Erste Strophe

Der Geist vom alten Marley

Marley war tot. Mausetot. Daran gab es keinen Zweifel.

Auch Scrooge wusste das. Natürlich wusste er das. Selbst wenn ihn der Tod von Marley nicht besonders berührte.

Scrooge und Marley hatten zusammen ein Geschäft gehabt. Es hieß Scrooge und Marley. So stand es auf dem Schild über der Tür. Jeder, der in ihr Geschäft kam, konnte das lesen.

Aber jetzt war Marley schon eine Weile tot. Tot wie ein Türnagel, und Scrooge führte das Geschäft alleine weiter.

Scrooge war Marleys alleiniger Erbe. Er war sein einziger Freund gewesen und nun sein einziger Hinterbliebener. Das bedeutete aber nicht, dass Scrooge über den Tod von Marley besonders betrübt war. Traurig zu sein lag ihm nicht. Sogar an dem Tag, als Marley zu Grabe getragen wurde, feierte Scrooge am Abend einen besonders erfolgreichen Geschäftsabschluss.

Das Leben ging schließlich weiter. Zeit war nicht dazu da, sie zu verschwenden. Mit Nichtstun machte man keine Geschäfte.

Ach, das Geschäft. Scrooge war nicht besonders beliebt.

Viele hielten ihn für einen Geizkragen. Einen Halsabschneider. Einen Erpresser. Er raffte das Geld zusammen, drehte anderen den Hahn ab und gab vor lauter Habsucht nie auch nur einen Penny zu viel aus.

Er war hart und unerbittlich; heimtückisch, selbstzufrieden und dabei verschlossen wie eine Auster.

Man musste Scrooge nur genau anschauen. Dann wusste man alles über ihn.

Sein Gesicht sah älter aus, als er an Jahren zählte. Seine Seele war dunkel; das hatte seine Augen erstarren lassen. Seine Wangen waren geschrumpft, sein Gang steif, seine Nase spitz und seine dünnen Lippen blau gefärbt.

Wenn Scrooge sprach, dann mit schriller, krächzender Stimme. Klirrender Frost lag auf ihrem Klang. Sein Kopf, die Augenbrauen, das spitze Kinn schienen bedeckt von Raureif.

Seine Eiseskälte nahm er überall mit hin. Im Sommer wie im Winter. In den heißen Monaten kühlte sie sein Büro, doch selbst zu Weihnachten stieg seine Temperatur nicht um ein einziges Grad an.

Das Wetter vor der Tür draußen war Scrooge egal.

Keine Hitze wärmte ihn, kein Winterwetter brachte ihn zum Frösteln, kein Sturm konnte ihn umwehen, kein Schneegestöber war ihm zu wild, kein Regenschauer zu nass.

Niemals hielt Scrooge jemanden auf der Straße an und sagte freundlich zu ihm: »Wie geht es Ihnen denn, mein lieber Scrooge? Kommen Sie mich doch einmal besuchen.« Kein Bettler wagte ihn um eine milde Gabe zu bitten, kein Kind fragte ihn mit roten Wangen: »Entschuldigen Sie, Sir, wie spät ist es?«

Und kein Mensch hatte ihn je nach dem Weg gefragt.

Sogar die Blindenhunde hatten Angst vor Scrooge. Wenn er sich näherte, dann zogen sie ihre Besitzer blitzschnell fort in dunkle Hauseingänge. Sie wedelten aufgebracht mit ihrem Schwanz, bis Scrooge verschwunden war, so als wollten sie ihren blinden Herren tröstend sagen: Keine Augen sind besser als böse Augen!

Scrooge kümmerte das alles nicht. Im Gegenteil. So wollte er es haben. Die menschlichen Gefühle von sich fernzuhalten: Das war sein größtes Vergnügen. Deshalb nannte ihn manch einer verrückt.

An einem Heiligabend saß der alte Scrooge in seinem Büro bei der Arbeit. Draußen war es bitterkalt und neblig: Wenn Scrooge den Kopf hob und lauschte, konnte er hören, wie die Menschen auf dem Hof schnaufend hinuntergingen. Sie schlugen ihre Arme über der Brust zusammen und stampften laut mit den Füßen, um sich ein wenig aufzuwärmen.

