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Marie Louise Fischer

Die Ehe der Senta R.

Roman

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»Es kann aber auch ganz anders ausgehen«, gab Senta zu bedenken, »wenn sie keinen Rechtstitel brauchen, um jemanden festzusetzen, dann kann man sie auch nicht zwingen, jemanden freizulassen. Sie können tun und lassen, was sie wollen, es steht ganz in ihrem Belieben.«

»Du siehst die Dinge wieder mal sehr schwarz«, behauptete er, aber es klang nicht mehr so überzeugt wie noch vor wenigen Monaten, »ich zweifle ganz entschieden daran, dass es einer kleinen fanatischen Clique gelingen wird, ein ganzes Volk zu unterjochen! Noch dazu ein intelligentes, zivilisiertes und hochkultiviertes Volk wie uns Deutsche!«

Senta zog mit dem Zeigefinger Kreise auf der polierten Tischplatte. »Ich würde da nicht so sicher sein, Siegfried. Denk nur einmal an das, was wir hier in unserem Haus erlebt haben.« Sie sah zu ihm auf. »Denk an Doktor Hagen, an die Köchin, die bei Nacht und Nebel davon ist … dabei haben es beide gut bei uns gehabt.«

»Seien wir froh, dass wir sie los sind.«

»Es nutzt nichts«, sagte Senta, »wir haben trotzdem einen Spitzel im Haus. Mary oder die neue Köchin, eine von beiden muss der Polizei verraten haben, dass ich Ruth fortbringen wollte.«

Siegfried leerte sein Glas. »Unsinn«, erklärte er scharf, mehr um sich selber zu beruhigen, als um Senta aus dem Konzept zu bringen, »wenn die Polizei gewusst hätte, dass Ruth bei uns Unterschlupf gesucht hat, hätte sie sie ja auch hier festnehmen können.«

»Vielleicht wollte man das aus irgendwelchen Gründen nicht, vielleicht empfand man es als störend, dass du Rechtsanwalt bist … Jedenfalls muss sie verraten worden sein, ich bin ganz sicher.«

Senta legte Siegfried die Hand auf das Knie. »Am liebsten würde ich beide entlassen und den Haushalt allein machen.«

»Dass du mir wieder zusammenbrichst? Kommt überhaupt nicht in Frage.«

»Gäste werden wir in absehbarer Zeit kaum noch haben«, fuhr Senta beharrlich fort, »vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber wir sind in den vergangenen zwei Monaten kaum noch eingeladen worden. Die sogenannten Arier ziehen sich langsam, aber sicher von uns zurück, und unsere jüdischen Freunde haben viel zu große Sorgen, als dass ihnen der Sinn nach Geselligkeit stünde!«

»Was du dir da wieder zusammenreimst«, sagte er unbehaglich, »wenn wir in letzter Zeit weniger aus waren, so ist das reiner Zufall.« Er stand auf und holte die Cognacflasche.

»Siegfried, ich habe lange geschwiegen … du weißt, wie lange ich geschwiegen habe. Aber wir dürfen uns nicht einfach so treiben lassen. Wir müssen überlegen, wie wir uns verhalten sollen.« Sie beobachtete, wie er hastig seinen zweiten Cognac herunterstürzte, und um es ihm leichter zu machen, fügte sie hinzu: »Selbst wenn du recht behältst und die Nazis nur ein paar Monate an der Regierung bleiben, wir müssen trotzdem wissen …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern bat: »Ich möchte Mary und die Köchin loswerden. Es ist ein scheußliches Gefühl, bespitzelt zu werden, und es würde mir so viel Freude machen, selber für euch zu sorgen.«

»Ich versteh schon, wie du es meinst«, sagte er müde, »aber das Haus ist viel zu groß. Das schaffst du nicht.«

»Wir könnten die unteren Räume schließen und nur die Schlafzimmer und die Küche benutzen.«

Er sah sich um. »Und hier einfach alles verstauben lassen?«

»Noch besser wäre es natürlich, wenn wir die Villa aufgeben und stattdessen eine kleinere Wohnung nehmen würden«, sagte sie vorsichtig.

Er war sofort alarmiert. »Aufgeben? Wie meinst du das?«

»Verkaufen. Oder vermieten.«

Er schwieg so lange, dass sie schon dachte, er hätte ihr nicht zugehört.

»Wie stellst du dir das vor«, sagte er endlich bedrückt, »verkaufen! Ausgerechnet in dieser Situation! Wir würden nicht mehr als ein Butterbrot dafür bekommen, und die Miete, die wir verlangen könnten, würde nicht einmal für die notwendigen Instandhaltungskosten ausreichen.«

»Bist du sicher?«

»Ja. Ich habe Klienten, die ins Ausland wollen, und ich habe versucht, für sie zu verkaufen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihren Besitz zu verschleudern. Es ist immer schwer, anständige Preise zu erzielen, wenn man verkaufen muss … aber heute ist es schwerer denn je.«

»Ich habe gerne hier gelebt«, sagte Senta und sah sich unwillkürlich in dem großen behaglichen Raum um, »und trotzdem … wenn es mein Haus wäre, wäre ich bereit, alles zu verlassen, falls ich nur dich und die Jungen in Sicherheit wüsste.«

»Es ist dein Haus!«

»Nein, nein. Ich habe nicht mehr als meine Aussteuer in die Ehe gebracht. Alles dies hier hast du geschaffen, Siegfried. Deshalb musst du entscheiden, wie es weitergehen soll.«

»Das Haus zu verkaufen, würde uns ja auch nicht weiterhelfen«, konstatierte er bedrückt.

»Wir wären ungebundener«, sagte sie, »nicht mehr auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen … und beweglicher. Ohne das Haus könnten wir von heute auf morgen unsere Zelte hier abbrechen und auswandern. Am liebsten würde ich es sofort tun. Ich weiß, du kannst nirgendwo im Ausland als Jurist arbeiten. Aber du bist gesund und intelligent, ich bin es auch … wir könnten versuchen, ganz von vorne anzufangen.«

»Das bleibt uns immer noch, wenn alle Stricke reißen … ja, ich möchte diese Möglichkeit gar nicht mehr ganz von der Hand weisen.« Er streckte die Hand nach der Cognacflasche aus.

Sie wollte ihn ermahnen, nichts mehr vor dem Essen zu trinken, aber dann unterließ sie es doch, denn es schien ihr in dieser Situation kleinlich und unangebracht. Aber sie selber lehnte ab, als er ihr noch einmal einschenken wollte.

»Aber vorläufig«, fuhr er fort, »halte ich noch nichts von einer solchen Rosskur. Die Lage sieht nicht rosig aus, das gebe ich durchaus zu. Aber es besteht auch kein Grund zur Panik. Dass ich von heute auf morgen alles aufgeben soll, für was ich gearbeitet und geschuftet habe – nicht nur meine gesamte Habe, sondern auch meinen Beruf –, das scheint mir doch reichlich viel verlangt. Und ich finde auch, wir sollten es den Nazis nicht zu leicht machen. Oder was sagst du?«

Sie stand auf und küsste ihn auf die Stirn. »Was du für richtig hältst, machen wir.«

Senta hatte begriffen, dass ihr Mann Sorgen hatte. Er litt nicht nur, weil er seine Existenz gefährdet sah, sondern viel schwerer traf es ihn, dass er, der sich immer als Deutscher gefühlt, der als Deutscher verwundet und dekoriert worden war, nun plötzlich unter seinen Landsleuten als Fremder galt und abgelehnt wurde. Er war überzeugt gewesen, in einem Rechtsstaat zu leben, und musste nun erfahren, wie er seiner Rechte beraubt wurde.

