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Martin Lindstrom · Small Data

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Was Kunden wirklich wollen –
wie man aus winzigen Hinweisen
geniale Schlüsse zieht

MARTIN LINDSTROM

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INHALT

EINFÜHRUNG

1 RAUM FÜR WÜNSCHE – Wie sibirische Kühlschranktüren und ein saudisches Einkaufszentrum eine revolutionäre Website für russische Frauen schufen

2 WÜRSTCHEN, HÜHNCHEN UND DAS STREBEN NACH ECHTEM GLÜCK – Wie sich die Zukunft des Lebensmitteleinkaufs verändert

3 UNITED COLORS OF INDIA – Wie man zwei uneinigen Frauengenerationen Frühstücksflocken schmackhaft macht

4 DER RICHTIGE ANSATZ ZUR GEWICHTSREDUKTION – (durch Fast Food, ein Kino im Nahen Osten und ein Hotelschwimmbecken)

5 WIE PFERDE, HEMDKRAGEN UND RELIGIÖSE ÜBERZEUGUNGEN EINE SCHAL GEWORDENE BRASILIANISCHE BIERMARKE WIEDER ZUM PRICKELN BRACHTEN

6 DIE GESCHICHTE VON DER FEHLENDEN HANDCREME – Wie Selfies den Weg für eine Revolution in Modegeschäften bereiteten

7 BETTEN OHNE TAGESDECKE – Was verkohltes Papier, Spielzeugautos und Feenstaub über »Qualität« in China verraten

8 EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN – Wie Sie Small Data in Ihr Berufs- und Privatleben integrieren

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

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BEI LEGO VERBARG SICH DIE LÖSUNG für die Probleme des Unternehmens – quasi die Rettung vor dem potenziellen Konkurs – in einem Paar ausgetretener Turnschuhe.

Anfang 2003 befand sich das Unternehmen in der Krise. Es hatte im zurückliegenden Jahr Umsatzeinbußen in Höhe von 30 Prozent erlitten. 2004 schmolz der Umsatz um weitere zehn Prozent ab. LEGO-CEO Jørgen Vig Knudstorp sagte dazu: »Uns brennt der Hut. Wir verlieren Geld, weil der Cashflow negativ ist, und es besteht effektiv das Risiko, dass wir unsere Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen können. Das könnte zum Zusammenbruch des Unternehmens führen.«1

Wie hatte der dänische Spielzeughersteller so schnell so tief fallen können? Die Probleme des Unternehmens reichten wohl bis in das Jahr 1981 zurück, als mit Donkey Kong das erste mobile Spiel auf den Markt kam. Es löste eine Debatte im internen LEGO-Magazin Klodshans darüber aus, was sogenannte »Side-Scrolling-Plattform-Spiele« für die Zukunft von Konstruktionsspielzeug bedeuteten. Die Konsensmeinung: Plattformen wie Atari und Nintendo seien Modeerscheinungen. Das sollte zutreffen – zumindest so lange, bis mit der Einführung von Computerspielen für PCs ihre extreme zweite Erfolgswelle einsetzte.

Ich war erstmals 2004 als Berater für LEGO tätig. Damals beauftragte mich das Unternehmen mit der Entwicklung seiner übergreifenden Markenstrategie. Ich war nicht der Ansicht, dass sich das Unternehmen von dem abwenden sollte, was es schon so lange so gut machte. Doch die zunehmende Allgegenwart des Digitalen ließ sich nicht wegdiskutieren. Ab Mitte der 1990er-Jahre ging LEGO von seinem Kernprodukt, den Bausteinen, weg und fokussierte sich stattdessen auf sein breit aufgestelltes Imperium aus Themenparks, Kinderkleidungssortimenten, Videospielen, Büchern, Zeitschriften, Fernsehsendungen und Einzelhandelsgeschäften. Im selben Zeitraum fiel im Management irgendwann die Entscheidung, dass LEGO angesichts der ungeduldigen, impulsiven und unsteten Generation Y künftig größere Steine produzieren sollte.

Alle von LEGO in Auftrag gegebenen Big-Data-Studien kamen zum gleichen Ergebnis: Künftige Generationen würden das Interesse an LEGO verlieren. LEGO drohte dasselbe Schicksal wie Mikado, Topfschlagen und Blindekuh. Die »Digital Natives« – also alle nach 1980 Geborenen, die dem Informationszeitalter entstammten – hatten nicht mehr die Zeit und die Geduld für LEGO. Auch würden ihnen bald die Ideen und Konzepte zum Bauen ausgehen. Die Digital Natives würden ihre Fantasie und Kreativität einbüßen, sofern das nicht schon passiert war, denn die Computerspiele nahmen ihnen alles ab. Jede LEGO-Studie belegte, dass das Bedürfnis dieser Generation nach sofortiger Befriedigung so stark war, dass kein Baustein reelle Chancen hatte, dagegen zu bestehen.

Angesichts solcher Prognosen erschien es für LEGO unmöglich, das Ruder herumzureißen. Und doch ist es dem Unternehmen gelungen. Es veräußerte seine Vergnügungsparks. Es führte erfolgreiche Partnerschaften mit Marken wie Harry Potter, Star Wars und Bob der Baumeister fort. Es verringerte die Zahl seiner Produkte und erschloss sich parallel dazu neue, unterversorgte Märkte in aller Welt.

Der größte Impuls zur Änderung von LEGOs Einstellung ging jedoch von einem ethnografischen Besuch aus, den wir Anfang 2004 dem Heim eines Elfjährigen in einer deutschen Stadt mittlerer Größe abstatteten. Was wir wollten? Herausfinden, was das Besondere an LEGO war. An jenem Tag stellten die LEGO-Manager fest, dass alles, was sie über die Kinder des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts zu wissen glaubten oder gehört hatten – einschließlich des Bedürfnisses nach zeitlicher Verdichtung und sofortigen Ergebnissen –, falsch war.

Der elfjährige Deutsche war nicht nur eingefleischter LEGO-Fan, sondern auch leidenschaftlicher Skateboarder. Auf die Frage, auf welches seiner Besitztümer er am stolzesten sei, deutete er auf ein Paar abgetragene Adidas-Turnschuhe, die an einer Seite voller Kratzer und Risse waren. Sie seien seine Trophäe, erklärte er. Sie seien seine Goldmedaille, sein absolutes Paradeteil. Vor allem aber waren sie ein Beweisstück. Er hielt sie hoch, damit alle im Zimmer sie sehen und bewundern konnten. Er erklärte, dass eine Seite in genau dem richtigen Winkel abgeschrappt und ramponiert sei. Die Absätze seien auf ganz bestimmte Weise abgewetzt und abgeflacht. Der Anblick der Turnschuhe und der Eindruck, den sie vermittelten – da ging nichts drüber: Sie zeigten ihm, seinen Freunden und dem Rest der Welt, dass er zu den besten Skateboardern der Stadt gehörte.

