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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2017

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Lektorat Sophie Härtling

Einband- und Innenillustrationen Dorothée Böhlke

Einbandgestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-21770-8 (1. Auflage 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-40039-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40039-9

Für Hanka und Jona

Kapitel I in dem Paulita auf Streifzug geht

Nicht weit von dir, am Ende der Dorfstraße, dort, wo der Wald beginnt und das Gleisbett in der Sonne funkelt, befindet sich ein alter Bahnhof. Es ist nur ein kleiner Bahnhof, ein Häuschen vielmehr: Eingangshalle, Abladerampe, Fahrkartenschalter, Klohäuschen. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Und eine Riesendachterrasse. Hier sitzen Krempe und Kottek am Abend und schauen sich die Sterne an. Krempe ist zehn. Und Kottek ist 71. Dazwischen liegen 61 Jahre, stell dir mal vor! Das merkt man aber gar nicht, wenn man die beiden so reden hört.

«Tja nu!», brummt Kottek. «Und wieder ein Tag, der hinter den Dünen verschwimmt.»

Krempe gähnt so herzhaft, dass ihr die Bahnwärtermütze vom Kopf rutscht.

«War’s denn ein guter Tag, Opa?»

Kottek legt den Kopf in den Nacken und kratzt sich am Kinn.

«So über ’n Daumen gepeilt würde ich das schon sagen. Oder denkst du etwa nicht, dass drei Flussforellen ein ziemlich guter Fang sind?»

Krempe streicht sich zufrieden über den Bauch.

«O doch, vor allem, wenn man sie grillt und in Butter schwenkt.»

«Ganz meine Meinung.»

Kottek greift nach der roten Messingkanne und gießt sich seinen Abendkaffee ein. Krempe bekommt auch ein Schlückchen, das hilft ihr beim Einschlafen. Das darfst du aber nicht nachmachen, denn das ist nur bei Krempe und Kottek so. Es gibt noch ein paar andere Sachen in diesem Buch, die du auf keinen Fall nachmachen darfst, und wenn du das jetzt nicht hier an Ort und Stelle versprichst, geht es nicht weiter.

Also gut. Nun hast du leider verpasst, zu hören, wie Krempes Tag war. Aber das macht nichts, denn wie sagt Kottek immer so schön: Der nächste Morgen kommt bestimmt.

 

Jetzt aber ist Nacht. Zwei junge Waldohreulen kreisen über dem Bahnhof, mit weitausgebreiteten Schwingen. Paulita, die Katze, geht gerade auf Beutezug, und wir heften uns an ihre samtigen Fersen, um ein wenig den Ort zu erkunden.

Die Dorfstraße ist nicht lang, sie misst nur zweihundert Schritte. Rechts und links von ihr reihen sich die Häuser aneinander wie auf einer Perlenkette. Die Menschen, die hier wohnen, pflegen ihre Gärten und streichen ihre Zäune jedes zweite Jahr, damit auch jeder sieht, wo ihr Grundstück anfängt und wo es aufhört. Das ist ihnen äußerst wichtig. Sie gehören zur Gattung der Laubsammler, das bedeutet, sie harken das Laub, das im Herbst von den Bäumen fällt, und ihnen entgeht kein einziges Blatt.

«Das ist eine große Kunst», hat Krempe einmal gesagt. «Das will ich auch mal können.»

Aber Kottek hat nur mit dem Zeigefinger gedroht. «Untersteh dich! Laub, das ist zum Rascheln da, das weiß doch jedes Kind.»

Nun hat Paulita den Knick erreicht, den die Dorfstraße plötzlich macht, wenn sie die Perlenkette hinter sich gelassen hat. Paulita spitzt die Ohren, sie ist jetzt sehr wachsam, denn hier beginnt das Mäuseland. Seine Bewohner sind Laubraschler, das sieht man sofort. Die Wiesen sind ungemäht, das Gras hat abenteuerliche Höhen erreicht, in denen es sich wunderbar verstecken lässt. Die Zäune sind verwittert und vermorscht, die Latten neigen sich zum Boden, man muss nur ein wenig die Füße heben, und schon ist man drübergestiegen. Trotzdem käme niemand auf die Idee, die Zaunruinen fortzuräumen, denn dann hätten Paulita und die anderen Katzen ja keinen Aussichtspunkt mehr, und das wäre doch wirklich zu schade.