Bei der ersten Sitzung des Reichstags in der Krolloper fehlten, wie sich herausstellte, nicht nur die 81 kommunistischen Abgeordneten, deren Mandate man kurzerhand gestrichen hatte, sondern auch 26 Sozialdemokraten; einige von ihnen waren, ohne Rücksicht auf ihre Immunität, verhaftet worden, andere hatten sich gezwungen gesehen, Deutschland zu verlassen. Dennoch hätten theoretisch 200 Nein-Stimmen gegen das Gesetz, das Hitler jetzt einbrachte, zustande kommen und ihm so die verfassungsändernde Mehrheit versagt werden können.

Dieses »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat« stellte eine Ungeheuerlichkeit dar und bedeutete praktisch das Ende der deutschen Demokratie, denn es ermächtigte Hitler, Gesetze ohne Mitwirkung des Reichstages zu erlassen, und zwar auch dann, wenn sie von der geltenden Verfassung abwichen.

Die Zumutung jedoch, weit entfernt davon, seine Gegner auf die Barrikaden zu treiben, verstörte sie stattdessen. Hitler drohte ganz offen mit Bürgerkrieg und blutiger Revolution, im Sitzungssaal wimmelte es von uniformierten SA-Leuten, und die Abgeordneten fühlten sich entmachtet, noch ehe sie es wirklich waren. Sie glaubten, Deutschland vor einem Chaos bewahren zu können, und stimmten dem Un-Gesetz zu – alle, außer den Sozialdemokraten, aber auch sie hatten die letzte Chance, einen Block des Widerstandes gegen Hitler zu bilden, versäumt.

Die Nationalsozialisten feierten ihren Triumph, sie sprangen auf, brachen in nicht enden wollende Heilrufe aus und stimmten, den rechten Arm zum Gruß erhoben, das Horst-Wessel-Lied an.

Senta schrieb am gleichen Tag wieder und noch eindringlicher als bisher an Henriette und Egon von Stucken und schilderte ihnen die Lage ihrer Familie, die immer bedrängter wurde.

Bisher hatten die amerikanischen Verwandten sich noch nicht entschließen können, die Bürgschaft zu stellen und die gewünschte Einladung zu schicken, hatten zahllose Ausreden gebraucht, sich aber doch davor gescheut, Sentas Anliegen kurzerhand abzulehnen.

»Bitte, tut etwas!«, schrieb Senta. »Ihr müsst uns helfen, es ist ein Gebot der Menschlichkeit, und wir werden Euch drüben ganz bestimmt nicht auf der Tasche liegen! Entscheidet Euch schnell! Ich kann nicht einmal mehr sicher sein, dass Ihr diesen Brief unzensiert bekommt, denn das Briefgeheimnis ist bei uns längst aufgehoben. Schreibt auch Eure Antwort lieber vorsichtshalber an Justus Weigand.«

Nach kurzem Überlegen setzte sie die Adresse ihres Ziehvaters auf die Rückseite des Umschlags, denn sie hatte es gelernt, auf der Hut zu sein. Sie steckte den Brief auch nicht einfach in den nächsten Kasten, sondern unternahm einen langen Spaziergang, um ihn irgendwo, weit entfernt von der Villa am Tiergarten, einzuwerfen.

Sie hatte es sich überhaupt angewöhnt, die meisten Wege zu Fuß zu machen, denn das gab ihr eine bescheidene Möglichkeit, die Haushaltskosten einzuschränken. Da Siegfried sich weigerte, die Angestellten zu entlassen, konnte sie den Küchenzettel nur behutsam bescheidener gestalten, und die Jungen, die unaufhörlich wuchsen und sich Löcher in Strümpfe und Hosen rissen, mussten immer wieder neue Sachen bekommen. Aber sie selbst schaffte sich nichts mehr an, was ihr leicht genug fiel, da sie über reichlich Garderobe verfügte und, wie sie es vorausgesehen hatte, gesellschaftliche Begegnungen seit der Machtergreifung für sie fast ganz ausfielen.

Vor allem aber ließ sie ihr Auto in der Garage stehen – am liebsten hätte sie es verkauft. Aber das konnte und wollte sie ohne Einverständnis ihres Mannes nicht wagen. Sie verzichtete auch darauf, ein Taxi zu bestellen, sondern gewöhnte es sich an, zu laufen oder öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.

Am Vormittag des 1. April verließ sie, wie gewöhnlich, kurz nach Siegfried das Haus, um Einkäufe zu machen. In Gedanken und Sorgen blind für ihre Umgebung, steuerte sie auf das Delikatessengeschäft »Ewert und Endlich« am Kurfürstendamm zu und stutzte erst, als sie einen SA-Mann in voller Uniform neben der Ladentüre stehen sah. Aber sie schritt hocherhobenen Hauptes weiter und las nur aus dem Augenwinkel das Plakat, das von außen an das Schaufenster geklebt war: »Deutsche, verteidigt euch gegen die jüdische Gräuelpropaganda! Kauft nur bei Deutschen!« Daneben war mit weißer Farbe ein Wegweiser mit der Aufschrift »Nach Jerusalem« gepinselt.

Mit steinernem Gesicht betrat sie das Geschäft, in dem sich die Verkäuferinnen blass, mit verängstigten Augen, hinter der Theke drängten. Senta war die einzige Kundin.

Sie kaufte ein Pfund Bücklinge, denn teure Delikatessen hatte sie sich längst selber verboten, wurde rasch und geradezu verstohlen bedient und stand wenige Minuten später wieder auf der Straße.

Der SA-Mann spuckte ihr in hohem Bogen vor die Füße.

Sie fuhr ihn an: »Was erlauben Sie sich, Sie Flegel!?«

Er zuckte unter dem wilden Blick ihrer dunkel glühenden Augen zusammen. »Können Sie denn nicht lesen?«, fragte er, mit einer Kopfbewegung zu der beschmierten Schaufensterscheibe hin.

»Doch! Aber ›Ewert und Endlich‹ ist ein guter Laden, und ich lasse mir nicht vorschreiben, bei wem ich einkaufen soll.«

»Die Juden sind Deutschlands Unglück«, zitierte der SA-Mann ohne allzu große Überzeugungskraft.

»Wenn Sie das meinen, warum lassen Sie die jüdischen Geschäfte nicht gleich ganz schließen!?«

»Das kommt noch früh genug, warten Sie’s nur ab!«

Senta ging weiter. Es hatte sie ein wenig erleichtert, ihrer Empörung Luft zu machen. Noch glaubte sie, dass die Inhaber des Delikatessengeschäftes persönlich in Konflikt mit den neuen Machthabern geraten seien. Aber dann entdeckte sie, dass an diesem Morgen alle jüdischen Geschäfte gekennzeichnet waren. Vor einigen standen SA-Leute, vor anderen Zivilisten, und die Leute gingen, scheu blickend, vorbei und wagten nicht mehr einzutreten.

Auch Senta wollte nicht noch einmal die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wahrscheinlich hatten ja die Männer, die man vor die Geschäfte in jüdischem Besitz gestellt hatte, gar keine Befugnisse. Aber man konnte es nicht wissen. Sie durfte es sich nicht erlauben aufzufallen. Damit hätte sie niemandem genutzt und höchstens ihrer eigenen Familie geschadet.