Da fiel es dem LEGO-Team wie Schuppen von den Augen. Die ganzen Theorien über zeitliche Verdichtung und sofortige Befriedigung erschienen mit einem Mal haltlos. Angeregt durch die Erklärungen eines elfjährigen deutschen Jungen zu einem Paar alter Adidas-Turnschuhe, erkannten die Lego-Manager, dass sich Kinder die soziale Anerkennung Gleichaltriger sichern, indem sie ein gewähltes Spiel oder eine Aktivität bis zur Perfektion betreiben – ganz gleich, worum es sich dabei handelt. Hat es für sie Wert und zahlt sich aus, bleiben sie dabei, bis sie es richtig gut können – egal wie lang das dauert. Den Kindern ging es darum, Einsatz zu bringen und dafür am Ende etwas vorzuweisen – in diesem Fall ein paar abgeschrappte Sneaker, die die meisten Erwachsenen kaum eines Blickes würdigen würden.

Bis dahin hatten sich die Entscheider bei LEGO ganz auf Big Data ausgerichtet. Doch am Ende war es eine beiläufige, zufällige Erkenntnis – ein Paar Turnschuhe, die einem Skateboarder und LEGO-Fan gehörten –, die dem Unternehmen zur entscheidenden Wendung verhalf. Ab diesem Zeitpunkt konzentrierte sich LEGO wieder auf sein Kernprodukt und setzte sogar noch eins drauf: Man konzipierte nicht nur wieder Bausteine in ihrer ursprünglichen Größe, sondern ergänzte sie um mehr und kleinere Teile in den Schachteln. Die Komponenten wurden detaillierter, die Anleitungen anspruchsvoller, die Bauprojekte arbeitsintensiver. Für die Endverbraucher ging es bei LEGO offenbar um den Anreiz, die Herausforderung, die Kunstfertigkeit und Leistung und nicht zuletzt um die mühsam erworbene Erfahrung. Diese Erkenntnis war den komplexen prognostischen Analysen trotz ihrer erstaunlichen Fähigkeit, »Durchschnittsbewertungen« zu zergliedern, offensichtlich entgangen.

Zeitsprung: Zehn Jahre später, im ersten Halbjahr 2014, stieg der Umsatz von LEGO nach dem Welterfolg von The Lego Movie und dem Absatz diesbezüglicher Produkte um elf Prozent auf über zwei Milliarden US-Dollar. Damit konnte LEGO erstmals Mattel als weltweit größten Spielzeughersteller überholen. 2

ES MAG SIE WUNDERN, doch fast jede Erkenntnis, zu der ich als globaler Markenberater gelange, kommt auf diese Weise zustande – ob ich einen neuen Schlüssel für Porschefahrer entwickle, eine Kreditkarte für Milliardäre oder eine abgefahrene Neuerung für ein Unternehmen zur Gewichtsreduktion, ob ich versuche, das Schicksal einer kriselnden amerikanischen Supermarktkette zu wenden oder einen chinesischen Autobauer fit zu machen für den globalen Wettbewerb. Im Englischen heißt es, wer wissen will, wie Tiere leben, sollte nicht in den Zoo gehen, sondern in den Dschungel. Und nichts anderes mache ich. Wenn ich das durchgeführt habe, was ich als Subtext-Forschung bezeichne (und gern zu Subtexting abkürze) – ein detailliertes Verfahren, das Besuche bei Verbrauchern zu Hause umfasst, und die Offline- und Online-Erfassung von Small Data sowie die Auswertung (das »Small Mining«) dieser Hinweise unter Berücksichtigung von Beobachtungen und Erkenntnissen aus aller Welt –, kommt fast immer der Moment, an dem ich ein unbefriedigtes oder unerkanntes Bedürfnis entdecke, das die Grundlage bildet für eine neue Marke, ein innovatives Produkt oder auch mal ein ganzes Unternehmen.

In den vergangenen 15 Jahren habe ich Tausende Männer, Frauen und Kinder in 77 Ländern in ihrem trauten Heim befragt. Ich verbringe 300 Nächte im Jahr im Flugzeug oder im Hotelzimmer. Ein solches Leben hat natürlich seine Nachteile. Ich fühle mich nirgendwo richtig zu Hause, es ist schwer, Beziehungen zu führen und Kinder oder Haustiere kommen für mich nicht infrage. Es hat aber auch seine Vorteile. Dazu gehört, dass ich ständig Gelegenheit habe, Menschen und ihre Kulturen aus ihrer Perspektive zu betrachten, und Fragen wie die folgenden beantworten kann: Wie bilden sich Gruppen? Wie sehen ihre grundlegenden Überzeugungen aus? Was haben sie für Ziele und warum? Wie entwickeln sie soziale Bindungen? Wie unterscheiden sich die Kulturen? Hat eine solche lokale Überzeugung, Gewohnheit oder rituelle Entwicklung universelle Bedeutung?

Nicht zuletzt stolpere ich in aller Welt auch über Beispiele für eigenartiges Verhalten oder über allgemeingültige Wahrheiten. Wir haben beispielsweise Angst, anderen mehr über uns zu verraten, als wir selbst wissen. Wir befürchten, sie könnten hinter unsere Masken schauen. Wir möchten keinesfalls die Kontrolle verlieren, indem wir andere sehen lassen, wie wir wirklich sind. Menschen, die wir lieben – Ehepartner, Lebensgefährten, Kinder –, altern in unseren Augen physisch nicht so, wie wir das bei anderen Menschen wahrnehmen, die wir seltener sehen. Alle Menschen erleben »süße Momente« durch ein internes Belohnungssystem, das greift, während wir arbeiten, lesen, nachdenken oder uns konzentrieren, und uns mit neuer Energie versorgt und unsere Aufmerksamkeit neu weckt. In diesem Zusammenhang »belohnen« wir uns selbst, wenn wir einen großen Auftrag abgeschlossen haben – so wie die Großzügigkeit gegenüber anderen zur Weihnachtszeit dazu führt, dass wir uns auch selbst ein Geschenk kaufen. Und in einer transparenten überbevölkerten Welt, in der wir online unser Innerstes nach außen kehren, wird so etwas wie »Privatsphäre« und »Exklusivität« zum größten Luxus überhaupt.

Warum bewegen wir uns beim Telefonieren mit dem Handy meist im Kreis – als würden wir versuchen, einen Graben oder einen Schutzwall für unsere Privatsphäre zu schaffen? Warum gehen wir, wenn wir hungrig oder durstig sind, an den Kühlschrank, öffnen die Tür, mustern den Inhalt, schließen die Tür und wiederholen das Ganze ein paar Sekunden später? Warum suchen wir, wenn wir spät dran sind, Uhren, die die Zeit für uns günstiger anzeigen und unsere Verspätung auf diese Weise irgendwie rechtfertigen? Warum nehmen wir Menschen in der Menge, etwa am Flughafen oder am Bahnhof oder auf einem Rockkonzert, als Teil »der Masse« wahr und erkennen nicht, dass sie genau das Gleiche tun wie wir? Warum haben so viele Menschen die besten Ideen unter der Dusche oder im Wasser?