Hinter einer solchen Zaunruine befindet sich das Gehöft von Jakob, dem Jäger. Seine grüne Klapperkiste ist nirgends zu sehen, was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass heute Vollmond ist. Da ist er immer auf der Jagd. Aber sein Nachbar Lothar ist da, das erkennst du an dem Traktor, der vor der großen Hoftür parkt, und wo sein Traktor ist, da ist auch Bauer Lothar, das ist beinahe so etwas wie ein Naturgesetz.

Gegenüber von Lothar, im allertiefsten Mäuseland, steht ein Bauwagen. Dort lebt Klein Jona mit seinen Eltern Nana und Tom.

Paulita beginnt zu traben. Denn unter dem Bauwagen wartet ihr Abendbrot, und das will sie auf gar keinen Fall teilen, schon gar nicht mit den Igeln. Mäuse sind ja gut und schön, mag sich Paulita denken, aber es geht eben nichts über Lachsgratin.

Oh, im Bauwagen brennt Licht! Und es ertönt auch gerade ein Mordsgeschrei, dass es in den Ohren klappert. Jona ist wach, und wenn Jona wach ist, dann nützt auch das beste Lachsgratin nichts, dann nimmt man besser Reißaus.

Und das tut Paulita jetzt. Mit langen Sprüngen und steifer Schwanzspitze jagt sie zu Mellis Waschküche hinüber. Dort springt sie aufs Fensterbrett und putzt sich erleichtert die Pfoten.

Ja, Mellis Waschküche ist ein besonderer Ort. Vor allem die Laubraschler wissen ihn zu schätzen, wenn sie mit Bündeln voll Dreckwäsche anmarschiert kommen. Selbst die Polizistin Lydia, die eigentlich zu den Laubsammlern gehört, wäscht hier ihr Zeug, obwohl sie das gar nicht müsste, weil sie nämlich eine eigene Waschmaschine hat.

Aber nur bei Melli duftet es so gut nach frischgeröstetem Kaffee. Und nur bei Melli gibt es diese weichen Pfannkuchen, die runterrutschen wie nichts. Und nur Melli hat eine kleine Tochter, die Hanka heißt und zwischen den Waschmaschinen hin und her hopst, mit ihren Schmetterlingsflügeln auf dem Rücken, die schon ganz zerknautscht sind, weil sie die niemals abnimmt, niemals! Was Jona zu viel hat, hat Hanka zu wenig. Sie ist ganz still und brüllt nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. Aber wer in ihre Augen schaut, der weiß, dass Hanka alles sieht, und bereut sofort.

Am liebsten von allen hat Hanka den Lothar, der aussieht wie ein Bär: groß und breit und zottig. Vielleicht, weil auch er nicht viel erzählt. Er sitzt ruhig da mit Hanka auf dem Schoß und hört sich Jakobs Jagdgeschichten an.

Nur wenn Lydia den Raum betritt, beginnt es zu knistern, und selbst durch Lothar geht ein Ruck, dass Hanka einen kleinen Hops macht. Denn Lydia sieht aus wie eine Barbiepuppe, da sind sich alle einig.

«Nicht dass ich was für Barbiepuppen übrig habe, das ist nicht als Kompliment gemeint», sagt Kottek immer. «Aber wenn man auf eine Barbiepuppe trifft, die den Verstand eines Fuchses hat, dann ist das schon eine ganz heiße Mischung.»

«Und wenn man auf ’ne Barbiepuppe trifft, die auch noch Polizistin ist», fügt Jakob hinzu, «dann nimmt man besser die Beine in die Hand.»

Aber das würde gerade Jakob niemals tun, wenn Lydia Mellis Waschküche betritt.

Jetzt aber ist Nachtruhe. Paulita hat sich zusammengerollt und schläft den Katzenschlaf, mit aufgerichteten Ohren, denen nichts entgeht, nicht der leiseste Mausepups.

Jona liegt in Papa Toms Armen wie ein Engelchen. Hanka läuft im Traum den Schmetterlingen nach. Lothar hört man bis auf die Dorfstraße hinaus schnarchen, und das Polizeiauto vor Lydias Häuschen glänzt im Mondenschein. Alles ist still. Der alte Bahnhof duckt sich unter die mächtigen Linden wie ein müder Pilz, und auch Kottek, der sich gerade noch ein Glas Milch genehmigt hat, sinkt in die großen Kissen zurück und macht die Augen zu.