In einer Seitenstraße gab es ein kleines Weißwarengeschäft. »Elsbeth Elski« stand mit verschnörkelten Buchstaben, deren Gold abzublättern begonnen hatte, über der gläsernen Tür. Senta hatte, wann immer es ging, hier ihren Bedarf an Knöpfen, Garn und Gummibändern gedeckt, weil das bescheidene Unternehmen ohnehin kaum mit den großen Geschäften und vor allem mit den Warenhäusern konkurrieren konnte. Sie atmete auf, als sie keinen Wächter vor dem Laden entdeckte, sah dann aber auf dem Fenster einen sechseckigen Davidsstern, mit weißer Ölfarbe gemalt, und an der Türklinke war ein Schild befestigt, auf dem riesige Druckbuchstaben, dick unterstrichen, verkündeten: »Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!«

Diesmal folgte sie ihrem Impuls und trat ein, weniger um ein paar Meter Litze zu kaufen, als um ein paar Worte mit der Geschäftsinhaberin, einer gebrechlichen alten Dame, zu wechseln.

Frau Elskis gelbe, von dicken blauen Adern überzogene Hände zitterten, als sie Senta die Litze abmaß und abschnitt: »Ist das nicht eine Schande, was die mit uns anstellen?«, fragte sie verstört. »Was werden sie sich noch alles ausdenken, um uns zu quälen? Wir haben doch nichts verbrochen.«

»Ich weiß, Frau Elski, wir sind in einer ganz ähnlichen Situation. Mein Mann ist Jude.«

»Ja, aber Sie sind jung, und Sie haben sicher was auf die Seite legen können. Für Sie gibt es irgendwo einen neuen Anfang. Mein Mann ist seit Jahren bettlägerig … wenn sie uns das Geschäft nehmen, was soll aus uns werden?«

»Vielleicht sollten Sie doch versuchen rauszukommen.«

»Alt und elend wie wir sind? Nein, nein, für uns ist das das Ende. Wir haben immer hier gelebt. Wo sollten wir denn hin?«

Senta stand fassungslos vor dieser Situation, in der sie weder raten noch helfen konnte.

»Immer hat es uns leid getan, dass wir keine Kinder haben konnten«, erzählte Frau Elski, rollte die Litze zusammen und tat sie in ein Tütchen, »aber jetzt bin ich froh darüber. Das ist der einzige Segen, der uns noch beschieden ist … dass wir keine Kinder haben. Wir sind alt genug, wir hätten sowieso nicht mehr viel vom Leben zu erwarten gehabt.«

»Vielleicht wird bald alles wieder besser«, behauptete Senta, ohne an ihre eigenen Worte zu glauben.

»Für uns nicht mehr, gnädige Frau … für uns ist es aus!«

Als Senta den kleinen Laden verließ, fühlte sie sich noch elender als zuvor.

Ein offener Lastwagen voller SA-Leute fuhr vorbei. Er war mit roh gemalten Schildern beklebt. An der Längsseite stand: »Ohne den Jud geht’s noch mal so gut!« und an der Rückseite kurz und bündig: »Juda verrecke!« Hakenkreuzfahnen flatterten.

»Sie sind ja blass wie die Wand«, sagte eine bekannte Stimme dicht neben ihr, »kommen Sie, darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?«

Ihre Nerven waren so gespannt, dass sie grundlos erschrak, bewusst langsam wandte sie sich zur Seite und erkannte den Journalisten Kurt Faber. »Ach, Sie sind es!«, sagte sie erleichtert.

Er lüftete seinen grauen Hut. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich Sie angesprochen habe, Senta! Aber Sie sehen wirklich aus, als würden Sie gleich zusammenklappen.«

»Das täuscht wohl«, widersprach sie mit dem Versuch eines Lächelns, »ich bin ziemlich zäh.«

Er musterte sie von oben bis unten. Sie trug ein schlichtes dunkelblaues Complet, ein Kleid mit weißem Bubikragen, weißes Hütchen, weiße Handschuhe.

»Sie sind sehr schmal geworden«, stellte er fest.

»Mein Mann liebt das«, erklärte sie mechanisch.

»Versuchen Sie bloß nicht, mir einzureden, Sie hätten eine Hungerkur gemacht, Senta! Erstens hatten Sie das gar nicht nötig und zweitens sehe ich Ihnen doch an, dass Sie Kummer haben. Setzen Sie nicht gleich wieder dieses hochmütige Prinzessin-auf-der-Erbse-Gesicht auf! Mir können Sie nichts vormachen, Senta, ich kenne Sie ziemlich gut.«

Sie war eigentlich froh, ihn zu sehen, aber sie wollte es nicht zugeben. »Es gehört kaum sehr viel Scharfsinn dazu, um zu erraten, dass ich mich scheußlich fühle.«

»Als Frau eines Juden … ja, das kann ich mir denken!« Er schob in seiner besitzergreifenden Art die Hand unter ihren Arm. »Gerade darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.«

Sie ließ sich willig von ihm ins nächste »arische« Café führen, legte ihr Netz mit den Einkäufen auf einen Stuhl, zog ihre weißen Waschlederhandschuhe aus und ließ sich nieder. Er bestellte zwei Kännchen Kaffee, redete über Belanglosigkeiten und wartete ab, bis sie die ersten Schlucke des heißen Getränkes zu sich genommen hatte. Sie nahm sich eine Zigarette, und er ließ sein wie immer erst beim dritten Mal funktionierendes Feuerzeug aufspringen.

»Ich habe viel und oft über Sie nachgedacht, Senta«, begann er und sah sie mit seinen hellen, scharfen Augen an, »sagen Sie jetzt nicht, dass ich kein Recht dazu hätte … jeder hat das Recht, sich um seine Mitmenschen Sorgen zu machen.«

Sie stieß mit kleinen, kurzen Stößen den Rauch aus. »Ich finde das ja sehr lieb von Ihnen, Kurt!«

»Wirklich? Fein. Dann erlauben Sie mir wohl, ganz offen zu sein …«

»Ja, natürlich.«

Er machte eine kleine Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Sie müssen sich von Ihrem Mann trennen, Senta!« Sie presste die Lippen aufeinander und sah ihn nur an.

»Nun gucken Sie bloß nicht so, als wollten Sie mich beißen. Na, immerhin, ich muss schon zufrieden sein, dass Sie mir nicht gleich ins Gesicht springen.«

»Ich denke nicht daran, meinen Mann zu verlassen«, erklärte sie mit fester Stimme.

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf? Aus moralischen Grundsätzen? Aus falsch verstandener Anständigkeit? Oder weil Sie ihn lieben?«

»Weil er mein Mann ist.«

»Daran hat ja niemand gezweifelt.« Kurt Faber beugte sich vor. »Nun hören Sie mal gut zu, Senta. Sie sind doch nicht dumm. Sie wissen, was für eine schlimme Wende die Dinge genommen haben. Viele denken jetzt noch: Wo gehobelt wird, da fallen Späne, allmählich wird sich alles einspielen und so weiter und so fort. Aber Sie und ich, wir wissen, dass das nicht so ist. Wir machen uns nichts vor. Hitler lässt konsequent die Existenz der jüdischen Mitbürger vernichten, um sie aus Deutschland zu vertreiben.«

»Aber warum?«, fragte Senta mit steifen Lippen. »Warum tut er das?«

»Weil er die Juden hasst. Die meisten seiner Anhänger plappern es nur nach, aber er glaubt wirklich an die Phrase: Die Juden sind Deutschlands Unglück. Ein guter Freund von mir, ein Psychiater, behauptet, dass sein Selbstgefühl einmal von jüdischer Seite erheblich verletzt worden sein müsste. Aber warum er so empfindet und so handelt, ist für uns ganz unerheblich, Senta. Wichtig ist nur, was geschieht. Und da ist das, was wir heute erlebt haben, nur ein kleiner Anfang! Ein ganz kleiner.«

»Ja, ich weiß«, sagte sie tonlos. Sie nahm einen Schluck Kaffee; er schmeckte ihr bitter wie Galle.

