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Inklusion in Schule und Gesellschaft

 

Herausgegeben von

Erhard Fischer, Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann

 

Band 6

Erhard Fischer/Reinhard Markowetz (Hrsg.)

Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-024247-0

 

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-024248-7

epub: ISBN 978-3-17-024249-4

mobi: ISBN 978-3-17-024250-0

 

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Vorwort der Reihenherausgeber

 

Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt, entwickelt sich die Idee der Inklusion zu einem neuen Leitbild in der Behindertenhilfe. Sowohl in der Schule als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen Menschen mit Behinderung von vornherein in selbstbestimmter Weise teilhaben können. Inklusion in Schule und Gesellschaft erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess, der sowohl auf die Umgestaltung des Schulsystems als auch auf weitreichende Entwicklungen im Gemeinwesen abzielt. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird in Deutschland durch ein differenziertes Bildungssystem und eine stark ausgeprägte spezialisierte sonderpädagogische Fachlichkeit bezogen auf unterschiedliche Förderschwerpunkte bestimmt. Vor diesem Hintergrund soll die Buchreihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« Wege zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von der Schule über den Beruf bis hinein in das Gemeinwesen und bezogen auf die unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte aufzeigen. Der Schwerpunkt liegt dabei im schulischen Bereich. Jeder Band enthält sowohl historische und empirische als auch organisatorische und didaktisch-methodische sowie praxisbezogene Aspekte bezogen auf das jeweilige spezifische Aufgabenfeld der Inklusion. Ein übergreifender Band wird Ansätze einer interdisziplinären Grundlegung des neuen bildungs- und sozialpolitischen Leitbildes der Inklusion umfassen.

Die Reihe wird die folgenden Einzelbände umfassen:

Band 1:

Inklusion in der Primarstufe

Band 2:

Inklusion in der Sekundarstufe

Band 3:

Inklusion im Beruf

Band 4:

Inklusion im Gemeinwesen

Band 5:

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

Band 6:

Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Band 7:

Inklusion im Förderschwerpunkt Hören

Band 8:

Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung

Band 9:

Inklusion im Förderschwerpunkt Lernen

Band 10:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sehen

Band 11:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache

Band 12:

Inklusive Bildung – interdisziplinäre Zugänge

Erhard Fischer

Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert

Reinhard Lelgemann

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort und Danksagung
  2. Schulische Inklusion: Paradiesmetapher und/oder langer Weg zu einer inklusiven Schule?
  3. Erhard Fischer und Reinhard Markowetz
  4. Zur endlosen Geschichte der Verweigerung uneingeschränkter Teilhabe an Bildung – durch die Geistigbehindert-Macher und Kolonisatoren
  5. Georg Feuser
  6. 1   Narration
  7. 2   Soziale Exklusion durch Negation dessen, was als »Geist« benannt wird und Ausdruck der Vernunft ist
  8. 3   Irrungen – Wirrungen
  9. 4   Perspektiven: Gleichheit – Solidarität – Bildungsgerechtigkeit
  10. (Wie) Kann dem Bildungs- und Erziehungsbedarf von Kindern und Jugendlichen mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung im gemeinsamen Unterricht ausreichend begegnet werden?
  11. Erhard Fischer
  12. 1   Einführung und Fragestellungen
  13. 2   Personenkreis: Ausgangslagen und Lernverhalten
  14. 3   Konsequenzen: Mindeststandards einer bedarfsgerechten schulischen Bildung und Erziehung
  15. 4   Fazit und Ausblick
  16. Soziale Inklusion von Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in inklusiven Settings – Empirische Befunde
  17. Holger Preiß
  18. 1   Theoretische Konzepte zur sozialen Dimension in der Inklusion
  19. 2   Empirische Befunde zu den Schlüsselthemen sozialer Inklusion
  20. 3   Fazit aus den empirischen Befunden zu den vier Schlüsselthemen
  21. 4   Folgerungen für die Inklusion von Schülern mit dem FgE
  22. Schulleistungen von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Inklusion. Ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen?
  23. Christoph Ratz
  24. 1   Einleitung
  25. 2   Forschungsstand via Metaanalysen
  26. 3   Einzelne Studien
  27. 4   Diskussion
  28. 5   Fazit
  29. Organisationsformen und Modelle von Inklusion im Spiegel aktueller Schulentwicklungen. Folgen der UN-BRK und Fragen zu ihrer praktischen Umsetzung
  30. Ingeborg Thümmel
  31. 1   Einleitung
  32. 2   Analyse der Auslastung von Förderschulen und des gemeinsamen Unterrichts auf der Basis der Schulstatistik des Schuljahres 2011–2012
  33. 3   Schulische Organisationsformen für Schüler mit einem Förderbedarf im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung – eine Bestandsaufnahme aktueller Organisationsformen und Modelle
  34. 4   Fazit
  35. Taugt das Anforderungsprofil an Unterrichtende im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung auch für inklusiven Unterricht?
  36. Hans-Jürgen Pitsch und Ingeborg Thümmel
  37. 1   Inklusion und Heterogenität
  38. 2   Der Unterrichtende
  39. 3   Erwartungen an Unterrichtende im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
  40. 4   Unsere Ableitungen und Hatties Ergebnisse
  41. Theoretische Aspekte und didaktische Dimensionen inklusiver Unterrichtspraxis
  42. Reinhard Markowetz
  43. 1   Begrifflichkeiten, Wissensbestände und Zusammenhänge
  44. 2   Innere Differenzierung und Individualisierung
  45. 3   Zusammenfassung und Ausblick
  46. Bildungssituation von Schülerinnen und Schülern mit geistiger Behinderung in deutschsprachigen Ländern
  47. Wolfgang Dworschak, Andrea Kapfer, Heidrun Demo, Andreas Köpfer und Irene Moser
  48. 1   Ausgangspunkt und Fragestellung
  49. 2   Die Situation in Deutschland – im Bundesland Bayern
  50. 3   Die Situation in Italien – in der Provinz Südtirol
  51. 4   Die Situation in Österreich
  52. 5   Die Situation in der Schweiz – in den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft
  53. 6   Zusammenfassung und Diskussion
  54. »Meint Inklusion wirklich alle?«
  55. Karin Terfloth
  56. 1   Problemaufriss »Meint Inklusion wirklich alle?«
  57. 2   Recht auf Inklusion für alle!?
  58. 3   Einstellungen zur Inklusion mit Blick auf SchülerInnen mit (schwerer) geistiger Behinderung
  59. 4   Biopsychosoziale Sichtweise auf schwere geistige und mehrfache Behinderung
  60. 5   Inklusion und Exklusion
  61. 6   Welcher gesellschaftliche Teilhabeanspruch wird im Bildungssystem für Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung erhoben und realisiert?
  62. 7   Inwiefern zeigt sich der Einbezug in Unterrichtsinteraktion als zentrale Herausforderung für diesen Personenkreis?
  63. 8   Fazit
  64. Autorinnen und Autoren