Krempe aber … Krempe? Die liegt in ihrer Hängematte, die Bahnwärtermütze tief in die Stirn gezogen, und schnarcht ihr Krempeschnarchen, das wie ein leises Sägen klingt, ritsch, ratsch, ritsch, ratsch.

Die Mütze sieht wie ein zerdellter Topfdeckel aus, und sie riecht auch nicht mehr besonders gut. Wer aber auf den bösartigen Gedanken käme, mit Krempes Mütze einen Ausflug in Mellis Waschküche zu machen, der hätte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn Krempes Mütze bleibt, wo sie ist, nämlich dort, wo sie hingehört, und das ist Krempes Kopf! Seit vier Jahren sitzt sie nun schon dort. Und immer wenn Krempe sich im Spiegel betrachtet, muss sie an ihren sechsten Geburtstag denken. Das war nämlich der Tag, an dem Kottek ihr die Mütze in einer feierlichen Zeremonie übergeben hatte, so mit allem Drum und Dran.

«Es ist an der Zeit, dass ich mich auf mein Altenteil begebe und du die Verantwortung übernimmst», hatte Kottek gesagt. «Hiermit ernenne ich dich also zur Bahnhofswärterin Krempe!»

Und er hatte sich vor Krempe verbeugt, so weit sein Kreuzbein es ihm erlaubte, und ihr die Mütze auf den Kopf geknallt, und dort sitzt sie nun bis heute wie ’ne Eins.

Wenn Krempe nun aber geglaubt hatte, dass sich mit all der großen Verantwortung irgendwas verändern würde, hatte sie sich getäuscht. Denn eigentlich blieb alles so wie immer. Schließlich war der Bahnhof längst stillgelegt. Es gab schon seit Jahren keine Züge mehr und keine Passagiere, die am Fahrkartenschalter Schlange standen und das Klo verstopften und auf dem Bahnsteig leere Pappbecher und Zigarettenkippen hinterließen. All die Dramen und Abenteuer, die sich abspielen, wenn Menschen sich Lebewohl sagen oder einander willkommen heißen, kennt Krempe nur aus Opas Erzählungen.

«Du siehst sofort, ob sich die Menschen lieben oder hassen», weiß Kottek. Und abends auf der Dachterrasse, wenn der Große Wagen über den Nachthimmel rattert und die Fledermäuse wie gezackte Schatten durch die Sommerluft jagen, fallen ihm immer wieder neue Geschichten ein.

 

Jetzt aber schläft auch er, der Geschichtenerzähler. Wie alle Laubraschler, die nicht auf der Jagd sind. Wir wollen sie nicht dabei stören, du und ich. Wir bleiben hier einfach noch ein Weilchen sitzen und hören den Grillen zu. Hinter den Hügeln, ganz weit im Osten, erwacht schon die Sonne und macht sich auf den Weg in einen neuen Tag.

Kapitel 2 in dem zwei Spiegeleier verkorkst werden, weil eine Meerhexe nach Karoline fragt

Der Erste, der erwacht, wenn der uralte Messingwecker auf Kotteks Nachttisch zu scheppern beginnt, ist nicht Kottek, wie man meinen sollte, sondern Krempe. Wie eine Metallfeder schnellt sie im Nebenzimmer in die Höhe, schiebt die Mütze in die Stirn und reibt sich energisch die Augen.

«Dann wollen wir uns dem Tag mal stellen!»

Sie springt aus der Hängematte, läuft ins kleine Bad hinunter und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Bei dieser Gelegenheit nimmt sie auch für einen Augenblick die Mütze ab und fährt sich mit einem Kamm durchs Haar, was ziemlich weh tut. Nun stürmt sie in die Küche und knallt den Kaffeetopf auf den Herd, sucht im Brotkorb nach Brötchen und stellt alles auf den Tisch, was sie finden kann: das Gläschen mit Marmelade und das mit Honig und die Schale mit Butter und … Krempe hält inne und lauscht. Was da so knurrt, ist ihr Magen, und der verlangt nach was Deftigem, das hört sie sofort.

Vielleicht, weil heute Montag ist, denkt Krempe. Vor Montagen nimmt man sich besser in Acht, die haben’s nämlich in sich.