»Ihr Mann ist erledigt! Sie können höchstens noch Ihre Kinder retten.«

»Wir werden Deutschland verlassen.«

»Gut«, räumte er überraschend ein, »das wäre eine Lösung. Für Ihren Mann! Ohne Sie und ohne Ihre Kinder wird er sich vielleicht eine neue Existenz schaffen können.«

»Mit uns«, widersprach sie, »wir gehören zu ihm und wir werden ihm helfen.«

»Sie würden ihn nur belasten, Senta!« Er nahm ihr die herabgebrannte Zigarette aus der Hand und drückte sie aus. »Nehmen Sie doch Vernunft an. Lassen Sie sich scheiden. Dann sind Sie und Ihre Kinder in Sicherheit, und für Ihren Mann ist der Weg frei.«

»Meine Kinder würden Halbjuden bleiben. Wer weiß, wie lange es noch dauert, bevor die Jagd auf sie losgeht.«

»Ich würde sie adoptieren«, sagte Kurt Faber, »ich könnte sie gegen jeden Übergriff schützen. Nein, sagen Sie jetzt nichts, Senta! Ich habe schon mit Goebbels über Ihren Fall gesprochen …«

»Sie!? Mit Goebbels?«

»Ja. Wenn man etwas erreichen will, darf man nicht mit den Befehlsempfängern verhandeln, sondern muss sich gleich an die Spitze wenden.«

»Aber ich dachte …« Unwillkürlich dämpfte Senta ihre Stimme. »Sie waren doch immer gegen die Nazis!«

»Wenn es um Ihr Glück geht, Senta, würde ich sogar mit dem Teufel einen Pakt eingehen.«

»Nein«, verwahrte sie sich energisch, »nein, auf keinen Fall …«

Er fiel ihr ins Wort. »Ich kann Ihnen jetzt alles bieten, was Sie brauchen! Goebbels hat mir die Chefredaktion einer bedeutenden Zeitschrift fest zugesagt …«

Jetzt unterbrach sie ihn. »… die bisher natürlich in jüdischen Händen lag! Nein, hören Sie auf damit, Kurt! Ich habe Sie immer sehr gern gehabt. Zerstören Sie jetzt nicht noch zum Schluss das Bild, das ich mir von Ihnen gemacht habe.«

Sie stand auf. Er nahm ihre Hand.

»Ich liebe Sie, Senta, begreifen Sie das doch! Und ich kann Ihnen helfen! Ich bin der einzige Mensch, der Ihnen jetzt noch helfen kann. Bilden Sie sich denn ein, diese antijüdische Aktion würde sich nur gegen die Geschäftsleute richten? Haben Sie den ›Völkischen Beobachter‹ von heute gelesen?«

»Das Schundblatt widert mich an«, erklärte Senta, blieb aber stehen.

»Kann ich verstehen«, sagte Kurt Faber und schlug die Zeitung auf. »Sie sollten es sich aber trotzdem zu Gemüte führen, damit Sie wissen, woher der Zeitgeist weht … hier, lesen Sie wenigstens den Artikel, den ich rot angestrichen habe …«

Senta beugte sich über seine Schulter und las: »Auf Grund des Boykotts gegen das Judentum wird die Städtische Krankenversicherungsanstalt in Zukunft Erstattungsanträgen ihrer Mitglieder, aus denen hervorgeht, dass die ärztliche Behandlung am oder nach dem 1. April bei einem jüdischen Arzt begonnen hat, nicht mehr stattgeben. Bei bereits begonnenen Behandlungen bei einem jüdischen Arzt sollen die Mitglieder sich überlegen, ob sie die Behandlung bei diesem fortsetzen …« Senta hob den Kopf. »Das bedeutet, dass die Versicherungen die Kosten nicht mehr übernehmen, wenn der Patient sich von einem jüdischen Arzt behandeln lässt.«

»Ja«, sagte Kurt Faber, »aber kaum ein Arzt kann heute noch ohne Versicherungspatienten leben und ganz bestimmt kein größeres Krankenhaus! Bitte, fragen Sie mich jetzt nicht, was das mit Ihrem Mann zu tun hat!«

»Das habe ich schon verstanden.« Ohne sich dessen bewusst zu werden, ließ Senta sich wieder auf ihren Sessel sinken. »Heute sind es die Geschäftsinhaber und die Ärzte, morgen werden es die Lehrer und Professoren sein, übermorgen die Beamten und die Rechtsanwälte …«

»Ja. Leider. Ich kann Ihnen da nicht widersprechen, Senta. So sehe auch ich die zwangsläufige Entwicklung. Für die Nazis gibt es kein Zurück.«

»Und könnte nicht doch das Ausland vielleicht Einspruch erheben?«

»Ja, das wäre eine Hoffnung. Aber ich rechne nicht damit. Das Ausland hat genug mit sich selber zu tun. Das sind innerdeutsche Angelegenheiten, Senta.«

Sie sah ihm fest in die Augen. »Trotz allem, Kurt, bin ich froh, mit Ihnen gesprochen zu haben. Ich hatte das Gespräch abbrechen wollen. Es gibt Augenblicke, da man einen Strich ziehen muss – zwischen sich und den andern. Aus, verzeihen Sie, aus moralischen Gründen! Aber Sie sind der einzige Mensch, der die Lage so sieht wie ich. Bei allen anderen stoße ich immer wie gegen eine Wand von Gummi. Manchmal komme ich mir geradezu wie eine Idiotin vor. Dank Ihnen sehe ich jetzt klar.«

»Und Sie wollen es wirklich nicht mit mir versuchen, Senta? Ich würde auch mit Ihnen ins Ausland gehen.«

»Nein.«

Sie stockte.

»Ja?«

»Ich bin fast froh über das jetzt. Ich kann endlich etwas für ihn tun! Er tat bisher alles! Und alles tat er für mich!«

»Sie werden ihn belasten«, versuchte er es noch einmal.

»Nein. Ich werde mit ihm kämpfen.« Sie streifte ihren linken Handschuh über. »Wollen Sie mir etwas versprechen, Kurt?«

»Was Sie verlangen!« Er strahlte sie an.

»Verkaufen Sie sich nicht.«

»Das wird bald nicht mehr möglich sein.«

»Dann verlassen Sie Deutschland. Das ist für Sie leichter als für uns.«

Er erhob sich gleichzeitig mit ihr, und sie standen einander gegenüber.

Sie reichte ihm die Hand.