Die Menschen, die ich studiere und befrage, können halbwüchsige Mädchen aus brasilianischen Favelas sein, Großkundenbetreuer tschechischer Banken, indische Schwiegermütter oder sportbegeisterte Väter aus Genf, Peking, Kioto, Liverpool oder Barcelona. Manchmal erlaube ich mir sogar – mit Genehmigung der Eigentümer selbstverständlich –, in die Häuser oder Wohnungen der Menschen einzuziehen, als wäre ich dort zu Hause. Ich fraternisiere mit den Familien, höre mit ihnen Musik, sehe mit ihnen fern und esse mit ihnen. Bei solchen Besuchen – Zustimmung vorausgesetzt natürlich – schaue ich in Kühlschränke, öffne Schreibtischschubladen und Küchenschränke, durchforste Bücherregale und Zeitschriften, Musikund Filmsammlungen und Downloads, inspiziere Handtaschen, Brieftaschen und Suchverläufe im Browser, Facebook-Seiten, Twitter-Feeds, Emoji-Verwendung oder Instagram- und Snapchat-Accounts. Auf der Suche nach dem, was ich als »Small Data« bezeichne, den »kleinen Daten« also, gibt es (fast) keine Tabus. Ich habe Verbraucher sogar schon per SMS interviewt – eine Studie belegt nämlich, dass Menschen in Textnachrichten seltener die Unwahrheit sagen3 –, doch weit häufiger überrasche ich die Menschen, indem ich einen Blick in ihre Mikrowelle werfe oder in ihre Glas- und Plastikmüllsammlung.

Noch interessanter als die Unterschiede zwischen den Männern und Frauen, die ich treffe, befrage und beobachte, und die Variationen in Geografie, Klima, Kultur und Hautfarbe, die mir übers Jahr normalerweise begegnen, sind die Merkmale, die uns allen gemein sind. (Meiner festen Überzeugung nach gibt es nur 500 bis 1.000 unterschiedliche Menschentypen auf der Welt. Ich gehöre zu einem davon und Sie ebenfalls.) Mir ist auch klar geworden, dass meine Fähigkeit, im Zuge des Aufbaus oder der Rettung einer Marke eine einzelne Beobachtung über viele Ländergrenzen hinweg mit einer anderen in Verbindung zu bringen, eine besondere Kompetenz darstellt. Am Ende unterscheiden sich die Mietskasernen im fernen Osten Russlands nicht grundlegend von den geschlossenen Nobelwohnanlagen in den amerikanischen Südstaaten. Und angesichts des extremen Klimas, das sowohl in Saudi-Arabien als auch in Russland herrscht, ähnelt das Verhalten der Menschen im Nahen Osten in vieler Hinsicht dem der Sibirier. Ich bin weder studierter Sozialwissenschaftler noch Psychologe oder Detektiv, doch man sagt mir nach, dass ich so denke und vorgehe wie eine Mischung aus diesen drei. Ich widerspreche dann und bezeichne mich als auf Small Data beziehungsweise emotionale DNA spezialisierten Kriminaltechniker – so etwas wie einen Sehnsuchtsjäger. Diese Eigenart erwarb ich eher zufällig schon als kleiner Junge in der ländlichen Kleinstadt Skive in Dänemark mit ihren 20.505 Einwohnern.

ALS ICH ZWÖLF JAHRE ALT WAR, stellten die Ärzte bei mir eine seltene Form der Gefäßentzündung fest. Purpura Henoch-Schönlein löst Entzündungen der kleinen Blutgefäße in der Haut des Betroffenen, in seinen Gelenken und Eingeweiden aus und kann die Nieren irreparabel schädigen. Ich kam ins Krankenhaus und konnte mich monatelang nicht bewegen. Abgesehen von wenigen anderen Patienten, die ein Paar blaugraue Vorhänge und eineinhalb Meter olivgrünes Linoleum von mir trennten, war ich allein.

Ich wachte jeden Tag um sieben auf. Eine Krankenschwester brachte mir mein Frühstück. Dann begann ich mit meinem täglichen inoffiziellen Überwachungsprogramm. Ich studierte meine Pfleger, meine Mitpatienten, ihre Freunde und Verwandten und bald, als ich alle diese Kategorien ausgeschöpft hatte, mich selbst. Ich gewöhnte mir das an, um die furchtbaren langweiligen Tage bis zu meiner Genesung herumzukriegen. Als ich das Krankenhaus ein paar Monate später verlassen durfte, war ich in dem Zwölfjährigen eigenen Hochmut der festen Überzeugung, dass ich die Menschen so gut kannte wie nie ein anderer zuvor.

Was macht Patient Nummer 3 gerade? Was macht Patient Nummer 4 in 15 Minuten? Die Stimme von Patient Nummer 5 wird hörbar rauer und matter, wenn seine Mutter zu Besuch kommt, und Patient Nummer 3 dreht immer seine Apfelsafttüte um, wenn er ausgetrunken hat. Ich nahm wahr, wie die Krankenschwester unsere Klemmbretter so vorsichtig in die Halterung zurücksteckte, dass sie kein Geräusch machten. Ich bemerkte, dass die Pflegekräfte mit den dickeren Klemmbrettern wichtiger taten und die ohne Klemmbretter schüchterner und unterwürfiger auftraten. Ich machte jeden Tag Hunderte und Tausende solcher Beobachtungen – wie sicherlich jeder, der so lange in ein Krankenhaus eingesperrt wird. Doch was die meisten Menschen rasch abtun, mit einem Augenrollen quittieren oder gleich wieder vergessen würden, loggte ich in mein Gedächtnis ein, heftete es dort ab und analysierte es.

Die restlichen Tage im Krankenhaus erleichterte mir eine Kiste mit LEGO-Steinen, die mir meine Mutter mitbrachte, um mir die Zeit zu vertreiben. Rückblickend entbehrt es nicht einer gewissen Komik, dass mein Krankenhausaufenthalt zwei meiner liebsten Zeitvertreibe und Leidenschaften hervorbrachte – nämlich LEGO bauen und Menschen beobachten.

Als ich aus der Klinik entlassen wurde, beherrschte ich die Kunst des LEGO-Bauens schon recht gut – so gut sogar, dass ich es mir in den Kopf setzte, im Hinterhof meiner Eltern eine Miniatur-Nachbildung von LEGOLAND zu errichten. Das erregte die Aufmerksamkeit der LEGO-Zentrale – und zweier ihrer Patentanwälte. Wie verfuhr man am besten mit einem Zwölfjährigen, der LEGO so liebte, dass er illegal einen der LEGO-Themenparks nachgebaut hatte? Ich darf glücklich berichten, dass mich das Unternehmen als Modellbauer und Innovator anwarb! Doch das ist eine andere Geschichte.