Vorwort und Danksagung

 

 

 

Das Recht auf schulische Inklusion, wie es der Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) seit der Ratifizierung 2009 zum Ausdruck bringt, hat für Menschen mit geistiger Behinderung eine besondere Bedeutung. Lange galten diese als schwer erziehbar und nicht bildbar. In Anstalten, Heimen und Komplexeinrichtungen wurden sie verwahrt, statt schulisch gefördert. Erst 1958 wurden die ersten Tagesförderstätten von Eltern geistig behinderter Kinder eröffnet. Aus ihnen gingen Schulen für praktisch Bildbare und die späteren Sonderschulen für Geistigbehinderte hervor.

Schüler1 mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung werden nach wie vor an Förderschulen beschult und sind bis heute bei inklusiven Entwicklungen schlicht und sehr deutlich unterrepräsentiert. Immer wieder ist zu hören, dass die gemeinsame Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung Grenzen hat und die schulische Inklusion ab einem bestimmten Grad und Ausmaß einer Behinderung keinen Sinn mache. Die aktuelle und repräsentative Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach zur Teilhabesituation im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe2 bestätigt, dass die Skepsis in der Bevölkerung gerade gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung anhaltend hoch ist und mit 71% der überwiegende Teil der Befragten die Sonderschule als den besseren Ort ihrer Förderung sehen. Das Recht auf Bildung und das Recht auf Inklusion aber ist unteilbar, weil Menschenrechte schlicht Bürgerrechte sind, die für alle Bürger einer Gesellschaft gelten und durch den Tatbestand einer geistigen Behinderung nicht außer Kraft treten.

Den Herausgebern und geschätzten Kollegen der Buchreihe zur Inklusion und dem Kohlhammer Verlag ist deshalb ausdrücklich dafür zu danken, dass dieser Band zur schulischen Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung erscheinen kann. Das Buch lebt von den Beiträgen aktiv tätiger und emeritierter Kollegen aus der universitären Fachrichtung der Pädagogik bei geistiger Behinderung, die sich ab der ersten Stunde der Erziehung, Bildung und Unterrichtung von Schülern mit geistiger Behinderung zwischen Aussonderung und Integration bis heute mit Fragen der Inklusion in unserem Bildungssystem kritisch auseinandersetzen, den Diskurs fachwissenschaftlich bereichern und Inklusion akademisch nach vorn bewegen. Ihnen gilt dafür unser großer Dank. Den Mitarbeitern an unseren Lehrstühlen sei für die kritische Durchsicht der Manuskripte und die damit verbundenen Korrekturarbeiten gedankt.

 

Univ.-Prof. Dr. Erhard Fischer

Univ.-Prof. Dr. Reinhard Markowetz

Universität Würzburg

Universität München

1     Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde grammatikalisch in den meisten Beiträgen die männliche Schreibweise verwendet. Deshalb weisen die Herausgeber an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass dabei sowohl die männliche wie weibliche Schreibweise für die entsprechenden Beiträge gemeint ist. Einige Autoren wollten in ihren Beiträgen auf die Benennung der weiblichen Form nicht verzichten und/oder haben die Bezeichnung dann spezifiziert, wenn das Genus für den Sinn des Gemeinten oder das Verständnis einer Passage von Bedeutung ist. Bei Zitaten aus historischen Werken wurde in der Regel die damit verbundene Schreibweise ohne weitere Hinweise auf das grammatische Geschlecht beibehalten.

2     Bundesvereinigung Lebenshilfe (2014): Gesellschaftliche Teilhabesituation von Menschen mit Behinderung. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. Berlin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schulische Inklusion: Paradiesmetapher und/oder langer Weg zu einer inklusiven Schule?

Erhard Fischer und Reinhard Markowetz

Seit über 40 Jahren wird in der Pädagogik bei geistiger Behinderung als einer heilpädagogischen Disziplin in Theorie und Praxis die Diskussion um die Frage nach einem angemessenen Ort der schulischen Bildung, Erziehung, und Förderung für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung geführt.

Lange galten diese Menschen als bildungsunfähig und lebensunwert. Sie wurden geächtet, vernachlässigt, rassenhygienisch verfolgt, sterilisiert, psychiatrisiert, verwahrt und vernichtet. Bis heute sind die Einstellungen und sozialen Reaktionen gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung von Vorurteilen bestimmt. Selbst innerhalb der Gruppe der Menschen, die wir global als die Behinderten bezeichnen, ist ihr sozialer Status gering. Viele Menschen wollen mit ihnen nichts zu tun haben und mit in Verbindung gebracht werden (vgl. Cloerkes 2007). Menschen mit geistiger Behinderung gehören zweifelsfrei zu den marginalisierten Gruppen unserer Gesellschaft. Noch immer führen sie ein Leben zwischen Aussonderung und Integration, das einem Mehr an Anerkennung, Wertschätzung, Teilhabe an Gesellschaft und der Aufwertung wie Perspektiven für ein sozialintegratives Leben in den Städten, Gemeinden, Kommunen und Landkreisen bedarf.

Im Anschluss an die Wirren des Dritten Reichs und die Vernichtung lebensunwerten Lebens in den Konzentrationslagern erfuhren Menschen mit Behinderungen nach 1945 mehr Aufmerksamkeit. Bringschuld und Wiedergutmachung führten zur Verbesserung der Versorgung und mehr Fürsorglichkeit. Spezielle Lern- und Trainingsmethoden und sozialtherapeutische Betreuung leiteten die Humanisierung und die Förderung dieser Menschen an den Orten ihrer Verwahrung ein und wurden fortan und zunächst dort lebenspraktisch gebildet. Das Recht auf Bildung wurde erst spät und im Zuge der Normalisierungsbewegung ab dem Jahr 1958 und vor allem auf Drängen und Initiative von Eltern fest im deutschen Schulsystem in Form von Sonderschulen institutionalisiert. Viele Schulen in vor allem konfessioneller und freier Trägerschaft haben sich etabliert und die hoheitliche Aufgabe des Staates der schulischen Förderung in den Parallelwelten und Refugien der Förder- und Sonderschulen übernommen.