»Sprechen Sie mich nicht mehr an, wenn wir uns zufällig noch einmal begegnen sollten. Es gibt nichts mehr zwischen uns zu sagen.«

»Vielleicht sehen wir uns in der Neuen Welt.«

»Wie ich Sie nun beurteile – kaum.«

Als sie wieder auf die Straße trat, spürte sie, dass das Gespräch mit Kurt Faber ihr gutgetan hatte.

Sie wusste jetzt, dass sie handeln musste.

Als Senta die Haustür aufschloss, kam Mary ihr, als wenn sie sie erwartet hätte, entgegen.

»Die Jungens sind schon da«, berichtete sie mit ihrer gewohnten mürrischen Miene; aber in ihrer Stimme schwang geradezu etwas Genugtuung.

»Wie? Kann denn die Schule schon aus sein?«, fragte Senta und übergab Mary das Netz mit den Einkäufen.

Mary zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen?«

»Gewöhnen Sie sich endlich einen etwas höflicheren Ton an, Mary«, erklärte Senta kühl, aber bestimmt, »sonst könnte es sein, dass Sie sich nach einem anderen Arbeitsplatz umsehen müssen.«

Mary steckte zurück. »Entschuldigen Sie, bitte, gnädige Frau!«

»Und wo sind die Jungen?«

Mary öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu und sagte dann geschraubt: »Bedaure sehr, gnädige Frau, aber ich bin dessen nicht wissentlich.«

Senta warf ihr nur einen kurzen Blick zu, dann eilte sie in die Diele und stieg die freistehende Treppe in den zweiten Stock hinauf. Noch bevor sie die Tür zum Kinderzimmer öffnete, hörte sie die Stimmen ihrer Söhne – zu ihrer Erleichterung – laut und unbeschwert wie gewöhnlich.

»Alles einsteigen! Vorsicht an der Bahnsteigkante!«, schrie Wolfgang. Dann erfolgte ein schriller Pfiff.

Die Jungen spielten mit ihrer elektrischen Eisenbahn.

Sie lagen bäuchlings auf dem Boden und waren so beschäftigt, dass sie kaum aufsahen, als ihre Mutter eintrat. Die kleine Lokomotive raste über die Schienen, und die Anhänger schleuderten um die Kurven.

»Nanu, schon zurück?«, fragte Senta.

Wolfgang hatte das Kinn in beide Fäuste gestemmt. »Wir gehen nicht mehr in die Schule«, erklärte er.

»Nein, nie mehr«, stimmte Dieter energisch zu.

Senta begriff sofort, was passiert war, hielt es aber für besser, nicht gleich darauf einzugehen. »Wollt ihr nicht aufstehen und mich begrüßen, wie es sich gehört?«, fragte sie.

Die Jungen standen auf, und jetzt erst sah Senta, in was für einem Zustand sie waren; Dieter hatte eine rote Schürfspur auf der Wange und Wolfgang eine Riesenbeule am Kopf, ihre Knie waren aufgeschlagen, Hemden und Hosen verschmutzt und zerrissen.

»Ihr habt euch geprügelt, wie ich sehe.«

»Wir nicht! Die anderen haben uns verhauen!«, berichtete Wolfgang.

»Und ihr habt euch nicht gewehrt?«

»Natürlich haben wir! Wir lassen uns doch nichts gefallen! Die haben tüchtig was abgekriegt.«

»Wer?«, fragte Senta.

»Die kennst du doch nicht, Mutti«, erklärte Dieter, »aber es waren ’ne ganze Menge. Mindestens zehn. In der Pause sind sie über uns hergefallen. Alle auf einmal.«

»Ja, richtig feige war das«, sagte Wolfgang, »dabei hatten wir überhaupt keinen Streit mit ihnen.«

»Haben sie etwas gesagt?«, fragte Senta.

Die beiden Jungen sahen sich an und schwiegen.

»Ihr könnt ruhig darüber sprechen«, meinte Senta, »nicht ihr braucht euch ja zu schämen, sondern die.«

»Judenschweine haben sie uns genannt«, bekannte Dieter mit hochrotem Kopf.

Senta setzte sich auf einen der kleinen Stühle. »Ja, etwas Ähnliches war zu erwarten.«

»Warum?«, fragte Dieter. »Was haben wir denen denn getan?«

»Gar nichts. Aber es sind jetzt Leute in Deutschland an der Regierung, die den Juden an allem die Schuld geben möchten. Sie mögen die Juden nicht und wollen ihnen das Leben schwer machen. Alle Juden haben darunter zu leiden.«

»Woran merkt man denn, dass jemand Jude ist?«, wollte Wolfgang wissen.

»Man merkt es gar nicht! Da gibt es nichts zu merken! Eure Mitschüler denken es sich, weil wir Rosenbaum heißen. Viele Juden haben nämlich erst sehr spät Nachnamen bekommen, und da haben alle möglichst hübsche haben wollen. Wer einen hübschen Namen hat – ist Jude. Aber den musste er für viel Geld kaufen. Anderen, die wenig zahlen konnten, hat man besonders hässliche gegeben wie Kanalgitter oder so etwas.«

»Können wir uns denn nicht einfach anders nennen?«, fragte Wolfgang.

»Nein«, sagte Senta, »das können wir nicht und das wollen wir auch nicht, im Gegenteil, ich bin stolz darauf, dass ich einen Juden geheiratet habe, und ihr solltet stolz sein, einen Juden zum Vater zu haben. Ihr habt doch in Religion gehört, dass die Juden das auserwählte Volk Gottes sind … sie sind das erste Volk auf der ganzen Welt gewesen, das erkannt hat, dass es nur einen unsichtbaren Gott gibt. Das ist eine große Leistung. Alle anderen Völker haben Götzen angebetet. Und überhaupt haben die Juden in ihrer Geschichte Hervorragendes vollbracht … für die Völker, bei denen sie, nachdem sie aus Jerusalem vertrieben worden sind, untergekommen sind.«

Wolfgang und Dieter standen mit ausdruckslosen Gesichtern, und Senta wusste nicht, ob sie die richtigen Worte gefunden hatte.

»Wahrscheinlich werden sie gerade deswegen verfolgt, weil sie tüchtiger sind als der Durchschnitt der anderen«, fügte sie hinzu. »Klassenbeste haben es ja auch immer ein bisschen schwerer, nicht wahr?«

»Ich möchte aber trotzdem lieber kein Jude sein«, gestand Dieter.

Senta fuhr ihm durch die weichen braunen Locken. »Das kann man sich nicht aussuchen, Dieter. Genauso gut könntest du jetzt sagen, du möchtest lieber ein Mädchen sein oder ein Neger. Du bist als Jude geboren worden, und du musst als Jude leben.«

»Herr Hessel kam dazu, als wir uns kloppten«, berichtete Wolfgang düster, »er hat uns auseinandergebracht, aber statt mit den anderen zu schimpfen, hat er zu uns gesagt, wir hätten sie herausgefordert.«

»Eure Lehrer sind eben auch schon verhetzt«, sagte Senta, »oder er wagt es nicht, sich für Juden einzusetzen. Ich bitte euch, zieht nicht solche Gesichter, ihr seid doch meine beiden tapferen Söhne. Stellt euch einfach vor, ihr wärt Cowboys, die gegen eine Übermacht von Indianern ankämpfen müssten.«

»Aber, Mutti, wir leben doch nicht im Wilden Westen!«, bemerkte Wolfgang altklug.