Im Krankenhaus hatte ich aber mehr gelernt, als komplizierte LEGO-Konstruktionen zu bauen. Der Aufenthalt hatte meine Augen und Ohren darauf trainiert, die Erwachsenenwelt wahrzunehmen, zu erschließen, zu interpretieren und letztlich zu begreifen. In der Pawlow‘schen Veränderung der Stimmlage von Patient Nummer 5 kam sein Bedürfnis nach mütterlicher Fürsorge zum Ausdruck. Patient Nummer 3 hätte alles getan, um sich die Zeit im Krankenbett zu verkürzen. Eine Methode war, seinen Saftkarton geräuschvoll auf den Kopf zu stellen. Die Nachtschwester erschien den Patienten meist gleichgültig, doch vielleicht signalisierte sie mit ihrer Schusseligkeit und ihrem geräuschvollen Umgang mit den Esstabletts, wie wenig Anerkennung sie von ihren Kollegen bekam. So unwesentlich etwas auf den ersten Blick auch wirken mag – alles im Leben erzählt eine Geschichte.

Ich weiß noch, wie ich gegen Ende meines Krankenhausaufenthalts, als mir das Pflegepersonal schon häufiger gestattete, herumzulaufen, aus dem Fenster schaute und die Menschen beobachtete, die zu ihren Autos und Fahrrädern gingen. Ich musterte ihre Kleidung, ihre Schuhe oder Sneakers, ihre Haltung. Ich sah, ob sie Schmuck oder eine Armbanduhr trugen und wie sie sich verhielten, wenn sie sich unbeobachtet fühlten: Die junge Mutter kämmte sich verstohlen die Haare, der Geschäftsmann griff sich an die Ferse, um den losen Absatz an seinem Schuh zu richten, das junge Mädchen war ganz in die Musik versunken, die aus seinen Kopfhörern kam.

Wie veränderte sich das Verhalten der Mutter, wenn sie mit anderen Müttern interagierte? Wenn ihr Baby schrie, wie beruhigte sie es? Der Geschäftsmann trug ein weißes Button-down-Hemd, das ihm knittrig aus der Hose hing. War er sich dessen bewusst? War es Absicht? Wollte er der Welt zeigen, was er für ein Rebell war, oder war er nur nachlässig oder wollte er sich damit selbst demontieren? Warum sah er dauernd auf die Uhr? Hoffte er, die Zeit würde langsamer vergehen – oder schneller? Was hatte es mit dem Gummiband auf sich, das er am Handgelenk trug? Wollte er sich ein Laster abgewöhnen? Oder erinnerte es ihn an jemanden, den er liebte?

Ich musste als Kind erst krank werden, damit ich mich selbst und andere von außen betrachten konnte – und damit sich meine Sicht auf die Dinge veränderte. Ich fing an, Menschen als faszinierend und eigenartig wahrzunehmen, was wir, selbstverständlich, tatsächlich sind.

Ist uns eigentlich klar, wie wir auf andere wirken? Sind wir uns der zufälligen Folge von Small Data bewusst, die wir jeden Tag hinterlassen – der Rituale, Gewohnheiten, Gesten und Präferenzen, die im Zusammenspiel offenbaren, wie wir wirklich sind? Die Antwort darauf ist in den allermeisten Fällen: nein. Was wir zwischendurch essen oder trinken, wie wir unsere Facebook-Seite gestalten, was wir twittern, ob wir Zimtkaugummi kauen oder Nikotintabletten lutschen – all diese kleinen Gesten mögen zunächst willkürlich, ungesteuert und zu nebensächlich wirken, als dass sie viel unserer Identität ausmachten. Doch wenn wir das Leben erst einmal durch die neue, unvertraute Small-Data-Brille betrachten, dann fallen uns prompt aufschlussreiche Hinweise zu den uns am nächsten stehenden Menschen auf – uns selbst eingeschlossen.

Small Data können sich im Backofen finden, im Medizinschrank oder in einem Facebook-Fotoalbum. Sie können sich im Zahnbürstenhalter eines Badezimmers in Tel Aviv finden oder in der Art und Weise, wie eine Rolle Klopapier in Nordbrasilien gegen die Badezimmerwand gepresst wird. Sie finden sich in der Anordnung der Schuhe einer Familie im Flur oder in dem Buchstaben- und Zahlensalat, aus dem sich die Computer-Passwörter eines Nutzers zusammensetzen. Im Zuge meines Subtexting grabe ich mich durch Mülleimer, vorbei an ausgequetschten Zahnpastatuben, zerknüllten Bonbonpapierchen und abgelaufenen Gutscheinen, immer auf der Suche nach dem einen Hinweis, der das Rätsel löst, der mir die Antwort liefert, die ich brauche – obwohl ich noch gar nicht weiß, wie das Rätsel überhaupt lautet oder was ich eigentlich suche. Ein einziges Small-Data-Fragment gibt selten genug her als Argumentationsgrundlage oder zur Aufstellung einer Hypothese. Doch in Verbindung mit weiteren Einblicken und Beobachtungen aus aller Welt fügen sich die Daten letztlich zu einer Lösung zusammen, die die Grundlage bildet für eine künftige Marke oder ein neues Unternehmen.

Meine Methoden mögen strukturiert sein, aber sie basieren auch auf jeder Menge Fehlern, Versuchen und Irrtümern und irrigen Hypothesen, die ich verwerfen muss, bevor ich noch einmal ganz von vorne anfange. (Meine 7C-Methodik erläutere ich im letzten Kapitel noch eingehender.) Betrete ich eine Wohnung, sammle ich zunächst so viele rationale, beobachtbare Daten wie möglich. Ich mache Notizen, schieße Hunderte von Fotos und nehme zahllose Videos auf. Ein winziges Detail, eine Geste kann der Schlüssel sein zur Erkenntnis eines Bedürfnisses, dessen sich Männer, Frauen und Kinder (und in manchen Fällen die Kultur selbst) bis dato nicht bewusst waren. Ich achte auf Muster, Parallelen, Korrelationen und nicht zuletzt auch auf Missverhältnisse und Übertreibungen. In aller Regel konzentriere ich mich auf die Gegensätze zwischen dem Alltagsleben der Menschen und ihren unerkannten oder unerfüllten Bedürfnissen. Indizien dafür finden sich überall, zum Beispiel auf dem Fußboden, wo ein orientalischer Gebetsteppich nicht in die richtige Richtung zeigt, oder in einem sibirischen Badezimmer, wo ein kaputter Handspiegel in einer Schublade liegt.