Die Uhren in der Stadt hatten erst gerade drei geschlagen, aber es war schon dunkel. Überhaupt war es den ganzen Tag nicht richtig hell geworden.

In den Büros in der Nachbarschaft flackerten die Kerzen im Dunst. Der Nebel schlich sich durch die schmalsten Ritzen und kroch durch engste Schlüssellöcher. Er war so dicht, dass man selbst das gegenüberliegende Haus kaum erkennen konnte. Und vom Himmel senkten sich schmutzige Wolken auf die Stadt herab und schluckten alles und jeden.

Da konnte man leicht auf den Gedanken kommen, dass die Natur gleich nebenan wohnte und Nebelsuppe in ihrer Küche braute.

Die Tür von Scrooge stand offen, damit er seinen Angestellten im Auge behalten konnte. Bob Cratchit hieß der. Er war Schreiberling und saß in einer kleinen Zelle. Sie war nicht größer als ein Kasten, und Bob schrieb darin Briefe ab. Bei Scrooge im Büro brannte schon ein winziges Feuer. Das Feuer von Bob aber war noch viel kleiner: Es bestand nur aus einem einzigen Stück Kohle.

Bob wagte nicht, mehr Kohle nachzulegen, denn der volle Kohlenkasten stand im Zimmer von Scrooge. Und jedes Mal, wenn Bob mit seiner Schaufel in das Büro von Scrooge kam, sah ihn dieser mit strengem Blick an und sagte: »Noch ein einziges Mal, und deine Entlassung ist dir gewiss!«

Deshalb zog Bob lieber seinen Schal enger und versuchte sich an der Kerze zu wärmen. Doch leider hatte Bob nicht sehr viel Fantasie. Und so nützte ihm die Kerze kaum.

»Fröhliche Weihnachten, lieber Onkel! Gott segne dich!«, rief eine freundliche Stimme. Sie gehörte dem Neffen von Herrn Scrooge. Er kam so schnell zur Tür herein, dass Scrooge es nicht verhindern konnte.

»Unsinn!«, sagte Scrooge. »Alles Schwindel!«

Trotz Frost und Nebel war das Gesicht des Neffen so erhitzt, dass es glühte. Er war sehr hübsch, seine Augen leuchteten wach, und sein Atem dampfte warm.

»Weihnachten ein Schwindel?«, lachte der Neffe. »Du machst Spaß, Onkel.«

»Bah!«, sagte Scrooge. »Und doch ist alles Schwindel. Wer erlaubt dir, fröhlich zu sein? Welchen Grund hast du dafür? Du bist doch arm wie eine Kirchenmaus.«

»Ach, komm, Onkel!«, erwiderte sein Neffe heiter. »Wer hat dir denn erlaubt, traurig zu sein? Was für einen Grund hast du, verdrießlich zu sein? Du bist doch steinreich!«

Dummerweise fiel Scrooge so schnell keine passende Antwort ein, deshalb wiederholte er einfach immer wieder: »Bah! Unsinn! Alles Schwindel.«

»Sei nicht so mürrisch, Onkel!«, sagte der Neffe.

»Wieso nicht?«, erwiderte Scrooge und merkte, dass er immer wütender wurde. »Fröhliche Weihnachten! Fröhliche Weihnachten! Geh mir bloß weg mit Fröhliche Weihnachten! In einer Welt voller Narren.«

Er biss aufgebracht auf seiner Unterlippe herum.

»Was ist Weihnachten für dich anderes als die Zeit, in der du deine Rechnungen bezahlen musst? Rechnungen, für die dein Geld sowieso nicht reicht. Fröhliche Weihnachten! Bah! Du wirst wieder ein Jahr älter, aber dabei nicht eine Stunde reicher. Fröhliche Weihnachten! Fröhliche Weihnachten!« Er sprang auf. »Höre deinem Onkel gut zu: Wenn es nach mir ginge, sollte jeder Wahnsinnige, der noch Fröhliche Weihnachten ruft, in seinem eigenen Saft gekocht werden.«

»Aber Onkel!«, rief der Neffe entgeistert.

