidbaren Vorstellungen erfüllt, die wir in diesem Buch anhand von Kriegertypen illustrieren. Damit sind weniger die historisch realen Kriegerklassen gemeint als vielmehr die in der Populärkultur verankerten Vorstellungen der Jugendlichen von diesen Kriegerklassen. Aus diesem Grund werden sie hier auch als »Kriegerträume« bezeichnet. Ein grundlegendes Verständnis dieser Kriegerträume ermöglicht es, geeignete Präventions- und Interventionsstrategien für die jeweiligen Formen von Gewalt zu entwickeln.

Aus Sicht der sogenannten Kulturanthropologie zielen solche Kriegerträume gewaltbereiter Jugendlicher vor allem auf die Wiederherstellung einer männlich dominierten Welt. Man spricht in diesem Zusammenhang im Wissenschaftsdeutsch von einer »hegemonialen Maskulinität«. Vor allem das Zeugen von Nachwuchs und das Beschützen und Versorgen der Gemeinschaft bilden im traditionellen Verständnis Grundprinzipien von Männlichkeit. Oftmals werden Bedrohungen, die Jugendliche in diesen Bereichen wahrnehmen, demonstrativ mit Gewalt beantwortet. Das Abbild der eigenen Männlichkeit kann auf diese Weise überdeutlich zur Schau gestellt werden.

Insbesondere dem Infragestellen der eigenen Heterosexualität, Zeugungsfähigkeit oder Vaterschaft eigener Kinder »muss« mit oft exzessiver Gewalt begegnet werden, um diese Männlichkeit zu wahren. Im Bereich des Beschützens und Versorgens der Gemeinschaft werden türkische Mädchen vor deutschen Freunden oder umgekehrt deutsche Frauen vor der Anmache einer anderen kulturellen Gruppe »gerettet«. Ganz egal, ob die Mädchen und Frauen überhaupt gerettet werden wollen. Ebenso verteidigen Jugendgruppen »ihren« Stadtteil, »ihre« Kultur, »ihren« Fußballverein.

Doch nicht nur die Männlichkeit an sich ist hier entscheidend, sondern die »richtige« Männlichkeit. Wenn Jungen heutzutage in unserer Gesellschaft aufwachsen, so stehen sie nicht nur vor der Herausforderung, ihre Geschlechtsidentität zu entwickeln, sondern müssen vielmehr überhaupt erst herausfinden, was denn Männlichkeit in unserer Kultur eigentlich bedeutet. Mitunter fehlt die Vaterfigur in der Familie, große Brüder sind nicht immer vorhanden und in Hort, Kindergarten und Grundschule arbeiten vor allem Erzieherinnen und Lehrerinnen. Ein Vorbild von Männlichkeit ist für sie schwer zu finden. Oftmals muss dann die Populärkultur herhalten, um dieses Ideal zu identifizieren. Doch auch das erweist sich als ganz und gar nicht so leicht.

Nehmen wir das allabendliche Werbeprogramm im Fernsehen. Wenn wir auf einem beliebigen Sender zu beliebiger Zeit zehn Minuten Werbespots aufzeichnen und diese in Ruhe anschauen, dann stellen wir fest, dass darin mehr als ein Dutzend verschiedene Männerbilder vertreten sind. Mehr noch: Sie sind oft unvereinbar miteinander. Probieren Sie das kleine Experiment ruhig einmal aus. Vom vorsorgenden Familienvater über den dreitagebärtigen Naturburschen, den romantischen Verführer, den passiven Tagträumer oder den femininen Softie geht es hin bis zum abweisenden Einzelgänger mit den richtigen Pflegeprodukten und der coolsten Zigarettenmarke.

Woran soll sich ein moderner Junge von heute nun orientieren? Was erwarten Mädchen und Frauen von ihm, was die anderen Jungs? Was erwarten die Eltern, was die Schule? Und was davon kann der kleine Mann überhaupt leisten?