Nach monatelanger Beobachtung und Forschung breite ich meine gesamten Erkenntnisse auf einer Pinnwand aus. Sie ist Wandgemälde und Zeitstrahl zugleich. Welche Bedürfnisse verbergen sich in der Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität, zwischen Realität und Fantasie, zwischen den bewussten und unbewussten Fantasien der Menschen? Welche Ungleichgewichte weist die Kultur auf? Wovon gibt es zu viel, wovon zu wenig? Welche Bedürfnisse sind noch unbefriedigt?

Wenn aus keinem anderen Grund, so werde ich von Unternehmen als Berater hinzugezogen, um festzustellen, was wir Menschen eigentlich wollen – damit sie Wege finden können, uns genau damit zu versorgen. Offiziell mag ich »Branding-Berater« heißen, doch die meisten Firmen holen mich als durchreisenden Schnüffler ins Boot. Meine Aufgabe ist es, einem der verschwommensten, abstraktesten Begriffe auf die Spur zu kommen: den Wünschen. Wünsche haben stets eine Geschichte und drehen sich um ein Bedürfnis, das erfüllt werden muss: um eine Sehnsucht, die bewusst und unbewusst ins menschliche Verhalten Eingang findet, es aufwühlt und motiviert.

WÜNSCHE ÄUSSERN SICH AUF DIE EINE oder andere Weise hundertfach täglich in zahllosen Formen und Gestalten. Sie können als sexuelles Begehren auftreten, als Appetit auf bestimmte Nahrungsmittel, Alkohol oder Drogen. Sie können als Gelüste nach Geld, nach Status oder als Bedürfnis nach der Zugehörigkeit zu einer Gruppe vorkommen, als Drang, sich anzupassen oder von der Masse abzuheben. Sie können in dem Streben Ausdruck finden, eins zu werden mit einem anderen Menschen oder mit der Natur oder der Musik oder dem, was wir gemeinhin als »Universum« kennen. Wir sehnen uns nach der Sicherheit der Vergangenheit – ein Wunsch – und nach den Verheißungen der Zukunft – wieder ein Wunsch. Um begehrenswerter für andere zu »werden«, kaufen wir neue Kleider, putzen uns die Zähne, verwenden Gesichtscreme, rasieren uns und bestellen uns eine neue Brille. (Dabei gilt, wie ein Freund von mir einmal feststellte: »Am allerschwierigsten ist, in den Spiegel zu schauen und sich selbst zu beschreiben.«)

Natürlich sind Wünsche schwer fassbar. Gewöhnlich verflüchtigen sie sich, wenn man glaubt, ihrer habhaft geworden zu sein, um sich Sekunden später wieder zurückzumelden. Weltweit hat jede Kultur eigene Kanäle für Wünsche und Fluchten. Die Brasilianer gehen an den Strand. So machen es auch die Bürger von Sydney oder Los Angeles. Amerikaner, Bewohner des Nahen Ostens und Inder strömen ins Kino oder in die Geschäfte. Die Engländer versammeln sich im Fußballstadion oder im Pub. Wer in Saudi-Arabien lebt, flüchtet sich vielleicht in einen Ausflug in den Oman. Wer im Oman lebt, nimmt eine Auszeit in Dubai. Und für die Bürger Dubais ist London der Fluchtpunkt. Ein Londoner zieht sich dagegen an die Küste Andalusiens zurück oder nach Südfrankreich, Kalifornien oder Florida. Wir wünschen uns, was uns unserer Überzeugung nach fehlt – ganz gleich, ob das ein Ort ist, ein Menschen, eine Sache oder eine Lebensphase.

Meine Arbeit gleicht der eines ethnografischen oder partizipatorischen Anthropologen im Zeitraffer. Ich verbringe nicht Jahre an einem Ort, um einen Volksstamm zu beobachten, sondern Wochen, mitunter auch Monate, in einem anderen Land. Wie ein Anthropologe – wenn ich mich so bezeichnen darf – sehe ich mich als neutralen Zusammenführer und Beobachter, der Small Data sammelt und zu einem Mosaik zusammensetzt. Diesem versuche ich durch Small-Mining eine nachvollziehbare Handlung zu entlocken. Und wie in der Ethnografie ist auch meine Arbeit nie getan. Ich beginne und beschließe meine Tage blind. Ich verlasse mich auf zufällige Eindrücke und Offenbarungen. Schließlich verändern sich Länder und ebenso ihre kulturelle und politische Vielfalt. Die Technik wandelt unsere menschliche Identität und wir passen uns an und entwickeln uns entsprechend weiter.

Über die Jahre wurde ich wiederholt gefragt, wie ich als gebürtiger Däne und »Ausländer« von einem Land ins nächste reisen kann, um zu versuchen, Wünsche in Regionen zum Vorschein zu bringen, die ich gar nicht richtig kenne. Ist es denn sinnvoll, damit einem Fremden zu beauftragen, fragen sich die Leute, und noch dazu einen, der noch gar nicht lange vor Ort ist? Könnte nicht ein Franzose die Pariser Kultur besser einschätzen oder ein Australier die Entwicklungen in New South Wales oder Queensland? Warum beauftragt man in Japan nicht lieber eine japanische Beratungsfirma, in Russland einen russischen Branding-Spezialisten und in den USA eine US-amerikanische Agentur?

Das kann ich Ihnen sagen: Weil ein heimisches Team quasi garantiert etwas übersieht. Der deutsch-amerikanische Anthropologe Franz Boas hat den Begriff der Kulturbrille geprägt, der sich auf die »Linse« bezieht, durch die wir unser eigenes Land betrachten. Durch unsere Kulturbrille können wir die Kultur verstehen, in der wir leben. Doch dieselbe Brille macht uns blind für Aspekte, die einem Außenstehenden sofort auffallen.

In Japan beispielsweise sind Küche und Waschküche die einzigen häuslichen Bereiche, die nur verheiratete japanische Frauen betreten »dürfen«. Das ist natürlich kein offizielles Gesetz, aber eine unausgesprochene Sitte. Wie aber soll unter diesen Umständen ein japanisches oder multinationales Unternehmen Frauen in einem Land Produkte verkaufen, in dem drei Viertel der Männer den Einkauf für die Familien erledigen, die kaum wissen können, welche Haushaltsprodukte ihre Familien brauchen? Japanische Marketingfachleute hätten weder die richtige Perspektive noch die nötige Distanz, um das auch nur zu bemerken. Vor Jahren bummelte ich mit einem Einzelhandelsexperten, der ebenso viel unterwegs ist wie ich, durch Kopenhagen. »Die Dänen laufen total unstrukturiert«, sagte er plötzlich. »Die rennen einfach wild durcheinander.« Er hatte recht. Ich war in Dänemark aufgewachsen, doch das hatte ich bis dahin noch nie bemerkt.