Gut ausgebaute und ausgestattete Sondereinrichtungen bestimmen heute die Bildungslandschaft, neue Berufsgruppen wie Heilerziehungspfleger wurden geschaffen und auch die akademische Heilpädagogik, begründet von Heinrich Hanselmann, der selbst von 1912 bis 1916 die »Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt für psychopathische und geistesschwache Jugendliche« in der Steinmühle bei Frankfurt am Main geleitet hatte und der 1931 den ersten Lehrstuhl als Professor für Heilpädagogik in Europa an der Universität Zürich übernahm, brachte eine Vielzahl professionell ausgebildeter Experten hervor. Als Heil- und Sonderpädagogen widmen sich diese lebenslaufbezogen speziell und bewusst der Arbeit mit den rund 450.000 geistig behinderten Menschen, also einem großen Anteil der über 10 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung in Deutschland. Im Schuljahr 2013–14 (vgl. KMK 2014, 2015) besuchten 73.883 Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung Förder- bzw. Sonderschulen, während zugleich weitere 6.327 Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich ihrer geistigen Entwicklung als Integrationsschüler in allgemeinen Schulen, davon allein 3.121 Schüler an Grundschulen, gefördert wurden. Im Jahr 2013 unterrichteten von den insgesamt 904.500 Lehrpersonen in Deutschland insgesamt 63.814 Sonderschullehrern in 36.079 Klassen mit durchschnittlich 9,5 Schüler bei einer Lehrer-Schüler-Relation von 5,4. Von den rund 43.500 nicht in Klassen mit dem Förderschwerpunkt Lernen unterrichtenden Lehrpersonen dürften geschätzt bundesweit etwa 14.000 Lehrkräfte die rund 74.000 Schüler an Förderschulen für Menschen geistiger Behinderung schulisch fördern.

Die unendlich lange Geschichte der Hin- und Zuwendung von Menschen mit Behinderungen erweist sich von der Antike über das Mittelalter hin in die Neuzeit, über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg in das Hier und Jetzt unserer postmodernen Gesellschaft als ein schwieriger Weg von der Extinktion, Exklusion und Segregation über die Normalisierungs- und Integrationsbewegung hin zur Inklusion. Für das Reformprogramm Integration war die Salamanca-Deklaration der UNESCO 1994 richtungweisend. Die Kultusministerkonferenz der Länder reagierte darauf ebenfalls noch im Jahr 1994 mit einer »Empfehlung zur sonderpädagogischen Förderung«, betonte die Pluralität schulischer Förderorte und rechtfertigte damit die Existenz von Sonderschulen. Dennoch sollte die Reformbewegung Integration, abermals von Eltern behinderter Kinder ausgelöst (vgl. Schnell 2003), das gemeinsame Spielen, Lernen und Arbeiten in den Kindergärten und Schulen des Allgemeinen Bildungswesens befördern und möglich machen. 1972 erreichte eine Elterninitiative in Berlin-Schöneberg, dass behinderte Kinder in das »Kinderhaus Friedenau« aufgenommen wurden (vgl. Kinderhaus Friedenau 1972). Gemeinsam wurden diese schulpflichtigen Kinder dann 1975 in der ersten Integrationsklasse einer staatlichen Schule, der »Fläming-Grundschule« als dem ›Mutterkloster der Integration‹ (Muth) unterrichtet (vgl. Projektgruppe Integrationsversuch 1988; Stoellger 1981). An der ebenfalls in Berlin-Schöneberg gelegenen Uckermark-Grundschule wurde dann das Konzept einer »Schule ohne Aussonderung« ab 1982 praktisch erprobt und wissenschaftlich evaluiert (vgl. Eberwein 1984; Heyer/Preuss-Lausitz/Zielke 1990). Es folgten integrative Bemühungen und eine intensive Phase von Modell- und Schulversuchen in allen Bundesländern, die eine Fülle an wissenschaftlichen Ergebnissen und Erkenntnissen hervorgebracht haben (vgl. Markowetz 2007). Dennoch bleiben die Erfolge der Integration bescheiden und werden für das Schuljahr 2009–10 mit einer Integrationsquote von 1,2% beziffert (vgl. Dietze 2011). Einmal mehr verdeutlicht diese Zahl, dass die Bilanzen von begrifflich gefassten und konzeptualisierten Leitideen wie Normalisierung (vgl. Nirje 1994) und Integration (vgl. Jantzen 1998) nach 25 Jahren ihrer Umsetzung im Feld mit hoher Regelmäßigkeit nüchtern ausfallen und hinsichtlich ihrer erhofften Wirksamkeit keine Kraft entfalten können. Sie zeigen aber auf, wie schwer es ist, im System des stark gegliederten und kulturhoheitlich von den einzelnen Bundesländern verantworteten Bildungswesens mit System Schulreformen umzusetzen und innovative Schulentwicklungen nachhaltig in Gang zu setzen.

Durch die Ratifizierung der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen erweist sich seit 2009 Inklusion als eine neue, abermals Perspektiven aufzeigende Leitlinie der bundesdeutschen Bildungs- und Sozialpolitik. Nach den Standards der OECD gilt ein Schulsystem als integrativ, »wenn wenigstens 40% der Schüler mit Förderbedarf im Regelschulsystem beschult werden, und als inklusiv, wenn es wenigstens 80% sind« (Lindmeier 2009, 397; Hervorhebungen EF & RM). Inklusion erhebt demnach den ambitionierten Anspruch, doppelt so effektiv wie Integration zu werden. Zugleich stellt sich die Frage nach den 20% der Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf, die ein Schulsystem angeblich überfordern und an denen die Inklusion vorbeigehen soll. Welche Schüler mit welchem sonderpädagogischen Förderbedarf sind das? Ein einfacher Blick auf die statistische Verteilung der Förderschwerpunkte (KMK 2014, XIX) verrät, dass sich für die Umsetzung des Artikel 24 der UN-BRK Schülern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen »Lernen« (43,8%), »Sprache« (14,5%) und »emotional-soziale Entwicklung« (23,8%) für die Inklusive Bildung besonders gut eignen, um als bald als möglich just diese angestrebte Inklusionsquote von 80% zu erreichen und um damit die Richtigkeit des Slogans » Deutschland wird inklusiv« gegenüber dem Institut für Menschenrechte als der Monitoringstelle für die Einhaltung der Rechte von Menschen mit Behinderungen und Überwachung der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland belegen zu können, genauso wie dem Fachausschuss des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen in Staatenberichten (vgl. BMAS 2011) zügig inklusive Entwicklungen aufzeigen zu können, ohne dafür das Schulsystem grundlegend antasten und tiefgreifend umbauen zu müssen.