Inmitten des Bilderlabyrinths der Männlichkeit wird mangels klarer Orientierung durch Erwachsene häufig Zuflucht in archetypischen Film- und Buchvorlagen gesucht. Im für Jugendliche interessanten Segment der Actionfilme und Thriller wird die Männlichkeit endlich handfester: Die männlichen Protagonisten zeigen dort Risikobereitschaft und Abenteuerlust, Konfrontationswillen und Kampfesmut, körperliche Leistung und Durchsetzungsfähigkeit. Und sie setzen immer wieder gezielt Gewalt ein, um ihre Ziele zu erreichen. Ob augenzwinkernd in Fluch der Karibik, brachial in Gladiator, exzessiv in 300 oder zweckgerichtet in Operation Walküre. Selbst der ehemals durch sein analytisches Denken fesselnde Sherlock Holmes besticht in der Neuverfilmung von 2010 mehr durch die effektive Nutzung von Gewalt. Es ist nicht verwunderlich, dass Jugendliche die von uns Erwachsenen dargebotenen Identifikationsfiguren dann auch als Handlungsvorbilder nutzen.
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atürlich geschieht das nicht im Sinne eines platten Auslösers zur Gewalt. Das wäre bei Weitem zu kurz gegriffen. Jahrzehnte der Medienwirkungsforschung haben klar aufgezeigt, dass das Bedingungsgefüge zwischen filmischen Vorbildern und der Nutzung von Gewalt durch die Betrachter der Filme weit komplexer ist. Statt einem einfachen Ursache-Wirkungs-Schema müssen auch hier die zusammenwirkenden Einzelfaktoren betrachtet werden. Vor allem die Art der gezeigten Inhalte, die betrachtende Person und ihr soziales Umfeld erweisen sich als bedeutsam. Wie sind etwa in einem Film das Ausmaß und der Grad von expliziter Gewalt dargestellt? Wie attraktiv wird der Gewalttäter portraitiert und wie seine Gewalt gerechtfertigt? Wie ist das Alter, Geschlecht und die intellektuelle Fähigkeit des Betrachters? Welche Einflüsse spielen Familie, Schule oder reale eigene Gewalterfahrungen? All das und mehr muss berücksichtigt werden, wenn klare Aussagen zur Wirkung eines Filmes auf einen Jugendlichen getroffen werden sollen. Im Kern geht man heute davon aus, dass vor allem jene männlichen Jugendlichen von gewalthaltigen Filmen beeinflusst werden, die in ihren Familien und der Schule viel reale Gewalt erleben und häufig realistisch anmutende bzw. heroisch dargebotene Medieninhalte konsumieren. Doch ist mit dieser wissenschaftlich belegten Beeinflussung nicht etwa gemeint, dass filmische Gewalt als direkter Auslöser für konkrete Gewalthandlungen funktioniert. Es geht lediglich um eine Steigerung der Aggressivität, also um das Potenzial, jemand anderen absichtlich zu schädigen.
Die Forschungsergebnisse erklären indes nicht, warum von einigen wenigen Jugendlichen sogar konkrete Gewaltsequenzen aus Filmen nachgespielt werden oder wieso Gesten und Kleidung von Schauspielern bei Gewalttaten imitiert werden. Sie erklären auch nicht, warum Gedankenmuster, Gefühle oder Verhalten der Filmhelden von einzelnen Jugendlichen als Vorbild für Gewalttaten genannt werden. Eine solche Identifikation mit Filmhelden nimmt in Einzelfällen extreme Züge an. Jugendliche Gewalttäter imitierten Szenen aus Filmen wie etwa Taxi Driver, Natural Born Killers oder American History X und riefen während der Tat sogar Filmzitate. Auch Batman – The Dark Knight aus dem Jahr 2008 führte dazu, dass zwei 18-Jährige aus Virginia im August 2008 den Filmbösewicht »Joker« nachahmten, indem sie Spielkarten mit bedrohlichen Nachrichten in Filialen von Wal-Mart und K-Mart ablegten. Ähnlich wenig später: Im Januar 2009 tötete ein 20-Jähriger in der Kindertagesstätte Fabelland in Dendermonde (Belgien) zwei Kinder und einen Erwachsenen. Meldungen, dass sein Gesicht analog zum Filmcharakter »Joker« geschminkt gewesen sei, wurden später von seinem Anwalt dementiert und von der Polizei nicht offiziell bestätigt. Dennoch hatte der junge Mann nachweislich eine Obsession für den Film, während der Tat Zitate eines der Filmhelden gerufen und seine Tat am Todestag des Schauspielers Heath Ledger begangen, der in jenem Film den »Joker« verkörperte.
Derlei spezifisches Nachahmungsverhalten erreicht jedoch eine Intensität der Gedankenbilder, die über herkömmliche Kriegerträume weit hinausreicht. Es stellt Ausnahmefälle dar, die erst durch ein ungewöhnlich starkes Phantasie-Erleben zu erklären sind.
Die in diesem Buch thematisierten Kriegerträume werden dagegen von sehr vielen gewaltbereiten Jugendlichen geteilt. Bei diesen Kriegerträumen handelt es sich um archaische Orientierungen zum Sinn von Gewalt. Mit ihrer Hilfe kann Gewalt als zweckmäßig, gerechtfertigt und befriedigend erlebt werden.
Wagen wir also einen Blick in die verschiedenen Ausprägungen der Kriegerträume von gewaltbereiten Jugendlichen.