Sie holt die Packung mit den Eiern aus dem Regal und macht sich daran, Spiegeleier zu braten. Und wenn Krempe Spiegeleier brät, hält man besser Abstand, denn sie geizt nicht mit Butter, und sie spart nicht mit Hitze. «Spiegeleier müssen am Rand schön knusprig sein», erklärt Krempe. «Das Gelbe darf nicht zu fest und nicht zu flüssig werden, und das ist kein Kinderspiel. Das verlangt höchste …»

Die Türklingel schrillt. Krempe runzelt die Stirn. Ausgerechnet jetzt! Wer kann das wohl sein, so früh am Morgen? Es ist keiner aus dem Dorf, die wissen nämlich, dass es sich nicht gehört, die Klingel kreischen zu lassen, die spazieren einfach herein, ohne viel Aufhebens zu machen. Krempe schnappt sich die Pfanne und läuft zur Haustür, sie darf die Spiegeleier nicht aus den Augen lassen, die sind nämlich fast perfekt, es kommt jetzt auf jede Sekunde an.

«Himmel!»

Das Wesen, das da vor ihr steht, erinnert Krempe an jemanden, doch sie weiß nicht, an wen. Das Wesen hebt die Augenbrauen, sie sind dünn wie Nadelstiche, so dünne Augenbrauen hat nicht mal Lydia. Und der Mund, der ist zusammengekniffen und schmal, und die Augen … Die Augen sind eigentlich das Gruseligste an der ganzen Erscheinung, denn sie eilen umher wie Schlangenaugen. Das Kinn hingegen, das zittert wie Wackelpudding, und das Kinn ist es auch, das Krempe verrät, woher sie das Wesen kennt – es ist so einfach!

«Arielle, na klar», ruft sie überrascht. «Die Meerhexe, logo!»

Das Wesen strafft sich plötzlich, zückt ein Notizbuch und beginnt zu sprechen:

«Bin ich hier richtig bei Karl-Johann Tennek?»

Krempe schüttelt den Kopf. «Nein, Sie sind hier bei Kottek und Krempe.»

Die Augenbrauen der Meerhexe schnellen in die Höhe. «Dann bist du Karoline, stimmt’s? Und dein Opa? Wo ist der?»

Als Krempe den Namen Karoline hört, zuckt sie zusammen. Karoline hat sie schon lange keiner mehr genannt, Karoline heißt sie nicht mal in der Schule, dort wissen nämlich alle, dass sie Krempe heißt. Nur beim Arzt ist Krempe Karoline … Krempe beißt sich auf die Lippe. Das ist ein verdammt schlechtes Zeichen, was macht sie denn jetzt bloß? Soll sie der Meerhexe die Pfanne um die Ohren hauen? Soll sie Alarm schlagen und Lydia rufen, damit sie die Polizeisirene anmacht und die Meerhexe verhaftet? Irgendwas stimmt hier nicht, das spürt Krempe ganz deutlich, aber sie weiß nicht, was es ist.

Schließlich hat Krempe genug. Sie stellt die Pfanne auf den Boden und verschränkt die Arme vor der Brust.

«Also, erstens», sagt sie, «kaufen wir nichts, weil, wir haben alles. Und zweitens gehört es sich nicht, andere Leute mir nichts, dir nichts auszufragen, das ist unhöflich, jawohl. Und drittens …»

Krempe verstummt. Warum verstummt Krempe auf einmal, sie war doch gerade so schön in Fahrt? Jetzt aber hat sie das Gefühl, als müsste sie die Beine in die Hand nehmen und wegrennen, und das tut Krempe: Sie dreht sich auf dem Absatz um und schlägt die Tür hinter sich zu, so laut, dass es kracht. Sie schnappt sich Kotteks Spazierstock, klemmt ihn unter die Klinke und stürmt die Treppe hinauf. Geradewegs in Opas Zimmer stürmt sie, obwohl sie das sonst nie tut, denn Kottek, der braucht seinen Schlaf, sonst ist der Tag gelaufen. Aber das ist er sowieso, die Spiegeleier sind hinüber, das weiß Krempe, ohne dass sie sie gekostet hat und … Ach, immer diese Montage, sie hätte gar nicht aufstehen sollen!

«Opa, wach auf, Opa!»