Es gibt eine Familie von Süßwasserinsekten namens Gerridae – auch Wasserläufer oder Wasserschneider genannt. Sie huschen über Teiche und Seen. Ich sehe mich als wirtschaftliches Gegenstück zum Wasserläufer. Dabei ist mir durchaus klar, dass es ebenso Schwäche wie Stärke sein kann, wenn man ein Land ohne feste Vorstellungen betritt. Ein Außenstehender läuft stets Gefahr, Pauschalurteile zu fällen oder unvollständige oder naive Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich habe immer meinen Instinkten vertraut – und was anderes sind Instinkte als über die Zeit gesammelte Erfahrungen und Beobachtungen, die es einem Menschen ermöglichen, rasch Schlüsse zu ziehen, ohne genau zu wissen, wie?

Persönliche Beobachtungen und die Auseinandersetzung mit Small Data sind es, durch die sich mein Vorgehen in einer mit Big Data beschäftigten Welt abhebt. Die meisten von uns urteilen quasi in Sekunden oder höchstens Minuten. Wir suchen spontan und reagieren sofort. Während immer mehr Produkte und Dienstleistungen digitalisiert werden und uns die Technik immer stärker hilft, menschliches Verhalten in Echtzeit auf granularer Ebene zu verstehen, sind inzwischen viele der Ansicht, dass menschliche Beobachtungen und Interaktionen überholt oder gar bedeutungslos sind. Da bin ich ganz anderer Ansicht. Ein Kontakt bei Google hat mir einmal verraten, dass zwar knapp drei Milliarden Menschen online sind,4 70 Prozent der Online-Käufer täglich auf Facebook sind,5 jede Minute 300 Stunden Videos auf YouTube (das zu Google gehört) hochgeladen werden6 und 90 Prozent der gesamten globalen Daten in den letzten zwei Jahren generiert wurden7, Google aber dennoch letztlich nur begrenzte Informationen über Verbraucher hat. Ja, Suchmaschinen können ungewöhnliche Korrelationen finden (im Gegensatz zu Kausalitäten). Aus derselben Quelle weiß ich, dass Software anhand der Dateneingaben und der Anzahl der Tippfehler zu 70 Prozent einschätzen kann, wie sich Menschen fühlen. Mit 79-prozentiger Genauigkeit kann sie anhand des Grads der Verwendung von Großbuchstaben auf die Bonität eines Nutzers schließen. Doch trotz all dieser statistischen Daten hat Google erkennen müssen, dass es fast nichts über die Menschen und ihre wahren Motive weiß. Deshalb zieht das Unternehmen inzwischen Berater hinzu, die das tun, was Small-Data-Forscher seit Jahrzehnten tun. Wie mir ein Analyst einmal gestand: »Da das Management mit Big Data nichts anzufangen weiß, wollen jetzt alle wissen, was nach Big Data kommt. Die Antwort: Small Data.«

Millward Brown Vermeer initiierte unlängst Marketing2020, eine der umfassendsten Marketing-Leadership-Studien aller Zeiten. Sie umfasste eingehende Gespräche mit über 350 CEOs, CMOs und Agenturchefs. Erwartungsgemäß stellten die Autoren Marc de Swaan Arons, Frank van den Driest und Keith Weed fest, dass viele Marketingunternehmen die Orientierung verloren haben. In einem Artikel des Harvard Business Review folgerten die Autoren: Wenn Daten und Analytik in die Kategorie »Denken« fallen und die Entwicklung von Inhalten, Design und Produkten in die Kategorie »Handeln«, dann gehören Marketingspezialisten, die sich auf den Einbezug von und die Interaktion mit Verbrauchern konzentrieren, in die Kategorie »Fühlen«.8 Ihrer Ansicht nach sind alle drei Funktionen wichtig. Kurz: Die Integration von Online- und Offline-Daten – also die Zusammenführung von Big Data und Small Data – ist eine wesentliche Voraussetzung für Überleben und Erfolg im Marketing des 21. Jahrhunderts.

Das ist nachvollziehbar. Wir leben in einer Zeit, in der unser Online-Verhalten und unsere Kommunikation von Subtext und Verschleierung beeinträchtigt werden. Das deutsche Wort Maskenfreiheit bedeutet »die durch Masken gewährte Freiheit«. Jeder, der schon online unterwegs war, weiß, wie wir unser digitales Ich zurechtschneiden können. Diese Möglichkeit und unsere gelegentliche Anonymität schafft Personae, die fast nichts mehr mit den Menschen zu tun haben, die wir wirklich sind, und mit dem Leben, das wir in Wirklichkeit leben, wenn wir offline sind. Sie könnten sagen, dass wir dank der modernen Technik alle mindestens zwei Personen sind – mit mindestens zwei Wohnsitzen: einem realen Haus und einer Homepage. Mitunter überschneiden sich die beiden, doch oft tun sie das nicht.

Ebenso wenig können wir uns noch als »wir selbst« bezeichnen, wenn wir anonym im Web surfen. Ohne Namen, Gesicht oder Identität mutieren wir zu primitiven Versionen unserer selbst. Dieses Phänomen schreiben manche Fachleute der mangelnden Empathie zu, die durch Kommunikation von Laptop zu Laptop entsteht. Ähnliches hat auch jeder erlebt, der schon einmal aus dem Auto heraus einem Fußgänger den Stinkefinger gezeigt hat. Empathie erwirbt man auf zweierlei Art, wie die New York Times im letzten Jahr schrieb: zum einen, indem man selbst etwas Verstörendes erlebt, zum anderen, indem man »sieht, hört oder auch riecht, wie das eigene Handeln einen anderen geschädigt hat – und das geht nicht, wenn man hinter einem Bildschirm und einer Tastatur sitzt.« 9 (Und übrigens auch nicht am Steuer eines Fahrzeugs.) Das ist das Paradoxe am Online-Verhalten. In den sozialen Medien sind wir nie ganz wir selbst und wenn wir anonym kommunizieren, fehlt dem Ergebnis der Kontext, den unser Offline-Leben liefern und bereichern könnte. Was wir online hinterlassen, wird genau untersucht und hat strategische Bedeutung. Der Inhalt unseres Kühlschranks und unserer Kommodenschubladen dagegen nicht, denn sie waren nie zur öffentlichen Einsichtnahme vorgesehen.

Aus diesem Grund ergibt sich die beste, genaueste Näherung an unsere menschliche Identität aus der Mischung unserer Online- und Offline-Ichs und aus der Kombination von Big Data und Small Data. Unter dem Aspekt, dass 90 Prozent aller Signale in einem Gespräch nonverbal erfolgen, lässt sich unsere Identität am genauesten ermitteln durch unsere Analyse im richtigen Leben, in unserer Kultur und unserem Land. Diese Verschmelzung von Gesten, Gepflogenheiten, Neigungen, Abneigungen, Bedenken, Sprachmustern, Gestaltungselementen, Passwörtern, Tweets, Status-Aktualisierungen und mehr sind in meiner Sprache Small Data.