Drei Web-Tipps:

www.berlin.de/lb/lkbgg (Landeskommission Berlin gegen Gewalt)

www.gangway.de (Straßensozialarbeit mit Jugendlichen in Berlin)

http://pages.unibas.ch/violence (Interdisziplinäres Forschungsprojekt an der Uni Basel)

 

Drei Buch-Tipps:

Autrata, O./Scheu, B.: »Jugendgewalt. Interdisziplinäre Sichtweisen«, Wies

baden 2009 Robertz, F.: »Gewaltphantasien«, Frankfurt 2011 Wahl, K.: »Aggression und Gewalt. Ein biologischer, psychologischer und

sozialwissenschaftlicher Überblick«, Heidelberg 2009

Kapitel 2

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er Penner hatte wirklich gar keinen Plan. Angewidert verzog Kevin den Mund. Der war so was von verpeilt, das gehörte verboten. Kam in den Duschraum rein und hatte seine Unterhose an – seine spackige Unterhose mit den roten Pferdchen drauf. Automatisch rückte Kevin ein Waschbecken weiter, lehnte sich dagegen und guckte irgendwo an die Decke. Viel zu dicht neben ihm beugte sich Leon über ein Waschbecken. Es ist ja schon ein Wunder, dass er sich überhaupt wäscht, dachte Kevin. Dabei war gerade die Sportstunde um. Widerlich. Andi fand das offenbar auch. Der bullige Junge, der schon zweimal durchgefallen und nicht nur ziemlich fett, sondern auch größer als die anderen war, hatte sich gerade unter der Brause umgedreht und Leon in der Pferdchenunterhose erspäht. »Guckt mal, was unsere Hackfresse heute anhat!«, rief er aus und deutete auf Leon. »Trägst du die Buchse von deiner Schwester, Kleiner?« Einige der anderen Jungen lachten. Kevin schenkte Leon einen Blick aus den Augenwinkeln. Anstatt sich zu wehren oder wenigstens irgendetwas zu entgegnen, irgendetwas, und sei es nur so was wie »Halt’s Maul« oder so, beugte sich der Warmduscher doch tatsächlich nur tiefer über das Waschbecken. Kevin wusste, wie es weiterging. Andi würde den schmächtigen Jungen noch einmal provozieren, und noch einmal und vielleicht noch einmal, wenn die anderen das mit Lachen würdigten. Wenn ihre Aufmerksamkeit nachließ, dann würde er sich Leon greifen. Jetzt war noch Phase eins. Und wie immer ließ Leon es über sich ergehen. Was für ein erbärmliches Stück Scheiße. Er war selbst schuld, wenn Andi gleich zu Phase zwei übergehen würde. Kevin starrte wieder an die Ecke über den Duschen. Konnte endlich mal einer fertig werden? Er wollte auch noch drunter, bevor die Pause anfing. »Habt ihr gesehen, wie der vorhin am Tau gebaumelt hat? Voll das Opfer!