»Ja, da hast du recht«, stimmte Senta ihm zu, »aber wir sind auch nicht so zivilisiert, wie wir gerne sein möchten oder wie wir uns manchmal einbilden. Noch lange nicht. Wir, Vater und ich und auch Doktor Hagen, haben uns bemüht, euch vor allem Bösen zu bewahren. Aber das bedeutet nicht, dass es das Böse nicht gibt. Es ist immer da und lauert auf eine Gelegenheit.« Sie zog ihre beiden Söhne an sich. »Ich war nur wenig älter als ihr, als der Weltkrieg losbrach. Damals ging es mir ganz ähnlich wie euch heute. Ich hatte es nie für möglich gehalten, dass es einen Krieg geben könnte. Viele Leute glaubten nicht mehr daran. Über vierzig Jahre lang war Friede gewesen. Und dann passierte es trotzdem. Es war schrecklich. Aber ich konnte nicht einfach weglaufen, sondern ich musste es wie alle anderen durchstehen.«

Wolfgang befreite sich aus ihrem Griff. »Du willst uns wieder in die Schule schicken!«, empörte er sich.

Senta sah ihn an. »Hast du Angst?«

»Nicht ein bisschen!«, behauptete er. »Aber ich mag mich nicht verprügeln lassen!«

Dieter kuschelte sich enger an sie. »Ich habe Angst, Mutti … bitte, bitte, sag, dass wir nicht mehr in die Schule müssen!«

Senta konnte nur noch mühsam atmen. Kinder – jetzt auch gegen Kinder!

Sie würden ja doch nicht mehr lange in Berlin bleiben. Hatte es also unter diesen Umständen überhaupt Zweck, Wolfgang und Dieter zu zwingen? Die Jungen spürten ihr Zögern.

»Bitte, bitte, Mutti, sag ja!«, drängte Dieter.

»Wir werden dir auch furchtbar viel im Haus helfen«, versprach Wolfgang.

»Nein«, erklärte Senta, »es geht nicht.«

»Aber wir wollen doch nicht in die blöde Schule!«

»Dass ihr nicht mehr wollt, glaube ich euch gerne, und auch, dass ihr Angst habt … alle beide, auch du, Wolfgang, das ist ja keine Schande. Aber wir haben noch viele harte Jahre vor uns, und wir können sie nur durchstehen, wenn wir ganz tapfer und ganz hart sind. Versteht ihr das? Wenn wir vor der ersten Schwierigkeit davonlaufen, werden wir die nächste auch nicht schaffen. Und wir werden noch eine Menge Schwierigkeiten überwinden müssen.«

Die Jungen standen mit hängenden Köpfen.

»Ganz so schlimm wie heute wird es bestimmt nicht so bald wieder werden«, versuchte Senta sie zu trösten, »ihr habt doch auch Freunde in der Schule … oder nicht?«

Wolfgang fuhr mit der Fußspitze über den Boden. »Keiner hat uns geholfen.«

»Weil sie noch mehr Angst hatten als ihr. Wenn ihr morgen wieder in die Schule kommt, als wäre nichts geschehen, werden sie euch bewundern. Ganz bestimmt. Aber wenn ihr euch nicht mehr blicken lasst, werden sie euch für Feiglinge halten.«

Dieter löste sich von ihrer Schulter. »Feiglinge sind wir nicht!«

»Ja, ich weiß. Ihr habt nur einen Schrecken bekommen.«

»Wir haben uns furchtbar geärgert, weil sie zu so vielen waren … und weil Herr Hessel ungerecht war. Aber schließlich … so ein bisschen Prügel ist ja nicht weiter schlimm. Mir macht es jedenfalls nichts aus. Dir etwa, Wolfgang?«

»Mir auch nicht.«

»Na also.« Senta stand auf. »Kommt ins Bad, damit ich euch verarzte.«

Die Jungen hatten ein eigenes Bad, in dem es aber keine Wanne, sondern nur eine Dusche und zwei Waschbecken gab. Senta öffnete das Apothekerschränkchen, das nicht viel mehr als Verbandszeug, Pflaster und Jod enthielt, und holte das kleine braune Fläschchen heraus.

»Aber Mutti, das ist doch gar nicht mehr nötig!«, protestierte Dieter. »Die paar Schrammen sind doch längst verkrustet …«

»Dann tut es ja auch nicht mehr weh«, erwiderte Senta unbarmherzig und packte ihn beim Kragen.

Er zuckte zusammen, als sie seine Wunde einpinselte, und biss die Zähne zusammen, um nicht zu jammern.

»Ja, ich weiß, angenehm ist das nicht«, gab Senta zu, »darum rate ich euch: Seht zu, dass ich euch so selten wie möglich desinfizieren muss.«

»Aber Mutti, wie sollen wir das denn machen?!«, fragte Wolfgang. »Wenn die anderen Krach mit uns anfangen wollen …«

»Versucht es. Ein Patentrezept kann ich euch auch nicht geben.« Sie ließ Dieter los und zog Wolfgang zu sich. »Ich stecke ja nicht in eurer Haut.« Sie gab ihrem Ältesten einen zärtlichen Klaps. »Aber ich weiß, dass ihr nicht nur tapfere, sondern auch kluge Jungen seid. Ihr werdet es bestimmt irgendwie schaffen.«

Als Senta in ihr Schlafzimmer hinüberging, um Handtasche und Handschuhe wegzuräumen und sich etwas frisch zu machen, fühlte sie sich erschöpft, als hätte sie eine gewaltige körperliche Anstrengung hinter sich. Tatsächlich hatte sie ihre ganze Kraft aufwenden müssen, um bei dem Bericht ihrer Jungen nicht loszuheulen.

Sie hätte ohne zu zögern alles geopfert, was sie besaß, wenn sie dadurch die Jungen vor Hass und Verfolgung hätte schützen können. Aber sie begriff, dass das nicht möglich war. Sie mussten lernen, menschlicher Niedertracht zu begegnen. Auch wenn sie Deutschland verließen, würde das nicht bedeuten, dass sie je wieder in das Paradies ihrer umhegten Kindheit zurückflüchten konnten.

Senta entdeckte, dass ihre weißen Handschuhe hässliche graue Flecken bekommen hatten. Sie zog sie an, während sie in ihr Bad ging, drehte die Hähne über dem Waschbecken auf und begann, die Handschuhe, nachdem sie völlig durchnässt und dunkel geworden waren, mit einem großen Stück Toilettenseife ausgiebig einzuschäumen, und spülte sie dann aus. Sie wollte sie gerade von ihren Händen streifen und auf die Trockner stülpen, als sie hörte, wie die Tür zu ihrem Schlafzimmer von der kleinen Diele her aufgerissen wurde.

»Senta!«

Ihr Mann rief. Sie zerrte die nassen Handschuhe ab und warf sie achtlos in das Becken: »Liebling?!«

»Wie gut, dass du da bist!« Er stürzte ins Bad und nahm sie in die Arme. »Ich habe mir wahnsinnige Sorgen um dich gemacht.«

»Alles halb so schlimm«, sagte sie und legte ihre Arme um sein Genick und küsste ihn.

»Aber du weißt, was in der Stadt los ist?«

»Ich war einkaufen.«

Er zog sie noch enger an sich. Er stöhnte.

Plötzlich begriff sie, dass es nicht allein der Boykott der jüdischen Geschäfte sein konnte, der ihn so erschütterte. Sie hob den Kopf.