«Himmelherrgott noch mal, was hast du jetzt schon wieder ausgeheckt?»

Aber Krempe hat gar nichts ausgeheckt, sie hat nur diese Riesenangst im Nacken.

Schnell erzählt sie alles: von den Spiegeleiern und von der Klingel und wie plötzlich die Meerhexe vor ihr stand und nach Karl-Johann fragte und nach Karoline …

«Und sie hat nicht gesagt, was sie will?»

Krempe schüttelt den Kopf. Dann boxt sie mit der Faust auf die Matratze. «Aber Ärger wollte sie machen, das hab ich gespürt, hier drinnen nämlich.» Sie deutet auf ihren Bauch, der vor lauter Aufregung zu knurren vergessen hat.

«Hhmmm …»

Kottek hebt die Beine aus dem Bett, eins nach dem anderen, dann stützt er sich mit den Händen ab und steht auf, so langsam, dass es in den Gelenken knackt. Er schlurft zum Fenster, schiebt die Gardine zur Seite und späht hinaus. Und wie er da so im Morgenlicht steht, in seinem blauen Pyjama, die grauen Haare zerzaust, da sieht er gar nicht wie Kottek aus, sondern wie ein morscher Baum, der im Wind schwankt.

Krempe hat plötzlich einen ganz trockenen Hals. Was ist nur los mit ihr heute, ist sie vielleicht krank? Tatsächlich, ihre Stirn fühlt sich heiß an, auch die Arme, alles.

«Ich glaub, ich geh wieder ins Bett, Opa.»

«Nix da!»

Kottek dreht sich um und wirft ihr einen strengen Blick zu. Jetzt sieht er nicht mehr wie ein morscher Baum aus, sondern wie eine Eiche, eine von diesen mächtigen Eichen, die tausend Jahre alt werden und noch älter!

«Du siehst zu, dass du in die Schule kommst!» Er schüttelt den Kopf. «Krank sein, hat man so was schon gehört? Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht krank, und wenn, dann hab ich’s gar nicht gemerkt.»

Kottek geht die Treppe hinunter. Er nimmt den Spazierstock von der Klinke, macht die Tür auf und geht hinaus.

«Also, hier ist keine Hexe. Das hätte mich auch sehr gewundert. Hexen scheuen nämlich das Tageslicht, die kommen nur nachts, hast du das nicht gewusst? Aber hier steht eine Pfanne mit zwei Spiegeleiern, und die sehen ganz schön verkorkst aus.»

Kapitel 3 in dem Jo das Pony-Ronny-Lied singt und Krempe für Gerechtigkeit sorgt

In diesem Moment rollt etwas Grünes auf den Bahnhofsplatz, macht eine Vollbremsung und hupt zwei Mal. Das ist die Klapperkiste von Jakob, dem Jäger!

Krempe atmet erleichtert auf. Wenn Jakob auftaucht, wird es lustig, und etwas Lustiges kann sie jetzt gebrauchen, denn egal, was Opa auch denken mag, sie allein weiß, dass sie NICHT geträumt hat, die Meerhexe war da, und sie wird wiederkommen!

Doch wenn Jakob schon mal da ist, kann er Krempe auch gleich zur Schule bringen. Jetzt heißt es aufgesprungen und losgejagt, denn sie liegen schlecht in der Zeit: acht Minuten hinter dem Schulbus.

«Den holen wir nie ein!»

Aber Jakob lacht nur und gibt Gas.

Sie rasen die Dorfstraße entlang. Lydia steigt gerade in ihr Dienstauto. Die schwarze Uniform sitzt wie maßgeschneidert. Ihr blondes Haar ist zu einem langen Zopf geflochten, dass es eine Augenweide ist. Jakob täte gut daran, abzubremsen und ihr freundlich einen Guten Morgen zu wünschen. Stattdessen schaltet er einen Gang runter und beschleunigt auch noch, dass der Motor aufheult. (Das ist seine Art, Lydia einen Guten Morgen zu wünschen, er kann es einfach nicht lassen.)

«Das gibt ’nen Strafzettel, oje.» Krempe versteckt ihr Gesicht hinter den großen Schlappohren von Timbosius Jones, die zu ihren Füßen sitzt und trotzdem noch mühelos aus dem Fenster schauen kann, riesig, wie sie ist.