Die Bemühungen um ein Mehr an sozialer wie schulischer Teilhabe für Kinder und Jugendliche mit geistigen und mehrfachen Behinderungen erweisen sich offensichtlich schwieriger. Der KMK-Statistik (2014, XX) ist bei der Verteilung der Schüler mit sonderpädagogischer Förderung in allgemeinen Schulen bzw. Förderschulen nach Förderschwerpunkten eine deutliche Schieflage zu entnehmen. Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung werden nur verhältnismäßig selten in allgemeinen Schulen (3,8%) unterrichtet und dafür umso mehr an Sonderschulen (16,1%) gefördert. Es scheint so, dass die Häuser des Lehrens und Lernens des allgemeinen Schulsystems (noch) nicht das bieten können, wollen oder dürfen, was Förderschulen für ihre Schüler mit geistiger Behinderung bereithalten und für die pädagogisch-therapeutische Arbeit auch benötigen, um Lern-, Entwicklungs- und Bildungserfolge erzielen zu können.

Auch die erste Prüfung des ersten Staatenberichts Deutschlands (vgl. BMAS 2011) im März 2015 in Genf durch den Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN) lässt durchscheinen, dass durch das Festhalten an der Doppelstruktur »Regelschule und Sondereinrichtung« sich die allgemeinen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen zwar stärker öffnen, die Orte der sonderpädagogischen Förderung aber allgemein noch zu wenig Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in die Inklusion entlassen und die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen der sonderpädagogischen Förderung kaum in die allgemeine Schule verlagert werden, was sicherlich die inklusiven Beschulungsmöglichkeiten, gerade von Kindern mit einem hohen Förder- oder intensiven Hilfebedarf, beschränken dürfte (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte 2015).

Im Spiegel aktueller Zahlen, die diesem Förderschwerpunkt einen deutlichen Anstieg sowie eine Veränderung ihrer Schülerschaft bescheinigen (Speck 2012; vgl. die Beiträge in Lernen konkret Heft 2/2013) und zudem belegen, dass der Zugang zum Gemeinsamen Unterricht an Allgemeinbildenden Schulen konzeptionell und didaktisch mit so großen Schwierigkeiten zu verbunden sein scheint, dass Schüler mit einem Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung nach wie vor an Förder-(Sonder)schulen beschult werden und bei inklusiven Entwicklungen schlicht und sehr deutlich unterrepräsentiert sind (vgl. Dworschak et al. 2013). Vor dem Hintergrund des »Prinzips der Unteilbarkeit« (Muth 1991) von Inklusion erstaunen solche Zahlen und legen nahe, dass die Diskussion des Gemeinsamen Unterrichts für diese Schülergruppe intensiver und kontroverser als in den anderen Fachrichtungen geführt wird. Während einerseits Eltern von diesen Kindern in finanziell besser gestellten und politisch einflussreichen Verbänden und Gremien gut organisiert sind und ihre Erwartungen an eine »möglichst wenig sozial einschränkende Lernumgebung« deutlich und nachhaltig artikulieren und auch die Fürsprecher aus der Wissenschaft und insbesondere Vertreter der Fachrichtung »Pädagogik bei geistiger Behinderung« stark für inklusive Entwicklungen votieren, scheinen die Einstellungen und Bereitschaften aus dem System der Allgemeinen Pädagogik und Allgemeinbildenden Schulen für umfassende Reformen und Schulentwicklungen noch nicht hinreichend gegeben zu sein. Immer wieder ist zu hören, dass Inklusion Grenzen hat und ab einem bestimmten Grad und Ausmaß einer Behinderung auch keinen Sinn mehr mache (hierzu Ahrbeck 2014, Reimann 2014, Schicke 2014).

Eine solche Teilung in inkludierbare/inklusionsfähige und nicht inkludierbare/nicht inklusionsfähige Schüler erscheint in Anerkennung des Verständnisses von Inklusion als ein Menschenrecht nicht nur grotesk, dürfte aber dafür sorgen, dass Inklusion eine neue Selektionspraxis bedingen könnte, die den Sonderschulen den Status von Restschulen und den Regelschulen den Status von Inklusionsschulen beschert. In vielerlei Hinsicht bewahrheitet sich die Befürchtung der » Integration der Inklusion in die Segregation« (Feuser 2015, 5) als Programm von Schulentwicklung, welches weder die Förderschulen noch die Gymnasien antasten und sich nicht grundlegend inklusiv neuausrichten will. Auch das Institut für Menschenrechte (2015) kritisiert in seinem Parallelbericht die hoch differenzierte bis segregierende Schulstruktur, hinterfragt ob und unter welchen Voraussetzungen es zulässig ist, schulische Sonder- und Fördereinrichtungen zu erhalten und ob diese mit dem Ansatz eines inklusiven Systems in Einklang gebracht werden können. Folgerichtig regt das Berliner Institut an, der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, möge Deutschland als Vertragsstaat und seinen Bundesländern empfehlen, die Weichen zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems zu stellen, insgesamt seine Anstrengungen in Bezug auf inklusive schulische Bildung zu verstärken und die schulische Segregation zu überwinden.

Ohne Inklusion als ein Menschenrecht und die schulische Inklusion als ein Bildungsrecht für alle Kinder und Jugendliche anzweifeln zu wollen, sondern kritisch zu würdigen (vgl. Ahrbeck 2014) erstaunt doch, dass es in 2009 der Ratifizierung einer speziellen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bedurfte. Immerhin hat die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen schon am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ausgerufen und in 30 Artikeln die Menschenrechte definiert, die jedem Menschen zustehen. Auch das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, die UN-Kinderrechtskonvention, wie sie am 20. November 1989 von der UN-Generalversammlung beschlossen und 1990 auf der ganzen Welt als Verpflichtung von allen Regierungen der Vereinten Nationen anerkannt und bis auf die USA und den Südsudan auch ratifiziert wurde, beansprucht universelle Gültigkeit. Zehn Grundrechte, darunter das Recht auf Bildung und Ausbildung setzen weltweit Standards und regeln das »Wohl des Kindes«. Sollten Menschenrechte nicht Rechte sein, die alle Menschen betreffen? Wenn mit Dahrendorf (1965) Menschenrechte als Bürgerrechte verstanden werden, müsste dann nicht gerade das Recht auf Bildung ein Recht für alle Bürger sein, eben eines, das auch für Menschen mit geistiger Behinderung greift?