»Ist etwas mit Ruth?«

Er wandte das Gesicht zur Seite, um seine Tränen vor ihr zu verbergen. »Sie ist tot.«

Sekundenlang war sie ganz still, dann fragte sie: »Woher weißt du es?«

»Vater hat einen schriftlichen Bescheid bekommen. Von der Lagerverwaltung Oranienburg.«

»Aber … ich verstehe nicht«, stammelte Senta. »Man kann sie doch nicht einfach … getötet haben!?«

»Die können alles.«

»Ohne Prozess? Und ohne Urteil?! Sie hat doch nie und nimmer etwas Strafwürdiges begangen! O Siegfried, kann man denn da gar nichts unternehmen?«

»Nichts«, sagte er mit erstickter Stimme, »sie geben als Todesursache an: Lungenentzündung. Vielleicht stimmt es sogar. Und wenn nicht, es gibt keine Instanz, an die wir appellieren könnten. Wir sind … völlig machtlos … entrechtet.«

»Die arme Ruth! Die arme, gute, idealistische Ruth!«

»Wie konnte ich nur so blind und dumm sein!«, brach es aus ihm heraus. »Du hattest recht mit allem, was du sagtest … du hattest recht von Anfang an … ich wollte es nicht glauben!« Ein unterdrücktes Schluchzen drang tief aus seiner Kehle.

»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Liebster! Es ist nicht deine Schuld, dass du das Ungeheuerliche, das Unmenschliche, das Wahnsinnige nicht kommen sahst. Du hast zu sehr an das Gute geglaubt … An die Vernunft. Aber die ist nur ein dünner Firnis. Aber wenn er abblättert …«

»Du hast es gewusst, du hast es immer gewusst … wenn ich nur auf dich gehört hätte!«

»Jeder von uns hat die Situation anders gesehen … ich hätte mich genauso gut irren können wie du. Und ich wollte bei Gott, ich hätte mich geirrt!«

Sie standen schwankend, hielten sich umklammert wie Menschen in einem gewaltigen Sturm, vor dem sie beieinander Halt suchten. Beide empfanden die Nähe des Partners und die Gewissheit, einander unverbrüchlich zu gehören, als starken Trost.

Endlich löste er sich von ihr, langsam und mit Überwindung. »Ihr müsst fort«, sagte er, »du und die Jungen, ihr müsst so rasch wie möglich aus Deutschland heraus.«

»Nicht ohne dich, Liebster.«

»Ich kann nicht von heute auf morgen meine Zelte hier abbrechen, Senta. Selbst wenn ich darauf verzichtete, Außenstände einzutreiben und unseren Besitz so gut wie möglich zu veräußern – was ich übrigens für reichlich unvernünftig hielte. Aber ich muss doch meine juristischen Pflichten erfüllen. Ich kann die Aufgaben, die man mir übertragen hat, nicht einfach … fallen lassen.«

Senta sah ihn an. »Aber könntest du nicht deinen Klienten deinen Entschluss mitteilen … ihnen nahelegen, sich einen anderen Anwalt zu nehmen …«

»Doch, Liebes. Aber dafür brauche ich Zeit.«

»Wie lange?«

»Ein paar Monate bestimmt.«

»Dann werden wir warten, bis du so weit bist«, entschied Senta, »auf keinen Fall werden wir dich allein lassen. Du bist wesentlich mehr gefährdet als wir. Wir müssen auch deinen Vater mitnehmen.«

»Es ist lieb, dass du daran denkst, Senta … aber ich weiß nicht, ob wir den alten Herrn überreden können, seine Heimat zu verlassen.«

»Wir müssen es mit allen Mitteln versuchen, Siegfried. Vielleicht hilft es, wenn wir ihm versprechen, dass es nur für kurze Zeit sein wird.«

»Glaubst du noch daran?«

»Dieser Wahnsinn dauert nicht lange.«

Am 1. Mai blieb Justus Weigands Praxis geschlossen. Er saß mit Clementine und Ilschen bei einem späten Frühstück, als das Telefon klingelte.

»Na, hoffentlich ist das kein Patient«, sagte Clementine, »soll ich ihn dir abwimmeln?« Sie hatte sich schon halb erhoben.

Justus Weigand winkte ab. »Lass nur. Ich will doch sehen, ob es wichtig ist. Du kennst mich ja. Notfalls kann ich auch nein sagen.« Er trat zu dem Apparat, der auf einem kleinen, hochbeinigen Rosenholztischchen in einer Ecke des Erkerzimmers stand, nahm den Hörer auf und meldete sich.

»Ja, ich bin es selber«, hörte Clementine ihn sagen, »bitte, versuchen Sie ganz ruhig zu bleiben … schildern Sie mir den Unfall ganz ruhig! Ja, das wäre möglich, aber wir wollen doch nicht gleich das Schlimmste annehmen. Lagern Sie den Fuß hoch und machen Sie kalte Umschläge … mit essigsaurer Tonerde oder, wenn Sie die nicht im Haus haben, genügt auch Essigwasser … ja, ich komme sofort! Doch, ich weiß Bescheid … Altmann, Dorotheenstraße. Bis nachher, gnädige Frau!« Er legte den Hörer auf, setzte sich und legte sich seine Serviette wieder über den Schoß. »Hast du noch eine Tasse Kaffee für mich, Tina?«

»Aber ja!« Clementine lächelte ihrer Tochter ermutigend zu. »Schenk Vati ein, Ilschen!«

Ilschen sprang auf, und unter Ermahnungen, Warnungen und Ratschlägen ihrer Mutter nahm sie die bauchige Kanne vom Wärmer und goss ihrem Vater Kaffee ein.

»Fein gemacht!«, lobte Justus Weigand.

»Nichts vergossen!«, jubelte das Kind.

»Ja, das war sehr schön«, sagte Clementine, »aber wir wollen sehen, ob du es nicht noch etwas schneller kannst!«

Sofort griff das Mädchen wieder zur Kanne.

»Aber nein, nicht jetzt, Ilschen! Sieh doch, unsere Tassen sind ja noch voll.« Clementine nahm ihr die Kanne aus der Hand und stellte sie wieder an ihren Platz zurück. »Sag mal, Justus, diese Frau Altmann, die da angerufen hat, ist das nicht eine Jüdin?«

Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Seit wann beginnst du jetzt auch unsinnige Unterschiede zu machen? Ich höre so was sehr ungerne!«

»Unsinnig oder nicht«, beharrte Clementine, »aber sie sind doch da! Ich habe nichts gegen die Juden, das weißt du ganz genau …«

»Na, das ist ja wunderbar!« Justus Weigand bestrich sich ein Brötchen mit Butter.

»Ich frage mich nur, warum diese Frau Altmann sich nicht an einen jüdischen Arzt wendet?«

»Und warum sollte sie das deiner Meinung nach?«

»Ach, tu doch nicht so, als verstündest du mich nicht. Deine Überheblichkeit wird langsam unerträglich. Du weißt genauso gut wie ich, dass es eine Menge guter Gründe dafür gäbe!« Sie gab Ilschen, die nach dem Brotkorb griff, einen leichten Klaps auf die Hand. »Genug gegessen, Liebling, du bist längst satt. Man wird nicht zum Fresser geboren, sondern erzogen.«

Ilschen warf ihrem Vater einen flehenden Blick zu.

»Deine Mutter hat recht, Ilschen«, sagte er, und als er ihr zulächelte, wurde sein Gesicht sehr weich und verlor jeden Zug von Ironie, »aber sei nicht traurig, bald gibt es ja Mittagessen.« Er tätschelte ihre Hand. Ilschen seufzte enttäuscht.