Auf den Folgeseiten lade ich Sie dazu ein, mit mir um die Welt zu fliegen, um kulturelle Bedürfnisse zu ermitteln und Rätsel zu lösen, die ebenso schwierig und gewöhnlich nicht so offensichtlich sind wie beim Beispiel von LEGO, indem wir Small Data sammeln. In einem Informationszeitalter, in dem die meisten von uns den ganzen Tag mit den Augen am Bildschirm kleben, wird dieses Buch Sie hoffentlich dazu animieren, sich der aufschlussreichen Hinweise bewusst zu werden, die Sie geben, und auch die Ähnlichkeiten bewusster wahrzunehmen, die wir alle aufweisen. Die Aufgabe eines Markenentwicklers unterscheidet sich nicht von der aller Lebewesen, die darin besteht, zu vermeiden, was der Mythologe und Schriftsteller Joseph Campbell einst als größtes menschliches Fehlverhalten beschrieb: nämlich die Sünde der Unachtsamkeit – der mangelnden Aufmerksamkeit oder überhaupt Wachheit für die Welt um uns herum.

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STELLEN SIE SICH EINE WELTKARTE VOR. Dann merken Sie gleich, wie sehr sich Ihr Weltbild an Ihrem Wohnort orientiert. Das ist so – wir können nichts dagegen tun. Es passiert ganz automatisch. Die Karte des Universums, die Sie und ich um uns herum zeichnen, lässt ein unbewusstes Navigationssystem entstehen, eine Art Verhaltens-GPS, nach dem wir uns Tag für Tag richten. Unsere innere Karte diktiert uns, ob wir nachts auf der rechten oder linken Bettseite schlafen. Sie schreibt uns unsere Position vor, wenn wir mit einem Freund oder unserem Partner die Straße entlanggehen. Gehen wir auf ihrer rechten oder ihrer linken Seite? Näher am Bordstein oder an der Häuserwand? Auf breiterer kultureller Ebene beeinflusst unsere Herkunft auch unsere Pünktlichkeit. In Australien dürfen Sie beispielsweise davon ausgehen, dass Ihre Gäste mit 30 Minuten Verspätung eintrudeln und häufig noch unangekündigt Freunde im Schlepptau haben. In der Schweiz kommen Gäste stets pünktlich. Verspäten Sie sich um fünf Minuten, sagen Sie vorher Bescheid. In Japan stehen Gäste eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit vor der Tür, in Israel kommen sie 45 Minuten danach.

Unsere innere Karte bestimmt auch, wie wir unser Essen würzen.

In der westlichen Welt haben Salz- und Pfefferstreuer vielfach einen festen Platz in der Küche und auf dem Esstisch. Und wie jeder weiß, sehen sie meist gleich aus: Der Salzstreuer hat drei kleine Löcher, der Pfefferstreuer nur eines. In Asien ist das umgekehrt – in dem Streuer mit drei Löchern ist dort Pfeffer, in dem mit einem Loch Salz. In asiatischen Ländern ist Pfeffer sehr beliebt und es herrscht eine kulturell bedingte Vorliebe für Sojasoße.

Diese und andere Beobachtungen, die ich im Laufe der Jahre in einem Journal festgehalten habe, bewirken, dass ich genau darauf achte, wo bestimmte Gegenstände in Haus und Garten stehen. Gärten können sprechen und Fußwege, Balkone und Briefkästen ebenso. Wände natürlich auch. Meine Mission ist, zu dechiffrieren, was die Pflastersteine, Pfingstrosen, Dekoobjekte und Steinfigürchen über ihre Eigentümer aussagen. Warum hängt ein Gemälde oder Poster hier – und nicht dort? Was verraten die Eulenskulptur, die Medaillen- oder Puppensammlung, die Plüschesel oder die Ahnengalerie an der Wand?

Diese Anhaltspunkte dafür, wer wir wirklich sind, lassen wir jeden sehen. Dabei sind sie universal und im digitalen Zeitalter sogar unauslöschlich. Ich habe ein Phänomen entdeckt, dass diese beiden Eigenschaften zusammenbringt.

Noch vor zehn Jahren, als sich Smartphones und Tablets massenhaft verbreiteten, wurde deutlich, dass Männer und Frauen über 40 Probleme mit der Verwendung von Touchscreens hatten. Sie waren gewohnt, auf Tasten zu drücken und Schalter, Hebel oder Drehknöpfe zu betätigen. Als sie aufwuchsen, war es noch nötig, fester zuzupacken – manchmal sogar richtig kräftig. Heute ist dagegen nur ein leichtes Wischen erforderlich. An Flughäfen in aller Welt stehen ein bis zwei Generationen von Menschen hilflos vor den Touchscreen-Schaltern und wissen nicht, wie sie funktionieren oder welche Taste sie drücken müssen. Das fünfjährige Kind daneben bedient das Gerät dagegen mit virtuoser Leichtigkeit. Die Zahl der Fingerabdrücke auf dem Display eines Handys oder Tablets lässt unschwer Rückschlüsse auf das ungefähre Alter seines Besitzers zu.

Die Umstellung von Knöpfen und Tasten auf eine Welt der Touchscreens hat mehrere Effekte. Zunächst verlieren wir durch Computer und Touchscreen-Notiz-Apps die Fähigkeit, Dinge handschriftlich festzuhalten. Zweitens haben immer mehr Teenager eine Druckstelle am kleinen Finger, weil sie damit ihr Handy halten. Drittens habe ich beobachtet, dass für uns als Spezies gilt, dass unsere Hände schwächer werden. Geben Sie mal einem Schüler oder Studenten die Hand – dann merken Sie gleich, wie schwach ihr Händedruck ist. Unter Männern verliert unter Umständen an Bedeutung, was ein Händedruck früher subtil vermittelte – durch Stärke, Trockenheit, Feuchtigkeit, ja, allein schon durch die Größe der Hand.

Der kollektive Kraftverlust unserer Hände ist auch den Herstellern schnelldrehender Konsumgüter nicht entgangen – billiger Getränke und Produkte, die rasch abverkauft werden sollen wie Erfrischungsgetränke, Fertignahrungsmittel und rezeptfreie Medikamente. Hauptsächlich aus diesem Grund produzieren sie Flaschen und Autotüren, die leichter zu öffnen sind, und Küchenschubladen, die besser gleiten.

Unsere digitalen Gewohnheiten beeinflussen auch, wie wir essen. Ich bin in Dänemark aufgewachsen. An heißen Tagen aßen meine Freunde und ich unser Waffeleis immer gleich. Erst leckten wir das Eis kreisförmig, wie um es in der Waffel einzuschließen. Wir leckten, bis das Eis alle war, und aßen dann die Waffel – von unten nach oben oder von oben nach unten.