»Still!«, sagte Scrooge. »Kein Wort will ich mehr hören. Feiere du dein Weihnachten und lass es mich auf meine Weise feiern.«

Der Neffe raufte sich die Haare. »Feiern?«, wiederholte er. »Aber du feierst doch gar nicht. Das finde ich ja so traurig.«

»Dann lasse ich es eben ganz sein«, sagte Scrooge. »Nützt es dir etwas, wenn ich feiere? Und – viel wichtiger – hat es mir jemals genützt, dass ich Weihnachten feiere?« Damit war für Scrooge das Gespräch zu Ende.

Aber sein Neffe gab so schnell nicht auf. »Vieles nützt mir, ohne dass ich etwas daran verdiene«, sagte er. »Und Weihnachten gehört dazu. Es ist eine Zeit, die Freude in unser Leben bringt und Herzen öffnet. Weihnachten versöhnt Menschen miteinander. Es ist eine fröhliche Zeit, die mir vieles schenkt, nur nicht Gold und Silber. Aber darauf bin ich gar nicht aus.«

Der Schreiber Bob in seinem Kämmerlein hatte heimlich gelauscht. Jetzt hätte er am liebsten laut Beifall geklatscht. Das wagte er aber nicht. Stattdessen stocherte er aufgewühlt in seinem winzigen Feuer herum – und brachte es damit für immer und ewig zum Erlöschen.

»Ruhe da, Cratchit. Sofort ist Ruhe. Sonst kannst du deine Papiere holen und auf der Stelle verschwinden. Dann gibt es für uns beide etwas zu feiern.«

Scrooge wendete sich wieder seinem Neffen zu. »Du schwingst ja hohe Töne. Es wundert mich, dass du dich noch nicht für einen Posten im Parlament beworben hast.«

Er lächelte sauer.

»Bitte, Onkel. Ärgere dich doch nicht so fürchterlich. Komm lieber zu uns! Morgen zum Essen. Das würde mich und meine Lieben sehr freuen.«

Scrooge hatte auf einmal das Bedürfnis, ganz schrecklich zu fluchen und seinen aufdringlichen Neffen dorthin zu schicken, wo der Pfeffer wächst. Und das tat er auch. »Dich besuchen?«, lachte er höhnisch. »Dich und deine ganze Familie? Erst in der Hölle, mein Lieber.«

Der Neffe schüttelte den Kopf. »Warum? Warum bist du so grausam?«, fragte er.

Scrooge antwortete mit einer Gegenfrage. »Warum hast du überhaupt geheiratet?«

»Wie?« Der Neffe sah Scrooge verwirrt an.

»Warum du geheiratet hast. Ist das so schwer zu verstehen?«

Der Neffe begann zu lächeln. »Weil ich liebte. Ganz einfach.«

Scrooge schrie auf und machte ein Gesicht, als ob er nur diesen einzigen Satz noch lächerlicher fände als das ganze Weihnachten. »Weil du liebtest«, wiederholte er spöttisch. »Was Dümmeres habe ich selten gehört.«

Er drehte seinem Neffen brüsk den Rücken zu. »Guten Tag.«

»Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich brauche auch dein Geld nicht. Warum schenkst du mir nicht wenigstens deine Freundschaft?«, sagte der Neffe leise.

»Guten Tag!«, sagte Scrooge zu der Wand.

»Das tut mir alles schrecklich leid, Onkel. Wir hatten noch nie zuvor Streit. Ich würde mich so freuen, dich an meinem Tisch zu bewirten. Ich wünsche dir aus ganzem Herzen ein fröhliches Weihnachtsfest. Denn meine gute Stimmung kannst du mir nicht verderben, Onkel!«

»Guten Tag!«, sagte Scrooge. – »Und ein glückliches neues Jahr, Onkel!«, sagte der Neffe.