Normativ betrachtet wissen wir also wohin wir wollen! Empirisch belastbare Hinweise darüber, wie das gehen soll, wie man Inklusion lernt und, die soziologischen Zusammenhänge von Inklusion und Exklusion (Nassehi 2008) sehend, pädagogisch bewältigt, Anerkennungsverhältnisse schaffen, Einstellungen ändern, Vorurteile abbauen, Identitäten stärken, den Widrigkeiten des komplexen und verwalteten Schulwesens trotzen, der Macht und Schwerkraft der Praxis entgegentreten und die Schallmauer der Logik des Bildungssystems mit seinen autopoietischen Fähigkeiten durchbrechen kann und dabei chancengleich noch bessere Schulleistungen und Bildungserfolge erzielt, lässt schulische Inklusion als respektvolle Paradiesmetapher aufleuchten. Hier hilft es wenig sich einzureden, dass der Weg das Ziel ist. Realistisch zeigen die gesellschaftlichen Tatbestände und sozialen Wirklichkeiten auf, was sich wenige laut zu sagen trauen. Schulen, Lehrer und Systeme sind ohne eine ausreichende, verlässliche personelle und sächliche Ausstattung und sinnstiftende wie lösungsbezogene Weiterbildungsmaßnahmen nicht unendlich belastbar, und das Potential der Fähigkeiten pädagogischer Einrichtungen ist aus dem Nichts nicht unbegrenzt steigerungsfähig (vgl. Weiß 2013), so dass wir uns nicht wundern müssen, wenn »Bildungspanik« (vgl. Bude 2011) ausbricht und die Debatte über die »Überflüssigen« (Bude 2008) der Inklusion in den Rücken fällt, obwohl man still und heimlich froh ist, dass es sie noch gibt, die Orte der Aussonderung, die man aber eigentlich überwinden will und vordergründig zu unerwünschten Bildungsstätten erklärt. Das stimmt nachdenklich und macht deutlich, dass entlang systemischer Grenzen und Möglichkeiten der Weg zu einer inklusiven Schule für alle Kinder alles andere als asphaltiert und mit leuchtenden Fahrbahnmarkierungen versehen ist und es sicher noch vieler Anstrengungen bedarf um auch Kinder und Jugendliche wie jene mit geistigen Behinderungen mitzunehmen, die schon immer von mehrfacher Aussonderung bedroht waren!

Der durchaus ambivalente Umgang mit diesen Problemen hat leider dazu geführt, dass sich in den zurückliegenden Jahren in der Praxis unseres Schulsystems augenscheinlich nur wenig verändert hat, während jährlich einige Schulen mit dem Jakob Muth-Preis für inklusive Schule (http://www.jakobmuthpreis.de) ausgezeichnet werden. Solche Preisträger belegen Entwicklungen in der Organisation wie auch in der didaktisch-methodischen Gestaltung ihres gemeinsamen Unterrichts, dass es möglich ist auf die besondere Bedarfslage von Schülern mit geistiger Behinderung einzugehen.

In Folge der UN-Konvention wird inzwischen in fast allen Bundesländern Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung der Zugang zu Regelschulen zwar nicht mehr prinzipiell verwehrt, aber es bestehen weiterhin erhebliche Barrieren und Unzulänglichkeiten für die konfliktfreie und erfolgversprechende Umsetzung einer angemessenen, bedarfsgerechten Bildung und Erziehung. Dies überrascht nicht angesichts der im Vergleich zu anderen Schüler mit Behinderungen, Beeinträchtigungen oder sozialen Benachteiligungen besonders intensiven bzw. hohen Bedarfslagen, denen es im Hinblick auf besondere Ziele, Inhalte, methodische und therapeutische Erfordernisse wie auch organisatorisch bereit zu stellende Maßnahmen in einem Gemeinsamen Unterricht zu begegnen gilt, um auch ihnen eine qualitativ hochwertige Bildung zu garantieren.

Wie und unter welchen besonderen Maßnahmen und Anstrengungen es gelingen kann, auf der einen Seite auch für diese Schülergruppe einen Zugang zur allgemeinen Schule in einer sozial möglichst wenig einschränkenden und anregungsreichen Lernumgebung zu eröffnen und auf der anderen Seite immer und auch bei recht hohen Bedarfslagen unter komplexen Voraussetzungen das Recht auf eine angemessene Bildung und Erziehung zu sichern, ist Anliegen und Ziel dieses Bandes. Ausgehend von der Sorge, dass die sonderpädagogische Qualität und die spezifische Fachlichkeit im Gemeinsamen Unterricht für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung ressourcenbedingt und einstellungsbedingt allzu schnell ausbleiben und das Anliegen voller Inklusion sich am Ende sogar als Pseudo-Inklusion darstellen könnte, stellen sich uns als Herausgeber mit Blick auf die Inhalte und den Aufbau des Bandes eine Reihe an Fragen, die von Vertretern der universitären Pädagogik bei geistiger Behinderung vor dem Hintergrund der aktuell vorhandenen praktischen Erfahrungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und empirisch belastbaren Daten beantwortet werden, den Diskurs bereichern und inklusive Lösungen greifbarer machen und das Reformprogramm Inklusion nachhaltig in die Zukunft bewegen sollen.