Lässt sich unsere heutige Kultur zum Teil durch das Bedürfnis nach sofortigem Zugriff definieren, so überrascht es nicht, wenn sich der Wunsch nach unmittelbarer Befriedigung auch auf unsere Eistüten erstreckt. Bei meinen Reisen um die Welt achte ich gezielt darauf, wie Kinder, die in einem digitalen Umfeld aufwachsen, ihr Eis essen. Sie lassen sich nicht mehr so viel Zeit. Sie kennen keine »Vorfreude« mehr. Statt drumherum zu lecken, beißen sie von oben in ihr Eis hinein. Sie sind es gewohnt, dass Websites rasch laden und Textnachrichten ebenso wie E-Mails in Sekunden ankommen. Sie wollen ihr Eis gleich.

Wie wird sich die Abwesenheit von Vorfreude auf die jüngere Generation von heute und morgen auswirken? Romantische Vorstellungen vom Konzept des wochen- oder auch mal monatelangen Wartens, bis ein Produkt im Laden oder in der Post ist, wie es die Menschen in den 1970er- und -80er-Jahren kannten, sind sehr verbreitet. Heute bekommen wir alles sofort – und dann? Weniger Vorfreude bedeutet auch weniger Befriedigung. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob so eine Eistüte den Kindern heute noch so viel Freude bereitet wie vor 30 oder 40 Jahren. Ich bezeichne die jungen Teenager und Heranwachsenden von heute als die Steckergeneration oder auch als Screenager, denn sie sind ständig auf der Suche nach der nächsten Steckdose. Ohne Strom zu sein ist für sie angstbesetzt. Es ist wie die Verbannung auf eine einsame Insel, isoliert von Freunden und vielleicht gezwungen, sich ohne Handy mit ihrem eigenen Selbst zu beschäftigen.

Bemerkenswert ist auch der Einfluss von Smartphones auf die Dauer einer Mahlzeit im Restaurant. Ein New Yorker Restaurant stellte auf Craigslist anonym eine Studie ein, die auf der Analyse von Aufzeichnungen seit Anfang des Jahrtausends beruhte. Demnach verbrachten die Gäste 2004 im Schnitt 65 Minuten am Tisch. Dieser Wert stieg auf 1 Stunde 55 Minuten im Jahr 2014. 2004 baten drei Gäste einer 45-köpfigen Untersuchungsgruppe um einen anderen Sitzplatz. Die Gruppe brauchte im Schnitt acht Minuten, um zu bestellen. Die georderten Vorspeisen standen innerhalb von sechs Minuten auf dem Tisch. Zwei der 45 Gäste monierten, das Essen sei zu kalt. Der durchschnittliche Gast verließ das Lokal fünf Minuten nach Begleichung der Rechnung.

Zehn Jahre später ist das alles anders. Heute bitten 18 von 45 Gästen im Restaurant um einen anderen Tisch. Danach steht ihr digitales Leben im Vordergrund. Die Speisenden zücken ihre Handys und suchen die nächste Wi-Fi-Verbindung. Sie googeln oder prüfen, ob ihr letzter Facebook-Eintrag schon »gelikt« wurde. Dabei vergessen sie oft, dass die Karte schon auf dem Tisch liegt. Kommt der Kellner, um die Bestellung aufzunehmen, bitten die meisten um Bedenkzeit. 21 Minuten später sind sie bereit, zu ordern. 26 Gäste brauchten drei Minuten, um ihr Essen zu fotografieren. Sie machten 14 Schnappschüsse voneinander beim Essen. Sind diese verwackelt oder wenig schmeichelhaft, wird noch einmal fotografiert. Etwa die Hälfte aller Gäste bat eine Servicekraft, ein Gruppenfoto zu machen – oder besser gleich mehrere. Die zweite Hälfte ließ ihr Essen zurückgehen, weil es zu kalt war (war es definitiv, weil sie sich ja die letzten zehn Minuten mit ihren mobilen Geräten beschäftigt hatten, statt zu essen). Ist die Rechnung bezahlt, verlassen sie das Lokal heute eine Viertelstunde später als 2004. Beim Gehen waren acht Gäste so abgelenkt, dass sie mit einem anderen Gast, einem Kellner, einem Tisch oder Stuhl zusammenstießen.

Ein Unterschied? Ja, und zwar einer, der derzeit in den USA besonders deutlich zutage tritt. Die kulturellen Übertreibungen, denen ich mein ganzes Arbeitsleben lang auf der Spur bin, ergeben sich sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch zwischen Generationen. In jeder Gesellschaft schlägt das Pendel mehr oder minder vorhersagbar erst in die eine und dann in die andere Richtung aus. Generell folgt in den USA eine demokratische Regierung auf eine republikanische. In Großbritannien gewinnen nach einer Labour-Regierung die Konservativen die nächste Wahl. Dieser unbewusste Ausgleichsreflex gilt auch für unsere Garderobe. Bevorzugt eine Generation eng sitzende Jeans und breite Krawatten, greift die nächste zu weiteren Hosen und schmalen Krawatten. Eine Welle junger Männer durchläuft ihre Teenager- und Twenzeit glatt rasiert, die nächste lässt sich Stoppeln oder Wildwuchs stehen. Bei der Betrachtung der russischen Geschichte seit dem Mauerfall drängte sich mir diese Thematik förmlich auf, als ich einen schwierigen Auftrag in einer der entlegensten Regionen der Welt annahm.

MEINE REISE AN DEN ÖSTLICHEN RAND Russlands begann mit einem Telefongespräch, das ich als kinoreif bezeichnen würde, wenngleich nur ein sehr schlechter Drehbuchautor auf einen solchen Dialog verfallen wäre. Die Stimme am anderen Ende der Leitung gehörte einem Dolmetscher für Russisch und Englisch, der im Auftrag seines Arbeitgebers anrief, eines Moskauer Unternehmers. Dieser wollte in Russland ein neues Unternehmen auf die Beine stellen, das mindestens eine Milliarde Dollar Umsatz im Jahr erwirtschaften sollte. Auf die offensichtliche Frage – was für ein Unternehmen? – wurde mir erklärt, das bleibe mir überlassen. Ein paar Tage später hatte ich mich mit meinem Auftraggeber auf Folgendes geeinigt: Ich würde nach Russland fliegen, mehrere Wochen lang russische Verbraucher befragen und sehen, ob ich ein oder vielleicht sogar mehrere unerfüllte nationale Bedürfnisse eruieren könnte mit dem Endziel, ein – wie wir beide hofften – gewinnbringendes Unternehmen an den Start zu bringen.

Wodurch unterscheidet sich ein Konsumentenbedürfnis von einem nationalen Bedürfnis? Das hängt ganz davon ab, doch häufig gibt es Verflechtungen. Ein neues Unternehmenskonzept fußt meist auf kulturellen Missverhältnissen oder Übertreibungen. Es gibt entweder zu viel von etwas oder zu wenig. Das lässt vermuten, dass in der Gesellschaft irgendetwas fehlt oder blockiert ist. Meine Aufgabe ist es, durch die Sammlung von Small-Data-Fragmenten festzustellen, welches Bedürfnis besteht und wie es sich erfüllen lassen könnte.