»Guten Tag!«, sagte Scrooge. »Und hoffentlich auf Nimmerwiedersehen.«

Kopfschüttelnd verließ der Neffe das Büro seines Onkels. Am Schreibtisch von Bob blieb er noch einen Augenblick stehen und wechselte ein paar freundliche Worte mit dem Schreiberling.

»Diese beiden haben sich wirklich gesucht und gefunden«, murmelte Scrooge. »Der Schreiberling ist auch so ein Narr wie mein Neffe. Verdient kaum genug bei mir, um seine Familie durchzubringen, und freut sich auf das Weihnachtsfest. Ich sollte ins Irrenhaus ziehen. Dort geht es weit vernünftiger zu als in meinem Geschäft.«

Aber wenn der alte Scrooge hoffte, dass er nun endlich in Frieden gelassen wurde, täuschte er sich.

Bob Cratchit hatte Scrooges Neffen hinausbegleitet und dabei zwei fremde Herren hereingelassen. Nun standen sie da, drehten ihre Hüte in der Hand und verbeugten sich höflich vor Scrooge.

»Ich denke, wir sind hier richtig«, sagte einer der Herren. »Scrooge und Marley?«

Und der andere ergänzte: »Haben wir die Ehre mit Herrn Scrooge oder mit Herrn Marley?«

Scrooge räusperte sich ungehalten. »Mit Herrn Marley wohl kaum«, sagte er. »Herr Marley ist vor sieben Jahren gestorben. Genau in dieser Nacht.«

»Dann dürfen wir hoffen, dass sein Partner uns genauso großzügig empfängt«, sagte der Herr und zeigte einen Empfehlungsbrief vor.

Bei dem Wort großzügig runzelte Scrooge die Stirn und gab den Brief ungeöffnet zurück.

»Weihnachten ist das Fest der Güte«, sagte der Herr und griff nach einer Feder. »Wir bitten im Namen der Armen und Bedürftigen um eine kleine Unterstützung. Tausenden und Abertausenden fehlt es am Nötigsten, mein Herr.«

Scrooge schüttelte den Kopf. »Ja, gibt es denn nicht genügend Armenhäuser?«

Der Herr legte die Feder wieder hin. »Doch. Viele. Und es kommen immer noch welche dazu. Ich wünschte von Herzen, ich könnte sagen: Wir brauchen sie nicht mehr.«

Scrooge nickte zufrieden. »Oh. Dann bin ich ja froh, dass Sie so fleißig Ihre Arbeit tun.«

Der Herr lächelte. »Ja, das macht viel Mühe, mein Herr. Wir sammeln Geld für die Armen, damit wir ihnen etwas zu essen und zu trinken und warme Kleidung kaufen können. Wir haben diese Jahreszeit gewählt, weil die Menschen zu Weihnachten ein besonders offenes Ohr für die Ärmsten unter uns haben. Was darf ich für Sie eintragen?«

Scrooges Miene gefror zu Eis. »Gar nichts.«

»Ah. Sie wünschen, anonym zu bleiben?«

»Ich wünsche, in Ruhe gelassen zu werden«, sagte Scrooge. »Ich selber feiere kein fröhliches Weihnachten, weshalb sollte ich also Faulpelzen und Taugenichtsen zu Fröhlichkeit verhelfen?

Die Armenhäuser kosten unseren Staat einen Batzen Geld, und ich trage sie mit. Schließlich bezahle ich gehorsam meine Steuern.«

»Aber das Geld reicht nicht, mein Herr. Viele Menschen müssen deshalb sterben.«

»Nun, zu sterben, um dem Staat nicht zur Last zu fallen, ist auch nicht übel. Weniger Arme, weniger Armenhäuser. Da haben wir die Lösung doch schon.

Im Übrigen: Was habe ich damit zu tun?«

Die zwei fremden Herren starrten Scrooge entsetzt an. Aber sie sahen ein, dass es zwecklos war, ihr Ziel weiter zu verfolgen. Mit einem frostigen Gruß verschwanden sie. Scrooge dagegen lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.

Die Unterhaltung hatte seine Stimmung spürbar gehoben. Er war beinahe ein wenig stolz auf sich und fand, dass er sich gut geschlagen hatte.