Georg Feuser, der als Lehrer an der Albert-Griesinger-Schule in Frankfurt am Main, der ersten Sonderschule für Geistigbehinderte in der BRD, tätig war, später an der Martin-Buber-Schule für Praktisch Bildbare in Gießen als Rektor arbeitete und 1978 auf die Professur für Didaktik und Integration bei Geistigbehinderten als Hochschullehrer berufen wurde, spürt in diesem Band einführend der Frage nach, was zentrale Hintergründe der Verweigerung der uneingeschränkten Teilhabe an Bildung für Menschen sein könnten, die als »geistigbehindert« klassifiziert und etikettiert sind. Diese Verweigerung reicht, im völligen Widerspruch zur begrifflichen Bedeutung von »Inklusion«, auch in die als solche bezeichnete Praxis der Frühen Bildung und des schulischen Unterrichts hinein, der bezogen auf diesen Personenkreis weitgehend ausgrenzend, selektierend und segregierend bleibt. Ausgehend von einer persönlichen Erfahrung des Verfassers in seiner Kindheit während der Nachkriegszeit wird deutlich, dass die Kategorisierung des Menschen ihn als Subjekt anonymisiert, ein rassistisches Konstrukt generiert, das der »Rasse« und nationalen Zugehörigkeit nicht mehr bedarf, sondern einen »anderen Andern«, einen »Fremden« hervorbringt, dem die Anerkennung als gleichwertig und gleichberechtigt verweigert und der ausgegrenzt wird. Die Kategorisierung als geistigbehindert negiert die Vernunftfähigkeit des Menschen, was sich u. a. darin zeigt, dass auf ihn bezogen nicht mehr von Bildung die Rede ist, sondern von Förderung und Förderbedarf. Letztendlich reduziert diese Kategorisierung den Menschen auf das »nackte Leben« und verweigert ihm die Zuerkennung von Menschenrechten – auch die mit der UN-BRK gefassten. Zentral ist in einer von Ungleichheit strotzenden Welt die Realisierung von Gleichheit, die Gemeinsinn und Solidarität ermöglicht, um Bildungsgerechtigkeit für Alle realisieren zu können. Die Praxis einer »Allgemeinem Pädagogik und entwicklungslogischen Didaktik« vermag das durch ein Lernen in Kooperation an einem Gemeinsamen Gegenstand und die dadurch bedingte Vielfalt an Kommunikationen zu erreichen und der UN-BRK gerecht zu werden. Das allerdings erfordert ein grundlegendes Umdenken bezüglich des herrschenden Menschen- und Behinderungsbildes – bis in die Lehrer-Bildung hinein – und einen strukturellen Umbau des Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssystems.

Erhard Fischer fragt nach notwendigen bzw. unverzichtbaren Bedingungen, die in Schule und Unterricht vorliegen müssen, damit das Recht von Kindern und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nach einer möglichst hochwertigen Bildung und Erziehung nicht zu kurz kommt, und damit ihren Bedürfnissen und ihrem Lern- und Entwicklungsbedarf möglichst angemessen entsprochen werden kann. Dazu wird zunächst gefragt und untersucht, was Lernen und Entwicklung bei diesen Schülern beeinträchtigen und in Folge das Unterrichten erschweren kann. In Orientierung an die vor einigen Jahren entwickelten Standards des Verband Sonderpädagogik e. V. (vds) wird dann konkret aufgezeigt, wie dies gelingen kann im Hinblick auf die Setzung von Unterrichtszielen und Inhalten von Bildung, eine methodische Aufbereitung, die auszuwählenden Lehr- und Lernmittel und die Organisation des schulischen Zusammenlebens.

Holger Preiß analysiert empirische Forschungsergebnisse vor dem Hintergrund der Fragestellung, wie sich die soziale Dimension der Inklusion für Schüler mit dem FgE in inklusiven Settings darstellt, und damit auch, inwieweit das zugrunde liegende Bedürfnis nach deren sozialer Einbindung faktisch eingelöst werden kann. Dies wird anhand der Schlüsselthemen Freundschaften/Beziehungen, Kontakte/Interaktionen, (soziale) Selbstwahrnehmung des Schülers und Akzeptanz durch Klassenkameraden dargestellt. Grundlegend zeigen sich deutliche Unterschiede in den analysierten Studien, welche sich teilweise durch Unterschiede in der Methodik erklären lassen. Zudem ist ein entscheidendes Kriterium bei der Beurteilung, dass die Studien von sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Inklusion ausgehen: Wird ein Schüler mit dem FgE dann »inklusiv unterrichtet«, wenn er mit nichtbehinderten Schülern in die gleiche Schule geht, in die gleiche Klasse geht, allein am gleichen Thema arbeitet, gemeinsam (im Austausch) am gleichen Thema arbeitet, x-mal pro Woche mit nichtbehinderten Schülern in Kontakt kommt oder dieser Kontakt auch eine bestimmte Qualität hat? Hier bedarf es aus empirischer Sicht und im Sinne der besonderen Bedürfnisse der Schüler einer Abkehr von ideologischen Zwängen und einer Analyse und ggf. Weiterentwicklung bestehender Modelle inklusiver Settings, welche den jeweiligen Schülern bestmöglich gerecht werden. Einige Kriterien, welche sich aus der empirischen Forschung ableiten lassen, werden dann genannt und der Diskussion zugeführt.

Christoph Ratz analysiert und reflektiert die nur spärlich vorhandenen empirischen Befunde und Studien der Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Obwohl Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung bereits an den ersten Integrationsversuchen beteiligt waren, beträgt die aktuelle Inklusionsquote dieses Förderschwerpunktes in Deutschland lediglich 6,7%. Der Beitrag geht der Frage nach, welche empirischen Argumente für die schulische Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung angeführt und wie belegt werden. Dabei zeigt sich, dass erstaunlich wenige Studien sich speziell mit dieser Schülerschaft befassen. Eine Analyse dieser Studien ergibt, dass diese sehr unterschiedlich angelegt sind und kaum belastbare Ergebnisse liefern. Unterschiede zeigen sich in den Aspekten der Methodik, der Auswahl und Beschreibung der Schüler, der Rolle und dem Hintergrund der Lehrkräfte sowie den kaum vergleichbaren inklusiven Settings. Am ehesten bestätigen einige Studien übereinstimmend einen Vorteil inklusiver Beschulung für die sprachliche Entwicklung von geistig behinderten Schülern.