»Geh in dein Zimmer«, befahl Clementine, »Mutter kommt gleich nach!«

Ilschen schmiegte sich zärtlich an ihren Vater und küsste ihn mit nassen Lippen und halboffenem Mund auf die Wange, bevor sie den Raum verließ.

Unerbittlich kam Clementine wieder auf das angeschnittene Thema zurück. »Du hast mir doch selber gesagt, dass alle jüdischen Ärzte von der Kassenpraxis ausgeschlossen sind …«

»Altmanns sind Privatpatienten.«

»Gerade deshalb hätten sie doch allen Grund, ihr Honorar einem Stammesgenossen zukommen zu lassen.«

Er hatte in sein Brötchen gebissen und sprach erst, als er den Mund leer hatte. »Wer weiß, ob Geld da ist. Altmanns sind im Begriff auszuwandern.«

»Du meinst, sie werden dir nicht einmal etwas bezahlen?«

»Kann schon sein!« Justus Weigand lächelte über ihre Empörung.

»Aber dann ist es doch eine glatte Unverschämtheit …«

Jetzt fiel er ihr ins Wort. »Tina! Altmanns sind seit mehr als zehn Jahren meine Patienten. Erwartest du wirklich von mir, dass ich sie im Stich lasse, nur weil man ihnen jetzt zusetzt? Ich würde nicht einmal mehr Geld von ihnen annehmen, wenn sie es mir aufzudrängen versuchten. Weißt du, dass man diese Leute um ihren ganzen Besitz bringt, indem man ihnen, wenn sie raus wollen, ihr Eigentum für einen Spottpreis abkauft?«

»Aber was geht dich das an?«

Er sah sie nachdenklich an. »Sag mal, Tina, seit wann bist du eigentlich Nationalsozialistin geworden?«

»Das bin ich gar nicht!«

»Du redest aber gerade so.»

Sie warf den Kopf in den Nacken. »Wenn du nur versuchen würdest, ein bisschen objektiv zu sein, dann müsstest du zugeben, dass sie auch sehr viel Gutes schaffen. Endlich ist wieder Ruhe und Frieden in Deutschland eingekehrt …«

»Ja«, sagte er sarkastisch und schob sie beiseite, »die Ruhe eines Kirchhofes!«

»Justus!«, rief sie ihm nach.

Aber er hörte nicht mehr zu, sondern ging mit großen Schritten den Flur entlang, ergriff seine Bereitschaftstasche und seinen Mantel und verließ die Wohnung.

In der Dorotheenstraße wurde Justus Weigand sofort geöffnet, aber zu seiner Überraschung nicht von Frau Altmann, sondern von Pamela von Majewsky.

»Nanu!«, rief er erstaunt. »Was machen Sie denn hier?«

Sie reichte ihm ihre schmale, feste Hand. »Ich habe ein bisschen beim Packen geholfen.«

»Das ist aber nett!«

Sie sah reizend aus in einem blauen Waschkleid, dessen einziger Schmuck in einem breiten, knallroten Gürtel bestand, der ihre zerbrechliche schlanke Taille betonte.

»Ich kenne Altmanns schon seit Jahren!« Sie half ihm aus dem Mantel.

»Ist Nils auch hier?«

Ihr Lächeln erlosch. »Nein.«

»Na, das wundert mich nicht. Nils ist ein netter Kerl. Aber ich würde ihn nicht gerade als einen Philanthropen bezeichnen.« Justus Weigand nahm seine Bereitschaftstasche auf. »Wo ist der Patient?«

Sie ging ihm voraus und öffnete die Tür. »Hier!«

Er trat an ihr vorbei in das Wohnzimmer, in dem nur noch die Möbel standen. Es gab keine Teppiche mehr, und nur die farbfrischeren Flecken auf der geblümten Tapete verrieten, dass hier einmal Bilder gehangen hatten.

Paul Altmann, ein alter Herr mit einem gutgeschnittenen Kopf und einem dicken martialischen Schnurrbart, lag auf einem altmodischen Kanapee, den rechten Fuß über der Seitenlehne, und er stöhnte, während seine Frau kalte Umschläge machte.

Sie stand auf, als er eintrat, eine grauhaarige Frau mit schlaffer, gelblicher Haut und schwarzen, sehr wachen Augen.

Sie reichte Justus Weigand eine verrunzelte Hand. »Wie gut, dass Sie gekommen sind, Doktor Weigand! Wir machen uns große Sorgen!«

»Wegen einem angeknacksten Fuß? Aber nicht doch, gnädige Frau, so gefährlich kann die Sache doch gar nicht sein.«

»Für uns schon, Doktor!«, knurrte der Alte. »Wir haben nämlich endlich unsere Ausreisegenehmigung, und anstatt gleich zu fahren, wollte die da …«, er wies auf seine Frau, »… noch unbedingt dies und das erledigen und allen möglichen Leuten Lebewohl sagen!«

»Ja, schieb jetzt nur mir die Schuld in die Schuhe! Dabei ist es dir genauso schwergefallen, dich zu trennen.« Frau Altmann wandte sich an Justus Weigand. »Wer hätte denn auch mit so etwas gerechnet! Wenn Paul jetzt nicht reisen kann, kommen wir vielleicht nie wieder raus, und die neuen Mieter möchten auch schon so bald wie möglich in die Wohnung.«

Justus Weigand war hinter das Kanapee getreten und tastete mit sanften, geschickten Fingerspitzen den geschwollenen Knöchel ab. »Wo wollen Sie denn hin?«

»Nach Palästina«, erklärte Frau Altmann, »ja, das ist unser einziger Trost, dass wir in das Gelobte Land reisen dürfen.«

Ihr Mann biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken, aber seine geröteten Augen wurden nass.

Justus Weigand ließ den Fuß los. »Na, ich weiß nicht …«, sagte er zögernd.

Herr Altmann versuchte sich aufzurichten. »Ist er gebrochen, Doktor Weigand? Die Wahrheit, bitte! Ich habe es dir gleich gesagt, Hilde, warum konnten die verdammten Gardinen nicht hängen bleiben?«

»Nein, nein«, erklärte Justus Weigand hastig, »bitte, regen Sie sich nicht auf. Der Knöchel ist nur verstaucht, von einem Bruch kann keine Rede sein.«

»Siehst du, Paul, habe ich es dir nicht gleich gesagt?«, rief seine Frau triumphierend.

»Ja, du weißt immer alles … wenn ich dich nicht hätte!«, brummelte er.

Justus Weigand begriff sehr wohl, dass es sich um die gewohnten Zänkereien alter Eheleute handelte, die immerhin mehr als vierzig Jahre miteinander verbracht hatten und allein nicht mehr hätten leben können.

»Meine Bedenken sind anderer Art«, sagte er, »muss es denn ausgerechnet Palästina sein?«

»Schlimm genug, dass wir unsere Heimat verlassen müssen«, knurrte Herr Altmann, »wenn Sie uns jetzt auch noch Ratschläge geben wollen …«

»Sei still, Paul, du weißt genau, Doktor Weigand meint es gut!«

»Wenn ich mich recht erinnere, gnädige Frau, war Ihr Herz bei der letzten Untersuchung doch ein bisschen angeschlagen, nicht wahr?«

»Kein Wunder nach dem, was man uns antut!«, bemerkte Herr Altmann.