« Andis Bemerkung mit den Tauen hellte Kevins Laune kurz auf. Heute hatte er es geschafft, als Erster den Metallgalgen knapp unter der Decke zu berühren. Stolz stieg in ihm auf. Die meisten anderen waren nicht mal zur Hälfte hochgekommen, aber er, er hatte sich hochgewunden wie einer von diesen Minidrachen, die auch Glasscheiben hinaufklettern konnten, als wäre es flacher Boden, das hatte er mal zufällig im Fernsehen gesehen. Cool war das gewesen, der Erste ganz oben zu sein. Der Sportlehrer hatte ihn sogar dafür gelobt. Auch wenn Kevin nichts auf das gab, was der sonst von sich absonderte – diesmal hätte er es doch gern gehabt, wenn die anderen das Lob mitbekommen hätten. Aber die hatten gerade alle über diesen bescheuerten Leon gelacht. Kevin wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als ihn ein paar kalte Wassertropfen am Arm trafen. »Hey, was soll der Scheiß!«, schrie er. Andi beachtete ihn gar nicht, sondern feixte über Leon, der einen Wasserschwall abbekommen hatte und zusammengezuckt war, nur um sich dann mit triefnassem Rücken wieder übers Becken zu beugen und Wasser unter die Achseln zu werfen.

»Deine Mutter hat dir wohl nicht mal erklärt, wie man sich richtig wäscht, hm? Deine Mutter ist wohl so ein hirnblindes Stinktier wie du, hm?«, stichelte Andi weiter. Phase zwei, notierte Kevin in Gedanken. Die Beleidigungen von Andi wurden so verletzend, dass jeder andere ihm dafür eine gelangt hätte. Selbst wenn er dann ganz üble Prügel bezogen hätte wie im Falle von Leon: Der war sogar noch einen Kopf kleiner als er und ein so dürres Kerlchen, dass es aussah, als würde er beim kleinsten Antippen zerbrechen. Jetzt, wo er fast nichts anhatte, wurde dieser Eindruck noch verstärkt.

Die Mitschüler zollten Andi diesmal nur verhaltenen Beifall. Das bedeutete, dass Phase drei kurz bevorstand. Und immer noch war keine Dusche frei geworden, ärgerte sich Kevin. Gleich würde er einen von den anderen rausschmeißen, von denen auf der linken Seite der Duschreihe, denn die auf der rechten gehörten zu Andis Crew.

Ehe er sich in Bewegung setzte, wurde seine Ahnung wahr.

»Wir bringen dir mal bei, wie das geht, Stinktier!« Andi setzte sich in Bewegung, und sofort lösten sich zwei andere Jungen, Patrick und Dennis, und folgten ihm. Kevin beobachtete gleichgültig, wie Andi hinter Leon trat.

»Bist du auch noch taub oder was? Unter die Dusche, sofort!«, befahl Andi. Als Leon sich nicht rührte, langte Andi ihm mit der Pranke von hinten zwischen die Beine, und sofort griffen Patrick und Dennis seine Arme und rissen ihn vom Waschbecken.

»Hast ja noch nicht mal richtige Eier!«, rief Andi und fasste noch einmal grob nach, sodass Leon große Augen bekam und aufquiekte. Gnadenlos trugen sie ihn zu den Duschen.