Ingeborg Thümmel thematisiert und reflektiert kritisch die Notwendigkeit der Neuausrichtung unseres Schulsystems. Darüber, dass die inklusive Umgestaltung des deutschen Schulsystems veränderter organisationsstruktureller Bedingungen bedarf, besteht auch bei unterschiedlichen Zielstellungen und diskrepanten Vorgehensweisen Einvernehmen in den Bundesländern. Nun ist es auch eine Binsenweisheit, dass das Gelingen gesellschaftlicher Reformen, wie der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems, abhängig ist von einer gründlichen Analyse der Ausgangsbedingungen sowie einer strategischen und operativen Planung mit dem Ziel, eine stimmige Organisationsstruktur aufzubauen. Vor diesem Hintergrund wird in dem vorliegenden Beitrag danach gefragt, wie zukünftig die Förderorte so zu gestalten und ggf. umzuorganisieren sind, dass sie den Förderbedürfnissen einer heterogenen Schülerschaft entsprechen können. Ausgehend von der zahlenmäßigen Auslastung der Förderschule einerseits, des gemeinsamen Unterrichts anderseits, wird nachfolgend der ambitionierte Versuch unternommen, die Vielfalt der organisatorischen Umgestaltung sonderpädagogischer Förderung in den 16 Bundesländern nach der Ratifikation der UN-BRK zu systematisieren. Herausfordernd ist der Versuch deshalb, weil die Datenlage hinsichtlich Förderschulbesuchs- und Inklusionsquote nicht eindeutig ist und darüber hinaus eine Vielzahl von unterschiedlichen Schulformen mit verschiedener Bezeichnung entstanden sind oder zurzeit eingerichtet werden. Deutlich wird an der Bestandsaufnahme, dass bei allen organisatorischen Weiterentwicklungen von inklusiven Schulen in den unterschiedlichen Bundesländern, diese nicht ohne sonderpädagogische Förderung auskommen. Vor dem Hintergrund dieser konstitutiven Festlegung für die progressive Verwirklichung eines inklusiven Schulsystems werden im vorliegenden Beitrag förderliche strategische Planungselemente, wie Schulentwicklungsplanung, Ressourcenallokation und Ressourcensteuerung, Bildungslandschaften und Vernetzungen ausgewiesen. Dabei wird der Blick auch über den atlantischen Ozean gerichtet, um feststellen, welche organisatorischen Rahmenbedingungen sich in den Ländern mit hoher Inklusionsquote bewährt haben und um gleichzeitig sicherzustellen, dass kontraproduktive »fade-out«, »push-out« und »drop-out-Prozesse« unterbleiben.

Hans-Jürgen Pitsch und Ingeborg Thümmel problematisieren in ihrem Beitrag die Rolle der Lehrenden und das professionelle Handeln der Lehrer im inklusiven Unterricht, um das Anforderungsprofil in der inklusiven Bildungsarbeit zu schärfen. Auch bei inklusiver Unterrichtung hat das konkrete Lehrerhandeln erhebliche Wirkungen auf die Lernenden, deren Lernverhalten und Lernergebnisse. John Hattie hat diese Lehrereinflüsse deutlich herausgearbeitet. Für den Förderbereich geistige Entwicklung liegen hinsichtlich vorteilhaften Lehrerverhaltens nur spärlichste Hinweise vor, sowohl für Unterrichtung in Förderschulen wie inklusiv in allgemeinen Schulen. Unser Anliegen ist es, solche Hinweise zu gewinnen. Dazu durchforsten die beiden Autoren die vorliegende fachwissenschaftliche Literatur wie auch Richtlinien und Lehrpläne und gewinnen Hinweise zum Handeln, zum Lernverhalten, zum Gedächtnis, zur Kommunikation, zur Flexibilität und Selbstsicherheit von Schülern mit geistiger Behinderung und leiten daraus Konsequenzen für das unterrichtliche, kommunikative und soziale Verhalten ihrer Lehrer ab. Die so gewonnenen Verhaltenserwartungen werden in didaktischen und methodischen Hinweisen konkretisiert und mit den Forschungsergebnissen Hatties zur Unterrichtsgestaltung verglichen. Dieser Vergleich von theoretisch abgeleiteten Forderungen mit empirischen Forschungsergebnissen zeigt, dass die so erzielten Ergebnisse hinsichtlich der Erwartungen an das Lehrerverhalten durchgehend den Unterricht der Lehrer und Lernergebnisse der Schüler verbessern können. Die Ergebnisse haben für Lehrer im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung wie für Lehrer von nichtbehinderten Schülern, unabhängig von der Schulart und Schulform, gleichermaßen Gültigkeit. Im Beitrag kann auf diese Weise ein fast identisches Anforderungsprofil für alle Lehrkräfte in allgemeinen Schulen dargestellt werden. Damit wurde eine gemeinsame Basis des professionellen Handelns von Regelschul- und Förderschullehrern im integrativen wie inklusiven Unterricht gefunden, welche das Unterrichten als Tandem im Gemeinsamen Unterricht ermöglichen und erleichtern sollte.

Reinhard Markowetz fragt in seinem Beitrag danach wie es einer inklusiven Pädagogik gelingt, dass Kinder und Jugendliche mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf an Schule und Unterricht so teilhaben können, dass sie in Ihrer Identität gestärkt, statt beschädigt werden, soziale Kohäsion statt Isolation entstehen kann und ihr Anspruch auf Erziehung und Bildung, Förderung und Therapie sowie rehabilitative Hilfe, persönliche Assistenz und Pflege in der inklusiven Schule qualitativ hochwertig sichergestellt ist und auch dauerhaft professionell umgesetzt wird! Wie ist der Gemeinsame Unterricht vorzubereiten und wie schaut ein guter Unterricht dann aus, der insbesondere auch und gerade den Entwicklungs-, Lern- und Leistungsbedürfnissen von Schülern mit geistiger Behinderung gerecht wird? Eine Pädagogik für Alle, die das Lernen inklusiv denkt, muss zwangsläufig das Lernen auch wirklich für alle Schüler effektiv und erfolgreich machen. Wenn mit Wolfgang Klafki die Didaktik die »pulsierende Herzkammer der Pädagogik ist«, dann ist das Gelingen von Gemeinsamen Unterricht, die Entfaltung inklusiv wirksamer Lern- und Bildungsprozesse und die Verwirklichung von Teilhabe an Schule und Unterricht schlicht eine Frage der Didaktik! Eine lehr- und lernbare inklusive Didaktik aber scheint es noch nicht zu geben. Der Beitrag nimmt deshalb didaktische Dimension der Inklusion in den Blick und versucht im Kern den Grundfragen der Analyse, Planung, Durchführung und Reflexion nachzuspüren und diese zu klären. Die dabei gemachten Ausführungen sollen helfen, die Konturen einer inklusiven Didaktik allmählich zu schärfen, statt sie a priori als bereits vorhanden auszuweisen und zudem einladen, die Blicke auf die didaktische Qualität in der Diskussion über inklusive Beschulung zu richten, um sicherzustellen, dass Schüler mit einer geistigen Behinderung nicht zu den großen Verlierern inklusiver Bildung werden.