Schnell schlüpfte Kevin zwischen ihnen durch und auf einen der frei gewordenen Plätze.

»Dreh kalt! Dreh kalt!«, rief Andi ihm zu und deutete auf die Dusche ganz rechts.

»Dreh doch selber«, erwiderte Kevin gereizt. Patrick griff mit der freien Hand nach der Mischbatterie. Als das Wasser eiskalt war, hoben sie Leon darunter. Der schrie in Panik auf, bis seine Schreie vom Wasserstrahl zu einem Blubbern erstickt wurden.

»Noch kälter!«, rief Andi Patrick zu und stemmte Leon am Hintern so hoch, dass sein Kopf gegen den Duschkopf stieß. »Mach noch kälter!«

»Wir müssen los, sonst verpassen wir die Pause«, grinste ein anderer Junge. Sofort ließ Andi Leon zu Boden fallen, der sich krümmte, hustete und keuchte.

Als Leon irgendwann in die Umkleide schlich – Kevin hatte sich schon angezogen und band gerade seine Schuhe zu –, trocknete er sich nicht etwa ab, sondern zog seine kurze Hose sogar über die klatschnasse Unterhose. Na toll, dachte Kevin, jetzt siehst du auch noch aus, als hättest du eingepisst. Angewidert verließ er die Umkleide.

Leon saß in der Klasse ganz hinten neben einem Mädchen, das keinen anderen Platz gefunden hatte. Und zum Glück weit weg von Kevin, der irgendwo in der Mitte saß. Kevin hatte eigentlich nichts gegen Leon, er war ihm ziemlich egal. Aber Leon schaffte es halt immer wieder, sich als Superspacken hinzustellen. Wie vorhin beim Duschen nach dem Sportunterricht. Und jetzt würde er es gleich wieder schaffen. Das sah Kevin sofort, als Leon seine Mathesachen mit lächerlicher Sorgfalt auf dem Tisch aufstapelte und Andi scheinbar gleichgültig in seine Richtung schlenderte. Sieht nach direktem Sprung zu Phase zwei aus, dachte Kevin. Andi benahm sich schon manchmal albern.

Und tatsächlich: Blitzschnell hatte Andi das Federmäppchen von Leon gegriffen und hielt es triumphierend in die Höhe. Natürlich flogen dabei einige Filzstifte heraus.

»He, lass das!«, maulte Leons Tischnachbarin, die einen Filzer gegen die Wange bekommen hatte. Aber sie traute sich nicht, mehr zu sagen, stellte Kevin fest und spürte wieder ein Gefühl von Verachtung.

Diesmal konnte Leon nicht einfach nichts tun, denn Andi würde das Mäppchen sicher wieder aus dem Fenster werfen wollen. Er sprang auf und griff danach. Andi hielt das Federmäppchen etwas höher und Leon hüpfte verzweifelt vor Andi auf und ab.

»Spring, Hündchen, spriiiing!«, spottete Andi und drehte sich mit applausheischendem Blick um die eigene Achse. Kevin verdrehte die Augen. Leon war wirklich ein Vollidiot der ganz besonderen Sorte. Der machte sich echt gut zum Affen.

Als Leon wieder an Andi hochsprang und ihn dabei an die Brust stieß, ließ Andi plötzlich das Federmäppchen sinken. Und Phase drei, dachte Kevin. Andis Gesichtsausdruck verfinsterte sich.

»Hat dir wohl gefallen vorhin beim Duschen, du schwule Sau?

Kannst du haben!«, lachte er dreckig und griff Leon brutal in die kurze Hose.

»Boah, voll in die Eier!«, rief Nick, ein ansonsten eher schweigsamer Schüler, begeistert. Leon keuchte und stolperte zurück gegen den Tisch. Seine Tischnachbarin kreischte protestierend auf.