Wolfgang Dworschak, Andrea Kapfer, Heidrun Demo, Andreas Köpfer und Irene Moser analysieren die durchaus unterschiedlichen Bildungslandschaften und die damit verbundene Beschulungspraxis von Schülern mit geistiger Behinderung in vier deutschsprachigen Ländern Europas. Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention haben sich u. a. die deutschsprachigen Länder zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems verpflichtet. Dabei sind die Ausgangssituationen in Deutschland, Italien (Südtirol), Österreich und der Schweiz divergent. Ausgehend von diesen Unterschieden werfen die Autoren einen vergleichenden Blick auf die Bildungssituation von Schülern mit geistiger Behinderung. Dabei stehen die Aspekte Bildungssystem und Ausgaben für Bildung, Förderquote und mögliche Bildungsorte, Grundlagen und Formen der sonderpädagogischen Förderung sowie Lehrkräfte und deren Qualifikation im Hinblick auf geistige Behinderung und Inklusion im Mittelpunkt des Interesses. Der Vergleich verdeutlicht sowohl Gemeinsamkeiten als auch erhebliche Unterschiede zwischen den Bildungssystemen.

Karin Terfloth thematisiert in ihrem Beitrag die Teilhabechancen von Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung als Prüfstein für Inklusion und Gradmesser unserer Inklusionsbemühungen. Da sich Inklusions- und Exklusionsbeziehungen als systembezogen und temporär und somit nicht als fixe Zustände darstellen, ist ein permanentes kritisches Hinterfragen der Inklusionschancen und Exklusionstendenzen auf allen drei Ebenen von Sozialsystemen (Gesellschaft, Organisation und Interaktion) notwendig. Ziel ist es, die skizzierten Relevanzbeziehungen im Kontext einer schweren und mehrfachen Behinderung systematisch zu erforschen sowie die Ursachen für die Exklusionstendenzen zu analysieren und Kompensationsstrategien (z. B. didaktische und methodische Konzepte, Interaktionskompetenz von Lehrpersonen, Konzepte zur Schulentwicklung etc.) zu entwickeln. Ihr Beitrag liefert einen Überblick hierzu und betont dabei besonders pädagogische Ansätze, in denen Kommunikation unter erschwerten Bedingungen unterstützt wird.

Es mag bei den Lesern der Beiträge die Frage aufkommen, ob es in Zeiten von Inklusion sinnvoll wie noch zeitgemäß ist, ein Buch vorzulegen, das die Tradition der Fachrichtungen in der Sonderpädagogik fortsetzt und aus der speziellen Sicht der Pädagogik bei geistiger Behinderung die schulische Förderung in heterogenen Lerngruppen in sich immer inklusiver verstehenden Schulen diskutiert.

Das ist einerseits berechtigt! Andererseits lässt sich nicht verleugnen, dass sich die Allgemeine Pädagogik wie die Schulpädagogik als auch die Grundschulpädagogik bei der pädagogischen Hin- und Zuwendung von Schülern mit geistiger Behinderung über die Gruppe der Menschen mit Down-Syndrom hinaus bislang in Praxis wie Theorie erstaunlich zurückgehalten haben. Die Geistigbehindertenpädagogik als eine heil- und sonderpädagogische Fachrichtung und wissenschaftliche Disziplin neben vielen anderen speziellen Pädagogiken (wie z. B. die Sozialpädagogik, die Erlebnispädagogik, die Museumspädagogik, die interkulturelle Pädagogik, die Straffälligenpädagogik u. v. a. m.) unter dem einen Dach der Erziehungswissenschaften hingegen hat seit den 1970er-Jahren theorienreflektierte Praxiskonzepte der Erziehung, Bildung und Förderung entwickelt, diese erprobt und in Schule und Unterricht verwirklicht, umfängliches Fachwissen generiert und wichtige Erkenntnisse durch ihre Forschung gewonnen, die heute helfen, das gesetzlich verbriefte Recht auf Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung uneingeschränkt zu sichern, umzusetzen und selbstverständlich unabhängig vom Förderort und lebenslaufbezogen über Schule hinaus weiter zu optimieren.

Es wäre töricht, bei den inklusiven Schulentwicklungen und beim Umbau zu einem inklusiven Bildungswesen darauf zu verzichten. Immer mehr wird gerade in der Praxis der gelebten Inklusion deutlich, dass eine inklusiv ausgerichtete allgemeine Schule die Expertise der Sonderpädagogik in Theorie und Praxis braucht und die Sonderpädagogik sich gerne und konstruktiv an Inklusion zu beteiligen weiß, auch um Tendenzen der De-Professionalisierung, Einfach- und Billiglösungen abzuwenden und letztlich sich auch als Fachwissenschaft advokatorisch hinter die Menschen und ihre Familien zu stellen, die unsere Fachrichtung begründet haben, ohne dabei die Leitideen der Selbstbestimmung und des Empowerment (vgl. Stöppler 2014, Theunissen 2013) außer Acht zu lassen, sondern anzuerkennen, dass diese Menschen sehr wohl gelernt haben, sich und ihre Interessen selbst zu vertreten.

Sicher ist, dass die gemeinsame Unterrichtung von Schülern mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Entwicklungsausgangslagen zu den ganz großen pädagogischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gehört und eine bislang nicht hinreichend gelöste Aufgabe definiert, die von einer (Allgemeinen) Pädagogik allein nicht zu lösen sein wird. Damit stellt sich für das Gelingen von Inklusion nicht länger die Frage nach den Risiken durch die Sonderpädagogik und die Frage nach der Unverträglichkeit mit der Sonderpädagogik, sondern vielmehr die Frage der gegenseitigen Anverwandlung des Allgemeinen und des Besonderen in der pädagogischen Bildungsarbeit und die prozessual-dynamische Synchronisation der Sonderpädagogik und der Regelpädagogik zu einer inklusiven Pädagogik und Didaktik in unseren Häusern des Lehrens und Lernens, die allen ihren Schülern, eben auch solchen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, einen qualitativ hochwertigen Unterricht anzubieten vermag und keine Bildungsverlierer mehr auszuweisen braucht.